Methoden der Texterschließung: Rezeptiv

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Universität Bayreuth
Didaktik der deutschen Sprache und Literatur
Kolloquium für Staatsexamenskandidaten
SS 2010
Dozentin: Claudia Wührl
Referenten: Julian Kalt, Christopher Pfister
17.05.2010
Methoden der Texterschließung:
Rezeptiv-Analytische Verfahren / Handlungs- und Produktionsorientierte
Verfahren
Literatur:
Abraham / Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Berlin 32009.
Gattermaier / Siebauer: Deutsch in A4. Deutschunterricht im Praxisformat.
Regensburg 32008.
Haas / Menzel / Spinner: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis
Deutsch. Heft 123 (1994). S. 17 – 25.
Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart, Weimar 1999.
Schuster: Einführung in die Fachdidaktik Deutsch. Hohengehren 81999.
Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. Paderborn 62008.
Grundlage: Ziele für den Literaturunterricht (nach SPINNER):
1. Förderung der Lesefreude
2. Texterschließungskompetenz
3. Literarische Bildung
4. Förderung von Imagination und Kreativität
5. Identitätsfindung und Fremdverstehen
6. Auseinandersetzung von anthropologischen Grundfragen
Verfahren der Texterschließung nach ABRAHAM / KEPSER
Verfahren der
Texterschließung
1. „inhaltssichernd“
2. „textnah“
Eher rezeptionsorientiert
Eher produktionsorientiert
Lesestrategien anwenden,
z.B. unterstreichen, auf
Fragen zum Textinhalt
antworten
Auf Fragen zu Struktur, Stil
etc. antworten
Lesestrategien anwenden,
z.B. zusammenfassen,
Zwischenüberschriften
finden
z.B. Précis schreiben,
stilistisch variieren
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3. „szenisch“
Sprechfassungen erarbeiten,
vortragen, begründen
4. „diskursiv“
Hermeneutischer
Literaturunterricht: Lesarten
diskutieren und vergleichen
Standbild bauen: eine
Schlüsselstelle klären,
Beziehungen zwischen
Figuren darstellen
Fragen zum Text mdl. Oder
schriftl. Beantworten;
Texterschließung als
Aufsatzform
Diskursanalyse
Rezeptiv-Analytisches Verfahren
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Fragend-entwickelndes Unterrichtsgespräch
▪ Kann zum entdeckenden Lernen anregen.
▪ Setzt ein langsames, konzentriertes Mitarbeiten voraus.
▪ Nur ein kleiner Teil der Klasse ist am Geschehen aktiv beteiligt, die anderen
warten, bis ihnen die Ergebnisse präsentiert werden.
▪ Methodenkompetenz wird nur sehr eingeschränkt vermittelt.
▪ Der besprochene Text kann am Ende der Stunde interpretiert werden, für
andere Texte wird aber wieder die Hilfe des Lehrers benötigt.
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Didaktisch-methodische Fragestellungen von FINGERHUT basieren auf dem
hermeneutischen Zirkel:
1. Eingangsfrage: Was denkt ihr über den Text, wie hat er euch gefallen?
(Gesamteindruck)
2. Erarbeitungsfragen: Wie ist der Text aufgebaut, welche sprachlichen Mittel
sind zu erkennen? (Analytische Textarbeit)
3. Sinnfrage: Was wollte der Autor uns damit sagen? (Applikation)
4. Wertungsfrage: Wie verhält sich das festgestellte Ergebnis der gemeinsamen
Lektüre zu den ersten Textbeobachtungen? (Feststellung der Stimmigkeit des
Textes, begreifen, was ergriffen hatte)
Regeln und Probleme der Hermeneutik
-
VOGT: Kritik an einer „Hermeneutik der Reduktion“ (ENZENSBERGER:
Interpretation ist die Fertigkeit, die es einem erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu
machen) ist völlig berechtigt und beachtenswert. Eine pluralisierende Hermeneutik
dagegen, eine Hermeneutik der Entfaltung, die der potentiellen Vieldeutigkeit des
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literarischen Textes Rechnung trägt und sie herausarbeitet, ist als Kernbereich der
Literaturwissenschaft unverzichtbar.
-
ABRAHAM: „Im Mittelpunkt des Literaturunterrichts steht immer wieder ein Werk.
Aber Literarturunterricht hat nicht kleine Textwissenschaftler hervorzubringen,
sondern einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen.
Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren
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Krise der Interpretation:
▪ rezeptionsästhetische Wende: „Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen,
kommt es zu zehn verschiedenen Interpretationen“. Vgl. Leerstellentheorie
nach ISER. Rezeptionsprozess ist nicht nur auf den kognitiven Bereich
ausgerichtet.
▪ Poststrukturalistische Texttheorien: Die eine ‚richtige‘, auf endgültige
Sinnfindung ausgerichtete Interpretation schriftlicher Texte wird in Frage
gestellt.
▪ Konstruktivistische Theorien: Der Leser interpretiert sich selbst und nicht den
Text.
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Grundannahme des HUP ist die Rezeptionsästhetik, literarische Texte weisen immer
Leerstellen auf, die von jedem Rezipienten anders gefüllt werden.
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Kern des Verfahrens: Möglichst eigentätige Auseinandersetzung der Schüler mit
einem Text, der den Schüler als Leser ernst nimmt und ihm eine Erschließung zutraut
(Schüler werden ästhetisch-künstlerisch tätig).
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Verfahren des HUP ordnet sich in die Diskussion um einen offenen,
schülerorientierten, ganzheitlichen Unterricht ein.
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Gegenmodell zum fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch, das traditionell gerade
den Literaturunterricht dominiert.
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Der Lehrer muss den Text zunächst für sich erschließen, um beurteilen zu können, wo
die Schwerpunkte und Probleme des Textes liegen, damit er Methoden und
Zugangsformen auswählen kann, die bei der Erschließung des Textes helfen:
-
Unterscheidung Produktions- / Handlungsorientierung:
▪ Produktionsorientierte Verfahren: V. A. schreibende Arbeitsformen.
▪ Handlungsorientierte Verfahren: szenische, graphisch-bildliche, musikalische,
körpersprachliche, vortragende, spielerische und ähnliche Inszenierungen zu
literarischen Texten.
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-
Kritik am HUP:
▪ KÜGLER: Überproduktivität der Schüler verhindert, dass ein Verstehen der
Schüler überhaupt erreicht wird.
▪ Schüler bekommen ein „sekundäres Verhältnis“ zur Literatur.
▪ HUP führt zu geschundenen Texten.
▪ Mystifizierende Gleichsetzung des Schülers mit dem Autor. Es wird nicht
deutlich, dass der Schüler nur parasitär an der Textproduktion tätig ist.
▪ Befürchtungen der Entstehung eines „Textfernen Lesens“ (BELGRAD,
FINGERHUT). Formulierung von sechs Thesen zum textnahen Lesen von
PAEFGEN:
1. Textnahes Lesen ist ein langsames, gründliches, schriftliches,
„altmodisches“ Lesen.
2. Textnahes Lesen geschieht meist unfreiwillig: Leseform, die gelernt
und gelehrt werden muss.
3. Textnahes Lesen ist eine schwierige Leseform.
4. „Fremdstehender“ Lesestoff erleichtert textnahes Lesen.
5. Besonders geeignete Gattungen: Lyrik, dramatische Texte, kürzere
epische Texte.
6. Methoden: Reduktion der Textmenge, Diktieren, Abschreiben,
Kommentieren.
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HAAS, MENZEL, SPINNER: Versuch, Einwände gegenüber HUP vorwegzunehmen:
1. „Das hat doch mit dem natürlichen Lesen nichts mehr zu tun!“ –
Intensivierung durch verzögertes Lesen
2. „Die produktiven Verfahren eigenen sich doch nur für kurze, moderne
Texte!“ – Auch aus Langformen können einzelne Aspekte
produktionsorientiert aufbereitet werden.
3. „Da verselbstständigen sich doch die Methoden!“ – Die genaue Passung
von Methoden ist Voraussetzung für HUP. Es gibt keine
Allgemeinmethode.
4. „Da geht doch der Respekt vor der Literatur verloren!“ – Literarische
Texte wirken produktiv – Schriftsteller schreiben immer wieder alte
Stoffe, Motive und Formen um.
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5. „Das Original entwertet die Schülertexte!“ – Schülertexte stehen für
sich und werden nicht an dem Anspruch gemessen, das Original
einzuholen.
6. „Dafür habe ich doch keine Zeit!“ – Verfahren des HUP müssen
keineswegs immer mit großem Aufwand verbunden sein.
