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Gott und Natur
Philosophische Positionen zum aktuellen Streit um die Evolutionstheorie
Bearbeitet von
Volker Gerhardt, Rafaela Hillebrand, Ludger Honnefelder, Kristian Köchy, Petra Kolmer, Hans-Dieter
Mutschler, Ludwig Siep, Christian Spahn, Christian Tewes, Hartmut Westermann
1. Auflage 2011. Taschenbuch. 268 S. Paperback
ISBN 978 3 495 48467 8
Format (B x L): 13,9 x 21,4 cm
Gewicht: 378 g
Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >
Wissenschaftstheorie > Naturphilosophie, Philosophie und Evolution
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Kolmer (48467) / p. 1 /30.9.11
Petra Kolmer
Kristian Köchy (Hg.)
Gott und Natur
VERLAG KARL ALBER
A
Kolmer (48467) / p. 2 /30.9.11
Über dieses Buch: Am 7. Juli 2005 publizierte die New York Times
einen Artikel des Erzbischofs von Wien mit dem Titel Finding Design
in Nature. Der Artikel entfachte in Deutschland einen neuen Streit um
Darwin und die Evolutionstheorie. Ein bedeutsames Kennzeichen dieses Streites war, dass er in die breite Öffentlichkeit getragen wurde und
eine politische Bedeutung bekam. Zwei weltanschaulich geprägte Bewegungen standen sich gegenüber: Auf der einen Seite verteidigten
Christen die These, dass die Entstehung des Universums und des Lebens zureichend nur von einer gestaltenden höheren Intelligenz her
erklärt werden kann. Auf der anderen Seite versuchte die Vertreter
eines »naturalistischen Weltbildes« die Vorstellung von einem »intelligent design« der Natur theoretisch als Produkt bloßer Phantasie auszuweisen.
Im vorliegenden Band gehen Autoren aus unterschiedlichen philosophischen Bereichen auf die öffentliche Debatte um die Evolutionstheorie ein: unter Nutzung des Reflexionspotentials der abendländischen Philosophie und vor dem Hintergrund der von Hume und Kant
begründeten These, dass wir von der Existenz oder Nichtexistenz eines
»Übersinnlichen über uns« (Kant), das wir lebensweltlich »Gott« nennen und das Gegenstand religiösen Glaubens ist, theoretisch nichts
wissen können und deshalb ein theoretischer Streit wenig vernünftig
ist.
Die Herausgeber:
Petra Kolmer ist Privatdozentin für Philosophie an der RheinischenFriedrich-Universität Bonn mit Forschungsschwerpunkten in der Theorie der Philosophiegeschichtsschreibung und der Wahrheitstheorie.
Kristian Köchy ist Professor für Theoretische Philosophie am Institut
für Philosophie der Universität Kassel mit einem Forschungsschwerpunkt in der Philosophie der Biowissenschaften und Bioethik.
Kolmer (48467) / p. 3 /30.9.11
Petra Kolmer
Kristian Köchy (Hg.)
Gott und Natur
Philosophische Positionen
zum aktuellen Streit
um die Evolutionstheorie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Kolmer (48467) / p. 4 /30.9.11
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für
Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise Föhren
Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48467-8
Kolmer (48467) / p. 5 /30.9.11
Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitende Beitrge
Petra Kolmer
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Anmerkungen zur Vereinbarkeit von Glauben und Wissen . . . .
13
Ludger Honnefelder
Evolutionstheorie und Schöfpungstheologie –
Konkurrierende Weltdeutungen oder Antworten auf
unterschiedliche Fragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
I.
Kritik am »Neokreationismus«
Hartmut Westermann
David Humes ›Dialogues concerning Natural Religion‹ und
der heutige Neokreationismus.
Argumentationsanalytische Anmerkungen zu einem alten und
zu einem neuen Streit um das ›design argument‹ . . . . . . . . .
67
5
Kolmer (48467) / p. 6 /30.9.11
Inhalt
Rafaela Hillerbrand
Von Mausefallen und Designern oder:
Warum der Kreationismus keine wissenschaftliche Alternative
zur Evolutionstheorie bietet . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
II. Kritik am neuen Naturalismus
Hans-Dieter Mutschler
Darwinismus und Schöpfungstheologie
. . . . . . . . . . . . . 133
Christian Spahn / Christian Tewes
Naturalismus oder integrativer Monismus?
Zur Verhältnisbestimmung von Natur und Geist . . . . . . . . .
153
III. Philosophische Positionen
Ludwig Siep
Evolution und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Volker Gerhardt
Das Göttliche als Sinn des Daseins.
Reflexion über das Verhältnis von Gott und Natur . . . . . . . .
234
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
6
Kolmer (48467) / p. 7 /30.9.11
Vorwort
I.
Am 7. Juli 2005 publizierte die New York Times einen Artikel des Erzbischofs von Wien, der den Titel Finding Design in Nature trug. Der
Artikel entfachte – nicht zuletzt in Deutschland – neuen Streit um
Darwin und die Evolutionstheorie. Neu war vor allem, dass der Streit
öffentlich ausgetragen wurde und zu einer Art »Kulturkampf mit politischer Dimension« avancierte 1 .
Der Streit ist nicht beigelegt, aber offensichtlich zur Ruhe gekommen – Gelegenheit, über das Geschehene nachzudenken, nach den
Gründen und Ursachen zu fragen. Sie liegen nicht auf der Hand.
Schien es doch lange Zeit, als lebten katholische Kirche und moderne
Naturwissenschaften in friedlicher Koexistenz zusammen. Der Schein
trog (und trügt) nicht. Denn nicht katholische Kirche und moderne
Naturwissenschaft standen sich im aktuellen Streit gegenüber, vielmehr zwei Weltbilder, die sich aus den institutionellen Kontexten der
christlichen Kirche einerseits, der Naturwissenschaft andererseits herausgelöst und unmittelbar in der Lebenswelt etabliert haben – gebunden an zwei Bewegungen (movements), die im englischen Sprachraum
verwurzelt sind:
Auf der einen Seite verteidigten orthodoxe Christen (sogenannte
›Kreationisten‹) die These, dass die Entstehung des Universums und
des Lebens zureichend nur von einer gestaltenden höheren Intelligenz
her erklärt werden kann und diese Erklärung denselben Theoriestatus
besitzt wie die Evolutionstheorie, sodass eine »Intelligent-DesignTheorie« auch im Biologieunterricht lehrbar ist. Auf der anderen Seite
versuchte die (inzwischen auch in Deutschland etablierte, international
durch Richard Dawkins bekannte) »Brights«-Bewegung – eine Inter1
Körtner/Popp 2007, 7.
7
Kolmer (48467) / p. 8 /30.9.11
Vorwort
net-Gemeinschaft von unabhängigen Individuen mit einem »naturalistischen Weltbild«, das »frei ist von übernatürlichen und mystischen
Elementen« 2 – die Vorstellung von einem »intelligent design« der Natur als Produkt bloßer Phantasie zurückzuweisen.
Was die Bewegungen eint(e) und den neuesten Streit ermöglichte,
war (und ist), dass beide Kontrahenten eine Antwort auf Fragen, die
Übersinnliches betreffen – etwa die Frage, ob das existiert, was wir
lebensweltlich »Gott« nennen – vom theoretischen Wissen (nicht vom
religiösen Glauben) erwarte(te)n, aber nicht etwa von der Metaphysik,
sondern von der Empirie, vor allem von der naturwissenschaftlichen
Empirie. Das ist eine so merkwürdige, in dieser Form noch nie dagewesene Auffassung, dass sich die Herausgeber entschlossen haben,
den vorliegenden Band herauszubringen.
Erstmals werden in ihm die Kontrahenten als zusammengehörend
verständlich gemacht; und es wird die These aufgestellt, dass der neueste Streit um Darwin und die Evolutionstheorie überhaupt nur in
einer Gesellschaft, wie der unseren, hat Aufmerksamkeit erringen können: in einer durch Massenmedien geprägten Gesellschaft, die eine
szientistische Grundausrichtung hat, d. h. nur gelten lässt, was man
wissen kann, aber unter Wissen bereits eingeschränkt ausschließlich
naturwissenschaftliches Wissen, unter Rationalität lediglich kognitivinstrumentelle Rationalität versteht, mithin Reflexions- und Bildungswissen (also die Wissensbestände der so genannten Geisteswissenschaften) vernachlässigt und Moral- und Freiheitsintentionen wie
auch Gehalte tradierter Religionen nicht mehr adäquat zu erfassen
und zur Sprache zu bringen vermag. Keine der Parteien redet, wie sich
zeigen wird, von dem, was wir z. B. in den großen Offenbarungsreligionen »Gott« nennen.
Der vorliegende Sammelband ist insofern zugleich ein Plädoyer
für das in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängte Wissen: vor
allem für kritische Reflexion und Philosophie. Philosophie kann nicht
verhindern, dass Streitigkeiten der bezeichneten Art entstehen. Aber
sie kann ihnen, wenn sie denn ausgebrochen sind, »nach-denken«, sie
aufklären und aufweisen, wie sie zu lösen sind.
Im vorliegenden Band jedenfalls gehen Autoren unterschiedlicher
philosophischer Richtung auf die öffentliche Debatte um die Evolutionstheorie ein: unter Nutzung des Reflexionspotentials der abend2
8
Vgl. http://brights-deutschland.de und http://www.the-brights.net/
Kolmer (48467) / p. 9 /30.9.11
Vorwort
ländischen Philosophie und vor dem Hintergrund der von Hume und
Kant begründeten These, dass wir von der Existenz oder Nichtexistenz
eines »Übersinnlichen über uns« (Kant), das wir lebensweltlich »Gott«
nennen und das Gegenstand religiösen Glaubens ist, theoretisch gar
nichts wissen können: weder durch Metaphysik noch gar durch Empirie, die heute ein völlig säkularer Kontext ist, mithin noch nicht einmal
als atheistisch bezeichnet werden kann, aber extern Platz lässt für einen
mit ihr kompatiblen (begründbaren, rationablen) religiösen Glauben.
II.
Die acht Beiträge des Bandes sind zu vier Gruppen zusammengestellt:
Einleitende Funktion haben die Texte von Ludger Honnefelder
und der Herausgeberin: Beide erinnern daran, dass Evolutionstheorie
und christliche Schöpfungslehre, d. h. (empirisches) Wissen und (religiöser) Glaube nicht auf derselben Ebene liegen, mithin keine Gegensätze sind, sondern verschiedene Zugänge zur Welt, die einander ergänzen.
Die beiden anschließenden Abhandlungen setzen sich mit dem
Kreationismus auseinander: Hartmut Westermann bringt gegen das
»(neo-)kreationistische design argument« David Hume »in Stellung«
und macht so deutlich, dass man im aktuellen Streit um die Evolutionstheorie weit hinter dem Problembewusstsein zurückgeblieben ist, das
schon im 18. Jahrhundert erreicht war. Rafaela Hillerbrand kritisiert
den »Intelligent-Design-Kreationismus« aus wissenschaftstheoretischer Perspektive und plädiert am Ende dafür, im naturwissenschaftlichen Unterricht (der vom Religionsunterricht strikt zu trennen ist),
nicht nur Theorie, vor allem nicht Intelligent-Design-Theorie, sondern
gerade auch das Staunen wieder zu vermitteln, das am Anfang jeder
Wissenschaft steht.
Die folgenden zwei Beiträge gelten dem Naturalismus: Hans-Dieter Mutschler kritisiert insbesondere Richard Dawkins’ Auffassung,
Fragen, die Übersinnliches betreffen, ließen sich empirisch entscheiden. Christian Spahn und Christian Tewes zeigen dann in komplexen
Argumentationsgängen systematisch die Reichweite des evolutionären
Naturalismus »der neuen Atheisten« (etwa Dawkins und Daniel Dennett) auf; sie plädieren für einen »integrativen Monismus objektividealistischer Prägung«, der »die berechtigte Aussicht« bietet, »die
9
Kolmer (48467) / p. 10 /30.9.11
Vorwort
Möglichkeit einer Konvergenz von Natur, Moral und Bewusstsein auch
im Hinblick auf die Evolutionstheorie« so aufzuzeigen, dass man den
Einseitigkeiten naturalistischer (wie aber auch subjektiv-idealistischer
und dualistischer) Positionen entgeht.
Die letzten beiden Abhandlungen sind konstruktiver Natur und
Themen gewidmet, an denen ebenso ein evolutionär-naturalistischer
Ansatz wie ein Christentum seine Grenzen hat, das an Gott nicht glauben, sondern von ihm (im empirischen Sinne) wissen will und Gott
damit verendlicht: Ludwig Siep erörtert, ob und wie weit die biologische Evolution für die Herausbildung richtiger und falscher Normen,
Werte, Verhaltensweisen von Bedeutung ist, wie weit die philosophische Ethik Ergebnisse der Evolutions- und Verhaltensbiologie berücksichtigen muss und welche Ethik zur Evolutionstheorie passt. Volker
Gerhardts Text enthält eine »nachträgliche Verbeugung vor Charles
Darwin« und seinem »Beitrag zur kulturellen Evolution der Religion«;
er zeigt, dass Darwin nicht der Theoretiker war, der dem Glauben an
Gott den Boden entzogen hat, und macht am Ende einen Vorschlag,
woran man heute noch glauben kann, wenn man ein aufgeklärter Zeitgenosse ist.
Wir danken den Autoren für diese Beiträge, Sebastian Heubl für die
Mühe der Korrektur und Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die
so großartige Zusammenarbeit.
Petra Kolmer / Kristian Köchy
10
Kolmer (48467) / p. 11 /30.9.11
Einleitende Beitrge
Kolmer (48467) / p. 12 /30.9.11
Kolmer (48467) / p. 13 /30.9.11
Petra Kolmer
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Anmerkungen zur Vereinbarkeit von Glauben und Wissen
Am 7. Juli 2005 publizierte die New York Times einen Artikel des Erzbischofs von Wien, Kardinal Chr. Schönborn, der den Titel Finding
Design in Nature trug. Dieser Artikel hat in Deutschland neuen Streit
um Darwin und die Evolutionstheorie entfacht.
