978-3-476-02284-4 Stenzel, Einführung in die spanische Literaturwissenschaft © 2010 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de) 1. Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft 1. Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft 1.1 1.2 1.3 Was ist Literatur? Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft Grundfragen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung und Methoden Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft Die spanische Literatur als Gegenstand sowie literaturwissenschaftliche Methoden zu ihrer Erforschung werden in diesem Buch im Zusammenhang behandelt. Die Darstellung geht von der Einsicht aus, dass die Literaturwissenschaft, ebenso wie ihre Gegenstände selbst, ein Resultat historischer Entwicklungen ist. Schon seit dem Ende des 19. Jh.s hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, der zufolge Natur- und Geisteswissenschaften sich nicht nur in ihren Gegenstandsbereichen, sondern auch in ihren Verfahren grundsätzlich voneinander unterscheiden (s. Kap. 1.2.1). Im Gegensatz zu der vor allem auf die Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten ausgerichteten Erforschung der Natur sind die Geisteswissenschaften am Verstehen von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenständen oder Zusammenhängen interessiert. Der Begriff des Verstehens ist für die Verfahren aller Geisteswissenschaften und damit auch für die Literaturwissenschaft grundlegend (s. S. 16 ff.). Damit wird die Position des Wissenschaftlers zu einem wesentlichen Bestandteil der Begriffsbildung und des daraus resultierenden Erkenntnisprozesses. Die Aneignung der Literatur selbst wie auch die unterschiedlichen Methoden und Verfahren, die zu ihrer Analyse entwickelt worden sind und werden, sind als Produkte und Bestandteil kultureller Praxis historischen Veränderungen unterworfen. Diese bestimmen auch die unterschiedlichen Standpunkte der Wissenschaftler und die daraus resultierenden Versuche, verallgemeinerbare Kriterien für eine Abgrenzung des Gegenstandsbereichs ›Literatur‹ zu entwickeln. In diesem Kapitel werden die folgenden allgemeinen Fragen dargestellt und erörtert: ■ Wie ist der Gegenstand ›Literatur‹ historisch entstanden und welche Funktionen erfüllt er? ■ Wie kann die Literaturwissenschaft ihren Gegenstandsbereich bestimmen? ■ Welche Bedeutung hat der sogenannte hermeneutische Zirkel für literaturwissenschaftliche Analysen? ■ Mit welchen Fragestellungen und Methoden konstruiert und untersucht die Literaturwissenschaft ihre Gegenstände? Leitfragen 1 1. Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft ■ ■ 2 In welcher Weise ordnet und verallgemeinert die Literaturwissenschaft ihre Erkenntnisse? Welche Bedeutung haben kulturwissenschaftliche Fragestellungen an den Gegenstand ›Literatur‹? 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Der Begriff ›Literatur‹ 1.1 | Was ist Literatur? Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 1.1.1 | Der Begriff ›Literatur‹: Entstehung und Verwendung Einen ersten Einblick in die Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs ›Literatur‹ gibt die heutige Bedeutung und die Geschichte des Wortes im Spanischen. Der einschlägige Artikel eines maßgeblichen Wörterbuchs lautet folgendermaßen: Literatura Del lat[ín]. litteratura. 1. [f.] Arte que emplea como instrumento la palabra. Comprende no solo las producciones poéticas, sino también las obras en que caben elementos estéticos, como las oratorias, históricas y didácticas. 2. [f.] Teoría de las composiciones literarias. 