Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen

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Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen
Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen:
Symptome, Ursachen, Behandlung und Vorbeugung
von Dystonien bei Holzbläsern1
André Lee und Eckart Altenmüller (Hannover)
Zusammenfassung
Das Spielen eines Holzblasinstruments erfordert die
präzise räumlich zeitliche Koordination von über
100 Muskeln und setzt langjähriges Üben voraus.
Neuroplastische Veränderungen sind die Folge,
jedoch können maladaptive Anpassungsvorgänge
zu einer Musikerdystonie führen. Hauptmerkmal
der Dystonie ist die Kokontraktion antagonistischer
Muskeln, die zu einer abnormalen Haltung der
betroffenen Körperregion führt. Bei Holzbläsern
kann neben den Fingern auch der Ansatz betroffen
sein. Die Prävalenz beträgt 1–2 %. Risikofaktoren
sind eine positive Familienanamnese, ein später
Start des Instrumentalspiels, Überlastungssyndrome und schnelle, repetitive und gleichförmige
Bewegungsabläufe. Aber auch gesellschaftliche
Faktoren wie der immer höhere Anspruch an (technischer) Perfektion müssen berücksichtigt werden.
Für die Diagnose ist die Untersuchung am Instrument notwendig und es dürfen keine weiteren
fokalneurologischen Symptome vorliegen. Differenzialdiagnostisch muss an neurodegenerative,
metabolische oder handchirurgische Erkrankungen, an medikamenteninduzierte Dystonie und
an psychologische Erkrankungen gedacht werden.
Die medikamentöse Therapie umfasst das Anticholinergikum Trihexyphenidyl und die Injektion von
Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln, wobei
Letzteres nicht zur Behandlung der Ansatzdystonie geeignet ist. Verschiedene Retrainingverfahren
wurden entwickelt, um die Bewegungskontrolle
wiederherzustellen. Ergonomische Veränderungen
am Instrument können die Therapie unterstützen.
Die Entwicklung und Erforschung neuer Therapieansätze aber auch die Vermittlung präventiver
Maßnahmen, z. B. beim Übeverhalten, bereits zu
Beginn der musikalischen Ausbildung, sind dringend notwendig.
Abstract
Playing a woodwind instrument involves the precise
temporospatial coordination of more than 100
muscles for which many years of intense practice are
necessary, resulting in neuroplastic changes in the
brain. However, maladaptive plasticity may lead to
musician’s dystonia. The main pathognomonic finding is a painless cocontraction of antagonist muscles,
leading to an abnormal posturing of the affected
body part. In woodwind-instrumentalists, mainly
the fingers or the embouchure are affected with a
prevalence of 1–2 %. In up to 30 % the dystonia may
spread to other tasks or to adjacent muscles. Risk
factors include a positive family history, late start
of instrument playing, chronic overuse syndromes
and fast, repetitive movements. But also societal
influences as an increasing demand for e.g. (technical) perfectionism must be taken into account. For
the diagnosis an examination at the instrument is
necessary and otherwise normal neurological findings are required. The differential diagnoses include
neurodegenerative disorders, medication, metabolic
disorders, mechanical restrictions of the fingers or
psychological disorders. The therapy consists of
medication with Trihexyphenidyl or injection of
Botulinumtoxin into the affected muscles, although
the latter is not applicable in embouchure dystonia.
Furthermore different forms of retraining are available. Ergonomic changes at the instrument may
support the rehabilitation.
Key Words
Focal Dystonia, Wood-Wind Players, Musician’s
Medicine, Botulinumtoxin, Ergonomics
Schlüsselwörter
Fokale Dystonie, Holzbläser, Musikerkrankheiten,
Botulinumtoxin, Ergonomie
1
Eine leicht veränderte Version dieses Artikels ist in der Zeitschrift „Das Rohrblatt“ unter folgenden bibliographischen Angaben erschienen: Eckart Altenmüller und André Lee: Wenn die Finger oder der Ansatz
nicht mehr kontrolliert werden: Die Fokale Dystonie bei Holzbläsern. Das Rohrblatt 2013; 28: 14–18.
Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21
5
Einführung: Was ist „technisch“ schwierig
beim Spielen von Holzblasinstrumenten?