Der Streit ist nicht beigelegt, aber derzeit offensichtlich zur Ruhe
gekommen – Gelegenheit, über das Geschehene nachzudenken, nach
Ursachen und Gründen zu fragen.
Sie liegen nicht auf der Hand. Schien es doch lange Zeit, »als lebten die katholische Kirche und die modernen Natur- bzw. Realwissenschaften heute in friedlicher Koexistenz« zusammen 1 . »Zumindest im
aufgeklärten Europa«, konstatierte etwa M. Neukamm, »hielt man den
über Jahrhunderte schwelenden Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft für überwunden; wo immer er aufflammte, wurde er […] zu
einer sektiererischen Außenseitermeinung erklärt« 2 . Doch gab es eigentlich auch von offizieller katholischer Seite her keinen Anlass mehr
zu einem solchen Streit.
Im folgenden Abschnitt 1 wird zunächst (1.1.) die Position der katholischen Kirche von 1996 skizziert; daraus werden dann (1.2) einige
Konsequenzen für eine philosophische Beurteilung des neuen Streits
um die Evolutionstheorie gezogen; zum Schluss (1.3) wird der konzeptuelle Rahmen für eine philosophische (und historisch untermauerte)
Kritik an diesem Streit abgesteckt. In Abschnitt 2 wird (auf der Basis
des Ausgeführten) der Streit (bereits in der Beschreibung) philosophisch kritisiert und in Abschnitt 3 durch eine kurze Geschichtserzählung zu unseren Verwendungen des Ausdrucks »Natur« plausibel zu
machen versucht, dass es nicht nur von offizieller katholischer Seite,
sondern auch von naturwissenschaftlicher Seite aus heute eigentlich
1
2
Neukamm 2007, 1; vgl. auch Körtner/Popp 2007, Vorwort; Markl 2007.
Neukamm 2007, 1.
13
Kolmer (48467) / p. 14 /30.9.11
Petra Kolmer
keinen Anlass mehr für einen neuen Streit um Darwin und die Evolutionstheorie gibt.
Warum also fand der Streit statt? Dieser Frage geht die folgende
Abhandlung nach.
1.
Problemexposition
1.1 Die Position der Katholischen Kirche 1996
Seit alters ist Natur immer mehr für uns gewesen als nur physische
(körperliche, materielle) Natur. »Natur« ist das, was wir nicht gemacht
haben und das Ganze des nicht von uns Gemachten. Für Kant etwa war
»Natur« alles, was »nach Gesetzen bestimmt existiert«, also die ganze
Welt, »mit ihrer obersten Ursache«, Gott, »zusammengenommen« 3 .
Dabei unterschied er 4 beim »vernünftigen Wesen« Mensch in praktischer Hinsicht zwischen »übersinnlicher Natur« (oder »Verstandeswelt«) 5 und »sinnlicher Natur« (oder »Sinnenwelt«) 6 , ließ beide Naturen als »urbildliche natura archetypa« und »nachgebildete natura
ectypa« 7 aufeinander bezogen sein 8 und trennte beide perspektivisch
ab von der Natur des Beobachters, d. h. der »wirklichen Natur, sowie sie
ein Gegenstand der Erfahrung ist« 9 , also der (primär materiellen,
körperlichen) Natur der empirischen Naturwissenschaft (vgl. Abschnitt 3).
»Natur« ist, so heißt das (und zeigt sich paradigmatisch bei Kant),
kein naturwissenschaftlicher, sondern ein philosophischer Begriff, auch
wenn eine materiale philosophische Theorie der Natur im Ganzen, die
(programmatisch) für die Erfahrungsgegenstände einen intelligiblen
Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in dear Philosophie (1788), A 36.
Vgl. Kritik der praktischen Vernunft [= KpV] (1788), A 74 ff.
5 Das ist die »Existenz des vernünftigen Wesens [als Akteur] nach einem Gesetz, das
»von aller empirischen Bedingung unabhängig [ist], mithin zur Autonomie der reinen
Vernunft gehört«: KpV, A. 74.
6 Das ist die Existenz des Akteurs »unter empirisch bedingten Gesetzen«: ebd.
7 Ebd., A 75.
8
Das Bezogensein besteht darin, dass das Vernunftgesetz »der Sinnenwelt, als einer
sinnlichen Natur […] die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen Natur
verschaffen [soll], ohne […] ihrem Mechanism Abbruch zu tun«: ebd., A 74.
9 Ebd., A 76.
3
4
14
Kolmer (48467) / p. 15 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
(inneren und äußeren, meist teleologischen) Gesamtzusammenhang
zu finden sucht(e), also Metaphysik der Natur, längst nicht mehr als
ein ernstzunehmendes wissenschaftliches Unternehmen gilt 10 .
Indes: Wer eine Metaphysik der Natur für unmöglich hält, kann
noch immer z. B. christliche Theologie für möglich halten, die auf der
Basis von Glauben (nicht Wissen) die ganze Welt sinngebend in den
Blick nimmt (vgl. Abschnitt 2); ebenso eine Philosophie, die sich wissentlich mit Übersinnlichem befasst, z. B. mit der (praktischen) Freiheit, von deren realer Möglichkeit in der Welt (kulturinvariant) z. B.
Rechtsinstitutionen ausgehen.
Vor diesem Hintergrund nun kann man sagen, dass es, wie mit
Bezug auf die Welt überhaupt, so auch bei den »außerordentlich wichtigen« Themen »Ursprung des Lebens« und »Evolution« 11 zunächst
»zwei Standpunkte« 12 gibt: den der Naturwissenschaft einerseits, und
den der Philosophie und Theologie andererseits, der heute keine spekulative, sondern eine (moralisch-)praktische Ausrichtung hat. Beide
Standpunkte scheinen auf den ersten Blick »unvereinbar« zu sein, sollten aber doch »miteinander in Einklang« gebracht werden können 13 ,
wenn sich das (irdische) Subjekt aller Wissenschaft und Religion, der
Mensch, in all seiner Wissenschaft und Religion nicht immer nur einseitig in den Blick bringen will.
Das jedenfalls dürfte der Grundsinn der »Botschaft von Papst Johannes Paul II. an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich ihrer Vollversammlung am 22. Oktober 1996«
sein, die mit »Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien« überschrieben war 14 . Dem Text ist im Zusammenhang mit
Die Sätze der Metaphysik, die Übersinnliches betreffen, sind der Wahrheitsgeltung
nach auf eine allgemein akzeptable (d. h. empirische) Weise nicht entscheidbar: nicht als
wahr und nicht als falsch nachweisbar.
11 Johannes Paul II. 1996, Abschnitt 1.
12 Ebd., Abschnitt 6.
13 Ebd.
14 Die Botschaft nimmt Bezug auf zwei Dokumente, in denen sich das Lehramt der
Kirche »im Rahmen seiner Zuständigkeit« bereits zu den Fragen des Ursprungs und
der Evolution geäußert hat: 1) die 1950 erschienene Enzyklika Humani generis von
Pius XII. (hier werde dargelegt, »daß die Evolution und das, was der Glaube über den
Menschen und seine Berufung lehrt, nicht im Gegensatz zueinander stehen unter der
Bedingung, daß man einige Fixpunkte nicht aus den Augen verliert«); 2) die Ansprache
von Papst Johannes Paul II. an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften am 31. Ok10
15
Kolmer (48467) / p. 16 /30.9.11
Petra Kolmer
unserem Thema allgemein viel Anerkennung widerfahren 15 . Gehen
wir kurz näher auf ihn ein.
»Mit dem Menschen befinden wir uns«, formulierte der Papst
(u. a. im Anschluss an die Enzyklika Humani generis von Pius XI.),
»[…] vor einer Differenzierung ontologischer Art, vor einem ontologischen Sprung, könnte man sagen« 16 : Zu unterscheiden ist der
»menschliche Körper«, der »seinen »Ursprung in der belebten Materie
[hat], die vor ihm existiert«, und der menschliche Geist (Intellekt und
Wille), d. h. die »Geistseele, die […] unmittelbar von Gott geschaffen
[ist]« 17 . Aufgrund seines Geistes ist der Mensch »Person«, und hat »die
gesamte menschliche Person einschließlich des Körpers […] Würde«,
also »einen Wert an sich« 18 . Weil der Mensch zudem »durch seine
Intelligenz und seinen Willen […] in der Lage [ist], in eine Beziehung
der Gemeinschaft, der Solidarität und der Selbsthingabe mit seinem
Mitmenschen zu treten« 19 , verbietet es sich ihm, sich »seiner Spezies«
oder »der Gesellschaft als einfaches Mittel oder bloßes Werkzeug« unterzuordnen 20 .
Primär aus moralisch-praktischen Gründen ist also daran festzuhalten, dass es (mit einem fundamentum in re: im Menschen) zwei
»verschiedenen Ordnungen des Wissens« (und Methoden) gibt. Und
dass diese Wissensordnungen in einer – sinngebend auf den »Plan des
Schöpfers« rekurrierenden – Theologie in Einklang gebracht werden
können:
»Die empirischen Wissenschaften beschreiben und messen mit immer größerer Genauigkeit die vielfältigen Ausdrucksformen des Lebens und schreiben sie auf der Zeitachse fest. Der Moment des Übergangs ins Geistige ist
nicht Gegenstand einer solchen Beobachtung, die aber dennoch auf experimenteller Ebene einer Reihe wertvoller Hinweise über das Besondere am
Wesen des Menschen zutage fördern kann. Aber die Erfahrung des metaphysischen Wissens, des Bewußtseins seiner selbst und der eigenen Fähigkeit zur
Reflexion, die Erfahrung des sittlichen Gewissens und der Freiheit oder auch
tober 1992 unter dem Titel »Schmerzliches Mißverständnis im ›Fall Galilei‹ überwunden«.
15 Ebd.
16 Ebd.
17
Ebd., Abschnitt 5. »Zitiert wird hier Enzyklika Humani generis, AAS 42 (1950), 575.
18 Ebd.
19
Ebd.
20 Ebd.
16
Kolmer (48467) / p. 17 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
die ästhetische und religiöse Erfahrung gehören in den Bereich der philosophischen Überlegungen, während die Theologie deren letztendlichen Sinn
nach dem Plan des Schöpfers herausstellt.« 21
So mögen heute durchaus »neue Erkenntnisse dazu Anlaß [geben], in
der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen« 22 . Nicht das
erwiese sich, der päpstlichen Botschaft gemäß, als Problem. Problematisch wäre vielmehr, würde man übersehen, dass diese (wie jede empirische) Theorie ihre »Grenzen« 23 hat – und dass sich dies schon darin
dokumentiert, dass es »Evolutionstheorie« konkret nur im Plural gibt:
Evolutionstheorie ist eine »meta-wissenschaftliche Erarbeitung«, die
dazu dient, »ein[en] Komplex voneinander unabhängiger Daten und
Fakten in einen Zusammenhang« zu bringen und zu »interpretier[en]« 24 . Ihre Erarbeitung greift »auf gewisse Vorstellungen aus der
Naturphilosophie zurück, ohne dabei die Erfordernisse der Homogenität mit den Daten der Beobachtung außer acht zu lassen« 25 . Doch weil
wiederum auch das weltanschaulich-metaphysische Hintergrundwissen nicht einheitlich ist, muss man
»genau genommen […] eher von Evolutionstheorien sprechen als von der
Theorie der Evolution. Diese Vielfalt entspricht einerseits den unterschiedlichen Ansätzen, die vorgeschlagen wurden, um den Mechanismus der Evolution zu erklären. Andererseits entspricht sie der Unterschiedlichkeit der
Weltanschauungen, auf die man sich bezieht. So gibt es materialistisch-reduktionistische […] und auch spiritualistische Lesarten der Evolutionstheorie. Das Urteil darüber gehört in die Kompetenz der Philosophie und darüber
hinaus der Theologie.« 26
Indes gilt in jedem Fall: Beweist die Evolutionstheorie »ihre Gültigkeit
in dem Maß, wie sie« – empirisch – »nachprüfbar ist« (»sie wird fortwährend am Stand der Tatsachen gemessen«), so ginge sie zu weit,
wenn sie auch eigentlich Metaphysisches thematisierte, also etwa
(möglicherweise noch mit Exklusivitätsanspruch) den menschlichen
Geist auf »eine Ausformung der Kräfte der belebten Materie« oder
21
22
23
24
25
26
Ebd., Abschnitt 6.
Ebd., Abschnitt 4.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
17
Kolmer (48467) / p. 18 /30.9.11
Petra Kolmer
ein »bloßes Epiphänomen dieser Materie« reduzierte 27 . Dann nämlich
wäre der Mensch nicht mehr imstande, seine »personale Würde […] zu
begründen« 28 .
