Neurodegenerative Erkrankungen: Mäuse stehen Modell

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Tierphysiologie
Naturwissenschaften
NEUROrubin 2003
Neurodegenerative Erkrankungen:
Mäuse stehen Modell
Das Problem der Forscher bestand
lange Zeit darin, dass sie
sterbende Nervenzellen am lebenden Menschen nicht untersuchen können und in Tieren diese Erkrankungen nicht vorkommen. Jetzt
helfen Mäuse Menschen.
C.C. Stichel
H. Lübbert
F
ür zahlreiche neurodegenerative Erkrankungen werden genetische Faktoren verantwortlich gemacht.
Bislang sind jedoch die zellulären Prozesse unbekannt, die durch diese genetischen Veränderungen gesteuert zu
spezifischen Krankheiten führen. Des-
Wenn Nervenzellen
sterben
halb versucht die Wissenschaft, zumindest Teilaspekte menschlicher Erkrankungen in Tiermodellen zu erforschen:
Mit Hilfe transgener Technologien werden in einem Organismus genetische
Mutationen erzeugt, die beim Menschen zu unheilbaren Krankheiten führen. Transgene Tiere ermöglichen eine
detaillierte Analyse der pathologischen
PD Dr. Christine C. Stichel, Prof. Dr.
Herrmann Lübbert, Lehrstuhl für Tierphysiologie
Mechanismen und bieten ein außerordentliches Potential für die Entwicklung neuer Therapieansätze.
Die Erfolge der modernen Medizin
in der Behandlung von Infektionskrankheiten und die verbesserte Vorbeugung und Therapie von Volkskrankheiten wie Bluthochdruck und
Zuckerkrankheit haben die Lebenserwartung der Bevölkerung westlicher
Industrienationen beträchtlich steigen
lassen. Die Menschen werden immer
älter, leiden damit aber auch mehr an
altersabhängigen Erkrankungen. Neurodegenerative Krankheiten gehören zu
den häufigsten dieser Erkrankungen
und werden im 21. Jahrhundert zunehmend zu sozioökonomischen Problemen führen.
Ein Leben ohne Zelltod ist undenkbar. Erst der programmierte Zelltod gewährleistet die richtige Form und Größe von Strukturen während der Entwicklung und entfernt geschädigte Zel-
Alzheimer und Parkinson:
Zelltod außer Kontrolle
len im erwachsenen Organismus. Findet Zelltod jedoch in Organen statt, die
nur eine beschränkte Fähigkeit zur Regeneration haben, so hat das verheerende Folgen. Bei Erkrankungen wie
Abb. 1:
Mikroinjektion von
Erbmaterial (DNA)
in einen Vorkern.
Über eine feine
Injektionskapillare
wird DNA in den
männlichen Vorkern eines einzelligen Mausembryos
injiziert. Die
Haltekapillare fixiert die Zelle.
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info
Morbus (M.) Alzheimer und Morbus
(M.) Parkinson ist der Zelltod außer
Kontrolle geraten. Sie sind die beiden
häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen, die mit einem fortschreitenden, massiven Verlust von Neuronen im
Mittel- bzw. Endhirn einhergehen und
zu erheblichen intellektuellen, kognitiven und motorischen Funktionsverlusten führen. Alzheimer-Patienten leiden unter zunehmendem Gedächtnisverlust, Sprach- und Bewegungsstörungen und Orientierungsschwierigkeiten, während es bei Parkinsonikern zu
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Abb. 2:
Die Spuren 1, 3 und 4 zeigen die Wildtyp-Form des
Gens, somit handelt es
sich bei diesen Mäusen
um nicht-transgene Tiere.
Tier 2 ist transgen, erkennbar an der mutierten,
verkürzten Form des
Gens. Der Größenstandard in der linken
Spur erlaubt die Größenbestimmung der Banden
in den Spuren 1-4. (Nachweis des veränderten
Gens durch Polymerase
Chain Reaktion).