Das Spielen von Holzblasinstrumenten stellt hohe
Anforderungen an unser Bewegungssystem. Fingerbewegungen beider Hände, Ansatz-, Zungen-, Mundund Atembewegungen müssen mit allerhöchster
zeitlicher und räumlicher Präzision kontrolliert
werden. Die Bewegungen sind oft kompliziert. So
gehört beispielsweise der isolierte Einsatz einzelner
Finger mit gegensinnigen Bewegungen zum Alltag
des Bewegungsrepertoires von Holzbläsern. Bei
diesen Gabelgriffen müssen anatomisch-biomechanisch ungleichartige Finger gleichartige Aufgaben
hinsichtlich Schnelligkeit und Koordination übernehmen. Nicht nur die Beugung, sondern auch die
weniger geübte Streckung der Finger zum Öffnen
der Klappen oder Tonlöcher muss bewusst und sehr
schnell eingesetzt werden. Viele Griffwechsel erfordern das präzise Senken und Anheben von mehreren Fingern mit einer maximalen Fehlertoleranz von
zwei hundertstel Sekunden. Bezieht man Artikulation, Ansatzmuskulatur, Atmung und Haltung mit
ein, dann müssen bei solchen Griffwechseln ca. 180
Muskeln im Millisekundenbereich präzise programmiert werden [4]. Wir müssen üben, um solche
komplizierten zentralnervösen Steuerprogramme zu
erstellen und auch zu erhalten. Daher gehört lebenslanges Lernen zum Musikerdasein [1].
„Neuroplastizität“. Die sensomotorischen Fingerund Lippenregionen sind bei Holzbläsern vergrößert,
ebenso die Hörregionen im Schläfenlappen. Der
Balken als mächtiges Nervenfaserbündel verbindet
die linke und die rechte Hirnhälfte. Er ist bei Berufsmusikern dichter und mit dickeren Fasern versehen,
wodurch die schnelle Koordination beider Hände
erleichtert wird [1].
Zu Beginn des Übens werden in den prämotorischen
und supplementär motorischen Großhirnregionen
des Stirnlappens die Bewegungssteuerprogramme
unter bewusster Kontrolle des Gehörs und der Eigenwahrnehmung erstellt. Im Verlauf des Übens kommt
es zur Automatisation. Die bewusste Kontrolle kann
aufgegeben werden und Anteile der Bewegungsprogramme – z. B. Griffwechsel, gebrochene Akkorde,
Tonleitern – werden als Untereinheiten, als sogenannte Chunks, im Handlungsgedächtnis abgespeichert. Dies liegt überwiegend in den Basalganglien,
tief im Innern des Gehirns. Sind Bewegungsabläufe
dort verinnerlicht, werden sie nur schwer wieder
gelöscht. Daher ist es so anstrengend, alte Bewegungsgewohnheiten, die z. B. durch falsche Anleitung
entstanden sind, wieder zu verlernen. Die Anfänger
brauchen die besten Lehrer!
Jahrelanges intensives und lustbetontes Üben führt
zu Anpassungsvorgängen der Gehirnvernetzung
und der Gehirnstruktur. Man nennt diesen Vorgang
Was ist eine „fokale Dystonie“?
Die plastischen Anpassungsvorgänge des Gehirns
können in seltenen Fällen auch negative Auswirkungen haben. Die für die Finger oder den Ansatz zuständigen vergrößerten neuronalen Netzwerke „verwirren“ sich, bildlich gesprochen, und es werden zu viele
oder falsche Muskeln zu stark oder zu lange angespannt. Dies führt dann zunächst vorübergehend zu
einer Verschlechterung der Spielfähigkeit, die natürlich Angst erzeugt und im Bewegungsgedächtnis
der Basalganglien eingespeichert wird. So kann ein
hartnäckiges Bewegungsproblem bestehen bleiben.
Ist eine derartige Störung beim Spielen eingespeichert und immer präsent, wird sie „fokale Dystonie“
gennant. Dieser Begriff bezeichnet eine neurologische Erkrankung, die durch Fehlspannungen von
Muskelgruppen („Dystonie“) in einem bestimmten
Körperbereich (fokal) gekennzeichnet ist. Fokale
Dystonie kann bei allen Instrumentalisten auftreten
und ist auch in anderen Berufen bekannt, am häufigsten als Schreibkrampf bei Menschen, die sehr viel
schreiben, z. B. bei Lehrern [2, 4, 6, 7].
Insgesamt ist es aber eine seltene Erkrankung, die
etwa 1–2 % der professionellen Holzbläser betrifft.