1.2 Konsequenzen für eine philosophische Beurteilung des
neuen Streits um die Evolutionstheorie
Die von Papst Wojtyla seinerzeit angemahnte »Berücksichtigung« von
»zwei Standpunkten« bei den Themen »Ursprung des Lebens« und
»Evolution« meint deshalb keine »Arbeitsteilung« von Naturwissenschaft und Religion in dem einfachen Sinne, »dass den Naturwissenschaftlern das Primat der Erklärung der Vorgänge in der Natur zugebilligt [wird], während sich die katholische Kirche vorrangig auf die
Erörterung ethisch-moralischer Fragen zurück[zieht]« 29 . Denn zum
Inventar christlicher Gottes- und Schöpfungslehre gehört die Anerkennung des vom Menschen nicht Gemachten als von Gott Geschaffenem hinzu: etwa – nach Augustinus – ein Aufspüren der vestigia dei
resp. trinitatis in der geschöpflichen Welt, ein Ausweis des menschlichen (liebenden und erkennenden) Geistes als imago trinitatis oder
auch der heilgeschichtlicher Gedanke einer creatio continua (der die
Unverfügbarkeit der Daseinsgewährung und die Verlässlichkeit der
Welterhaltung durch Gott, kurz: die Treue und Liebe des Schöpfers zu
seiner Schöpfung meint 30 ). Eine ausschließlich empirische Perspektive
auf die Natur wäre immer – selbst vom Natur-Begriff her – ein einseitiges Unterfangen. (Indes gehört »das Urteil darüber […] in die Kompetenz der Philosophie und darüber hinaus der Theologie.«)
Ein »liberaler« Christ, der »ein [natur]wissenschaftsorientiertes
Weltverständnis« hat, wird allerdings die Antwort auf die Frage, ob er
das vom Menschen nicht Gemachte (einschließlich seiner selbst) als
etwas von Gott Geschaffenes anerkennen kann oder nicht, nicht vom
Urteil der Philosophen und Theologen allein abhängig machen. Wenn
sein Glaube nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, hat er im Grunde keine
Ebd., Abschnitt 5. Dort, wo die Evolutionstheorie für die Tatsachen »nicht mehr Rechenschaft geben kann, beweist sie ihre Grenzen und ihre Unangemessenheit. Dann
muß sie überdacht werden« (ebd.).
28 Ebd.
29
Neukamm 2007.
30 Härle 2007, insbes. 423 f.
27
18
Kolmer (48467) / p. 19 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Wahl – und normalerweise auch keine Schwierigkeit damit, verschiedene Weltsichten in sich zu vereinigen. Selbst professionelle Naturwissenschaftler leben weder schon in ihren Laboren 31 noch hängen sie in
ihrer Lebenswelt immer auch schon einem »naturalistischen Weltbild«
an, das »frei [wäre] von übernatürlichen und mystischen Elementen«
(wie z. B. der Annahme eines intelligent design in der Natur) 32 . Vielmehr deuten einige die Natur in ihrem Alltag auch noch als ein »Werk
Gottes«: als habe Gott dem »Buchstaben seiner Schöpfung« einen
»Sinn« gegeben, der gerade ihn, das sinndeutende Lebewesen, betrifft 33 . Sie tun dies dann aus einem Glauben heraus, der sich auf das
Ganze der Wirklichkeit (und nicht nur die »wirkliche Natur«) bezieht.
Dieser Glaube ist nicht per se und auch nicht deshalb schon irrational,
nur weil er etwas anderes ist als naturwissenschaftliches Wissen. Man
kann für seinen Glauben Gründe geltend machen (sei es aus eigener
Erfahrung z. B. in Jasper’schen Grenzsituationen, sei es aufgrund der
Mitteilungen anderer, durch eigenes Nachdenken oder nach Maßgabe
des Urteils der Philosophie und Theologie): zwar nur subjektiv zureichende Gründe (mangels Einsicht ins Objekt), aber doch Gründe, die
nachvollzogen und bedacht werden können; die anzeigen, dass der
Glaube einen Wahrheitsbezug hat, d. h. ein »Fürwahrhalten« (Kant)
ist, das zwischen ganz unbegründetem Meinen und sowohl subjektiv
wie objektiv zureichendem Wissen liegt und doch ausreichend ist, in
dieser Welt zu tragen. Dabei haben religiöse Weltdeutungen – wie alle
Weltauslegungen – eine theoretisch und praktische Dimension (gehören z. B. im Christentum Schöpfungs- und Heilsglauben zusammen). Auch auf diese Weise transzendieren sie das empirische Wissen
über die »wirkliche Natur«, was für manch professionellen Naturwis-
Dass es auch in den Naturwissenschaften nie ganz gelingt »die Experimentierer austauschbar machen«, d. h. Eigenheiten »sprachlicher, religiöser, kultureller, familiärer
Art« zu neutralisieren, damit man überprüfbar experimentieren kann, thematisiert
Marquard 1986, 103. Körtner 2007 rekurriert auf die Unterschiedlichkeit der Sprachspiele, in denen die Zeichen »Natur«, »Kosmos« oder »Evolution« vorkommen können:
»Es ist keineswegs von vornherein ausgemacht, dass eine theologische Schöpfungslehre
und eine physikalische Kosmologie nach demselben fragen« (71), so dass es auf Hermeneutik ankommt.
32
Zum Zitat vgl. Abschnitt 2.1.
33 Die Ausdrücke stammen von Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791), A 213. Zur Sinnkategorie vgl. im vorliegenden Sammelband: Gerhardt, Abschnitt V. Zu Kants Sinndeutung vgl. Abschnitt 3.
31
19
Kolmer (48467) / p. 20 /30.9.11
Petra Kolmer
senschaftler den Ausschlag dafür geben mag, nicht auch privat noch ein
Naturalist zu sein, was (in Glaubensfragen) hieße: ein Atheist zu sein.
Ein solcher Naturwissenschaftler beherrscht zwei Rollen: Er ist
zum einen ein Beobachter, der die Welt, in der er vorkommt, als »objektive Welt« auf Distanz gebracht hat und (immer mehr) »kennt« 34
(wobei – daran ist zu erinnern – die theoretischen Naturwissenschaften
seit der Neuzeit die sinnlich erfassbaren sekundären Qualitäten der
körperlichen Natur kontraintuitiv auf primäre Qualitäten, d. h. [nicht
wahrnehmbare] quantitative Verhältnisse zurückzuführen suchen).
Zum anderen ist er ein (sich als sterblich beurteilender) Akteur
und ›Teilnehmer‹ an sozialen Interaktionen, der in der Welt mit Seinesgleichen noch eine eigene Welt (Lebenswelt) »hat« 35 , die er als »soziale
Welt« (J. Habermas) verständigungsorientiert zur Sprache bringen
kann.
Ob und wie sich beide Standpunkte miteinander verbinden lassen,
kann hier offen bleiben. Wichtig ist die Differenzierung: »indem der
eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der andere aber
mitgespielt hat« 36 . Wer mitspielt, muss in existentieller Hinsicht viel
»traurige Erfahrung« machen 37 und bedarf manch trostreicher Sinnstiftung wohl. Was er dabei aber nicht braucht, ist ein theoretisches
Wissen davon, ob die Welt tatsächlich jenen Sinn hat, den er ihr zuschreibt, oder sein »Gott« (den er mit den großen Offenbarungsreligionen für etwas Nichtendliches hält) existiert. Der Glaube muss und
kann ihm genügen: Denn es mag einen Gott geben oder nicht, die Welt
mag einen und diesen Sinn haben oder nicht. Wir sind es (so sagen wir
uns), die im ›Spiel‹, das wir mit anderen spielen, Verantwortung tragen. Und nur darauf kommt es für uns im praktischen Kontext an.
Die beiden Parteien allerdings, die den neuesten Streit um die
Evolutionstheorie geführt haben (und führen) – sie werden in Abschnitt 2 beschrieben – halten die »Gotteshypothese« (also die These
von der Existenz Gottes) nicht nur überhaupt für eine Hypothese des
Wissens, sondern für eine – positiv oder negativ entscheidbare – »wissenschaftliche Hypothese über das Universum« im empirischen (nicht:
Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798/1800), A, VII.
Ebd.
36 Ebd.
37
Nach Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Siebenter
Satz, A 398 ff.
34
35
20
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
metaphysischen) Sinn 38 . Das ist eine so merkwürdige, so noch nie da
gewesene Auffassung, dass allein schon durch sie der neue Streit um
die Evolutionstheorie zu etwas Besonderem wird.
1.3 Kritik am neuen Streit um die Evolutionstheorie:
Einige Kriterien
Eine allgemein (und nicht nur für Christen) akzeptable (also philosophische) Charakterisierung des neuen Streits um Evolutionstheorie
und eine Kritik an ihm dürfte – noch immer – an Kant anschließen
können, der das Wissen einzuschränken versuchte, »um zum Glauben
Platz zu bekommen« 39 . Zudem erfährt Kants Position heute im Zusammenhang mit der neuen »Philosophie der Biologie« 40 oder auch in
der philosophischen Reflexion auf den neuen Streit um die Evolutionstheorie bereits eine Renaissance 41 . Allerdings schließt eine Philosophie
des Kantischen Typs die Entscheidung für eine bestimmte Weltdeutung 42 ein, die man mit Gründen teilen können muss. Versuchen wir
im Folgenden noch, diese Weltsicht, an der sich die kritische Darstellung des neuen Streits um die Evolutionstheorie im nächsten Abschnitt
bemisst, in einigen relevanten Aspekten und nach hauptsächlich geltungstheoretischen Gesichtspunkten in einer Reihe von knappen Thesen und Zitaten zu skizzieren:
(1) Wir haben »keinen anderen Zugang zur Welt […] als vermöge
der Art und Weise, über sie zu denken und zu sprechen«, sodass eine
»philosophische Analyse unserer Denk- und Sprechweisen mit Beziehung auf die Welt schließlich zu einer allgemeinen Beschreibung der
Welt« selbst wird (»so wie wir sie zu begreifen genötigt sind, vorausgesetzt, daß wir so denken und sprechen, wie wir es tun«) 43 .
Dawkins 2008, 12.
Vgl die Programmatik von Kant, Kritik der reinen Vernunft [= KrV] (2 1787), B XXX
und ff.
40 Krohs/Toepfer 2005; Köchy 2008.
41 Körtner 2007.
42 Weltanschauungen enthalten ein Weltbild (eine Ontologie), einen Maßstab der Bewertung (ein Ideal) und einen obersten praktischen Zweck, wie Dilthey herausgearbeitet
hat: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Stuttgart/
Göttingen 1957 ff., Bd. V, 360).
43 Danto 1980, 7.
38
39
21
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Petra Kolmer
(2) Unser (theoretisches) Wissen von dem, was ist (und wie es ist)
steht in einem differenzierten Zusammenhang mit Wahrheit 44 , demzufolge eine Person dann weiß, »dass „p“«, wenn (a) „p“ in einem
realistischen Sinne »wahr« ist (also „p“ wirklich statt hat); (b) die Person »„p“ glaubt« oder davon »überzeugt ist, „dass p“«, und (c) diese
Überzeugung rechtfertigen kann 45 .
(3) Empirisches Wissen ist das Paradigma für Wissen überhaupt:
ein Fürwahrhalten, das (unter Akzentuierung der soeben genannten
dritten Wahrheitsdimension) ebenso subjektiv wie objektiv (vom Gegenstand her) zureichend begründbar ist und sich so vom ganz unbegründetem Meinen und dem nur subjektiv zureichend begründbaren
Glauben abhebt.
(4) Auch das deskriptiv-metaphysische Wissen der These 1 erhebt
zu Recht einen Wahrheitsanspruch, weil die Welt, auf die es sich bezieht, keine andere ist als die des historisch-empirischen Wissens: ein
»Reich der Sinne und des Verstandes, also […] diese Erdenwelt«, nicht
eine intelligible, »andere Welt, die wir nicht kennen« 46 .
(5) Erst von einer »anderen Welt« her aber wird unser (irdischer)
Standpunkt erst beschreibbar. Jenseits des theoretischen Wissens liegt
z. B. die Welt der Theologie, die auf einem Glauben basiert, dem eine
persönliche Entscheidung zugrunde liegt.
(6) Jenseits des theoretischen Wissens liegt aber z. B. auch die Welt
von Recht und Moral, die nicht einfach gegeben, vielmehr in der Sinnenwelt zur Realisierung aufgegeben ist.
(7) Das »Reich der Sinne und des Verstandes« der Empirie ist –
wenn wir (im Anschluss an Kant) so differenzieren, werten und hierarchisieren – ontologisch als eine Gesamtheit von »unabhängig existierende[n] und raumzeitlich identifizierbare[n] Gegenständen« (Dingen und Geschehnissen) konzeptualisiert, von denen wir Tatsachen
aussagen können 47 . Sie ist nicht konzeptualisiert als eine »›an sich‹
propositional strukturierte Welt« 48 , die unseren theoretischen Sätzen
strukturanalog wäre. Der Gedanke einer propositionalen Strukturiert-
So Habermas 1999, 299.
Ebd., auch 54. Endliches Wissen ist also intern differenziert, hat eine subjektive und
objektive Komponente.
46 Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), A 116 f.
47
Habermas 1999, 44.
48 Ebd., 41.
44
45
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
heit der Welt, also gleichsam ihrer »Lesbarkeit« (R. Spaemann) 49 – sie
ist für die Aufrechterhaltung des Wahrheitsanspruchs empirischer
Sätze allerdings unverzichtbar 50 – indiziert nicht eine »höhere« theoretische Wissenschaft (Metaphysik) (Kant), die auf Erkenntnis und
Wahrheit Anspruch machte 51 , sondern hat lediglich (logische) Orientierungsfunktion 52 . Dabei muss der Beobachter noch nicht einmal
glauben, dass es das gibt oder dass existiert, was er denkt. Glauben
muss er vor allem nicht, dass es ein höheres intelligentes Wesen, einen
Gott gibt, auf den die Lesbarkeit der Welt zurückzuführen wäre. Darin
nicht zuletzt unterscheidet er sich vom Akteur, der als sterbliches Wesen (meist) schon an einen Gott glaubt, dabei (meist) annehmend, dass
Gott größer ist als wir uns vorstellen: dass er also etwas ist, »über dem
nichts Größeres gedacht werden kann« (»quid quo nihil majus cogitari
possit«) 53 und »daß er größer ist, als gedacht werden kann« (»quod
major sit quam cogitari possit«) 54 .
Brechen wir die Reihe der Thesen hier ab. Abschnitt 3 wird von
Kant her exemplifizieren, dass es nicht irrational ist, einen die ganze
Wirklichkeit umfassenden, sinngebenden Glauben zu haben und zugleich (Natur-)Wissenschaft zu betreiben, in der Übersinnliches – sei
es Übersinnliches »über uns« oder aber auch nur »in uns«, wie die
(praktische) Freiheit 55 , auf die wir uns schon dann berufen, wenn wir
Das Konzept einer propositionalen Strukturiertheit der Welt wird heute – in der
Nachfolge vor allem von Hegel und dem späten Wittgenstein – z. B. von Puntel 1990
vertreten.
