4 Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen: Symptome, Ursachen, Behandlung und Vorbeugung von Dystonien bei Holzbläsern1 André Lee und Eckart Altenmüller (Hannover) Zusammenfassung Das Spielen eines Holzblasinstruments erfordert die präzise räumlich zeitliche Koordination von über 100 Muskeln und setzt langjähriges Üben voraus. Neuroplastische Veränderungen sind die Folge, jedoch können maladaptive Anpassungsvorgänge zu einer Musikerdystonie führen. Hauptmerkmal der Dystonie ist die Kokontraktion antagonistischer Muskeln, die zu einer abnormalen Haltung der betroffenen Körperregion führt. Bei Holzbläsern kann neben den Fingern auch der Ansatz betroffen sein. Die Prävalenz beträgt 1–2 %. Risikofaktoren sind eine positive Familienanamnese, ein später Start des Instrumentalspiels, Überlastungssyndrome und schnelle, repetitive und gleichförmige Bewegungsabläufe. Aber auch gesellschaftliche Faktoren wie der immer höhere Anspruch an (technischer) Perfektion müssen berücksichtigt werden. Für die Diagnose ist die Untersuchung am Instrument notwendig und es dürfen keine weiteren fokalneurologischen Symptome vorliegen. Differenzialdiagnostisch muss an neurodegenerative, metabolische oder handchirurgische Erkrankungen, an medikamenteninduzierte Dystonie und an psychologische Erkrankungen gedacht werden. Die medikamentöse Therapie umfasst das Anticholinergikum Trihexyphenidyl und die Injektion von Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln, wobei Letzteres nicht zur Behandlung der Ansatzdystonie geeignet ist. Verschiedene Retrainingverfahren wurden entwickelt, um die Bewegungskontrolle wiederherzustellen. Ergonomische Veränderungen am Instrument können die Therapie unterstützen. Die Entwicklung und Erforschung neuer Therapieansätze aber auch die Vermittlung präventiver Maßnahmen, z. B. beim Übeverhalten, bereits zu Beginn der musikalischen Ausbildung, sind dringend notwendig. Abstract Playing a woodwind instrument involves the precise temporospatial coordination of more than 100 muscles for which many years of intense practice are necessary, resulting in neuroplastic changes in the brain. However, maladaptive plasticity may lead to musician’s dystonia. The main pathognomonic finding is a painless cocontraction of antagonist muscles, leading to an abnormal posturing of the affected body part. In woodwind-instrumentalists, mainly the fingers or the embouchure are affected with a prevalence of 1–2 %. In up to 30 % the dystonia may spread to other tasks or to adjacent muscles. Risk factors include a positive family history, late start of instrument playing, chronic overuse syndromes and fast, repetitive movements. But also societal influences as an increasing demand for e.g. (technical) perfectionism must be taken into account. For the diagnosis an examination at the instrument is necessary and otherwise normal neurological findings are required. The differential diagnoses include neurodegenerative disorders, medication, metabolic disorders, mechanical restrictions of the fingers or psychological disorders. The therapy consists of medication with Trihexyphenidyl or injection of Botulinumtoxin into the affected muscles, although the latter is not applicable in embouchure dystonia. Furthermore different forms of retraining are available. Ergonomic changes at the instrument may support the rehabilitation. Key Words Focal Dystonia, Wood-Wind Players, Musician’s Medicine, Botulinumtoxin, Ergonomics Schlüsselwörter Fokale Dystonie, Holzbläser, Musikerkrankheiten, Botulinumtoxin, Ergonomie 1 Eine leicht veränderte Version dieses Artikels ist in der Zeitschrift „Das Rohrblatt“ unter folgenden bibliographischen Angaben erschienen: Eckart Altenmüller und André Lee: Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr kontrolliert werden: Die Fokale Dystonie bei Holzbläsern. Das Rohrblatt 2013; 28: 14–18. Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21 5 Einführung: Was ist „technisch“ schwierig beim Spielen von Holzblasinstrumenten? Das Spielen von Holzblasinstrumenten stellt hohe Anforderungen an unser Bewegungssystem. Fingerbewegungen beider Hände, Ansatz-, Zungen-, Mundund Atembewegungen müssen mit allerhöchster zeitlicher und räumlicher Präzision kontrolliert werden. Die Bewegungen sind oft kompliziert. So gehört beispielsweise der isolierte Einsatz einzelner Finger mit gegensinnigen Bewegungen zum Alltag des Bewegungsrepertoires von Holzbläsern. Bei diesen Gabelgriffen müssen anatomisch-biomechanisch ungleichartige Finger gleichartige Aufgaben hinsichtlich Schnelligkeit und Koordination übernehmen. Nicht nur die Beugung, sondern auch die weniger geübte Streckung der Finger zum Öffnen der Klappen oder Tonlöcher muss bewusst und sehr schnell eingesetzt werden. Viele Griffwechsel erfordern das präzise Senken und Anheben von mehreren Fingern mit einer maximalen Fehlertoleranz von zwei hundertstel Sekunden. Bezieht man Artikulation, Ansatzmuskulatur, Atmung und Haltung mit ein, dann müssen bei solchen Griffwechseln ca. 180 Muskeln im Millisekundenbereich präzise programmiert werden [4]. Wir müssen üben, um solche komplizierten zentralnervösen Steuerprogramme zu erstellen und auch zu erhalten. Daher gehört lebenslanges Lernen zum Musikerdasein [1]. „Neuroplastizität“. Die sensomotorischen Fingerund Lippenregionen sind bei Holzbläsern vergrößert, ebenso die Hörregionen im Schläfenlappen. Der Balken als mächtiges Nervenfaserbündel verbindet die linke und die rechte Hirnhälfte. Er ist bei Berufsmusikern dichter und mit dickeren Fasern versehen, wodurch die schnelle Koordination beider Hände erleichtert wird [1]. Zu Beginn des Übens werden in den prämotorischen und supplementär motorischen Großhirnregionen des Stirnlappens die Bewegungssteuerprogramme unter bewusster Kontrolle des Gehörs und der Eigenwahrnehmung erstellt. Im Verlauf des Übens kommt es zur Automatisation. Die bewusste Kontrolle kann aufgegeben werden und Anteile der Bewegungsprogramme – z. B. Griffwechsel, gebrochene Akkorde, Tonleitern – werden als Untereinheiten, als sogenannte Chunks, im Handlungsgedächtnis abgespeichert. Dies liegt überwiegend in den Basalganglien, tief im Innern des Gehirns. Sind Bewegungsabläufe dort verinnerlicht, werden sie nur schwer wieder gelöscht. Daher ist es so anstrengend, alte Bewegungsgewohnheiten, die z. B. durch falsche Anleitung entstanden sind, wieder zu verlernen. Die Anfänger brauchen die besten Lehrer! Jahrelanges intensives und lustbetontes Üben führt zu Anpassungsvorgängen der Gehirnvernetzung und der Gehirnstruktur. Man nennt diesen Vorgang Was ist eine „fokale Dystonie“? Die plastischen Anpassungsvorgänge des Gehirns können in seltenen Fällen auch negative Auswirkungen haben. Die für die Finger oder den Ansatz zuständigen vergrößerten neuronalen Netzwerke „verwirren“ sich, bildlich gesprochen, und es werden zu viele oder falsche Muskeln zu stark oder zu lange angespannt. Dies führt dann zunächst vorübergehend zu einer Verschlechterung der Spielfähigkeit, die natürlich Angst erzeugt und im Bewegungsgedächtnis der Basalganglien eingespeichert wird. So kann ein hartnäckiges Bewegungsproblem bestehen bleiben. Ist eine derartige Störung beim Spielen eingespeichert und immer präsent, wird sie „fokale Dystonie“ gennant. Dieser Begriff bezeichnet eine neurologische Erkrankung, die durch Fehlspannungen von Muskelgruppen („Dystonie“) in einem bestimmten Körperbereich (fokal) gekennzeichnet ist. Fokale Dystonie kann bei allen Instrumentalisten auftreten und ist auch in anderen Berufen bekannt, am häufigsten als Schreibkrampf bei Menschen, die sehr viel