3. [f.] Conjunto de las producciones literarias de una nación, de una época o de un género. La LITERATURA griega; la LITERATURA del siglo XVI. 4. [f.] Por ext[ensión], conjunto de obras que versan sobre un arte o ciencia. LITERATURA médica. LITERATURA jurídica. (Diccionario de la lengua española der Real Academia Española). Das heutige Verständnis des Gegenstandsbereichs ›Literatur‹ wird in dieser Definition in mehreren Schritten umrissen. Sie gibt zunächst als Kern der Wortbedeutung den Kunstcharakter an, der den als ›Literatur‹ bezeichneten Texten zu Eigen sei (»arte«, »elementos estéticos«). Diese Begriffsbestimmung wird dann auf eine theoretische (2) und (national-) historische Dimension (3) übertragen. Als Ausweitung (»por extensión«) dieser Bedeutung wird schließlich eine verallgemeinernde Defi nition angeführt (4). Sie überträgt den Begriff ohne die Implikation ästhetischer Qualität auf eine größere Menge von Texten, die inhaltlich vage bestimmten künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen angehören. Das lateinische Wort litteratura bezeichnet ursprünglich entsprechend seiner Herkunft (abgeleitet aus littera: der Buchstabe) alle in der römischen Gesellschaft verbreiteten Texte. Es wird im Spanischen erst spät, etwa seit dem Ende des 17. Jh.s wieder aufgegriffen. In der ersten Auflage des Wörterbuchs der Real Academia Española, dem sogenannten Diccionario de autoridades (1726–1739, s. Kap. 4.4.1) erscheint es erstmals mit der Defi nition »conocimiento y ciencia de las letras«. Der Begriff letras, auf den diese Defi nition von literatura verweist, wird im Diccionario de autoridades als »las ciencias, artes y erudición« erläutert. Diese seit dem 16. Jh. für Texte aus allen Wissensbereichen verwendete Bezeichnung bezieht sich auf eine aus dem Humanismus der Renaissance (s. Kap. 4.3.1) stammende Konzeption von Gelehrsamkeit und Bildung. In dieser kommt den heute als ›literarisch‹ gewerteten Texten keine Sonderstellung zu. Vielmehr werden sie in ein allgemeines Feld des Wissens eingeordnet, in dem weitere Grenzziehungen nicht erforderlich erscheinen. Wort- und Begriffsgeschichte 3 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Was ist Literatur? Poesía und literatura Beispiele Die Geschichte der Bedeutungsentwicklung von literatura zeigt, dass das Wort erst seit dem 18. Jh. nach und nach in einer Weise verwendet wird, die den eingangs zitierten Definitionen entspricht. Die darin zum Ausdruck kommende Sicht des Gegenstands ›Literatur‹ hat sich dann im 19. Jh. in Spanien wie in allen europäischen Ländern durchgesetzt. In dieser Bedeutungsentwicklung wird eine Eingrenzung der Bedeutung die Voraussetzung für den heute vorherrschenden Gebrauch des Begriffs. Die zunächst unspezifische Bezeichnung für Texte aller Art verändert ihre Bedeutung durch eine Auswahl aus der Gesamtmenge der Texte. Damit entsteht die begriffl iche Abgrenzung von ›Literatur‹ aus einer historischen Entwicklung, die für die Gegenstandsbestimmung der Literaturwissenschaft bis heute grundlegend ist. Allerdings gibt es in Spanien bereits seit dem 15. Jh. eine traditionelle Begriffl ichkeit, die dieser Gegenstandsbestimmung vergleichbar ist, nämlich die der Dichtung. Es handelt sich dabei um ein Wortfeld, in dessen Zentrum mit poesía oder poema Begriffe stehen, die bis zum 18. Jh. als Bezeichnungen für alle Formen der Dichtung verwendet wurden. Dieses Wortfeld bezieht sich jedoch ausschließlich auf Texte in Versform (der Diccionario de autoridades definiert poesía als »obra o escrito compuesto en versos«). Es verliert seit dem 16. Jh. dadurch seine allgemeine Reichweite, dass es eine