50 Vgl. Spaemann 2007; systematisch: Kolmer 2005.
51 Nach Kant erfordert die Erkenntnis eines Gegenstands bekanntlich, »daß ich seine
Möglichkeit – z. B. »[…] nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit […]«
– »beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst
widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür
nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht«: Kant, KrV, B XXVI, Anm. (Hervorh. PK).
52 Zum »Recht des Bedürfnisses der Vernunft, als eines subjektiven Grundes«, sich »im
unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen« wenigstens »im Denken, d. i. logisch«, zu orientieren, vgl. Kant, Was heißt: sich im Denken
orientieren? (1786), A 309 ff.
53 Anselm v. Canterbury, Proslogion: Untersuchungen, lat.-dt. Ausgabe v. F. S. Schmitt,
Stuttgart-Bad Cannstatt 3 1995, 84 f.
54
Ebd., 72 f.
55 Kant differenziert das Übersinnliche in das »über uns« (Gott), »in uns« (praktische
Freiheit) und »nach uns« (Unsterblichkeit): Kant, Über die von der Königl. Akademie
der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die
49
23
Kolmer (48467) / p. 24 /30.9.11
Petra Kolmer
unsere Aktionen Handlungen nennen – nicht thematisch werden und
die daher noch nicht einmal als atheistisch bezeichnet werden kann.
Dass es einst theologische Motive waren, die die Naturwissenschaft als ein säkulares Projekt auf den Weg gebracht haben: als ein
Projekt endlichen Wissens, das Platz lässt für rationablen Glauben,
wird noch zu verdeutlichen sein (vgl. Abschnitt 3).
2.
Der aktuelle Streit um die Evolutionstheorie
Im aktuellen Streit um die Evolutionstheorie wurde indes nur wenig
differenziert. Denn er wurde über Massenmedien in breiter Öffentlichkeit ausgetragen. Schließlich nahm er sogar »die Züge eines Kulturkampfs mit politischer Dimension« an 56 . Nicht katholische Kirche
und moderne Naturwissenschaft standen ich gegenüber, sondern zwei
Bewegungen (movements) bzw. Weltbilder, die sich, nun jeweils auf
Exklusivität Anspruch machend, aus ihren natürlichen Kontexten –
der christlichen Kirche einerseits, der Naturwissenschaft andererseits
– herausgelöst und unmittelbar in der Lebenswelt etabliert haben. Im
Prinzip wiederholte der neue Streit die alte, von Kant beschriebene
Auseinandersetzung zwischen rationalistischer und empiristischer
Philosophie, die in beiden Fällen eine Antwort auf Fragen, die Übersinnliches betreffen (etwa, ob ein intelligentes höheres Wesen existiert), von theoretischer Metaphysik erwartete. Jetzt aber sollte – und
darin kamen (und kommen) die neuen Positionen überein und das ermöglichte den neuen Streit – die Empirie, näherhin Naturwissenschaft
in Fragen des Übersinnlichen entscheiden. Dass man übersah, dass für
den Empiriker (als solchen) unter der Hand jeder »Hain zu Hölzern«
und jedes Ideal »zu Klötzen und Steinen« 57 wird, macht den heutigen
Streit um Darwin und die Evolutionstheorie vor allem sozialwissenschaftlich interessant. Er sagt etwas aus über die Gesellschaft, in der er
hat geführt werden können: unsere durch Massenmedien geprägte
wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in
Deutschland gemacht hat? [= Preisschrift] (1804), A 106 f.
56
Körtner/Popp 2007, 7.
57 Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der
Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in:
Theorie Werkausgabe [= TWA], Frankfurt/M. 1969 ff., Bd. 2, 287–433, 290.
24
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Kultur 58 , die eine szientistische Grundausrichtung hat, d. h. nur gelten
lässt, was man wissen kann, aber Wissen mit naturwissenschaftlichen
Wissen, Rationalität mit kognitiv-instrumenteller Rationalität identifiziert, in der Konsequenz Reflexions- und Bildungswissen (z. B. Geisteswissenschaften) vernachlässigt und Freiheitsintentionen wie auch
Gehalte tradierter Religionen nicht mehr adäquat zur Sprache bringen
kann 59 : Keine der Parteien spricht, wie sich zeigen wird, von dem, was
z. B. in den großen Offenbarungsreligionen »Gott« heißt.
Der Streit ist im Folgenden zu beschreiben: zunächst die Szenerie,
dann die streitenden Parteien sowie deren ›Argumente‹.
Die folgende Skizze stilisiert die namentlich erwähnten Denker
und Positionen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig; wichtig ist das Prinzip 60 .
2.1 Die streitenden Parteien
Erste Partei
Als am 7. Juli 2005 der Beitrag Finding Design in Nature in der New
York Times erschien, hatte dies in der Wirkung die besondere Pointe,
dass er einer Bewegung nicht-katholischer Christen neue Aufmerksamkeit verschaffte, die als »Kreationismus« bezeichnet wird und in
den USA u. a. mit der »Intelligent-Design-Theorie« (IDT) im öffentlichen Bewusstsein ist. Die IDT wird vom Discovery Institute in Seattle
(gegründet 1990) »mit beträchtlichem finanziellen Aufwand in Artikeln, Büchern und Essay-Sammelbänden propagiert« 61 . Zweck dieses
Engagements ist es zu erreichen, dass christliche Religion an öffentlichen Schulen der USA lehrbar wird. Das amerikanische Bildungssystem ist dezentral organisiert. Es gibt keine landesweit verbindlich festZur Gesellschaftskritik, die bei den kommerziellen Massenmedien ansetzt, vgl. noch
immer aufschlussreich Postman 1988.
59 Unter diesem Gesichtspunkt ist es sicher nicht »überflüssig«, über den neuen Streit
zu diskutieren, wie auch Honnefelder konzedieren dürfte. Vgl. seinen Beitrag im vorliegenden Sammelband.
60
Ich folge hier den Prinzipien eines philosophischen Zugangs zu gegebenen Texten,
wie sie erstmals von Kant, sodann, noch wirkmächtiger, von Hegel entwickelt worden
sind: Zentral sind die Gedanken, die in den Texten manifest geworden sind.
61 Markl 2007, 19.
58
25
Kolmer (48467) / p. 26 /30.9.11
Petra Kolmer
gelegten, einheitlichen Lehr- und Prüfungsstandards 62 . Und es gibt
nicht Religion als öffentliches Lehrfach (gemäß der Verfassungsgrundsätze der Trennung von Staat und Kirche). Religion wird von Religionsgemeinschaften in deren eigenen Einrichtungen gelehrt. Die IDT
versteht sich als eine zur Evolutionstheorie »alternative« Theorie, also
als ein Produkt der wissenschaftlichen Rationalität und nicht des religiösen Glaubens, und damit als an öffentlichen Schulen lehrbar 63 .
Bereits der Titel des Beitrags in der New York Times konnte eine
inhaltliche Nähe zur IDT suggerieren (die in einigen wenigen Umrissen gleich noch zu skizzieren sein wird), erst recht die (folgenden) Eingangssätze:
»Ever since 1996, when Pope John Paul II. said that evolution (a
term he did not define) was ›more than just a hypothesis‹, defenders of
neo-Darwinian dogma have often invoked the supposed acceptance – or
at least acquiescence – of the Roman Catholic Church when they
defend their theory as somehow compatible with Christian faith. But
this is not true.« 64
Denn: »The Catholic Church, while leaving to science many details about the history of life on earth, proclaims that by the light of
reason the human intellect can readily and clearly discern purpose and
design in the natural world, including the world of living things. Evolution in the sense of common ancestry might be true, but evolution in
the neo-Darwinian sense – an unguided, unplanned process of random
variation and natural selection – is not. Any system of thought that
denies or seeks to explain away the overwhelming evidence for design
in biology is ideology, not science« 65 .
Diese Sätze sind gelegentlich als Generalangriff auf die moderne
Naturwissenschaft gewertet worden. De facto jedoch wird nur ein
»neo-Darwinian dogma« kritisiert. »Dogma« ist bekanntlich ein Ausdruck der der Reflexion und Kritik an einer Position, die bestimmte, für
sie grundegende Sätze der Reflexion und Kritik entzieht. Einem neodarwinistischen Dogma gegenüber mahnt der Kardinal an, dass die
Natur, insbesondere die lebendige Natur nicht ausschließlich als »an
unguided, unplanned process of random variation and natural selecti62
63
64
65
Vgl. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/17/17797/1.html.
Markl 2007, 19.
Schönborn 2005.
Ebd.
26
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
on« gedeutet werden kann. Das will sagen: Natur ist eben nicht nur ein
Gegenstand der Naturwissenschaft, was in einem »system of thought«
zu berücksichtigen wäre. Inwieweit und in welchem Sinn hier aber
noch von »discern purpose and design in the natural world« gesprochen
werden könnte, müsste ausgeführt und diskutiert werden.
Daher hätte Schönborns Text wohl kaum neuen Streit um die
Evolutionstheorie erzeugt, wäre er in einem argumentativen Kontext
des Wissenschaftsgefüges geäußert worden. Der Kardinal aber führte
seinen Angriff auf das »neo-Darwinian dogma« in einem Massenmedium aus, und er tat dies in den USA. Nichts davon ist irrelevant. Es
charakterisiert den neuen Streit eben, dass er in die Öffentlichkeit getragen wurde und eine politische Dimension erhielt, die mehrere Staaten und Länder in der Bundesrepublik berührte.
So ist er in Deutschland nicht nur im Jahr 2005, sondern z. B. erneut im Jahr 2007 in das öffentliche Bewusstsein gerückt, als eine Landesregierung versuchte, evangelikalen Christen (deren Lehre Eingang
in zwei Schulen gefunden hatte) mit dem Vorschlag entgegenzukommen, Schüler in einem »fächerübergreifenden Unterricht« mit Evolutionstheorie und biblischer Schöpfungsvorstellung zugleich bekannt zu
machen. Dieser Vorschlag verursachte Aufregung, weil nun auch realpolitisch (wenigstens zunächst) von Schöpfungstheorie gesprochen
wurde und man erst auf den Druck der zu Differenzierung mahnenden
Naturwissenschaft zwischen Evolution als Gegenstand »wissenschaftlich erwiesener Theorie« und Schöpfung als Gegenstand »symbolhafter
Erzählung« unterschied (die Frage ist freilich: adäquat unterschied?).
Zweite Partei
Wenn wir diejenige Position identifizieren sollten, die das Angriffsziel
im Beitrags »Finding Design in Nature« war, könnten (und müssten)
wir wohl ein »naturalistisches Weltbild« nennen, das sich aus seinem
natürlichen Kontext – dem der Naturwissenschaften – herausgelöst
und in der Lebenswelt etabliert hat: die genannte »Brights«-Bewegung, »eine Internet-Gemeinschaft von unabhängigen Individuen« 66 ,
die zweierlei eint: erstens (in theoretischer Hinsicht) das »naturalistische Weltbild«, das »frei [ist] von übernatürlichen und mystischen Elementen«, wie z. B. von der Annahme eines intelligent design in der
66
Vgl. http://brights-deutschland.de und http://www.the-brights.net/.
27
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Petra Kolmer
Natur, und zweitens (in praktischer Hinsicht) die Überzeugung, dass
dieses Weltbild im Vergleich zu religiösen Weltbildern, die von solch
übernatürlichen Elementen nicht frei sind und darum mit Anspruch
auf »ultimative Wahrheit« auftreten, oft gesellschaftlich »unterrepräsentiert« ist »([m]anchmal werden« – vor allem in den USA – »Naturalisten ausgegrenzt, oder der Naturalismus sogar verboten)« 67 .
»Brights« ist ein (im Jahr 2003 in den USA geprägtes) Kunstwort,
das nicht als Adjektiv verwendet werden kann und (ähnlich wie »Gay«)
keinen bestimmten Inhalt hat (in jedem Falle gilt: »we brights are not
claiming to be bright [meaning clever, intelligent]« 68 ). Der Name hat
(ist) nur eine Funktion: Er soll Menschen mit einem naturalistischen
Weltbild zusammenführen, ihnen ermöglichen, sich »ohne klischeebehaftete Bezeichnungen über die eigene Einstellung äußern« und
»mit verschiedenen Mitteln« der eigenen »Nicht-Beachtung, Ausgrenzung und Diskriminierung in unseren Gesellschaften« entgegenarbeiten können 69 . Dabei behalten sich die Brights vor, allein zu definieren,
wer sie sind: »Die Brights-Bewegung wird von den Brights definiert
und von sonst niemandem«; sie wird zudem ohne Vergleich ›definiert‹,
da das naturalistische Weltbild »tatsächlich ein durchschlagend vollständiges Weltbild ist« 70 .
Prominentester Vertreter der Brights-Bewegung ist der britische
Biologe R. Dawkins. In Deutschland machte die Bewegung im Oktober
2007 im Zusammenhang mit dem von der Giordano Bruno Stiftung
erstmals verliehenen »Deschner-Preis« von sich reden: Der Preis ging
an R. Dawkins. 71
67 Ebd. Vgl. auch Dawkins 2008, 64 f.: »[…] Solche Anekdoten über Vorurteile gegen
Atheisten gibt es in Hülle und Fülle, […] Margaret Downy […] zeichnet derartige Fälle
[…] systematisch auf. Ihre Datenbank mit Vorfällen in den Kategorien Gemeinde, Schule, Arbeitsplatz, Medien, Familie und Behörden enthält Beispiele von Belästigung, Arbeitsplatzverlust, Meidung durch Angehörige und sogar Mord. Angesichts ihrer dokumentierten Belege für Hass und Missverständnisse gegenüber Atheisten glaubt man
ohne weiteres, dass es für einen ehrlichen Atheisten in den Vereinigten Staaten so gut
wie unmöglich ist, eine Wahl zu gewinnen. […] Nach allgemeinem Dafürhalten wäre
ein Bekenntnis zum Atheismus für jeden Präsidentschaftskandidaten politischer Selbstmord. Über ein solches politisches Klima in den Vereinigten Staaten und seine Folgen
wären Jefferson, Washington, Madison, Adams und all ihre Freunde entsetzt gewesen.«
68
Dawkins in: http://www.wired.com/wired/archive/11.10/view.html?pg=2.