schreiben, z. B. bei Lehrern [2, 4, 6, 7]. Insgesamt ist es aber eine seltene Erkrankung, die etwa 1–2 % der professionellen Holzbläser betrifft. Frühe Symptome sind Erschwernisse bei schnellen Wechselbewegungen wie z. B. bei Trillern, kleine Unregelmäßigkeiten bei Läufen und das Gefühl des „Klebens“ an einer Klappe des Instruments. Auch unwillkürliches Aufheben gehört dazu, was sich dann als „Luft ziehen“ unangenehm bemerkbar macht. Häufig bemerken die Betroffenen auch ein ständiges Spannungsgefühl im Bereich des Unterarms oder bei Ansatzdystonien in der Ansatzregion [4]. Ist die Erkrankung weiter fortgeschritten, dann werden unwillkürliches Einrollen oder Abstrecken einzelner Finger oder auch unkontrollierte Handgelenkshaltungen häufig offensichtlich. Gelegentlich können auch kurz dauernde Muskelkontraktionen (Myoklonien) oder ein unwillkürliches Muskelzittern (fokaler Tremor) die Symptomatik dominieren. Vor allem 6 bei den Ansatzdystonien ist ein Zittern der Lippen und des Unterkiefers häufig ein Symptom [10, 14]. Schmerzen gehören nicht primär zur Symptomatik der Dystonie. Sie können aber als Folge von übermäßiger Muskelanspannung auftreten. Abb. 1a: Dystonie bei einem Oboisten. Abb. 1b: Dystonie bei einem Flötisten. Die Symptome der Dystonie sind oft sehr subtil. Der Oboist (Abb. 1a) klagte über eine unwillkürliche Beugung des Daumens. Man erkennt aber gut die hochgradige Verspannung im Daumenballen. Das charakteristische unwillkürliche Einrollen oder Abspreizen einzelner Finger während des Spiels sieht man heutzutage nur noch selten. Bei dem Flötisten (Abb. 1b) besteht die dystone Bewegung in einem starken Beugetonus des Zeigefingers, weniger des Mittelfingers. Der Kleinfinger streckt sich in einer kompensatorischen Bewegung unwillkürlich, um so eine Hebung von Ring- und Mittelfinger zu erleichtern. Ist die Verkrampfung nicht mehr nur auf das Musizieren beschränkt und zeigt sie sich z. B. auch beim Schreiben, spricht man von einem dystonen Krampf. Eine derartige Ausweitung auf andere Tätigkeiten Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen tritt bei einem Drittel der Musiker-Patienten auf [4, 6, 10]. Bei einem sehr kleinen Prozentsatz (unter 2%) breitet sich die Dystonie aus und betrifft dann z. B. nicht nur die Hand sondern auch Unterund Oberarm. Man spricht dann von einer segmentalen Dystonie. Entwickelt sich auch eine Dystonie an der zuerst nicht betroffenen Seite, z. B. an der anderen Hand, spricht man von einer multifokalen Dystonie. Eine derartige Ausweitung ist bei Holzbläsern nicht häufig, sie betrifft im Verlauf der Erkrankung maximal 10 %. Die Ausprägung der Symptome kann stark wechseln und es werden bei bis zu 20 % der Betroffenen vorübergehende deutliche Verbesserungen beobachtet [4]. Auffällig ist die unterschiedliche Geschlechterverteilung bei der Musikerdystonie: Männer sind mit 81 % deutlich überrepräsentiert. In Tabelle 1 sind die wesentlichen Besonderheiten der von Dystonie betroffenen Musiker zusammengefasst [12, 13]. Wer entwickelt eine Dystonie? Wir haben in den letzten Jahren einige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Dystonie herausgefunden. So scheint es eine genetische Veranlagung zu geben, denn in bis zu 36 % der Fälle sind weitere Familienangehörige von einer Dystonie betroffen [12]. Aber auch andere äußere (exogene) oder in der Person angelegte (endogene) Faktoren können eine Rolle bei der Auslösung einer Bläserdystonie spielen [13]. Hohe Präzision, Komplexität und Geschwindigkeit des erforderlichen Bewegungsablaufes sind Triggerfaktoren. Aus diesem Grund betrifft beispielsweise die Dystonie bei Holzbläsern beide Hände gleichermaßen häufig, während bei Streichern öfter die linke Hand betroffen ist [2, 5]. Auch die Instrumente, die häufig sehr schnelle Läufe spielen müssen, sind