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Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht ist vom kreativen Schreiben
abzugrenzen, da beim HUP das Ziel das Textverständnis des Primärtextes und der
ständige Rückbezug auf diesen ist.
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Zugangsformen nach GATTERMAIER/SIEBAUER:
▪ Kognitive Zugänge:
-
Einen Text rekonstruieren, dessen Abschnitte vertauscht sind;
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Einwände formulieren;
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Sprachliche, formale oder strukturelle Analysen durchführen;
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Hintergrundinformationen einbeziehen;
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Eine Textstelle aktualisieren
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Personen charakterisieren;
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Personenkonstellationen klären (auch als Standbild etc.)
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Eine Gerichtsverhandlung vorbereiten
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Die Textform verändern
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An den Autor schreiben;
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Den Text gliedern;
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Den Text in eine Graphik umwandeln
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Eine Rezension schreiben.
▪ Kreative Zugänge:
-
Den Erzählanfang weiterführen;
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Getilgte Textteile ergänzen;
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Sprech-, Denkblasen ausfüllen;
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Knapp erzählte Passagen ausführen;
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Leerstellen ergänzen;
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Eine Kernstelle variieren;
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Den Schluss verändern;
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Die Handlung eines Textes nach vielen Jahren fortsetzen;
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Eine Figur in einem Steckbrief beschreiben;
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Eine Vorgeschichte hinzufügen;
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Eine Randfigur ausgestalten;
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Eine Figur verändern;
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Den Text umschreiben (parodistisch, trivial, utopisch, ... )
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Eine Szene, ein Märchen, ein Gedicht einfügen;
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Zwei Texte kombinieren;
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Einen Text als Power-Point-Präsentation gestalten;
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Ein Rollenspiel machen;
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Für ein Buch werben;
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Eine Photostory zu einem Text entwickeln;
▪ Affektive Methoden:
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Die eigene Leseerfahrung kommentieren;
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Sich selbst in einen Text einfügen;
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Tagebucheinträge verfassen;
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Einer Figur einen Brief schreiben;
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Sich das Erscheinen des Protagonisten in der eigenen Lebenswelt
ausmalen;
-
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Einen inneren Monolog verfassen;
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Eine Verteidigungsrede für eine Figur entwerfen;
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Passende Photos / Musik suchen;
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Eine andere Umgebung gestalten;
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Personen durch Comicfiguren ersetzen;
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Ein Standbild zu einer Szene bauen;
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Ein Bild zu einem Text entwerfen;
Handeln und Analysieren müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Das eine
Verfahren kann ins Andere überführbar sein und umgekehrt.
Kanon
Literatur:
Abraham / Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Berlin 32009.
Buß: Kanonprobleme. In: Kämper-van den Boogart: Deutschdidaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe
I und II. Berlin 32006.
Fingerhut: Kanon, Kommentar und Schulkultur. Didaktische Arbeit am Kanon unter den Bedingungen
der Postmoderne. In: Der Deutschunterricht. Heft 4 / 1997. S 180 – 191.
Kammler: Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht. In: Bogdal / Korte: Grundzüge der
Literaturdidaktik. München 2002. S. 166 – 176.
Von Heydebrand: Probleme des ‚Kanons‘ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In:
Methodenkonkurenz in der germanistischen Praxis. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991.
Band 4. S. 3 – 22.
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Der Begriff „Kanon“ entstammt ursprünglich der Theologie und beanspruchte
uneingeschränkte Gültigkeit für die in ihm enthaltenen heiligen Texte.
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Die Schule ist das klassische Refugium des Kanons. Auch über den Buchmarkt und
Besprechungen wird der Kanon generiert und stabilisiert.
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Der Kanon ist zwar auf lange Dauer angelegt, jedoch bildet er keine starre
Konstellation, sondern kann durch langsame und informelle Modifikationsprozesse
variiert werden.
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Der Kanon ist bedingt durch das Ausscheiden von Literatur auch immer ein
Instrument der Zensur.
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Die Einzelbestandteile des Kanons sind nicht exakt fassbar, er liegt i.d.R. nicht als
Liste oder Verzeichnis vor.
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Es existieren innerhalb eines kulturellen Systems immer mehrere Kanones
gleichzeitig.
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Seit der Wende gibt es keinen gültigen Literaturkanon für die Schule, jedoch gibt es
kommentierte und unkommentierte Lektürevorschläge in den Rahmenlehrplänen.