Vielfalt neu entstehender ›literarischer‹ Texte in Prosa (vor allem den Roman) nicht erfassen kann. Ein Wandel der Textproduktion und deren wachsende kulturelle Bedeutung führt zu einer Neuordnung der Bezeichnungen für die Art von Texten, die nun zunehmend als ›literarisch‹ bewertet werden. Das Wort literatura und das zugehörige Wortfeld bezeichnen mit ihrer Einschränkung auf als ästhetisch bedeutsam eingestufte Texte nun ein Feld von Texten, das dasjenige der poesía in seiner traditionellen Bedeutung einschließt, es gleichzeitig aber ausweitet. In dieser Entwicklung verliert dann der Begriff poesía weitgehend seine Funktion, Verstexte aller Art zu bezeichnen und wird in seiner Bedeutung auf den Bereich der Lyrik eingeschränkt. Was Literatur sein soll, wird in diesem kulturellen Wandel nun dadurch bestimmt, dass bestimmten Texten besondere ästhetische Qualitäten zugeschrieben werden. Damit wird eine Ausgrenzung der Literatur aus der Menge all der Texte vorgenommen, die zwar (entsprechend der Defi nition des Diccionario de autoridades) zu Wissen und Bildung beitragen, denen aber keine ästhetische Qualitäten zuerkannt werden. Funktionen ›literarischer‹ Texte in der frühen Neuzeit Lope de Vega (s. Kap. 4.3.2) widmet eine Gedichtsammlung von Rimas sacras (1614) seinem Beichtvater, die mythologische Dichtung La Filomena (1621) einer adligen Gönnerin. Solche in jener Zeit gängigen Widmungen weisen den Texten eine gesellschaftliche bzw. religiöse Funktion zu. 4 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Der Begriff ›Literatur‹ Das sogenannte auto sacramental, eine religiöse Form des Dramas (s. Kap.4.3.4), wird im 16. und 17. Jh. als geistige Vorbereitung auf die Feier der Kommunion verstanden. In dieser ursprünglichen Funktion spielen die gesellschaftliche und religiöse Bedeutung der Dramen eine entscheidende Rolle und nicht ihre ›literarische‹ Dimension, nach der die heutige Forschung zumeist fragt. In der Gesellschaft der frühen Neuzeit gibt es, wie diese Beispiele zeigen, noch nicht jene Trennung zwischen ›literarischen‹ Texten und Lebenswelt, die der moderne Gebrauch des Begriffs ›Literatur‹ voraussetzt. Die Einordnung bestimmter Texte als ›Literatur‹ hängt allgemein einerseits von der gesellschaftlichen Funktion ab, die ihnen zugeschrieben wird, andererseits von Anforderungen an diese Texte und Werturteilen über sie, die sich aus dieser Funktion ergeben. Die Abgrenzung von literarischen und nichtliterarischen Texten, in der den literarischen Texten wegen ihrer ästhetischen Qualitäten eine Sonderstellung zugewiesen wird, ist das Resultat eines bestimmten gesellschaftlichen Umgangs mit diesen kulturellen Produkten. ›Literatur‹ und gesellschaftliche Grenzziehungen Grundlagen des modernen Begriffs ›Literatur‹ Zur Vertiefung Stephen Greenblatt, ein Vertreter des New Historicism (s. Kap. 1.2.2), hat darauf verwiesen, dass die Verwendung unseres heutigen Begriffs ›Literatur‹ eine sozialgeschichtlich bedeutsame Vorgeschichte hat. In dieser werden durch den Umgang mit Texten begründete allgemeine gesellschaftliche Grenzziehungen errichtet. Anhaltspunkte für diese Vorgeschichte des Begriffs ›Literatur‹ finden sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Dort wird bei der Bildung und Abgrenzung einer gesellschaftlichen Elite der kulturellen Fertigkeit des Lesens und Schreibens sowie der Beherrschung des Lateinischen, der damals universellen Sprache der Gebildeten, eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Dabei geht es jedoch nicht um den Inhalt der Texte, sondern um die grundsätzliche Fähigkeit, »Zugang zu einem