69 Vgl. http://brights-deutschland.de und http://www.the-brights.net/.
70
Vgl. nochmals: http://brights-deutschland.de und http://www.the-brights.net/.
71 Zur Bewegung gehört, bekennend, auch D. Dennett. Prominente deutsche Mitglie-
28
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Vor allem Dawkins’ Bücher haben den neuen Streit um die Evolutionstheorie von naturalistischer Seite aus angeheizt. Der Gotteswahn (2008) wurde zum Bestseller. Das Buch richtet sich an Menschen
»auf der ganzen Welt […], […] die den unbestimmten Wunsch verspüren, die Religion ihrer Eltern hinter sich zu lassen«, denen aber »nicht
klar ist, dass dieses Hintersichlassen durchaus möglich ist« 72 . Das Buch
will »bewusstseinsbildend wirken – unser Bewusstsein schärfen, dass
Atheist zu sein ein realistisches Ziel ist, noch dazu ein tapferes, großartiges Ziel« 73 . Wie geht Dawkins dabei vor?
2.2 Der Streit
Argumente der zweiten Partei
Dawkins’ Hauptangriffsziel ist die IDT, weil für sie, wie für die Position, die er selbst vertritt, die »Gotteshypothese«, d. h. die These von
der Existenz Gottes, »eine wissenschaftliche Hypothese über das Universum« 74 ist. Nach Dawkins sollte man diese Hypothese nun so
»skeptisch analysieren, wie jede andere [Hypothese] auch« 75 . Die
»Gotteshypothese« lautet in seiner Formulierung: »Es gibt eine übermenschliche, übernatürliche Intelligenz, die das Universum und alles,
was darin ist, einschließlich unserer selbst, absichtlich gestaltet und
erschaffen hat« 76 . Dies ist nach Dawkins »in der Praxis […] überprüf[bar]«, gehört also für ihn »in dieselbe Kategorie wie die Kontroversen über das Aussterben [von Tier- und Pflanzenarten] am Ende von
Perm oder Kreidezeit« 77 . Allerdings lässt sie sich die These, folgt man
ihm weiter, auch rational, in einer Argumentation erledigen, die sich
»um eine berühmte Frage [dreht], auf die fast jeder denkende Mensch
von selbst kommt«, nämlich die Frage: »Wer hat Gott erschaffen?« 78 .
der der Brights-Bewegung sollen hier nicht genannt werden. Vgl. http://brightsdeutschland.de und http://www.the-brights.net/.
72 Dawkins 2008, 11.
73 Ebd., 11.
74 Ebd., 12.
75
Ebd. (Hervorh. PK).
76 Ebd., 46.
77
Ebd., 71 f.
78 Ebd., 154.
29
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Petra Kolmer
Auf diese Frage kommt fast jeder denkende Mensch im naturalistischen Weltbild, weil hier gilt: Gäbe es Gott, käme ihm »strukturierte
Komplexität« zu; strukturierte Komplexität ist aber »mit einem gestaltenden Gott nicht zu erklären, denn jeder Gott« – es gibt offensichtlich
mehrere –, »der etwas gestaltet, müsste selbst so komplex sein, dass er
für sich selbst wiederum die gleiche Erklärung verlangt. Gott stellt eine
unendliche Regression dar und kann uns nicht helfen, daraus zu entkommen« 79 . Daher vertritt Dawkins in seinem Buch die »ganz andere
Ansicht«, nämlich: »Jede kreative Intelligenz, die ausreichend komplex
ist, um irgendetwas zu gestalten, entsteht ausschließlich als Endprodukt eines langen Prozesses der allmählichen Evolution« 80 .
Diese wenigen Passagen des Buches genügen schon, um deutlich
werden zu lassen, dass Dawkins’ Absicht, unser Bewusstsein zu schärfen dafür, »dass Atheist zu sein ein realistisches Ziel ist, noch dazu ein
tapferes, großartiges Ziel«, nicht an diejenigen adressiert ist, die Gott
(mit Anselm) für etwas halten, »über dem nichts Größeres gedacht
werden kann«. Die Problematik ist leicht zu erkennen: Gott wird als
»übernatürliche Intelligenz« bezeichnet, aber de facto der »Kategorie«
des Natürlichen zugeordnet, als Kreatur betrachtet, verendlicht. An
Dawkins’ Gott lässt sich die Frage stellen: »Wer hat Gott erschaffen?«.
Wer aber Anselms Begriff für eine einigermaßen adäquate Explikation
dessen hält, was er glaubt, wenn er sagt, er glaube an Gott, oder was er
meint, wenn er »Gott« sagt,: für den ist Dawkins’ Buch nicht geschrieben. Dawkins’ Buch trifft sein Gottesverständnis überhaupt nicht 81 .
Argumente der ersten Partei
Dass sich dem naturwissenschaftlichen Verstand das Übersinnliche, das
wir Gott nennen, auf einen Gegenstand in Raum und Zeit reduziert,
zeigt sich auch im Rahmen der IDT 82 . Auch hier wird die Gotteshypothese als eine wissenschaftliche, in der Erfahrung überprüfbare HypoEbd.
Ebd., 46.
81 Dawkins orientiert sich hier an Darwin. Vgl. dazu Gerhardt, »Das Göttliche als Sinn
des Daseins. Reflexion auf das Verhältnis von Gott und Natur«, im vorliegenden Sammelband (Punkte 1 und 2).
82 Vgl. ausführlicher und sehr differenziert Westermann, »David Humes ›Dialogues
concerning Natural Religion‹ und der heutige Neokreationismus«, im vorliegenden
Sammelband.
79
80
30
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
these eingestuft und bewertet, wobei die Überprüfung nun aber freilich
zu einem positiven Ergebnis führen können soll. In der Natur sollen
sich (naturwissenschaftlich) erkennbar Hinweise (»Signale«) für eine
intelligente Planung und also die Existenz Gottes (als einer übernatürlichen Intelligenz) finden.
M. Neukamm hat – im Anschluss an einen Text des Evolutionsgegners R. Junker 83 – das Vorgehen der IDT wie folgt beschrieben 84 :
Man geht nach einem Analogieschluss vor, d. h. es »werden anhand
illustrativer Beispiele […] vergleichbare Eigenschaften von [menschlichen] Artefakten und Lebewesen herausgearbeitet und als Hinweise
für eine intelligente Planung interpretiert. […] Als ›Hinweise […] für
ID gelten vor allem synorganisierte Strukturen mit verschachtelten
Wechselbeziehungen zwischen ihren Bestandteilen‹ 85 , deren naturgesetzliche Entstehung man nicht oder noch nicht (detailliert) erklären
kann. Man denke z. B. an eine Maschine, deren Funktion es erfordert,
daß ihre Komponenten so paßgenau aufeinander abgestimmt sind, wie
die Zahnräder in einem Uhrwerk. Niemand könnte die Entstehung
einer solchen Maschine ohne Rückgriff auf intelligente Ursachen erklären, und niemand würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden, es zu versuchen. Wenn also bereits ›einfache Gebilde wie
Vgl. Junker 2009, 2: »Der Grundgedanke des Design-Ansatzes ist, dass man an bestimmten Strukturen der Lebewesen (oder auch der unbelebten Welt) Eigenschaften
und Merkmale erkennen könne, die auf das (vergangene) Wirken eines intelligenten.
willensbegabten Urhebers (Designer, Schöpfer) hinweisen und andere Möglichkeiten
ihrer Herkunft unwahrscheinlich machen – oder sogar ausschließen, wie manche Befürworter dieses Ansatzes behaupten. […] Mit dem Begriff ›Design‹ ist hier vor allem eine
zweckvolle Anordnung von Teilen gemeint, die geeignet ist, eine Funktion auszuüben,
so dass eine Zielorientierung erkennbar ist. Dazu können auch spielerische Elemente,
Ästhetik und andere Kennzeichnen der Natur gerechnet werden. […] In der neuere
Diskussion über design in der Natur wird häufig von ›intelligentem Design‹ (ID) gesprochen. Der Begriff ›intelligent‹ soll unterstreichen, dass zur Entstehung des untersuchten Merkmals eine Planung, Absicht (Intention) und zielorientierte Steuerung erforderlich war, und naturgesetzmäßig ablaufende Vorgänge dafür nicht ausreichten.
Passend wäre daher auch die Bezeichnung ›intentionales Design‹. Doch der Begriff ›Design‹ beinhaltet bereits Intelligenz, Planung, Zielorientierung (Teleologie) und Intentionalität. Die Kennzeichnungen ›intelligent‹ und ›intentional‹ werden dennoch häufig
zur Verdeutlichung hinzugefügt, weil es sich in der Biologie eingebürgert hat, auch
dann von ›Design‹ zu sprechen, wenn man damit gar keine planvolle, zielorientierte
Entstehung verbindet.«
84
Vgl. zum Folgenden Neukamm 2004. Vgl dazu auch Körtner 2007, 65.
85 Junker 2009.
83
31
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Petra Kolmer
technische Geräte einen Urheber erfordern‹, weshalb dann nicht ›erst
recht viel kompliziertere Gebilde wie Lebewesen‹ 86 ?« Dafür aber, »daß
es in der Natur ID geben könnte«, ist (nach Auffassung der IDT) die
moderne Naturwissenschaft bzw. ihr Naturalismus »blind«, »nicht offen« 87 . Neukamm macht nun klar, dass die heutige Naturwissenschaft
natürlich keineswegs blind ist für intelligentes Design. Sie ist blind für
übernatürlich-intelligentes Design. Denn von Übernatürlichem, so
möchte ich das hier im Anschluss an Neukamm nur sehr kurz begründen, können wir uns keine Vorstellung machen. »Selbst dann also,
wenn Lebewesen ›Signale‹ enthielten, die auf eine intelligente Planung
hindeuteten«: Kritisch betrachtet »wären sie zur Begründung einer
außerweltlichen [U]rsache völlig unbrauchbar«.
Sollten die letzten beiden Abschnitte etwas vom neuesten Streit
um die Evolutionstheorie getroffen haben, dann muss man sagen: Der
Streit bleibt weit hinter dem »Problembewusstsein« zurück, das schon
»bei David Hume und Immanuel Kant« erreicht war 88 . Er bleibt allerdings auch hinter dem Problembewusstsein der heutigen Naturwissenschaft zurück. Fragen wir zuletzt noch einmal: Wie versteht die Naturwissenschaft heute die »wirklichen Natur, sowie sie ein Gegenstand der
Erfahrung ist« (Kant)? Und von was grenzt sie sich auf theoretischem
Feld vor allem ab? Erzählen wir zum allgemeinen Verständnis eine
kurze Geschichte.
3.
»Natur«-Verstndnisse
3.1 Mythos, Philosophie und Naturwissenschaft
Als I. Newton im 17. Jahrhundert der zur naturwissenschaftlichen
Leitdisziplin avancierenden Physik durch Mathematisierung eine nicht
mehr für jedermann verständliche Sprache gab und die physikalischen
Theorien allein auf Experimente stützte, die nicht mehr allgemein
nachvollziehbar waren 89 , begann die (exakt werdende) NaturwissenEbd.
Ebd.
88 Körtner 2007, 66.
89
Vgl. Kanitscheider 1996, 11 f. Die folgenden Ausführungen finden sich auch in:
P. Kolmer, Art. »Natur«, in: dies. 2011 (im Erscheinen).
86
87
32
Kolmer (48467) / p. 33 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
schaft, dasjenige Wort »vage«, »unbestimmt« und »unerklärlich« zu
finden 90 , das ihr – in der natürlichen Sprache – den Namen gab: »das
Wort Natur, auf das die Menge alles bezieht« (D. Hume) 91 . ›Natur‹
musste der neuzeitlichen Naturwissenschaft unverständlich bleiben 92 ,
weil der Ausdruck nicht ihrem Kontext, sondern dem Alltag entstammt und in der Philosophie seine erste Bestimmung hier: und zwar
von der menschlichen Praxis her 93 . In einer negativen Grundbedeutung ist »Natur«, wie schon gesagt, das von uns nicht – entweder gar
nicht oder nur nicht bewusst und absichtlich – Gemachte, nicht von
unserer »Praxis frei Gesetzte«, sondern vielmehr von ihr »notwendig
Vorauszusetzende« 94 : das »immer schon […] da ist, ehe wir da sind und
handeln« 95 und »den Charakter der ⁄rcffi, des mächtiger Anfangs
[hat], der über den möglichen Spielraum dessen, was geschehen und
gemacht werden kann, im voraus schon entschieden hat« 96 . »Natur«
in dieser (negativen) Grundbedeutung ist erstens ein Seinsbereich
(»quantitativer« oder »extensiver« Naturbegriff), dem wir (je nach
Selbstverständnis) entweder primär gegenüberstehen und/oder in den
wir – sterbliche Vernunftwesen, die sich nicht selbst gemacht haben –
primär hineingehören. Und »Natur« ist zweitens das, was einem Seienden selbst auf unveränderliche Weise zukommt (»qualitativer« oder
»intensiver« Naturbegriff).