Frühe Symptome sind Erschwernisse bei schnellen
Wechselbewegungen wie z. B. bei Trillern, kleine
Unregelmäßigkeiten bei Läufen und das Gefühl des
„Klebens“ an einer Klappe des Instruments. Auch
unwillkürliches Aufheben gehört dazu, was sich dann
als „Luft ziehen“ unangenehm bemerkbar macht.
Häufig bemerken die Betroffenen auch ein ständiges
Spannungsgefühl im Bereich des Unterarms oder
bei Ansatzdystonien in der Ansatzregion [4]. Ist die
Erkrankung weiter fortgeschritten, dann werden
unwillkürliches Einrollen oder Abstrecken einzelner
Finger oder auch unkontrollierte Handgelenkshaltungen häufig offensichtlich. Gelegentlich können
auch kurz dauernde Muskelkontraktionen (Myoklonien) oder ein unwillkürliches Muskelzittern (fokaler Tremor) die Symptomatik dominieren. Vor allem
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bei den Ansatzdystonien ist ein Zittern der Lippen
und des Unterkiefers häufig ein Symptom [10, 14].
Schmerzen gehören nicht primär zur Symptomatik
der Dystonie. Sie können aber als Folge von übermäßiger Muskelanspannung auftreten.
Abb. 1a: Dystonie bei einem Oboisten.
Abb. 1b: Dystonie bei einem Flötisten.
Die Symptome der Dystonie sind oft sehr subtil. Der Oboist
(Abb. 1a) klagte über eine unwillkürliche Beugung des
Daumens. Man erkennt aber gut die hochgradige Verspannung im Daumenballen. Das charakteristische unwillkürliche Einrollen oder Abspreizen einzelner Finger während des
Spiels sieht man heutzutage nur noch selten. Bei dem Flötisten (Abb. 1b) besteht die dystone Bewegung in einem starken
Beugetonus des Zeigefingers, weniger des Mittelfingers. Der
Kleinfinger streckt sich in einer kompensatorischen Bewegung
unwillkürlich, um so eine Hebung von Ring- und Mittelfinger
zu erleichtern.
Ist die Verkrampfung nicht mehr nur auf das Musizieren beschränkt und zeigt sie sich z. B. auch beim
Schreiben, spricht man von einem dystonen Krampf.
Eine derartige Ausweitung auf andere Tätigkeiten
Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen
tritt bei einem Drittel der Musiker-Patienten
auf [4, 6, 10]. Bei einem sehr kleinen Prozentsatz
(unter 2%) breitet sich die Dystonie aus und betrifft
dann z. B. nicht nur die Hand sondern auch Unterund Oberarm. Man spricht dann von einer segmentalen Dystonie. Entwickelt sich auch eine Dystonie an
der zuerst nicht betroffenen Seite, z. B. an der anderen
Hand, spricht man von einer multifokalen Dystonie.
Eine derartige Ausweitung ist bei Holzbläsern nicht
häufig, sie betrifft im Verlauf der Erkrankung maximal 10 %. Die Ausprägung der Symptome kann stark
wechseln und es werden bei bis zu 20 % der Betroffenen vorübergehende deutliche Verbesserungen
beobachtet [4].
Auffällig ist die unterschiedliche Geschlechterverteilung bei der Musikerdystonie: Männer sind mit
81 % deutlich überrepräsentiert. In Tabelle 1 sind
die wesentlichen Besonderheiten der von Dystonie
betroffenen Musiker zusammengefasst [12, 13].
Wer entwickelt eine Dystonie?
Wir haben in den letzten Jahren einige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Dystonie herausgefunden. So scheint es eine genetische Veranlagung
zu geben, denn in bis zu 36 % der Fälle sind weitere
Familienangehörige von einer Dystonie betroffen
[12]. Aber auch andere äußere (exogene) oder in der
Person angelegte (endogene) Faktoren können eine
Rolle bei der Auslösung einer Bläserdystonie spielen
[13]. Hohe Präzision, Komplexität und Geschwindigkeit des erforderlichen Bewegungsablaufes sind
Triggerfaktoren. Aus diesem Grund betrifft beispielsweise die Dystonie bei Holzbläsern beide Hände
gleichermaßen häufig, während bei Streichern öfter
die linke Hand betroffen ist [2, 5]. Auch die Instrumente, die häufig sehr schnelle Läufe spielen müssen,
sind vermehrt betroffen. In Tabelle 2 sind die Häufigkeiten der fokalen Dystonie bei den jeweiligen Instrumenten aufgezeigt.