besonderen, das Leben verändernden Korpus geschriebener Texte« zu haben (Greenblatt 2000, S. 24). Wer die hierzu nötigen Kenntnisse besaß, so Greenblatt, galt als »litteratus« (man muss hier wohl übersetzen: »schriftkundig«) und hatte damit die Grenze zwischen dem gemeinen Volk und der gebildeten Elite überschritten. Am Anfang des modernen Literaturbegriffs, so könnte man dieses Beispiel verallgemeinern, stehen gesellschaftlich sanktionierte Auswahlverfahren, die mit der Eignung zum Umgang mit Texten operieren. Natürlich gibt es in dem von Greenblatt untersuchten kulturellen Kontext sehr unterschiedliche Grade der Lese- und Schreibfähigkeit, die weiter zu unterscheiden wären. Dennoch verweist die mit der Bezeich- 5 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Was ist Literatur? nung »litteratus« vorgenomme Abgrenzung auf eine gesellschaftliche Hierarchie, die mit der Kenntnis von Texten als grundlegender kultureller Fähigkeit begründet wird und die auch in dem modernen Begriff ›Bildung‹ noch wirksam ist. Was macht einen Text zu ›Literatur‹? Der moderne Literaturbegriff wie die damit verbundenen Wertungen sind im 19. und 20. Jh. kaum noch grundsätzlich reflektiert worden. Dies liegt vor allem daran, dass der Literatur seit dem Beginn nationaler Literaturgeschichtsschreibung eine zentrale Bedeutung für das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft sowie für die Begründung und Aufwertung nationaler Identität zukommt. Deren Grundlage ist eine Konstruktion der Besonderheit von Literatur, die auch für die Bedeutung der jeweiligen Nationalliteratur grundlegend ist. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jh.s geht mit der medialen Revolution der Informationsgesellschaft allerdings ein Bedeutungsverlust von Texten insgesamt wie auch eine Relativierung des besonderen Geltungsanspruchs der literarischen Tradition einher. Die Zuordnung eines Textes zum Bereich der Literatur kann man zusammenfassend als Resultat einer Konstruktion verstehen, die von gesellschaftlichen wie von individuellen Bewertungen abhängt. Dass eine bestimmte Textmenge seit dem 18. Jh. als ›Literatur‹ abgegrenzt wird, hängt u. a. von folgenden Faktoren ab: ■ Bestimmte Funktionsweisen, die ihm zugeschrieben werden. ■ Gesellschaftliche und kulturelle Traditionen, in denen Texten als ›Literatur‹ eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird (etwa in der Bildung des Individuums). ■ Gesellschaftliche Institutionen (Akademien, Schule etc.) oder soziale Mechanismen (etwa der Buchmarkt), die Texte selektieren und werten. ■ Bestimmte Merkmale formaler oder inhaltlicher Art, mit denen er unterschiedliche Erwartungen erfüllt, beispielsweise ästhetische, philosophische oder moralische. ■ Die historischen und individuellen Bedingungen der Rezeptionssituation, in der er aufgenommen wird. Das grundsätzliche Problem der Verwendung des Begriffs ›Literatur‹ besteht darin, dass der kulturelle Sinn eines Textes durch seinen Verwendungszusammenhang erzeugt wird. Dies hat Terry Eagleton mit einem zugespitzten Beispiel verdeutlicht, das die Bewertung eines Fahrplans als Literatur aus den Erwartungen begründet, mit denen er rezipiert wird: Auch ein Fahrplan kann ›Literatur‹ sein 6 »Wenn ich über einem Fahrplan brüte, nicht um irgendeine Zugverbindung ausfi ndig zu machen, sondern um mich zu allgemeinen Überlegungen über die Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens anzuregen, könnte man sagen, dass ich ihn als Literatur lese.