Mit den positiven Bestimmungen des von uns nicht Gemachten
steht dann unser Überleben auf dem Spiel – und unser Selbstverständnis 97 . Dabei wird wiederum im Grunde eine Bestimmung variiert: So
stammt »der deutsche Begriff ›Natur‹ – wie vergleichbare Begriffe in
anderen modernen Sprachen – vom lateinischen Wort ›natura‹ ab, dessen Wortwurzel ›nasci‹ die Bedeutung ›geboren werden‹ hat. ›Natura‹
erhielt diese Bedeutung als Übersetzung des griechischen Begriffs
90 Hume, Dialoge über natürliche Religion, hg. v. G. Gawlik, Hamburg 2007, 62 (engl.
Dialogues concerning Natural Religion and Other Writings, ed. by D. Coleman, Cambridge 2007, 54).
91 Ebd.
92 Vgl. auch Spaemann 1973, 956.
93 Er setzt eine »Distanznahme philosophisch-reflektierender Art« voraus, die anders
als die naturwissenschaftliche nicht mehr »notwendigerweise an das, was de facto vorliegt, zurückgekoppelt ist«: Baumgartner 1992, 244.
94
Spaemann 1973, 965.
95 Ebd., 958.
96
Ebd.
97 Köchy 201060.
33
Kolmer (48467) / p. 34 /30.9.11
Petra Kolmer
›yÐsi@‹ (yÐein = wachsen). Die Wortwurzel weist darauf hin, dass mit
›Natur‹ etwas bezeichnet wird, das sich spontan entfaltet und dessen
Veränderungsprinzipien dem sich verändernden Gegenstand immanent sind« 98 .
Folgt man R. G. Collingwood, so hat das europäische Denken
die basal so zu verstehende Natur – »wirklichen Natur, sowie sie [auch]
ein Gegenstand der Erfahrung ist« (Kant) – in drei unterschiedlichen
Perioden und auf der Basis drei unterschiedlicher Weltbilder (oder unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergrundwissens) »zum Gegenstand intensiver und fortgesetzter Reflexion« gemacht 99 – und darin
dokumentiert, dass die Frage, was Natur denn sei, nicht eindeutig zu
beantworten ist.
In der griechischen Antike ist »Natur« zunächst in mythologischer Dichtung thematisch als das Ganze von Himmel und Erde, von
Menschen und Göttern. So dann wird sie – als eine nach Art des »Organismus« geordnete Welt – zum Gegenstand der Philosophie, die sich
als theoretische (freie, nicht im Dienst der Bedürfnisbefriedigung stehende) Wissenschaft von der Sphäre des Tuns abgrenzt 100 . So steht –
etwa »[…] als Hesiod in seiner Theogonie ein erstes Weltkonzept der
Entstehungsgründe und Strukturen des Kosmos entwickelte und der
Begriff der ›yÐsi@‹ eingeführt« wird – »nicht […] die konkrete einzelne Erfahrung, die Erklärung einzelner gefährlicher oder überraschender Phänomene in der Natur […] im Vordergrund, sondern die Frage
nach dem Zusammenhang des Ganzen […] von Himmel und Erde, von
Menschen und Göttern, ein Ganzes, […] ein geordnetes Ganzes, das als
solches nur verständlich [wird], insofern es als aus einem Ursprung
hervorgegangen bzw. von einem Prinzip her gedacht [wird]«, das ebenso »das Ganze und seine Ordnung trägt« wie es Grund »der Erkenntnis
dieses Ganzen in seiner Ordnung, seinem Aufbau und in seinen Werdeprinzipien« ist 101 . Allerdings begegnet uns yÐsi@ schon im Mythos,
»bei Homer […] in der doppelten Bedeutung von Werden eines organisch Wachsenden einerseits und der in diesem Werden sich herausbildenden Gestalt […]«; im 7. Jahrhundert v. Chr. wird der Begriff in
dieser Verwendung dann zum terminus technicus der entstehenden
Siep/Kallhoff 2011.
Collingwood 2005, 8.
100
Ebd., 16.
101 Baumgartner 1992, 237 f.
98
99
34
Kolmer (48467) / p. 35 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
Philosophie »und […] – so Aristoteles in seiner Deutung des historischen Anfangs der Philosophie – zu ihrem ersten zentralen Thema.
Wir sprechen von den ionischen ›Natur‹-Philosophen. Und es ist dann
Aristoteles, der dem Begriff der yÐsi@ im Anschluss an Platon seine
Bedeutung als dem Insgesamt aller natürlichen Seienden in ihrem Wesen und dem Gesetz ihres Wachstums gibt« 102 . Zweierlei ist dabei
wichtig: erstens, dass die die Zuwendung der Philosophie zum alles
umgreifenden ›Ganzen‹ der Natur zugleich den Sinn hat, sich dem
›Göttlichen‹ zuzuwenden (J. Ritter) 103 . So nennt Aristoteles die ionischen Naturphilosophen ›Physiologen‹ und zugleich ›Theologen‹, weil
»diejenigen, die ›von der Natur reden‹, […] auch diejenigen [sind], die
›sich um das Göttliche sammeln‹. […] ›Theorie‹ gehört in die Sphäre
des Festes […] und meint so genau: Anschauen, das dem Gotte zugewendet ist und so Teil an ihm nimmt« 104 . Wichtig ist zweitens, dass
auch Aristoteles die gesamte Natur von den organischen Dingen her
versteht und nach Maßgabe seiner Vier-Ursachen-Lehre deutet, d. h. so,
dass hier vier Dinge zusammenkommen: Stoff, Wesensform, bewegende Ursache und Ziel/Zweck 105 . Selbst die menschliche »Kunstfertigkeit« (tffcnh) wird an der Natur gemessen: Sie ist nach Aristoteles
vernünftig nur dann, wenn sie »der Naturbeschaffenheit nacheifert« 106 .
Die zweite »kosmologische Bewegung« (Collingwood) findet
im 16. und 17. Jahrhundert statt. Natur, d. h. das nicht von uns Gemachte, das uns ebenso umgibt, wie wir selbst zu ihm gehören, wird
Honnefelder 1992, 10 f.
Ritter 1974, 144.
104 Ebd., 144 f.
105 Dass die Aristotelische Physis-Techne-Parallele heute keineswegs obsolet ist, wird
sich gleich zeigen.
106 Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 2, 194 a 21 f. Vgl. Kap. 1, 192 a 12 f.: »Unter den
vorhandenen (Dingen) sind die einen von Natur aus, die anderen sind auf Grund anderer Ursachen da. Von Natur aus: Die Tiere und deren Teile, die Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser; von diesen und Ähnlichem
sagen wir ja, es sei von Natur aus. Alle diese erscheinen als unterschieden gegenüber
dem, was nicht von Natur aus besteht. Von diesen hat nämlich ein jedes in sich selbst
einen Anfang von Veränderung und Bestand, teils bezogen auf Raum, teils auf Wachstum und Schwinden, teils auf Eigenschaftsveränderung. Hingegen, Liege und Kleid, und
was es dergleichen Gattungen sonst noch geben mag, hat, insofern ihm eine jede solche
Bezeichnung eignet und insoweit es ein kunstmäßig hergestelltes Ding ist, keinerlei
innewohnenden Drang zur Veränderung in sich […]« (zit. nach der v. H. G. Zekl hg.
Ausgabe, Hamburg 1987).
102
103
35
Kolmer (48467) / p. 36 /30.9.11
Petra Kolmer
zum Gegenüber einer (instrumentellen, von der Theorie abgesetzten)
Praxis, die sich in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung stellt. Theorie
und Theologie treten auseinander, wofür auch maßgeblich ist, dass
nicht die aristotelische Naturkonzeption, sondern diejenige Platons
das Mittelalter beherrscht. Platon versteht (so im Timaios) nicht die
Kunst von der Natur, sondern die Natur von der Kunst her: Natur ist
das »Werk eines Demiurgen« und jedes »natürlich Seiende […] ein
durch Kunst, d. h. nach Ideen geschaffenes Ding«. 107 Daran kann das
Mittelalter anknüpfen, das die Geordnetheit der Welt auf einen Urheber außerhalb der Natur (den Schöpfergott) zurückzuführen sucht.
Wirkmächtig entzieht es damit (Platon folgend) der Natur zwei der
vier aristotelischen »Naturbeschaffenheiten« (oder »Ursachen«) und
schreibt sie dem Schöpfer zu: die Idee (Wesensform), nach der er die
Dinge schafft, und das Ziel, der Zweck, auf den hin er schafft. Zurück
bleibt Natur, für sich genommen als bloße Materie, die (als das radikal
Andere des Geistes) bloß mechanische Bewegungskräfte hat. Auf diesem Boden entsteht die neuzeitliche Naturwissenschaft, die einhergeht
mit einem fundamentalen Interesse an Naturbeherrschung: Der neuzeitliche Mensch will »maître et possesseur de la nature« 108 werden
und kann es werden, weil man mit einer Natur, die ein Kunstwerk ist,
alles Beliebige machen kann. Dabei versteht die Neuzeit Natur ganz
nachdrücklich als Werk der Kunst: nämlich als eine Maschine, »die
von einem intelligenten Geist außerhalb ihrer zu einem bestimmten
Zweck entworfen, zusammengefügt und in Gang gesetzt worden ist«
(von einem Urheber, der ihr auch die [mechanischen] ›Gesetze‹ auferlegt hat 109 ). So ist »die mechanische Naturdeutung« der Neuzeit,
»später als gottlos gescholten, […] selbst theologischen Ursprungs«,
wie R. Spaemann formuliert 110 . Sie hat ein »theologisches Motiv« 111 :
Jetzt kann sich der Mensch die physische Natur untertan machen (wie
es biblisch gefordert ist).
Am Ende der Neuzeit aber wird – von Kant – die aristotelische
(der Natur immanente) Teleologie rehabilitiert. Die empirische Naturwissenschaft ist, wie Kant sieht, auf Unorganisches zugeschnitten.
Honnefelder 1992, 13.
Descartes, Discours de la Méthode, in: Oeuvres de Descartes, hg. v. C. Adam/P. Tannery, Paris 1897–1913, Bd. VI, 62.
109 Collingwood 2005, 13.
110
Spaemann 1973, 959. Auch Collingwood 2005, 16.
111 Spaemann 1973.
107
108
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
»Gewisse Dinge der Natur«, die sich ihrer »inneren Möglichkeit« nach
nicht »durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus)« erklären lassen, entziehen sich ihr: eben diejenigen Dinge, die Leben haben 112 . Wir beschreiben – im Alltag zumal – Pflanzen und Tiere als
organisiert und als sich selbst organisierend 113 . Wir legen einer solchen
Beschreibung den Begriff der Endursachen 114 zugrunde, tun dies nach
Kant aber nicht im platonischen, sondern im aristotelischen Sinn.
Denn man sagte von der Natur »und ihrem Vermögen in organisierten
Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogon der
Kunst nennt« 115 . Lebendiges organisiert sich in »innerer Naturvollkommenheit« 116 mit Hilfe des »blinden Mechanismus« (des »Bewegungsvermögens«) selbst. Man könnte, frei formuliert, sagen: Es realisiert seinen eigenen Begriff (edo@, Idee, Art), der die in ihm angelegte
»Zielursache« (causa finalis) ist, die den Ablauf seiner Entfaltung (in
Raum und Zeit) dirigiert. Der Begriff ist das Maß, das bestimmt, was
zu geschehen hat, was wiederum die Ursache seiner Bewirkung
(»Wirkursache«, causa efficiens) ist.
Diese »Vernünftelei« über »gewisse Dinge der Natur«, die über
Sinnlichkeit und Verstand hinaus ins Übersinnliche (zu Ideen) drängt
und am Ende das »Naturganze als System« zum Gegenstand gewinnt,
hat bei Kant – anders als dann etwa bei Hegel – nicht den Status theoretischer Erkenntnis (der Spekulation), sondern den eines subjektiven
Prinzips der »Reflexion« über bestimmte Gegenstände mit der Funktion, der Erfahrung systematische Einheit zu geben. Insofern wird auch
von der Frage nach der »verständigen Ursache« dieser Naturdinge, also
von der Frage, »ob die Naturzwecke es absichtlich oder unabsichtlich
sind, gänzlich« abstrahiert 117 . Ein Zulassen dieser Frage wäre hier
Kant, KU, B 293.
Vgl. KU, §§ 64 und 65.
114
Ebd., B 319.
115 Ebd., B 292. »Genau zu reden« habe »[…] die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen. […] [I]nnere Naturvollkommenheit,
wie sie diejenigen Dinge besitzen, welche nur als Naturzwecke möglich sind und darum
organisierte Wesen heißt, ist nach keiner Analogie irgendeines uns bekannten physischen, d. i. Naturvermögen, ja, da wir selbst zur Natur im weitesten Verstande gehören,
selbst nicht einmal durch eine genau angemessene Analogie mit menschlicher Kunst
denkbar und erklärlich«: ebd., 293 f. Indes ist ihr doch so etwas wie Intelligenz und ein
freier Wille zuzuschreiben.
116
Ebd., 294.
117 Ebd., 308.
112
113
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Petra Kolmer
»Einmengung in ein fremdes Geschäft (nämlich das der Metaphysik)« 118 , speziell der rationalen Theologie.