Ein weiterer Risikofaktor scheint ein später Beginn
des Instrumentalspiels zu sein. Diejenigen Instrumentalisten, die ihre Ausbildung nach dem 12. Jahr
begonnen haben, sind etwa dreimal häufiger von
einer Dystonie betroffen als diejenigen, die vor ihrem
10. Lebensjahr angefangen haben zu spielen [14].
Chronische Überbelastung und insbesondere chronische Schmerzen können als weitere Risikofaktoren
7
Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21
Risikofaktoren der Musikerdystonie
Genre
Klassische Musik
95 %
Geschlecht
Häufigste
Instrumente
Männlich
Klavier > Holzblasinstrumente > Gitarre >
Blechblasinstrumente > Streicher
81 %
Alter
Beginn der Symptomatik vor dem 40. Lebensjahr
80 %
Psychologische
Konstellation
Angststörungen und /oder Perfektionismus
70 %
Berufliche
Position
Solisten
51 %
Veränderter
somatosensorischer
Input
Schmerzsyndrome, Nervenkompression
9%
Familiäre Häufung
Angehörige ersten Grades betroffen
36 %
Tab. 1: Risikofaktoren der Musikerdystonie (n = 144)
Aus insgesamt 591 Patienten mit Musikerdystonie, die in unserer Musiker-Ambulanz
im Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover diagnostiziert
und behandelt wurden, ist eine Stichprobe von 144 Patienten mit Musikerdystonien
ausgewertet worden. Zusätzlich wurden 28 Familien von Patienten mit Dystonie
hinsichtlich Bewegungsstörungen untersucht.
Tab. 2: Musikerdystonie. Verteilung auf Grundlage der Instrumente (n = 144)
Vor allem Querflötisten, Pianisten, Gitarristen und Geiger sind in der Stichprobe
relativ häufig von Dystonie betroffen. Interessant ist, dass die tieferen Instrumente
(Fagott, Kontrabass etc.), die oft langsamere Bewegungsabläufe erfordern, seltener
betroffen sind.
für die Entwicklung einer fokalen Dystonie angesehen werden.
Hier ist es wichtig, dass solche
Schmerzen früh und ausreichend
behandelt werden. Gelegentlich
entwickelt sich eine fokale Dystonie auch nach Nervenschäden. So
haben wir bei einer Gefühlsstörung der Unterlippe durch Verletzung des unteren Kiefernnervs
(Nervus alveolaris inferior) bei
Weisheitszahn-Operationen zwei
Flötisten mit einer Ansatzdystonie gesehen [4]. Dystonien nach
schmerzhaften Überlastungsverletzungen betrafen 9 % aus einer
Stichprobe von 144 betroffenen
Musikern, welche sich bei uns
vorstellten. In psychologischen
Untersuchungen konnten, bei
einem bedeutenden Teil der
Betroffenen bereits vor Ausbruch
der Krankheit, vorhandene
Neigungen zur Angstbereitschaft
und zum Perfektionismus nachgewiesen werden [7, 8].
Wie wird eine HolzbläserDystonie diagnostiziert?
Die Diagnose einer Musikerdystonie wird durch die sorgfältige
Erhebung der Krankengeschichte
und durch die klinische Untersuchung gestellt. Grundsätzlich setzt die Diagnosestellung
der Holzbläser-Dystonie immer
eine Untersuchung am jeweiligen Musikinstrument voraus.
Ein vollständiger neurologischer
Befund muss immer mit erhoben werden, um eine Störung
der Koordination als Frühsymptom anderer neurologischer
Erkrankungen auszuschließen.
Auch ein psychiatrischer Befund
ist notwendig, um psychische
Erkrankungen zu erkennen, die
sich manchmal in übermäßigen Verspannungen und Bewegungsstörungen äußern können.
8
Schließlich sollten bei Handdystonien immer auch
die biomechanischen Handfunktionen untersucht
werden, um biomechanische Hemmnisse und Risikofaktoren zu erfassen. Die neurophysiologische
Diagnostik mit Messung von Nervenleitwerten und
Elektromyogramm ist bei der Holzbläser-Dystonie
nicht ergiebig [4]. Eine weiterführende Diagnostik
mit Blutanalyse, Röntgenaufnahmen, Muskelstrommessungen etc. ist nicht notwendig, wenn folgende
Kriterien erfüllt sind:
• Die Musikerdystonie tritt ausschließlich aufgabenspezifisch bei sonst ungestörten Handfunktionen
auf (z. B. nur beim Klarinettenspiel).