« (Eagleton 1994, S. 10) 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Literaturbegriffe Auch wenn dies sicherlich alles andere als die gängige Form des Umgangs mit einem Fahrplan ist, verdeutlicht der mögliche Sonderfall einer ›literarischen‹ Fahrplanlektüre, dass es keine konstanten und objektivierbaren Faktoren gibt, die einen Text in jedem Fall zu Literatur oder Nicht-Literatur im modernen Sinne des Begriffs machen. Diese Bewertung hängt vielmehr von den Erwartungen seiner Leser sowie Annahmen über das, was Literatur ist (oder sein soll) ab. 1.1.2 | Literaturbegriffe Da es keine allgemein gültige Definition des Gegenstands ›Literatur‹ gibt, wird er auch in verschiedenen Literaturbegriffen unterschiedlich abgegrenzt. Die Annahmen, mit denen diese Literaturbegriffe begründet werden, werden im Folgenden in zwei Gegensatzpaaren dargestellt. Der wertende Literaturbegriff geht von der Annahme aus, dass bestimmte inhaltliche oder geistige Qualitäten Texte zu besonders wertvollen Texten (und damit zu ›Literatur‹) machen. Der Sinn oder die Zulässigkeit solcher Kriterien wird im relativistischen Literaturbegriff in Frage gestellt. Der intensive Literaturbegriff klassifiziert Texte aufgrund einer Beschreibung ihrer Merkmale und arbeitet dabei vor allem die besonderen Merkmale heraus, die als Kennzeichen von ›Literatur‹ gelten sollen. Im extensiven Literaturbegriff wird die Möglichkeit in Frage gestellt, eine Menge von sinnvoll abgrenzbaren Merkmalen zusammenzustellen, die nur literarischen Texten zu Eigen wäre. Der Begriff ›Literatur‹ Relativistischer und wertender Literaturbegriff: Da die Literaturwissenschaft keinen historisch einheitlichen und objektiv defi nierbaren Gegenstandsbereich hat, kann man die Konsequenz ziehen, eine Bestimmung ihres Gegenstands durch Grenzziehungen zwischen unterschiedlichen Texten sei überhaupt nicht möglich oder sinnvoll. Daher wird bisweilen die Position vertreten, Literatur sei das, »was jeder dafür hält« (Hess u. a. 1989, S. 208). Ein solcher Standpunkt, den man als radikalste Form eines relativistischen Literaturbegriffs ansehen kann, lässt jedoch die historische und kulturelle Bedeutung außer Acht, die dem Begriff ›Literatur‹ bis heute zukommt. Auch wenn man heute die Relativität der mit der Entwicklung dieses Begriffs verbundenen Grenzziehungen erkennen kann, hat der kulturelle Konsens über die Besonderheit von ›Literatur‹ im Grundsatz noch Bestand. Die Wertungen, die den Begriff begründen, bestimmen auch die Bandbreite individueller Vorlieben, auf die sich das oben angeführte Zitat beruft. Die Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstandsbereich bleibt bis in die jüngste Zeit bestimmt von einem werten- 7 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Was ist Literatur? den Literaturbegriff, der die besondere Geltung der Literatur mit ästhetischen und moralischen, lange Zeit auch mit nationalistisch motivierten Kriterien begründet (s. S. 156 f.). In dieser Hinsicht ist die Geschichte der Erforschung der Literatur immer auch eine Geschichte der Grenzziehungen und Hierarchien, die zu wertenden Rangordnungen von Texten führen. In allen europäischen Literaturen sind im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte Gipfelpunkte der literarischen Entwicklung konstruiert worden. Meisterwerke, Genies und Blütezeiten sollen einen literarischen Kanon bilden. Damit wird eine literarische Wertordnung begründet, die zugleich nationale Bedeutung hat (so in Spanien mit den Siglos de oro, s. Kap. 4.3.1). Die Begründung, Verteidigung und Revision solcher Hierarchien hat die Literaturwissenschaft lange Zeit vorrangig beschäftigt. Die Legitimität dieser hierarchischen Ordnungen im Feld der Literatur