Dass die Naturteleologie aristotelisch-kantischer Provenienz in
der modernen Philosophie der Biologie wieder eine Rolle spielt, wird
sich noch zeigen 119 . Hier ist zunächst noch kurz zu ergänzen, dass Natur in der heutigen Naturwissenschaft natürlich nicht mehr als eine
Maschine gedeutet wird, sondern – seit dem 18. Jahrhundert und in
dritter kosmologischer Bewegung (Collingwood) – in Analogie zu
der Welt der menschlichen Taten und Begebenheiten 120 überhaupt, in
der Maschinen entstehen. »Dauernde[r] Wechsel«, das Fehlen eines
»unwandelbare[n] Substrats hinter den Veränderungen«, das Fehlen
»unwandelbarer Gesetze« 121 sowie die Einsicht, dass die Beobachtung
auf den Gegenstand Einfluss nehmen kann, sind hier wie dort heute
Programm. Begriffe, mit denen die Menschenwelt konzeptualisiert
wird – z. B. ›Prozess‹, ›Veränderung‹ – sind inzwischen (»unter dem
Namen ›Evolution‹«) auf die ganze Natur und nicht nur (wie bei Lamarck und Darwin) die organische angewendet worden 122 . So ist – seit
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – »Evolution« das dominierende und umfassende Paradigma der Erklärungen von Phänomenen der
(sichtbaren) Welt überhaupt 123 . Damit ist gesagt: Natur ist, anstatt
Schöpfung Gottes 124 , selbst schöpferisch: ein materielles System, das
strukturelle Komplexität auf »schöpferische« oder »kreative« Weise
aufzubauen in der Lage ist, d. h. »spontan neuartige Züge hervorbring[en kann]« 125 . Aus der »mechanistischen Welt« (als einer Schöpfung Gottes) ist im 20. Jahrhundert das »kreative Universum« geworden (so der Titel eines Buches von B. Kanitscheider) 126 , das allerdings
Fragen nach seiner eigenen Entstehung nicht obsolet macht.
Dieses neue Natur- oder Weltbild ist mit einer »Rehabilitierung«
der Teleologie 127 verbunden, zunächst nicht mit der aristotelischen und
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
38
Ebd.
Vgl. Toepfer 2004.
Collingwood 2005, 18.
Ebd., 21.
Ebd.
Nach Siep, »Evolution und Ethik«, im vorliegenden Sammelband (erster Satz).
Collingwood 2005, 21.
Kanitscheider 1993, 7.
Ebd.
Engels 1982, 19.
Kolmer (48467) / p. 39 /30.9.11
Warum Streit um die Evolutionstheorie?
grundsätzlich nicht mit der platonischen, sondern mit einer gegenüber
Platon, Aristoteles und dem christlichen Mittelalter »subjektlosen«,
»objektiven« Teleologie (»Teleonomie« 128 ), der zufolge z. B. die Entstehung von Organismen (auch Organismen, die sich Zwecke setzen können) ein Zufallsresultat ist. So versucht die Biologie heute, dem »Ganzheitscharakter« des Lebendigen 129 , der sich in der »Stabilität der
Gestalt« zum Ausdruck bringt, auf der Basis von Evolutionstheorie
(Ch. Darwin), Systemtheorie/Kybernetik (N. Wiener) und physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten Rechnung zu tragen. Man geht
also davon aus, dass die Gestalt durch kybernetische beschreibbare Regelprozesse (der Kontrolle und Verarbeitung von Information) realisiert bzw. aufrechterhalten wird 130 . In der Beschreibung und Erklärung
solcher Prozesse gebraucht die Biologie zwar den Begriff des Ziels und
Zwecks, aber »das ›Ziel‹ eines Entwicklungsprozesses, die fertige Gestalt eines Organismus, ist […] nicht mehr der Zweck, das Telos, um
dessentwillen der Prozeß stattfindet, sondern wird unter Berufung auf
physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten als Resultat bestimmter
molekularer Ausgangskonstellationen erklärt. Physiologische Regulationsmechanismen werden […] zurückgeführt […] auf naturwissenschaftlich zugängliche Mechanismen, die nach Ansicht der heutigen
Biologie ihre Entstehung dem blinden Zufall der natürlichen Auslese
verdanken« 131 .
Inzwischen wird freilich anerkannt, dass die teleologische Sprache
nicht immer schon, platonisch, »in einem Zusammenhang mit theologischen Annahmen eines Schöpfergotts« steht, vielmehr ursprünglich aristotelisch ist, d. h. ihren »Ort in der Analyse der Wirkung von
Teilen eines Systems im Hinblick auf das Systemganze« hat 132 , und
dass »in der biologischen Beschreibung vieler Teile und Prozesse […]
eine teleologische Art der Identifikation von Gegenständen« vorliegt –
eine »Gegenstandsbeurteilung« aristotelischer (und kantischer) Pro128 Der Ausdruck wird verwendet, weil man in der Naturwissenschaft resp. -philosophie
heute noch oft »Teleologie« geradezu automatisch platonisch versteht: »als Ansatz, die
hohe strukturelle und funktionale Ordnung der Natur als Planung eines transzendenten
Wesens aufzufassen« (Kanitscheider 1996, 155), das »Ziele und Zwecke antizipieren«
kann (Kanitscheider 1993, 7).
129
Köchy 1997.
130 Engels 1982, 19.
131
Ebd., 243.
132 Toepfer 2005, 43.
39
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Petra Kolmer
venienz, die die Biologie zur Systemwissenschaft macht (auch wenn
die »teleologische Gegenstandsindividuierung dann in eine kausale Beschreibung« eingebettet wird) 133 . Darüber hinaus ist heute die »aristotelische Physis-Techne-Parallele« auch für wissenschaftlich-technische
Verfahrensweisen im Bereich der Naturwissenschaft »wieder sehr
aktuell« 134 : Für die Bionik beispielsweise gelten »gewisse Optimierungseigenschaften der Natur als Vorbild für menschliche Zwecksetzungen« 135 . Zudem gibt es »immer mehr Verfahren […], die vom
Technischen als starting point ausgehen, um Natur zu interpretieren«
(anstatt von nomologischen Strukturen, wie die theoretische Naturwissenschaft) 136 , etwa Nanobiotechnologie 137 und Synthetische Biologie. Aristotelische Teleologie spielt allerdings auch in der Kybernetik
eine Rolle, deren Funktionsanalysen z. B. die Festlegung eines »Normalitätsstandards« benötigen, was (oft eingestandenermaßen) ohne
Wert-, Ziel- oder Zweckvorstellungen nicht möglich ist 138 .
So sieht man heute, dass Naturwissenschaft nicht ohne eine Beurteilung von Gegebenem nach Ideen als Finalgründen, als »Zwecken«
(Kant) 139 , d. h. nicht ohne die Kategorie des Sinns auskommt (vor allem auch, soweit sie, wie in der Biologie, den »Informations«-Begriff
verwendet, der herkömmlich nicht nur eine syntaktische, sondern auch
eine semantische Dimension besitzt 140 ). Weitere Fragen stellen sich
hinsichtlich der Erklärungskraft des Emergenz-Begriffs: ›Emergenz‹
meint, dass ein System bestimmte grundlegende Eigenschaften hat,
aus denen bestimmte andere Eigenschaften nicht abgeleitet werden
können; sie sollen durch die materielle Organisation des Systems notwendig festgelegt sein. Wird nun aber zwischen den beiden Ebenen
kein nomologisches Verhältnis angenommen, könnte ›Emergenz‹
»eher ein Etikett für etwas Unverstandenes« sein, denn der Titel für
eine Erklärung von Neuem. 141
Ebd., 49.
Mutschler 2009, 82. Vgl. auch Mutschler, »Darwinismus und Schöpfungstheologie«:
im vorliegenden Sammelband.
135 Mutschler 2009, 81.
136 Ebd., 82.
137 Vgl. Köchy/Norwig/Hofmeister 2008.
138
Ebd., 83.
139 Vgl. Kant, KrV, B 375.
140
Mutschler 2009, 80 f.
141 Ebd., 84.
133
134
40
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
3.2 Grenzen der Naturwissenschaft
Über Natur und Naturwissenschaft wird also in Wissenschaftszusammenhängen diskutiert. Längst nicht mehr ernsthaft diskutiert wird, ob
Übersinnliches ein naturwissenschaftliches Thema sein kann. Nach der
Entfernung Gottes aus dem naturwissenschaftlichen Kontext besteht
allerdings (wie das Brights-Movement dokumentiert) die Gefahr, dass
die physische Natur in Gestalt des »kreativen Universums« selbst zum
Absolutum avanciert, mithin kein Platz für andere Weltsichten bleibt.
»Im 20ten Jahrhundert sind beispielsweise mehrere Phasen feststellbar,
in denen angesichts einer zunehmenden Technisierung und Verwissenschaftlichung der Lebenswelt eine ›Entzauberung der Natur‹ beklagt
wird«, man denke etwa an die Ökologie- und Naturschutzdebatte der
1980er Jahre im Zusammenhang mit »Krisensymptomen und Problemlagen«, die sich um die Kerntechnik drehten 142 . Seit den späten
1970er Jahren wird darüber debattiert, ob die natürlichen Grundlagen
von Lebewesen durch künstliche Eingriffe der Gentechnik manipuliert
werden dürfen. Eine weitere Debatte »ist dann in den letzten Dekaden
durch die Erfolge der kognitiven Neurowissenschaften entstanden. Dabei stehen zunächst weniger die tatsächlichen Eingriffspotenziale im
Sinne einer Verbesserung oder Manipulation natürlicher Vorgaben
durch Neurotechniken im Vordergrund […], als vielmehr die theoretischen Konsequenzen, die auf eine grundlegende Relativierung und Naturalisierung des menschlichen Geistes hinweisen« 143 : eine Naturalisierung im modernen Sinn, die eine Transzendenz ausschließt, wie sie
noch für Thomas v. Aquin oder auch (auf gleich anzugebende Weise)
für Kant möglich war. So ist gerade heute die Frage ›Was ist Natur?‹ –
sowohl »unter den Vorzeichen eines möglichen Verlusts von Natur in
einer durch Naturwissenschaft und Technik bestimmten Welt« (aktuellstes Stichwort: »Klimakatastrophe«) als auch unter den Vorzeichen
einer Ausdehnung des (nur durch Naturwissenschaft und Technik bestimmten) Naturalen auf unseren Geist – wieder aktuell 144 .
Unter diesen Vorzeichen sollte eine Antwort auf die (philosophische) Frage ›Was ist Natur?‹ vor allem an die von der modernen Naturwissenschaft abgespaltenen Naturkonzepte erinnern. Wiederum Kant
142
143
144
Ebd., 1 f.
Ebd., 2.
Ebd., 1.
41
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Petra Kolmer
hat einen Vorschlag gemacht, wie das geschehen kann. Folgen wir noch
einmal kurz dem von ihm hier beschriebenen Weg.
3.3 Natur-Ästhetik und Natur-Theologie
Kants Naturteleologie ist ein Umschlagplatz: Es eröffnen sich hier
zwei Wege, die von der materiellen, körperlichen Natur – als Gegenstand theoretischer Naturwissenschaft – fortführen. Der erste Weg ist
der einer ästhetischen Wahrnehmung der Natur z. B. als Landschaft:
Ausgehend von der »teleologischen Beurteilung der Natur durch Naturzwecke, welche uns die organisierten Wesen [selbst] an die Hand
geben« 145 , kann die »Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als
System« 146 , in dem der Mensch selbst ein Glied ist (derart: dass die
»Natur in unserer eigenen Vernunft« mit der »Natur außer uns«
zweckmäßig zusammenstimmt 147 ), auch (zweckfrei) als »Schönheit
der Natur« aufgefasst werden, »d. i. als Zusammenstimmung mit dem
freien Spiele unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erscheinungen«148 . J. Ritter hat gezeigt, dass Natur
seit der Renaissance – kompensatorisch zur naturwissenschaftlichen
Verobjektivierung – immer auch noch in der »Gestalt der Landschaft
als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen«
wird 149 . Dabei ist unter Landschaft nach Ritter die »ganze«, die »freie
Natur« zu verstehen, die in der Antike der Gegenstand der philosophischen Betrachtung war, jetzt aber in einer bis dahin unbekannten Form
von Theorie vergegenwärtigt wird: nämlich im ästhetischen Gefühl, in
Dichtung und Kunst (die in der Neuzeit hier an die Stelle des Begriffs
und der philosophischen Wissenschaft treten). »Während in der Tradition der philosophischen Theorie bis in die Epoche der Wende zur Neuzeit hinein der vernünftige Begriff allein und als solcher die ganze Natur als Kosmos zu vergegenwärtigen vermag, ist« zum Beispiel »für
A. von Humboldt das, was er in unmittelbarer Anknüpfung an die
jewrffla tou ksmou ›Weltanschauung‹ nennt, nunmehr auf die ästhe-
145
146
147
148
149
42
Kant, KU, B 303. Zusatz PK.
Ebd.
KU, B 274.
KU, B 303.
Ritter 1974, 141.
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
tische Vermittlung verwiesen« 150 . Der »ästhetische Sinn übernimmt
die Aufgabe der ›Theorie‹ […], die ohne ihn notwendig entgleitende
›ganze Natur‹ als Landschaft gegenwärtig zu halten« 151 .
Doch Natur ist nicht nur Gegenstand zweckfreier ästhetischer,
sondern – zweitens – auch zweckgebundener (physiko-)theologischer
Interpretation, die wir z. B. schon im Alltag (etwa im Bereich nichtwissenschaftlicher Heilkunst) dann vornehmen, wenn wir sagen, dass »alles, was die Natur selbst anordnet, zu irgendeiner Absicht gut« ist 152 .
Kant hat gezeigt, wie schon erwähnt, dass moderne Naturwissenschaft
von einer – zumindest bedenkenswerten – philosophisch-theologischen (für den Menschen als endliches und sterbliches Vernunftwesen
trostreichen) Sinnperspektive auf das Ganze des vom Menschen nicht
Gemachten flankiert sein kann, die – ebenfalls ohne theoretischen
Anspruch (auf Erkenntnis und Wahrheit) – das vom Menschen nicht
Gemachte als von Gott geschaffen interpretiert. Auch für Kants Physikotheologie ist die naturteleologische Beurteilung der Natur der Ausgangspunkt: An organisierte Wesen kann die Frage gestellt werden,
wozu (quem in finem) sie existieren 153 , wozu sie da sind 154 . Man kann
sie also als Zwecke betrachten und auch die ganze Natur auf einen
»Endzweck (scopus)« beziehen. Dieser findet sich jedoch in der sichtbaren Natur nicht, sondern muss außerhalb gesucht werden 155 . Es ist
nach Kant nur praktische Vernunft, die diesen Endzweck zu erkennen
geben kann. Endzweck ist bei ihm bekanntlich: (weltumspannende)
Sittlichkeit (Autokratie), soweit deren mittelbare Wirkung in der Sinnenwelt zugleich Glückseligkeit (ein nach Wunsch gelingendes Leben) 156 – »in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit« 157 – sein
würde. Dabei geht Moralität mit einem in praktischer Hinsicht notwendigen, subjektiv zureichenden Fürwahrhalten 158 , d. h. einem Vernunftglauben an ein künftiges Leben und die Existenz einer von der
Ebd., 153. Vgl. auch Köchy 2009.