• Der neurologische, psychiatrische und biomechanische Befund sind sonst unauffällig.
• In der Krankengeschichte ergeben sich keine
Hinweise auf eine familiäre Häufung und keine
Hinweise auf eine symptomatische Ursache, wie
beispielsweise chronische Schmerzen, Nervenverletzungen oder die Einnahme bestimmter
Psychopharmaka, die Dystonien auslösen können
(z. B. Haloperidol).
Weitere wegweisende diagnostische Hinweise
entstehen durch Einbeziehung des „Sensory-Trick“Phänomens: Gelegentlich verspüren Holzbläser mit
Handdystonien beim Spiel mit einem Latexhandschuh eine deutliche Verbesserung des subjektiven
Spannungsgefühl [9]. Typischerweise berichten die
Musiker auch über eine Verbesserung der Dystonie
in Konzertsituationen, was die Abgrenzung von
Verspannungen oder Bogenzittern auf Grund von
Aufführungsangst erleichtert [7].
Abgrenzen muss man die fokale Dystonie vor allem
von handchirurgischen Erkrankungen. Ringbandverengungen der Fingersehnen können eine Streckhemmung verursachen, die sich ähnlich wie eine
Dystonie auswirkt, aber nicht aufgabenspezifisch ist.
Derartige Störungen treten auch im Alltag bei anderen Bewegungen auf. Bei der körperlichen Untersuchung lassen sich die biomechanisch bedingte
Streckhemmung und der Druckschmerz über dem
verengten Ringband leicht feststellen [4]. In seltenen
Fällen können andere Basalganglienerkrankungen
eine Musikerdystonie imitieren. So kann bei einem
beginnenden Parkinson-Syndrom eine der Dystonie
Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen
ähnliche Störung schneller repetitiver Fingerbewegungen am Instrument im Vordergrund stehen.
Weiterhin muss bedacht werden, dass Schmerzen bei
Musikern häufig auch eine Erschwernis von Bewegungsabläufen mit sich bringen und dass auch bei
etwa 9 % der Dystoniepatienten vor Ausbruch der
Dystonie chronische Schmerzen in der betroffenen
Körperregion bestanden [4, 8]. Bei Ansatzdystonien
müssen Überlastungsverletzungen und Muskelfaserrisse des Mundringmuskels (M. orbicularis oris)
ausgeschlossen werden [14]. Im Gegensatz zur Dystonie sind sie durch einen ganz plötzlichen Beginn bei
starker Belastung und durch Schmerzen, oft auch
durch einen Bluterguss und nachfolgender schwerwiegender Spielstörung, charakterisiert. Der Verlauf
dieser muskulär bedingten Spielstörungen ist gut und
die meisten Holzbläser erholen sich vollständig.
Auch psychische Erkrankungen können manchmal
mit Schilderungen seitens des Patienten einhergehen, die mitunter den Verdacht auf eine Dystonie
lenken. So klagen vor allem ältere erkrankte Berufsmusiker an Depressionen und nicht selten über einen
Geschwindigkeitsverlust und über vermeintliche
Einbußen der feinmotorischen Kontrolle, die objektiv mit dem natürlichen Alterungsprozess und den
damit verbundenen nachlassenden feinmotorischen
Fertigkeiten in Zusammenhang zu bringen sind [4].
Eine schwierige Differentialdiagnose ist die Abgrenzung zum „dynamischen Stereotyp“. Dieser Begriff
stammt aus der Sportwissenschaft und steht für falsch
eingeübte Bewegungsgewohnheiten, die jedoch im
Gegensatz zur fokalen Dystonie leichter korrigiert
werden können und durch bewusste Hinlenkung
der Aufmerksamkeit einen korrekten Bewegungsablauf ermöglichen. Ein Charakteristikum ist hier
im Gegensatz zur Musikerdystonie das regelmäßige
Auftreten von „Inseln“ mit stunden- bis tageweiser
Symptomfreiheit! Die Prognose ist günstiger als bei
der Musikerdystonie, allerdings kann sich aus dem
dynamischen Stereotyp auch eine Dystonie entwickeln [4].