vermehrt betroffen. In Tabelle 2 sind die Häufigkeiten der fokalen Dystonie bei den jeweiligen Instrumenten aufgezeigt. Ein weiterer Risikofaktor scheint ein später Beginn des Instrumentalspiels zu sein. Diejenigen Instrumentalisten, die ihre Ausbildung nach dem 12. Jahr begonnen haben, sind etwa dreimal häufiger von einer Dystonie betroffen als diejenigen, die vor ihrem 10. Lebensjahr angefangen haben zu spielen [14]. Chronische Überbelastung und insbesondere chronische Schmerzen können als weitere Risikofaktoren 7 Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21 Risikofaktoren der Musikerdystonie Genre Klassische Musik 95 % Geschlecht Häufigste Instrumente Männlich Klavier > Holzblasinstrumente > Gitarre > Blechblasinstrumente > Streicher 81 % Alter Beginn der Symptomatik vor dem 40. Lebensjahr 80 % Psychologische Konstellation Angststörungen und /oder Perfektionismus 70 % Berufliche Position Solisten 51 % Veränderter somatosensorischer Input Schmerzsyndrome, Nervenkompression 9% Familiäre Häufung Angehörige ersten Grades betroffen 36 % Tab. 1: Risikofaktoren der Musikerdystonie (n = 144) Aus insgesamt 591 Patienten mit Musikerdystonie, die in unserer Musiker-Ambulanz im Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover diagnostiziert und behandelt wurden, ist eine Stichprobe von 144 Patienten mit Musikerdystonien ausgewertet worden. Zusätzlich wurden 28 Familien von Patienten mit Dystonie hinsichtlich Bewegungsstörungen untersucht. Tab. 2: Musikerdystonie. Verteilung auf Grundlage der Instrumente (n = 144) Vor allem Querflötisten, Pianisten, Gitarristen und Geiger sind in der Stichprobe relativ häufig von Dystonie betroffen. Interessant ist, dass die tieferen Instrumente (Fagott, Kontrabass etc.), die oft langsamere Bewegungsabläufe erfordern, seltener betroffen sind. für die Entwicklung einer fokalen Dystonie angesehen werden. Hier ist es wichtig, dass solche Schmerzen früh und ausreichend behandelt werden. Gelegentlich entwickelt sich eine fokale Dystonie auch nach Nervenschäden. So haben wir bei einer Gefühlsstörung der Unterlippe durch Verletzung des unteren Kiefernnervs (Nervus alveolaris inferior) bei Weisheitszahn-Operationen zwei Flötisten mit einer Ansatzdystonie gesehen [4]. Dystonien nach schmerzhaften Überlastungsverletzungen betrafen 9 % aus einer Stichprobe von 144 betroffenen Musikern, welche sich bei uns vorstellten. In psychologischen Untersuchungen konnten, bei einem bedeutenden Teil der Betroffenen bereits vor Ausbruch der Krankheit, vorhandene Neigungen zur Angstbereitschaft und zum Perfektionismus nachgewiesen werden [7, 8]. Wie wird eine HolzbläserDystonie diagnostiziert? Die Diagnose einer Musikerdystonie wird durch die sorgfältige Erhebung der Krankengeschichte und durch die klinische Untersuchung gestellt. Grundsätzlich setzt die Diagnosestellung der Holzbläser-Dystonie immer eine Untersuchung am jeweiligen Musikinstrument voraus. Ein vollständiger neurologischer Befund muss immer mit erhoben werden, um eine Störung der Koordination als Frühsymptom anderer neurologischer Erkrankungen auszuschließen. Auch ein psychiatrischer Befund ist notwendig, um psychische Erkrankungen zu erkennen, die sich manchmal in übermäßigen Verspannungen und Bewegungsstörungen äußern können. 