ist im Laufe des 20. Jh.s immer wieder in Frage gestellt worden (so etwa im Kontext der literarischen Avantgarden des 20. Jh.s, s. Kap. 4.7.3). Damit ist es überhaupt erst möglich geworden, der wertenden Ordnung der Literatur eine relativistische entgegenzusetzen. Dieser liegt die Überzeugung zu Grunde, dass es keine kulturell verbindliche oder wissenschaftlich akzeptable Begründung der Hierarchie von Texten geben kann, zumal keine, die überzeitlich gültig wäre. Extensiver und intensiver Literaturbegriff: Deshalb ist immer wieder versucht worden, die Besonderheit literarischer Texte deskriptiv zu begründen, mit der Analyse bestimmter sprachlicher und inhaltlicher Merkmale der Texte selbst. Die Abgrenzung der Textmenge ›Literatur‹ wird dann anhand bestimmter Eigenschaften der Texte vorgenommen. Sie hat zum Ziel, die für literarische Texte charakteristischen Strukturen nicht wertend, sondern durch eine Beschreibung ihrer Unterschiede zu nichtliterarischen Texten zu erforschen. Einer solchen Sichtweise literarischer Texte liegt ein intensiver Literaturbegriff zu Grunde. Dieser steht im Gegensatz zu einem extensiven Literaturbegriff, der solche Grenzziehungen anhand von Textmerkmalen innerhalb der Menge unterschiedlicher Texte nicht für sinnvoll oder plausibel begründbar hält. Wegen der Nähe des Begriffspaars intensiv/extensiv zu dem weiter oben eingeführten Gegensatz relativistisch/wertend ist es wichtig, sich ihre unterschiedlichen Voraussetzungen vor Augen zu führen. Der eine geht von Normen aus, die er an die Texte heranträgt, der andere von einer Klassifikation von deren Merkmalen. Eine eindeutige Unterscheidung ist in der Praxis kaum möglich. Die deskriptive Klassifikation von Texten als ›literarisch‹ ist zumeist auch mit Wertungen verbunden. Und auch eine Untersuchung, die mit einem normativen Literaturbegriff arbeitet, stützt sich in der Regel auf die Beschreibung von Textmerkmalen. Wissenschaftlich sinnvoll für eine Abgrenzung des Gegenstands ›Literatur‹ ist jedoch allein eine Argumentation, die diesen deskriptiv zu erfassen versucht. 8 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Abgrenzungen des Gegenstands ›Literatur‹ 1.1.3 | Abgrenzungen des Gegenstands ›Literatur‹: Fiktionalität und Poetizität Bei der Begründung eines intensiven Literaturbegriffs lassen sich zwei miteinander verbundene Argumentationsebenen unterscheiden. Im Zentrum der folgenden Darstellung stehen die beiden Begriffe Fiktionalität und Poetizität. ➔ Fiktionalität: Mit diesem Begriff soll eine besondere Art des Wirklichkeitsbezugs literarischer Texte erfasst werden. ➔ Poetizität: Mit diesem Begriff oder auch dem der »poetischen Funktion« (so Roman Jakobson, einer der Begründer des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus) sollen Merkmale bezeichnet werden, die für die besondere Sprachverwendung literarischer Texte charakteristisch sind. Zu den Begriffen Es handelt sich in beiden Fällen um Begriffe, mit denen strukturelle und inhaltliche Besonderheiten der Literatur bestimmt werden; sie hängen daher eng miteinander zusammen. Mit beiden sollen literarische Texte von nichtliterarischen durch Merkmale der Textstruktur unterschieden werden (vgl. Arnold/Detering 1996, S. 25–51). Fiktionalität: Der Begriff der Fiktionalität bezeichnet die Eigenständigkeit von Texten gegenüber der außersprachlichen Wirklichkeit (s. auch Kap. 2.4.1). Literarische Texte entwerfen eine erfundene (fiktive) Wirklichkeit und verweisen nicht auf außersprachliche (faktuale) Wirklichkeit. Sie können deshalb auch nicht mit dem Kriterium wahr/falsch bewertet werden, das