Als besondere Variante der Holzbläser-Dystonie
wird das fokale oder dystone Zittern (Tremor) aufgefasst [10]. Dabei kommt es beim Instrumentalspiel
zu einem auf wenige Muskelgruppen beschränkten unwillkürlichen Zittern, das häufig sehr
Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21
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ungleichmäßige Ausschläge aufweist. In Ruhe ist
kein Zittern nachweisbar.
schließen. An derartige ergonomische Lösungen
sollte daher immer gedacht werden. Auch Finger-
Aus dem oben Gesagten wird klar, dass die Diagnose
einer Holzbläserdystonie immer durch einen Neurologen gestellt werden muss. Musiker, Physiotherapeuten und in der Regel auch Hausärzte sind mit dieser
verantwortungsvollen Aufgabe überfordert.
Wie wird die Holzbläser-Dystonie behandelt?
Noch vor zwei Jahrzehnten war die Diagnose einer
„fokalen Dystonie“ für die meisten Betroffenen ein
beruflicher und emotionaler Vernichtungsschlag!
Das hat sich seither grundlegend gewandelt und wir
können gute Therapien anbieten, die vielen Betroffenen die berufliche Existenz sichern und Musizieren
auf höchstem Niveau ermöglichen! Etwa 10 % der
Patienten gelingt es sogar, die Dystonie ganz zu besiegen und durch die Erfahrung mit der Bewegungsstörung ein reicheres Leben zu führen [15].
Ziel der Therapie ist es, die im Bewegungsgedächtnis verankerten dystonen Bewegungsmuster zu
verlernen, die unwillkürlichen Muskelanspannungen abzubauen und funktionell günstige Bewegungen zu ersetzen, durch auch in schnellem Tempo mit
Leichtigkeit funktionierende Bewegungen. Auf musikermedizinisch-musikpädagogischer Seite stehen
Retrainingsverfahren zur Verfügung. Als schulmedizinische Therapie kann das Medikament Trihexyphenidyl und die Schwächung der verkrampfenden
Muskelzüge mit Botulinumtoxin angewendet werden
[3, 7].
Abb. 2a: Daumenstütze Klarinette
Ergonomische Lösungen zur Verbesserung der Spielfähigkeit bei Dystonie. Entlastung von Haltearbeit durch
optimierte Stützen (Abb. 2a und 2b) und größere Fehlertoleranz bei sich unwillkürlich einziehenden Fingern
durch Veränderungen der Klappen (Abb. 2c und 2d).
Ergonomische Veränderungen
Ergonomische Veränderungen am Instrument
können als symptomatische Therapie sehr segensreich sein. Auf den Abbildungen 2 a–d sind einige
Beispiele aufgezeigt: Optimierte Stützen helfen,
um übermäßige Spannungen in der Hand zu
verringern. Sie können so die Symptomatik insgesamt lindern (siehe Beispiele a. und b. für Klarinette
und Fagott). Das Decken oder die Verlängerung von
Klappen (Beispiele c. und d.) oder sogar die Übernahme einer Klappe aus der linken in die rechte Hand
kann sehr hilfreich sein. (Das wurde bei einem Flötisten mit Erfolg an der Gis-Klappe erprobt.) Durch das
Decken der Klappe muss der Finger nicht mehr genau
das Tonloch treffen und kann z. B. bei einer unwillkürlichen Krümmung immer noch das Loch präzise
Abb. 2b: Fagottstütze
schienen können in manchen Fällen die unwillkürliche Flexion der betroffenen Finger reduzieren und so
das Instrumentalspiel erleichtern.
Retrainingverfahren
Zur Behandlung der Musikerdystonien sind in den
letzten Jahren verschiedene, auf Retrainingprinzipien basierende Therapieformen entwickelt worden,
wie etwa das „Sensomotorische Retuning“ von der
Arbeitsgruppe um Thomas Elbert in Konstanz.