8 Schließlich sollten bei Handdystonien immer auch die biomechanischen Handfunktionen untersucht werden, um biomechanische Hemmnisse und Risikofaktoren zu erfassen. Die neurophysiologische Diagnostik mit Messung von Nervenleitwerten und Elektromyogramm ist bei der Holzbläser-Dystonie nicht ergiebig [4]. Eine weiterführende Diagnostik mit Blutanalyse, Röntgenaufnahmen, Muskelstrommessungen etc. ist nicht notwendig, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: • Die Musikerdystonie tritt ausschließlich aufgabenspezifisch bei sonst ungestörten Handfunktionen auf (z. B. nur beim Klarinettenspiel). • Der neurologische, psychiatrische und biomechanische Befund sind sonst unauffällig. • In der Krankengeschichte ergeben sich keine Hinweise auf eine familiäre Häufung und keine Hinweise auf eine symptomatische Ursache, wie beispielsweise chronische Schmerzen, Nervenverletzungen oder die Einnahme bestimmter Psychopharmaka, die Dystonien auslösen können (z. B. Haloperidol). Weitere wegweisende diagnostische Hinweise entstehen durch Einbeziehung des „Sensory-Trick“Phänomens: Gelegentlich verspüren Holzbläser mit Handdystonien beim Spiel mit einem Latexhandschuh eine deutliche Verbesserung des subjektiven Spannungsgefühl [9]. Typischerweise berichten die Musiker auch über eine Verbesserung der Dystonie in Konzertsituationen, was die Abgrenzung von Verspannungen oder Bogenzittern auf Grund von Aufführungsangst erleichtert [7]. Abgrenzen muss man die fokale Dystonie vor allem von handchirurgischen Erkrankungen. Ringbandverengungen der Fingersehnen können eine Streckhemmung verursachen, die sich ähnlich wie eine Dystonie auswirkt, aber nicht aufgabenspezifisch ist. Derartige Störungen treten auch im Alltag bei anderen Bewegungen auf. Bei der körperlichen Untersuchung lassen sich die biomechanisch bedingte Streckhemmung und der Druckschmerz über dem verengten Ringband leicht feststellen [4]. In seltenen Fällen können andere Basalganglienerkrankungen eine Musikerdystonie imitieren. So kann bei einem beginnenden Parkinson-Syndrom eine der Dystonie Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen ähnliche Störung schneller repetitiver Fingerbewegungen am Instrument im Vordergrund stehen. Weiterhin muss bedacht werden, dass Schmerzen bei Musikern häufig auch eine Erschwernis von Bewegungsabläufen mit sich bringen und dass auch bei etwa 9 % der Dystoniepatienten vor Ausbruch der Dystonie chronische Schmerzen in der betroffenen Körperregion bestanden [4, 8]. Bei Ansatzdystonien müssen Überlastungsverletzungen und Muskelfaserrisse des Mundringmuskels (M. orbicularis oris) ausgeschlossen werden [14]. Im Gegensatz zur Dystonie sind sie durch einen ganz plötzlichen Beginn bei starker Belastung und durch Schmerzen, oft auch durch einen Bluterguss und nachfolgender schwerwiegender Spielstörung, charakterisiert. Der Verlauf dieser muskulär bedingten Spielstörungen ist gut und die meisten Holzbläser erholen sich vollständig. Auch psychische Erkrankungen können manchmal mit Schilderungen seitens des Patienten einhergehen, die mitunter den Verdacht auf eine Dystonie lenken. So klagen vor allem ältere erkrankte Berufsmusiker an Depressionen und nicht selten über einen Geschwindigkeitsverlust und über vermeintliche Einbußen der feinmotorischen Kontrolle, die objektiv mit dem natürlichen Alterungsprozess und den damit verbundenen nachlassenden feinmotorischen Fertigkeiten in Zusammenhang zu bringen sind [4]. Eine schwierige Differentialdiagnose ist die Abgrenzung zum „dynamischen Stereotyp“. Dieser Begriff stammt aus der Sportwissenschaft und steht für falsch eingeübte Bewegungsgewohnheiten, die jedoch im Gegensatz zur fokalen Dystonie leichter korrigiert werden können und durch bewusste Hinlenkung der Aufmerksamkeit einen korrekten Bewegungsablauf ermöglichen. Ein Charakteristikum ist hier im Gegensatz zur Musikerdystonie das regelmäßige Auftreten von „Inseln“ mit stunden- bis tageweiser Symptomfreiheit! Die Prognose ist günstiger als bei der Musikerdystonie, allerdings kann sich aus dem dynamischen Stereotyp auch eine Dystonie entwickeln [4]. Als besondere Variante der Holzbläser-Dystonie wird das fokale oder dystone Zittern (Tremor) aufgefasst [10]. Dabei kommt es beim Instrumentalspiel zu einem auf wenige Muskelgruppen beschränkten unwillkürlichen Zittern, das