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Der Verzicht auf einen amtlich postulierten Kanon bedeutet jedoch keinesfalls die
Beseitigung eines faktischen bzw. heimlichen Kanons.
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Der Kanon stellt auch in der Öffentlichkeit einen Diskussionsgegenstand dar (Die
ZEIT 1997, Reich-Ranicki 2001)
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Die Aufklärung einer Gesellschaft über sich selbst erfolgt über kulturelle Inhalte, über
Leitbilder und deren modellhafte Gestaltung. In literarischen Werken des Kanons
findet er solche Gestalten und nennt sie „Denkbilder“. (MÜLLER-MICHAELS)
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Eine Arbeit am Kanon hat eine rezeptionspragmatische und eine
kulturwissenschaftliche Dimension.
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Wozu wird ein Kanon benötigt? – Werke, die für viele Leser kulturell bedeutende
„Denkbilder“ entwerfen, gehören zur Literatur im eigentlichen Sinn, sie bilden den
Kanon. (MÜLLER-MICHAELS)
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Kanondefinition (VON HEYDENBRAND): Auswahl von Autoren und Werken, die
eine Gemeinschaft für sich als die vollkommensten anerkannt und mit Argumenten
verteidigt.
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Der Kanon ist keine Bestenliste, sondern Norm, die im Bewusstsein gehalten werden
muss.
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Werte: Erkenntnis, Ethik, Ästhetik, kognitive, emotionale, hedonistische Einteilungen.
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Diese Werte müssen im Deutungskanon mitgeliefert werden.
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Unterscheidung:
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Die kulturelle Nutzung von Literatur im pädagogischen Feld (schulische KanonSetzungen, aber auch „Interpretationshilfen“) folgt Trends in den Diskursen, die der
einzelne „User“ nicht unmittelbar kontrolliert. Nicht einmal kulturelle Meinungsführer
entscheiden hier autonom.
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Verschiedene Erwägungen äußern sich im Diskurs gemeinhin als Werturteile. Der
Kanon ist nichts als deren jeweils herrschende Zusammenfassung.
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Kanonzuweisungen ändern sich mit den kulturellen Nutzungsbedingungen.
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Diskurs-Schwankungen entstehen nicht als Ergebnisse schulischer Bildung, sondern
als Folge von Umstrukturierungen im kulturellen Feld.
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Die Zeiten sind vorbei, in denen mit Sicherheit (d.h. unter allgemeiner kultureller
Akzeptanz) angegeben werden konnte, welchen Sinn und Bildungswert Literatur in
unserer Gesellschaft hat.
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Lehrplanvorgaben stellen heute einen ‚flexiblen Kanon‘ dar.
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Es herrscht allgemeiner Konsens, dass materiale Kanonvorgaben in Widerspruch
stehen zu den leitenden Prinzipien eines demokratischen Unterrichts und zur
pädagogischen Verantwortung des einzelnen Lehrers in einer pluralistischen
Gesellschaft.
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Das bedeutet aber nicht, dass es der pädagogischen Überzeugungskraft des einzelnen
Lehrenden zustünde, seine persönliche Liebe zu einzelnen Werken ungefiltert an seine
Schüler weiterzugeben.
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Dabei mischt sich die Institution Wissenschaft und Institution Schule ein.
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Dem Prinzip „Freiheit“ (Entscheidung des Lehrers) wird das Prinzip „Sicherheit“
(Kanon als Prinzip der Sicherung eines allen Gemeinsamen) beigefügt.
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In den Lehrplänen wird sich beschränkt auf die Formulierung allgemeiner
pädagogischer Erwartungen, Rahmenvorgaben (Themen, Epochen, Textsorten) und
Lernziele.
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Lehrer sind autonomer: Auswahl der Werke, Autoren, Zielsetzungen und Methoden
können relativ frei gewählt werden.
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Freiheit impliziert Unsicherheit: Verlage machen über spezifische Schul-Editionen
Vorschläge zur Textauswahl.
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Freiheit organisiert sich systemkonform: Entscheidungen für das Konventionelle
werden als „begrüßenswert“ eingeschätzt, abweichende Entscheidungen werden durch
die gesteigerten Unsicherheiten des Selber-Arbeiten-Müssens bestraft.