Bei diesem Ansatz werden die kompensatorischen
10
Bewegungen durch Schienung unterdrückt und
die dystonen Finger spezifischen Übungsverfahren
unterzogen. Allerdings scheint das bei Holzbläsern
weniger wirksam zu sein, möglicherweise, weil oft
Haltearbeit (Stützen des Instruments) und Fingerfeinmotorik in einer Hand benötig werden. Ein vom
Pianisten und Klavierpädagogen Laurent Boullet
in Berlin entwickeltes Rehabilitationsprogramm
beruht auf der Beobachtung, dass dystone Bewegungen vermieden werden können, wenn die Kraft und
die Geschwindigkeit einer Bewegung eine kritische
Grenze nicht überschreiten. Durch Bewegungsübungen in sehr langsamem Tempo und mit wenig
Krafteinsatz kann auf Dauer diese kritische Grenze
in eine günstige Richtung verschoben werden. Diese
über mehrere Jahre verlaufende Therapie setzt eine
gute Mitarbeit und viel Geduld bei den Patienten
voraus. Auch Lehrer der Dispokinese-Methode
können gute Erfolge im Retraining vorweisen. Bei
Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen
Bewegungszentren der Basalganglien. Dort erleichtert es das Neulernen, vermutlich durch Beeinflussung des Handlungsgedächtnisses. Es kann als
Einzeltherapie oder in Kombination mit Botulinumtoxin bzw. im Zusammenhang mit Retrainingverfahren eingesetzt werden. Wichtig ist ein einschleichender Behandlungsbeginn. Nach anfänglicher täglicher
Dosierung von 1 mg zur Nacht erfolgt üblicherweise
innerhalb von drei Wochen die allmähliche Steigerung bis zur Nebenwirkungsgrenze bei in der Regel
6–12 mg/ Tag. In vielen Fällen kann allerdings
Trihexyphenidyl aufgrund von Nebenwirkungen (Müdigkeit, Schwindel, Stimmungslabilität,
Gedächtnisstörungen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Harnverhalt, Potenzschwierigkeiten) nicht
ausreichend hoch dosiert werden. Eine langfristige
Besserung mit dem Medikament wird von einem
Drittel der Betroffenen berichtet. Die Kombinationstherapie mit Botulinumtoxin hat in Einzelfällen die
Therapieergebnisse verbessert[4].
Botulinumtoxin
Die guten Erfahrungen mit lokaler Injektion von Botulinumtoxin
A haben diesen Behandlungsweg bei den Handdystonien von
Holzbläsern in den letzten Jahren
zunehmend in den Vordergrund
gestellt. Als Voraussetzung für
die wirksame Behandlung von
Musikerkrämpfen müssen primär
dystone Bewegungen von sekundär kompensierenden Bewegungen unterschieden werden.
Dazu ist es unumgänglich, dass
Abb. 2c: Veränderung der Klappen,
Abb. 2d: Klappenersatz, Klarinette
der Bewegungsablauf am InstruKlarinette
ment präzise analysiert wird. Eine
videografische Aufnahme mit
der Behandlung der Ansatzdystonie der Blasinst- Slow-Motion-Darstellung hat sich bewährt. Häufig
rumentalisten konnte durch technische Übungen, können die Patienten auch beschreiben, welcher
Ansatzumstellung und vermehrte Betonung der Bewegungsablauf primär betroffen war. Eine fälschAtemführung in weniger stark ausgeprägten Fällen liche Injektion in die kompensierenden Muskeln
eine Besserung erzielt werden [15].
führt zu einer Verschlechterung der Symptomatik.
Da der weitaus größte Teil der Handdystonien BeugeTrihexyphenidyl
dystonien sind, sind Injektionen in die StreckerVon den infrage kommenden medikamentösen Thera- muskeln selten angebracht [15]. Die Führung der
pien ist das anticholinerg wirkende Medikament Injektion durch Muskelstrommessung oder eine
Trihexyphenidyl (Parkopan, Artane) am effektiv- sonographische Darstellung der Muskeln und der
sten. Es wurde ursprünglich zur Behandlung der Nadellage sind unseres Erachtens unumgänglich. Bei
Parkinsonkrankheit entwickelt und wirkt auf die über der Hälfte der mit Botulinumtoxin behandelten
Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21
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Musikerpatienten, ist auch langfristig eine Besserung
der Symptomatik zu beobachten. Für die Therapie
der Ansatzdystonie der Holzblasinstrumentalisten
ist Botulinumtoxin in der Regel nicht geeignet, allerdings kann in den seltenen Fällen einer übermäßigen
Verkrampfung des Kieferschlussmuskels (Musculus masseter) die Spielfähigkeit durch Injektionen
wieder hergestellt werden [4].