häufig sehr Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21 9 ungleichmäßige Ausschläge aufweist. In Ruhe ist kein Zittern nachweisbar. schließen. An derartige ergonomische Lösungen sollte daher immer gedacht werden. Auch Finger- Aus dem oben Gesagten wird klar, dass die Diagnose einer Holzbläserdystonie immer durch einen Neurologen gestellt werden muss. Musiker, Physiotherapeuten und in der Regel auch Hausärzte sind mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe überfordert. Wie wird die Holzbläser-Dystonie behandelt? Noch vor zwei Jahrzehnten war die Diagnose einer „fokalen Dystonie“ für die meisten Betroffenen ein beruflicher und emotionaler Vernichtungsschlag! Das hat sich seither grundlegend gewandelt und wir können gute Therapien anbieten, die vielen Betroffenen die berufliche Existenz sichern und Musizieren auf höchstem Niveau ermöglichen! Etwa 10 % der Patienten gelingt es sogar, die Dystonie ganz zu besiegen und durch die Erfahrung mit der Bewegungsstörung ein reicheres Leben zu führen [15]. Ziel der Therapie ist es, die im Bewegungsgedächtnis verankerten dystonen Bewegungsmuster zu verlernen, die unwillkürlichen Muskelanspannungen abzubauen und funktionell günstige Bewegungen zu ersetzen, durch auch in schnellem Tempo mit Leichtigkeit funktionierende Bewegungen. Auf musikermedizinisch-musikpädagogischer Seite stehen Retrainingsverfahren zur Verfügung. Als schulmedizinische Therapie kann das Medikament Trihexyphenidyl und die Schwächung der verkrampfenden Muskelzüge mit Botulinumtoxin angewendet werden [3, 7]. Abb. 2a: Daumenstütze Klarinette Ergonomische Lösungen zur Verbesserung der Spielfähigkeit bei Dystonie. Entlastung von Haltearbeit durch optimierte Stützen (Abb. 2a und 2b) und größere Fehlertoleranz bei sich unwillkürlich einziehenden Fingern durch Veränderungen der Klappen (Abb. 2c und 2d). Ergonomische Veränderungen Ergonomische Veränderungen am Instrument können als symptomatische Therapie sehr segensreich sein. Auf den Abbildungen 2 a–d sind einige Beispiele aufgezeigt: Optimierte Stützen helfen, um übermäßige Spannungen in der Hand zu verringern. Sie können so die Symptomatik insgesamt lindern (siehe Beispiele a. und b. für Klarinette und Fagott). Das Decken oder die Verlängerung von Klappen (Beispiele c. und d.) oder sogar die Übernahme einer Klappe aus der linken in die rechte Hand kann sehr hilfreich sein. (Das wurde bei einem Flötisten mit Erfolg an der Gis-Klappe erprobt.) Durch das Decken der Klappe muss der Finger nicht mehr genau das Tonloch treffen und kann z. B. bei einer unwillkürlichen Krümmung immer noch das Loch präzise Abb. 2b: Fagottstütze schienen können in manchen Fällen die unwillkürliche Flexion der betroffenen Finger reduzieren und so das Instrumentalspiel erleichtern. Retrainingverfahren Zur Behandlung der Musikerdystonien sind in den letzten Jahren verschiedene, auf Retrainingprinzipien basierende Therapieformen entwickelt worden, wie etwa das „Sensomotorische Retuning“ von der Arbeitsgruppe um Thomas Elbert in Konstanz. Bei diesem Ansatz werden die kompensatorischen 10 Bewegungen durch Schienung unterdrückt und die dystonen Finger spezifischen Übungsverfahren unterzogen. Allerdings scheint das bei Holzbläsern weniger wirksam zu sein, möglicherweise, weil oft Haltearbeit (Stützen des Instruments) und Fingerfeinmotorik in einer Hand benötig werden. Ein vom Pianisten und Klavierpädagogen Laurent Boullet in Berlin entwickeltes Rehabilitationsprogramm beruht auf der Beobachtung, dass dystone Bewegungen vermieden werden können, wenn die Kraft und die Geschwindigkeit einer Bewegung eine kritische Grenze nicht überschreiten. Durch Bewegungsübungen in sehr langsamem Tempo und mit wenig Krafteinsatz kann auf Dauer diese kritische Grenze in eine günstige Richtung verschoben werden. Diese