man zumeist bei der Beurteilung sprachlicher Äußerungen anwendet. Anders als faktuale sprachliche Äußerungen erhebt ein fi ktionaler Text keinen Wahrheitsanspruch in Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit. Bei der Verwendung der eben angeführten Begriffe muss unterschieden werden zwischen dem Wirklichkeitsstatus von im Text gemachten Aussagen einerseits und dem der Inhalte selbst, die darin entworfen werden andererseits: »Fiktional steht im Gegensatz zu ›faktual‹ bzw. ›authentisch‹ und bezeichnet den Status einer Rede. Fiktiv steht im Gegensatz zu ›real‹ und bezeichnet den ontologischen Status des in der Rede Ausgesagten« (Martinez/Scheffel 2007, S. 13). Fiktionalität ist ein grundlegendes Charakteristikum literarischer Texte. Das Problem des fehlenden Wirklichkeitsbezugs literarischer Texte wird schon seit der Antike in der (positiv oder auch kritisch gemeinten) Bewertung der Dichtung als Illusion oder Täuschung reflektiert, vor allem wegen der in den Dichtungslehren lange Zeit vorherrschenden Forderung nach einer Nachahmung der Wirklichkeit in der Dichtung (griech. mimesis). Dass es eine Form von Texten gibt, die nicht die außersprachliche Der Wirklichkeitsbezug literarischer Texte 9 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Was ist Literatur? Fiktionale und faktuale Texte Wirklichkeit abbilden, sondern eine sprachliche Wirklichkeit eigener Art entwerfen, ist bei der Frage nach der Bedeutung literarischer Texte schon immer thematisiert worden. Die Unterscheidung zwischen alltäglicher und dichterischer Sprachverwendung findet sich bereits in der Poetik von Aristoteles (4. Jh. v. Chr.). Dort wird die Dichtung dadurch von der Geschichtsschreibung unterschieden, dass sie nicht das, was »wirklich geschehen ist«, sondern das, was »geschehen könnte«, auszudrücken vermöge (Poetik 1451b). Mit dieser Unterscheidung begründet Aristoteles seine Ansicht, dass die Dichtung einen höheren philosophischen Gehalt als die Geschichtsschreibung habe. Er verweist darauf, dass das Vergnügen an der Dichtung gerade dadurch entsteht, dass wir in ihr nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit einer Nachahmung möglicher Wirklichkeiten konfrontiert werden. Referentialität : Solche Unterscheidungen kann man systematisieren, wenn man den Wirklichkeitsbezug von Texten mit dem Begriff der Referentialität erfasst. Dieser linguistische Begriff bezeichnet die Beziehung zwischen einem sprachlichen Zeichen und dem außersprachlichen Objekt, auf das es verweist. ■ Fiktionale Texte können nicht auf eine außersprachlich gegebene Welt referentialisiert werden, da sie eine fi ktive Wirklichkeit darstellen. Sie entwerfen eine nur sprachlich gegebene Welt, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Diese begründet auch dann eine Wirklichkeit eigener Art, wenn sie beispielsweise Elemente der erfahrbaren Lebenswelt enthält oder auf diese verweist (s. S. 74 f.). ■ Faktuale Texte hingegen können auf eine Realität außerhalb des Textes bezogen (referentialisiert) werden, weil sie Phänomene oder Zusammenhänge behandeln, die in der außersprachlichen Wirklichkeit vorhanden sind. Dies kann durch im Text enthaltene sprachliche und inhaltliche Elemente aller Art geschehen, z. B. durch Hinweise, Aussagen, Informationen, Handlungsanweisungen, Aufrufe etc. ■ Faktuale Texte werden auch als pragmatisch bezeichnet, da sie meist in Handlungskontexte integriert sind, sich auf Handlungen verschiedener Art beziehen bzw. diese zur Folge haben können. Dies gilt für ein Flugblatt ebenso wie für eine Gebrauchsanweisung, für Schulbuchtexte wie