nach Zeiträumen von acht bis zehn Jahren etwa ein
Drittel der betroffenen Holzbläser den Beruf gewechselt. Häufig werden pädagogische Aufgaben oder auch
ein Wechsel zu einem anderen Instrument als Lösung
gewählt. Die Entwicklung von gezielten Vorbeugemaßnahmen und von neuen Behandlungsverfahren
ist daher dringend erforderlich, besonders für die
bislang nur unzureichend therapierbaren Ansatzdystonien bei Holzblasinstrumentalisten. Einige neue
Therapieansätze wurden beschrieben, sind aber noch
als experimentell einzustufen und müssen an größeren Patientenzahlen, auch hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit, evaluiert werden. Weiterhin ist es notwendig,
allgemeine Richtlinien für Retraining-Therapien zu
formulieren und in der Praxis zu überprüfen. Eine
solche Identifizierung eines „günstigen“ Verhaltens
am Instrument ist besonders auch im Hinblick auf
die Prävention der Musikerdystonie wünschenswert.
Entscheidend für die Prävention sind vernünftige
Übegewohnheiten mit vielen Pausen (spätestens
nach ca. 45 Minuten), variable Übeweisen, sowie
optimierte Ergonomie und ein spielerischer, angstfreier Zugang zum Instrument. Ziel sollte es dabei
sein, den Instrumentalschülerinnen und Instrumentalschülern ein Bewusstsein für diese Maßnahmen
gezielt bereits zu Beginn der musikalischen Ausbildung zu vermitteln [1].
Andere Maßnahmen
Über Wochen bis Monate dauernde Spielpausen
oder andere Maßnahmen, wie z. B. Akupunktur,
Physiotherapie, Massagen, Elektrotherapie oder
Psychotherapie hatten in der Langzeitbeobachtung
keinen Einfluss auf die Ausprägung der Musikerdystonie. Es muss allerdings betont werden, dass
die Diagnose einer fokalen Dystonie für Musiker
mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden
ist. Daher kann in Einzelfällen Psychotherapie als
Krisenintervention notwendig sein. Auch wenn
diese nicht direkt zu einer Besserung der Symptomatik führt, kann sie unter Umständen die Voraussetzung für einen optimalen Therapieeffekt anderer
Behandlungen schaffen [15].
Allgemein ist die Behandlung der Holzbläserdystonie schwierig und sollte spezialisierten Neurologen und Therapeuten vorbehalten bleiben. Für
jeden Patienten muss ein individueller Therapieplan
ausgearbeitet werden, der sich nach der Ausprägung
und dem Schweregrad der Erkrankung, der beruflichen Tätigkeit, der Lebenssituation und nach den
Erwartungen des Patienten richtet. Ergonomische
Maßnahmen, Anticholinergika und eine Injektionstherapie mit Botulinumtoxin können eine rasche
Linderung bewirken, wobei die Injektionen etwa
vierteljährlich wiederholt werden müssen. Retraining benötigt ein jahrelanges Engagement von
Seiten der Patienten. Da komplette Heilungen sehr
selten sind, raten wir Patienten unter 30 Jahren
grundsätzlich zu einer breiteren beruflichen Orientierung und zum Aufbau eines zweiten Standbeins
außerhalb des Instrumentalspiels [4].
Obwohl dank der aktuell verfügbaren therapeutischen Ansätze also bei einem Großteil der Patienten
mit Musikerdystonien mittelfristig eine Besserung
der Symptomatik zu beobachten ist, sind die Möglichkeiten zur Behandlung bis heute noch nicht zufriedenstellend. In verschiedenen Follow-up-Studien hat
Bei der Musikerdystonie sollten aber auch die
gesellschaftlichen Dimensionen nicht ausgeblendet
werden. Die Entstehung dieser Erkrankung im 19.
Jahrhundert, in einer Zeit, in der Spezialisierung
und Professionalisierung, Perfektion, Geschwindigkeit und artistische Höchstleistung als wesentliche
ästhetische Kategorien in die musikalische Praxis
Einzug gehalten haben, weist einen weiteren Weg
in die Richtung der Prävention: Abkehr vom toten
Perfektionismus und Hinwendung zum eigentlichen Inhalt der Musik, zur Kommunikation von
Emotionen.
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Korrespondenz
Dr. med. André Lee und
Prof. Dr. med. Dipl. mus. Eckart Altenmüller
Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin
Emmichplatz 1
30175 Hannover
Tel. 0511/3100 552
Fax 0511/3100 557
E-Mail: [email protected]
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