über mehrere Jahre verlaufende Therapie setzt eine gute Mitarbeit und viel Geduld bei den Patienten voraus. Auch Lehrer der Dispokinese-Methode können gute Erfolge im Retraining vorweisen. Bei Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen Bewegungszentren der Basalganglien. Dort erleichtert es das Neulernen, vermutlich durch Beeinflussung des Handlungsgedächtnisses. Es kann als Einzeltherapie oder in Kombination mit Botulinumtoxin bzw. im Zusammenhang mit Retrainingverfahren eingesetzt werden. Wichtig ist ein einschleichender Behandlungsbeginn. Nach anfänglicher täglicher Dosierung von 1 mg zur Nacht erfolgt üblicherweise innerhalb von drei Wochen die allmähliche Steigerung bis zur Nebenwirkungsgrenze bei in der Regel 6–12 mg/ Tag. In vielen Fällen kann allerdings Trihexyphenidyl aufgrund von Nebenwirkungen (Müdigkeit, Schwindel, Stimmungslabilität, Gedächtnisstörungen, Mundtrockenheit, Verstopfung, Harnverhalt, Potenzschwierigkeiten) nicht ausreichend hoch dosiert werden. Eine langfristige Besserung mit dem Medikament wird von einem Drittel der Betroffenen berichtet. Die Kombinationstherapie mit Botulinumtoxin hat in Einzelfällen die Therapieergebnisse verbessert[4]. Botulinumtoxin Die guten Erfahrungen mit lokaler Injektion von Botulinumtoxin A haben diesen Behandlungsweg bei den Handdystonien von Holzbläsern in den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund gestellt. Als Voraussetzung für die wirksame Behandlung von Musikerkrämpfen müssen primär dystone Bewegungen von sekundär kompensierenden Bewegungen unterschieden werden. Dazu ist es unumgänglich, dass Abb. 2c: Veränderung der Klappen, Abb. 2d: Klappenersatz, Klarinette der Bewegungsablauf am InstruKlarinette ment präzise analysiert wird. Eine videografische Aufnahme mit der Behandlung der Ansatzdystonie der Blasinst- Slow-Motion-Darstellung hat sich bewährt. Häufig rumentalisten konnte durch technische Übungen, können die Patienten auch beschreiben, welcher Ansatzumstellung und vermehrte Betonung der Bewegungsablauf primär betroffen war. Eine fälschAtemführung in weniger stark ausgeprägten Fällen liche Injektion in die kompensierenden Muskeln eine Besserung erzielt werden [15]. führt zu einer Verschlechterung der Symptomatik. Da der weitaus größte Teil der Handdystonien BeugeTrihexyphenidyl dystonien sind, sind Injektionen in die StreckerVon den infrage kommenden medikamentösen Thera- muskeln selten angebracht [15]. Die Führung der pien ist das anticholinerg wirkende Medikament Injektion durch Muskelstrommessung oder eine Trihexyphenidyl (Parkopan, Artane) am effektiv- sonographische Darstellung der Muskeln und der sten. Es wurde ursprünglich zur Behandlung der Nadellage sind unseres Erachtens unumgänglich. Bei Parkinsonkrankheit entwickelt und wirkt auf die über der Hälfte der mit Botulinumtoxin behandelten Musikphysiologie und Musikermedizin 2014, Nr. 1. Jg. 21 11 Musikerpatienten, ist auch langfristig eine Besserung der Symptomatik zu beobachten. Für die Therapie der Ansatzdystonie der Holzblasinstrumentalisten ist Botulinumtoxin in der Regel nicht geeignet, allerdings kann in den seltenen Fällen einer übermäßigen Verkrampfung des Kieferschlussmuskels (Musculus masseter) die Spielfähigkeit durch Injektionen wieder hergestellt werden [4]. nach Zeiträumen von acht bis zehn Jahren etwa ein Drittel der betroffenen Holzbläser den Beruf gewechselt. Häufig werden pädagogische Aufgaben oder auch ein Wechsel zu einem anderen Instrument als Lösung gewählt. Die Entwicklung von gezielten Vorbeugemaßnahmen und von neuen Behandlungsverfahren ist daher dringend erforderlich, besonders für die bislang nur unzureichend therapierbaren Ansatzdystonien bei Holzblasinstrumentalisten. Einige neue Therapieansätze wurden beschrieben, sind aber noch als experimentell