für den uns schon bekannten Fahrplan. Autoreferentialität und Polysemie: Da jedoch durchaus auch Texte eine fiktive Wirklichkeit entwerfen, die (wie etwa juristische Fallbeispiele, Werbebotschaften, Witze oder Lügen etc.) in der Regel nicht der Literatur zugerechnet werden, wird das Kriterium der Fiktionalität für literarische Texte meist mit den zusätzlichen Aspekten der Mehrdeutigkeit (Polysemie) und der Selbstbezüglichkeit (Autoreferentialität) verbunden. Literarische Texte, so könnte man dann argumentieren, erhalten ihre Besonderheit durch eine sie bestimmende Intensität der Verwendung sprachlicher Mittel. Diese erzeugen einerseits eine Mehrdeutigkeit der in den Texten entworfenen Sinnstrukturen und tragen andererseits dazu bei, dass das Beziehungsgefüge des Textes vor allem auf sich selbst verweist. 10 1.1 Allgemeine Fragen: Literatur und Literatur wissenschaft Abgrenzungen des Gegenstands ›Literatur‹ Poetizität: Die eigene Logik der Strukturen literarischer Texte kann man mit dem bereits angeführten Begriff der Poetizität erfassen. Dieser Begriff bezeichnet eine Besonderheit literarischer Texte, die darin besteht, dass in ihnen nicht allein die Aussagen im Vordergrund stehen, die sie möglicherweise formulieren, sondern auch die Wirkung ihrer sprachlichen Mittel Bedeutung hat: Die besondere Sprachverwendung literarischer Texte »Während die meisten anderen Mitteilungen von der referentiellen Funktion dominiert sind, welche die Wahrnehmung der Mitteilung auf den Kontext richtet, lenkt – Jakobson zufolge – in der schönen Literatur die vorherrschende poetische Funktion die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Mitteilung in ihrer Ausdrucksgestalt (z. B. ihre Lautung, Diktion, Syntax) und bringt so ihre Selbstbezüglichkeit zur Geltung.« (Arnold/Detering 1996, S. 398) Die Dominanz der Ausdrucksfunktion über die Mitteilungsfunktion kann man dieser Darstellung zufolge als Grundcharakteristikum der Poetizität von Texten begreifen. Die intensive Verwendung sprachlicher Mittel hat die Funktion, das Interesse der Leser/innen stärker auf die Textstrukturen selbst (ihre Poetizität) zu lenken als auf ihre Beziehung zur außersprachlichen Wirklichkeit (ihre Referentialität). Literarisch sind Texte demnach, wenn sie zum einen eine auf sich selbst verweisende sprachliche Wirklichkeit eigener Art entwerfen und wenn diese Wirklichkeit zum anderen sprachlich so strukturiert wird, dass sie unterschiedliche Möglichkeiten des Verstehens eröffnet (zur Frage der »Vieldeutigkeit« von Texten vgl. Kurz 1999, S. 85 ff.). Eine solche Abgrenzung von Literatur muss allerdings notwendigerweise die Leser/innen in die Analyse der Textstrukturen mit einbeziehen. Denn das Urteil über die Nicht-Referentialisierbarkeit, die Polysemie und die Autoreferentialität von Texten hängt von der Art ihrer Wahrnehmung und Rezeption ab. Die daraus resultierende Mehrdeutigkeit ist ein Charakteristikum, das nur in der Rezeption eines Textes (den unterschiedlichen Verstehensweisen und Deutungen, die er ermöglicht) zu Tage treten kann. Ein Fahrplan zum Beispiel ist zunächst zweifellos ein faktualer Text, da er aus Informationen über Zugverbindungen besteht. Man kann ihn aber auch so lesen, dass er mehrdeutig und autoreferentiell wird (s. S. 6 f.). Texte als literarische zu lesen eröffnet in dieser Sicht ein Spiel möglicher Bedeutungen, das nicht praktischen Zwecken dient. Gerade deshalb kann die Literatur Vergnügen bereiten, sie kann aber auch im Entwurf möglicher Welten Erwartungen und Selbstverständnis der Leser/innen herausfordern, in Frage stellen und erweitern. 11