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Fachdidaktische Zeitschriften vermitteln ebenso generelle didaktische Trends. Sie
dienen der Modellierung von Freiheit und Sicherheit im pädagogischen Feld.
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Es kann zwischen zwei Arten von Kanon-Konjunkturen unterschieden werden:
1. Die Werke sind konstant, jedoch variieren die Kommentare: der immer gleiche
Werther oder Faust wird zeitgemäß gedeutet und bleibt dadurch kulturell
lebendig.
2. Die Werke verlieren trotz aktualisierter Deutungen das Interesse der Leser.
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Denkbilder sind Produkt und Effekt der Kanonisierung, nicht ihres textlichen
Ausgangspunkts.
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Wie kommt es zu einem Wechsel der Wertschätzung literarischer Werke? – Änderung
der kulturellen Großwetterlage, Rosengren: „literarisches Klima“.
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Es besteht ein öffentliches Interesse an der Zu- oder Abwahl von Werken in den
Schul-Kanon. Über den Schulkanon wird exemplarisch zur Sprache gebracht, über
was in der Gesellschaft Konsens hergestellt werden muss.
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Dem wird in Form eines Freiheit und Sicherheit vermittelnden pädagogischen
Interventionismus im Bildungssystem der Schule entsprochen.
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MÜLLER-MICHAELS: Drei Kriterien für Kanonentscheidungen:
1. „Exemplarizität“ (Die Beziehung des Werkes zu seiner Epoche und/oder
Gattung)
2. „Aktualität“ (Die Beziehung zwischen dem historischen Werkkontext und den
Verstehensvoraussetzungen heutiger Lernender)
3. „Wirkungsmächtigkeit“ (die Beziehung zwischen dem Werk und dem Leser)
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Zur Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht
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Bereits 1929 forderte Walter Schönbrunn, dass die bildungsidealistische
Klassikerrezeption in der „modernen“ Schule durch einen zeitgemäßen Umgang mit
Literatur abgelöst werden muss.
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„Die Tragik der Gretchentheorie verblasst und die Reinheit Hermanns lässt den
Gedanken der Verlogenheit aufkommen.“
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Die Gegenwartsliteratur ist als Objekt wissenschaftlicher Betrachtung kaum fassbar,
da sie ständig im Fluss ist.
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Anhaltende Modernitätsangst bestimmte die Literaturdidaktik bis in die 60er Jahre.
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Ulshöfer: Gegenwartsliteratur nur als Mittel zum Zweck:
„Der Gegenwartsliteratur sollten wir nur soweit in den Unterricht Eingang
gewähren, als wir dadurch die Schüler 1. überhaupt für echte Dichtung
aufzuschließen und 2. von der Gegenwartsdichtung zum vertieften Verständnis
auch der Werke der Vergangenheit zu führen vermögen.“
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Gegenwartsliteratur findet nicht Eingang in den Kanon „echter Dichtung“, sondern hat
nur ein Bleiberecht auf Widerruf.
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Grünwaldt: Die Arbeiten der noch lebenden Schriftsteller interessieren den jungen
Menschen meist viel mehr als die Werke der Klassiker.
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Auch Ärzte oder Ingenieure sind es gewohnt, zunächst einmal das neuere Buch für das
bessere zu halten.
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Klassiker haben nur scheinhafte Aktualität, können im Deutschunterricht als
ideologische Leichen benutzt werden, an denen das Sezieren, das Analysieren von
Literatur als Methode vermittelt werden kann, ansonsten sind sie nur
Gedächtnisballast.
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Geißler: Auftrag des Literaturunterrichts: Es gilt, angepasste und eingepasste
Zeitgenossenschaft zu verhindern, verändernd auf unser gegenwärtiges Bewusstsein
einzuwirken und im mentalen Bereich die Grundlage für höhere Literatur zu schaffen.
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Fiktionale Literatur bietet Modelle alternativer Wirklichkeitsgestaltung und
insbesondere Gegenwartsliteratur kann dazu beitragen, dem Schüler eine erste
Weltorientierung zu ermöglichen.
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Im gegenwärtigen heimlichen Kanon sind trotz aller Bemühungen um eine
Didaktisierung einzelner gegenwartsliterarischer Werke nur wenige Werke enthalten.
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Kammler: Die Frage, ob der Deutschunterricht derzeit den Anschluss an das
literarische Leben der Gegenwart zu verlieren drohe, muss also weiterhin gestellt
werden.
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