Ebd., 161 f.
152 Kant, KrV, B 771.
153 Kant, KU, B 398.
154 KU, B 380.
155 KU, B 300 (Hervorh. PK). Darauf weist der von Kant verwendete Ausdruck »Zweck«
deutlich hin.
156 Kant, KpV, A 206 f.
157
KrV, B 842; vgl. auch KpV, A 234.
158 KU, B 274.
150
151
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Petra Kolmer
Natur unterschiedenen intelligiblen Weltursache, Gott, einher: (a) weil
Sittlichkeit in dieser Sinnenwelt nicht adäquat realisiert werden
kann 159 ; (b) weil sonst die (notwendige) Verbindung der heterogenen
Elemente Sittlichkeit und Glück in praktischer Hinsicht nicht für möglich gehalten werden könnte 160 .
Der »apriori durch reine praktische Vernunft bestimmt gegebene
Zweck« (die Idee des höchsten Guts) fundiert nun zugleich ein quasitheoretisches Pendant zum praktischen Vernunftglauben: jene schon
erwähnte (transzendentale) »Theologie der Natur (Physikotheologie)« 161 , die einen »doktrinalen Glauben« an die Existenz Gottes als
eines weisen Welturhebers sowie an ein »künftiges Leben der menschlichen Seele« bewirkt 162 (unter der Bedingung, dass man an der Moralität ein Interesse nimmt). Diese Theologie leistet eine Beurteilung,
eine »Auslegung« oder »Interpretation« der Welt resp. Natur als ein
»Werk Gottes«: als habe Gott ihr einen auf Moralität abzweckenden
»Sinn« gegeben 163 . Diese Interpretation gehört nicht zu einer »verKU, B, 303.
KpV, A 207.
161 Vgl. Kant, KrV, B 855; B 844.
162 KrV, B 855. Der Glaube also ist doktrinal, nicht jedoch die sich auf ihn gründende
»Auslegung« als »Theodizee«. (Dabei soll »alle Theodizee […] eigentlich Auslegung der
Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kund macht« (Über
das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, A 212).) Eine solche
Auslegung kann deshalb nicht doktrinal genannt werden, weil sie »nicht Auslegung
einer vernünftelnden spekulativen, sondern einer machthabenden praktischen Vernunft
[ist], die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als
die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er
dem Buchstaben seiner Schöpfung Sinn gibt« (A 213). Eine solche Auslegung, die Kant
in einem alten »heiligen Buche«, nämlich Hiob, »allegorisch ausgedrückt« findet, ist
vielmehr, anstatt doktrinal, »authentisch« (ebd.). Sie heißt so, weil sie nicht mit dem
Geltungsanspruch der Wahrheit, sondern mit dem der »Wahrhaftigkeit« oder (formalen) »Gewissenhaftigkeit« verknüpft ist. D. h. Aussagen werden hier nicht »mit dem
Objekt im logischen Urteile (durch den Verstand)« verglichen, sondern, unter Voraussetzung des als Glauben qualifizierten »Fürwahrhaltens«, mit dem Subjekt »vor dem
Gewissen« (A 219). Die Sätze dieser Auslegung sind also nicht bestimmende Urteile
des Verstandes, der »allein (wahr und falsch) objektiv beurteilt« (ebd.), sondern Sätze,
die gewissermaßen gerade das Eingeständnis (spekulativen) Nichtwissens voraussetzen:
»Aufrichtigkeit des Herzens« (anstatt »Vorzug der Einsicht«), »Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen«, vornehmlich vor Gott (anstatt »Überzeugung zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt«) (A 217). Nicht zuletzt diese Redlichkeit zeichnet
Kant zufolge Hiob aus. »So hat es die Theodizee […] nicht so wohl mit einer Aufgabe
zum Vorteil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu tun« (A 218).
163 Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, A 213.
159
160
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nünftelnden (spekulativen), sondern zur machthabenden praktischen
Vernunft«, welche als die »unmittelbare […] Stimme Gottes« angesehen werden kann. Interpretiert wird die Natur (der Form nach), als
habe Gott »durch dieselbe die Absicht seines Willens kund [ge]macht« 164 (so dass es »völlig einerlei« ist »zu sagen: Gott hat es weislich so gewollt, oder die Natur hat es also weislich geordnet« 165 ). Im
ersten Schritt ist dieser doktrinale Glaube Ausdruck einer Affirmation
des vom Menschen nicht selbst Gemachten als etwas von Gott Geschaffenen: Was der Mensch nicht selbst gemacht hat, ist Natur, aber nicht
Natur nur im Sinne mechanischer Wirksamkeit, auch nicht nur im
teleologischen Sinne einer sich selbst zwecklos bloß auswickelnden Natur, sondern Natur, die, als Schöpfung Gottes 166 , relativ zum Menschen
in seiner praktischen Bestimmung die Züge der Weisheit trägt. In dieser Hinsicht zeigt sich eine »vortreffliche Ausstattung der menschlichen Natur«, vor allem der »Natur der denkenden Vernunft« 167 , zu
deren Entfaltung die »Kürze des Lebens« »so schlecht angemessen« ist,
dass dies bereits »genugsamer Grund zu einem doktrinalen Glauben
des künftigen Lebens der menschlichen Seele« sein kann 168 . In dieser
Hinsicht auch offenbart sich das, was der Mensch nicht selbst gemacht
hat, relativ zu seiner praktischen Bestimmung, in einer »Ordnung,
Schönheit und Fürsorge« 169 , die nur die »Anordnung eines weisen
Schöpfers« verraten kann (und »nicht etwa die Hand eines bösartigen
Geistes« 170 ). Und in dieser Hinsicht wird anerkannt, dass »alles, was
die Natur selbst anordnet, zu irgendeiner Absicht« (die mit dem Menschen und seiner praktischen Bestimmung zusammenhängt) »gut«
ist 171 , und gilt selbst die »Einrichtung unserer Vernunft« als Zeichen
einer »weislich uns versorgende[n] Natur« 172 . Natur in diesem Sinne
ist die auf den Menschen in seiner praktischen Bestimmung bezogene
»Vorsehung«. Und so bekommt »alle Naturforschung« schließlich »eiKant, ebd., A 212.
KrV, B 727.
166 In Frage steht Gott als eine »Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriff eines freien Willens unzertrennlich verknüpft«:
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 29.
167 Vgl. KU, B 397.
168 KrV, B 855.
169
KrV, XXXIII.
170 Vgl. Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 394.
171
KrV, B 771.
172 KrV, B 829.
164
165
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ne Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke, und [ist] in ihrer
höchsten Ausbreitung Physikotheologie« 173 – der wir auch heute im
Alltag oft noch (diffus) anhängen 174 .
Kants mehrstufiges Konzept der Natur – von der Theorie über
Teleologie und Ästhetik zu einer Theologie des dem Menschen nicht
Gemachten – gehorcht einer als »teleologia rationis humanae« 175 bezeichneten und in der Kritik der reinen Vernunft umrissenen »natürlichen Gedankenfolge« 176 , also einer Systematik teleologischer Provenienz (auf der Basis einer Beurteilung der »Natur der denkenden
Vernunft« als organologisch verfasst) 177 . Diese, wie auch viele der anderen Kantischen Verwendungsweisen des Ausdrucks »Natur« sind
heute philosophisch nicht mehr aktuell. Dass der Ausdruck aber so verwendet werden konnte, macht noch einmal klar, dass die moderne Naturwissenschaft seine Bedeutung erst hat reduzieren müssen, damit er
ihr nicht »vage«, »unbestimmt« und »unerklärlich« (Hume) blieb 178 .
KrV, B 844.
Zur Theodizeeproblematik vgl. im vorliegenden Sammelband den Beitrag von H.-D.
Mutschler.
175 KrV, B 867.
176 Kant, Brief an K. Morgenstern vom 14. August 1795, in: Akademie Ausgabe,
Bd. XII, 36.
177 Vgl. zur »Natur der Vernunft« bereits die Vorreden zu den beiden Auflagen der KrV;
vgl. systematisch zur »Natur in unserer eigenen Vernunft«: KU, B 274, sowie vor allem
die sich philosophisch mit der Geschichte der Philosophie befassenden Texte, die von der
»Natur der menschlichen Vernunft« ausgehen: vor allem Preisschrift, A 21 oder KrV, B
867. Vgl. aber dann später auch Hegel über die »denkende Natur« in: Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], § 13, oder die »Natur des Denkens, der Vernunft« in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. P. Garniron/W. Jaeschke, Bd. 6: Teil 1: Einleitung in die Geschichte der Philosophie (1–364),
Orientalische Philosophie, Hamburg 1994, 220. Vgl. dazu insgesamt Kolmer 1998.
178 Es ist daran zu erinnern, dass gerade die (aristotelische) Teleologie zum Ausdruck
bringt, dass das, was wir nicht selbst gemacht haben, für uns letztlich unverfügbar ist –
und dass gerade die organischen Dinge diese Unverfügbarkeit bezeugen. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert waren es nämlich vor allem Freiheitsgesichtspunkte, aus denen heraus man – in der Philosophie – an der Naturteleologie festgehalten hat. Was man akzentuierte, war nämlich, dass organisierte Wesen – im Unterschied
zu unorganischen Dingen – nicht so existieren, dass sie nur von außen bestimmt und
nur durch anderes bewegt würden. Organisierte Wesen haben eine relativ selbstbestimmte Existenz und Entwicklung, für die man im 18. Jahrhundert auch den Begriff
der Geschichte verwendet. »Schon jeder Halm, jeder Baum hat«, schreibt dann Hegel,
»in diesem Sinne seine Geschichte«, dass er eine selbstbestimmte (durch den »Begriff«
bestimmte) »Entwicklung« (oder »Bildung«) hat, in deren Rahmen er durch zunehmend
komplexere epochale Zustände (Zeit-Räume) seiner selbst hindurchgeht, dass es also
173
174
46
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Warum Streit um die Evolutionstheorie?
4.
Ausblick
Mit dieser Reduzierung ging einher, dass die Gotteshypothese nicht
mehr als naturwissenschaftliche Hypothese, ja überhaupt nicht mehr
als Hypothese des Wissens verstanden werden kann. Gott ist zuallererst ein Gegenstand des Glaubens. Glaube, religiöser zumal, ist nicht
per se irrational, ist nicht schon Irr- und Aberglauben, nur weil ›zu
glauben‹ heißt ›nicht zu wissen‹, zumal nicht zu wissen in einem naturwissenschaftlichen Sinn. Glaube kann vernünftig, auf Wahrheit bezogen sein. Dann kann man für ihn Gründe geltend machen, streiten und
argumentieren. Weil – und soweit – Glaube begründbar ist, kann Religion ein ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen sein.
Lehrfächer im Allgemeinen sollen, so besagt es ein offizieller Erlass, jungen Menschen »in einer immer komplizierteren Welt Hilfen
zur Orientierung in ethischen, moralischen und religiösen Fragen« geben; das Lehrfach Religion soll diese Fragen reflektieren, d. h. »ausdrücklich [stellen] und Antworten auf der Grundlage der christlichen
Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften [suchen]« 179 .
Hierin unterscheidet es sich vom Biologieunterricht radikal: Sind
wir im Biologieunterricht die ›Beobachter‹, die Welt nur ›kennen‹ bzw.
kennen lernen wollen, so im Religionsunterricht die sterblichen Akteure, die Welt (Lebenswelt) ›haben‹ bzw. gewinnen wollen. Wenn
überhaupt jemand des religiösen Glaubens bedarf, dann der, der ein
Mitspieler ist im Spiel, das in unserer Welt zu spielen ist, und also
dem Spiel nicht nur zuschaut. Ob man aber etwas glaubt und was
man glaubt – auch Atheismus ist ein (Sinn gebender) Glaube, der das
Erfahrbare transzendiert –, hängt vom Temperament und der existenziellen Erfahrung ab, die einen Welt gewinnen lässt.
»eine Veränderung, Folge und abgeschlossene Totalität unterschiedener Zustände«
(Vorlesungen über die Ästhetik, TWA 15, 226) gibt, durch die erkennbare Wirklichkeit
gesetzt wird. Umgekehrt kann seit dem 18. Jahrhundert die Menschenwelt, die unter
dynamischen Gesichtspunkten die ›Geschichte‹ ist, als »Natur« (als »zweite Natur«)
gedeutet werden (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4, TWA 7, 46). Denn
auch diese Welt resp. Geschichte wird, so die Auffassung, durch niemanden bewusst und
mit Absicht erzeugt. Bewusstsein, Absicht, Freiheit ist erst das Ziel. Geschichte wird
verstanden als eine »Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der
Natur des Menschen« (Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, A 2)
bzw. als Geschehen des werdenden Geistes: als dessen bewusstlose Entwicklung, dessen
fortschreitende Organisation, deren höchstes Ziel die Freiheit ist.
179 Erlaß zum Religionsunterricht in Hessen vom 01. 07. 1999.
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Wissen und rationabler Glaube, Biologie und Religion, liegen jedenfalls nicht auf derselben Ebene. Sie geben nicht Anlass zum Streit.
Sie ergänzen einander. Ein fächerübergreifender Unterricht an Schulen
machte daher keinen Sinn. Die Irritation, die ein entsprechender Vorschlag vor einigen Jahren in Deutschland ausgelöst hat, ist daher zu
erklären.
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