einzustufen und müssen an größeren Patientenzahlen, auch hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit, evaluiert werden. Weiterhin ist es notwendig, allgemeine Richtlinien für Retraining-Therapien zu formulieren und in der Praxis zu überprüfen. Eine solche Identifizierung eines „günstigen“ Verhaltens am Instrument ist besonders auch im Hinblick auf die Prävention der Musikerdystonie wünschenswert. Entscheidend für die Prävention sind vernünftige Übegewohnheiten mit vielen Pausen (spätestens nach ca. 45 Minuten), variable Übeweisen, sowie optimierte Ergonomie und ein spielerischer, angstfreier Zugang zum Instrument. Ziel sollte es dabei sein, den Instrumentalschülerinnen und Instrumentalschülern ein Bewusstsein für diese Maßnahmen gezielt bereits zu Beginn der musikalischen Ausbildung zu vermitteln [1]. Andere Maßnahmen Über Wochen bis Monate dauernde Spielpausen oder andere Maßnahmen, wie z. B. Akupunktur, Physiotherapie, Massagen, Elektrotherapie oder Psychotherapie hatten in der Langzeitbeobachtung keinen Einfluss auf die Ausprägung der Musikerdystonie. Es muss allerdings betont werden, dass die Diagnose einer fokalen Dystonie für Musiker mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden ist. Daher kann in Einzelfällen Psychotherapie als Krisenintervention notwendig sein. Auch wenn diese nicht direkt zu einer Besserung der Symptomatik führt, kann sie unter Umständen die Voraussetzung für einen optimalen Therapieeffekt anderer Behandlungen schaffen [15]. Allgemein ist die Behandlung der Holzbläserdystonie schwierig und sollte spezialisierten Neurologen und Therapeuten vorbehalten bleiben. Für jeden Patienten muss ein individueller Therapieplan ausgearbeitet werden, der sich nach der Ausprägung und dem Schweregrad der Erkrankung, der beruflichen Tätigkeit, der Lebenssituation und nach den Erwartungen des Patienten richtet. Ergonomische Maßnahmen, Anticholinergika und eine Injektionstherapie mit Botulinumtoxin können eine rasche Linderung bewirken, wobei die Injektionen etwa vierteljährlich wiederholt werden müssen. Retraining benötigt ein jahrelanges Engagement von Seiten der Patienten. Da komplette Heilungen sehr selten sind, raten wir Patienten unter 30 Jahren grundsätzlich zu einer breiteren beruflichen Orientierung und zum Aufbau eines zweiten Standbeins außerhalb des Instrumentalspiels [4]. Obwohl dank der aktuell verfügbaren therapeutischen Ansätze also bei einem Großteil der Patienten mit Musikerdystonien mittelfristig eine Besserung der Symptomatik zu beobachten ist, sind die Möglichkeiten zur Behandlung bis heute noch nicht zufriedenstellend. In verschiedenen Follow-up-Studien hat Bei der Musikerdystonie sollten aber auch die gesellschaftlichen Dimensionen nicht ausgeblendet werden. Die Entstehung dieser Erkrankung im 19. Jahrhundert, in einer Zeit, in der Spezialisierung und Professionalisierung, Perfektion, Geschwindigkeit und artistische Höchstleistung als wesentliche ästhetische Kategorien in die musikalische Praxis Einzug gehalten haben, weist einen weiteren Weg in die Richtung der Prävention: Abkehr vom toten Perfektionismus und Hinwendung zum eigentlichen Inhalt der Musik, zur Kommunikation von Emotionen. Literatur 1. Altenmüller E. Neurology of Music Performance. Clin. Med. 8. 2008: 410–413 2. Altenmüller E, Baur V, Hofmann A, Lim VK, Jabusch HC. Musician’s cramp as manifestation of maladaptive brain plasticity: arguments from instrumental differences. Ann N Y Acad Sci. 1252(1) 2012: 259–65 12 Wenn die Finger oder der Ansatz nicht mehr gehorchen 3. Altenmüller E, Jabusch HC. Focal dystonia in musicians: phenomenology, pathophysiology and triggering factors, and treatment. Med Probl Perform 2010; Art. 25: 3–9 S-B, Münchau A, Klein C, Hagenah J. 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