Gang- und Gleichgewichtsstörungen,
Zittern und Muskelsteifigkeit kommen kann.
Zur Zeit leiden allein in den USA
mindestens 4 Millionen Patienten an
M. Alzheimer, und ca. 1,2 Millionen
Personen sind von M. Parkinson betroffen. Trotz Kenntnis der Symptomatik und Funktionsstörungen sind die
Krankheitsmechanismen, die zum neuronalen Zelltod führen, noch weitgehend unverstanden. Daher ist es nicht
möglich, den Ausbruch der Krankheit
zu verhindern oder den Zelltod deutlich zu verlangsamen bzw. zu stoppen.
Vielversprechende Fortschritte auf dem
Gebiet der Molekularbiologie lassen
hoffen, dass in naher Zukunft die Ursachen und Mechanismen dieser Erkrankungen aufgeklärt werden können.
Durch genetische Kopplungsanalysen
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Transgene Tiere
Überexpression (Transgene)
Einbringen eines zusätzliche Gens, das zufällig integriert. Dies führt zu einem
Funktionsgewinn. Durch die Wahl des Promotors wird der Ort und die Menge
der Expression bestimmt. Durch das zusätzliche Anbringen von Kontrollelementen kann die Fremd-DNA gezielt in bestimmten Geweben bzw. zu einem
bestimmten Zeitpunkt exprimiert werden.
Knock-out
Entfernung eines Gens. Dies führt zu einem Funktionsverlust.
Knock-in
Veränderung des natürlichen Gens, z.B. Einführung einer Punktmutation, oder
Austausch eines endogenen Gens durch ein Fremdgen. Dies führt zu der Expression eines mutierten bzw. Fremdgens in normaler Menge.
krankungen widerspiegeln.
Die fremde genetische Information
fügt sich meist ungerichtet irgendwo in
das Genom der Zielzelle ein, oft auch
in mehreren Kopien. Durch die Kopplung des Gens mit einem zelltypspezifisch regulierten Promotor kann
das Gen ganz gezielt in bestimmten
Zelltypen „angeschaltet“ werden (s.
Info, S. 56: gezielte Veränderung). Der
Promotor, eine Nukleinsäuresequenz,
fungiert quasi als Genschalter. Er liegt
vor dem eigentlichen Transgen und
wird mit ihm in den Organismus ge-
info
wurden bereits Gene identifiziert, die
neurodegenerative Erkrankungen auslösen, wenn sie mutiert sind. Bisher
sind drei Gene für M. Alzheimer bekannt: Amyloid Precursor Protein
(APP), Präsenilin1 (PSEN1) und Präsenilin2 (PSEN2). Ebenfalls drei Gene
sind für die vererbbaren Formen des M.
Parkinson verantwortlich:
Parkin (Pk),
α- S y n u c l e i n
le Reaktionsmechanismen im
Degenerationsprozess zu identifizieren. Das Problem der
Wissenschaftler besteht darin,
dass sie die sterbenden Zellen
am lebenden Menschen nicht
untersuchen können und dass
in Tieren diese Erkrankungen
(SNCA) und Ubiquitin C-terminale
Hydrolase L1 (UCHL1) (Info, S. 52).
Damit ist jedoch noch nicht verstanden, wie die Mutationen zu dem sehr
komplexen Phänomen des neuronalen
Zelltods führen. Für die Entwicklung
nicht vorkommen.
Die Kenntnis der krankheitsverursachenden
Gene
und die in den 80er Jahren
entwickelte transgene Technologie ermöglichen es jedoch,
fremde Gene (Transgene) in
die Keimzellen von Säugetieren zu übertragen (Transgenesis) bzw. gezielt zu entfernen oder zu modifizieren
(s. Info 2, oben, und Abb. 2).
Dadurch können äußerst effizient Tiermodelle erzeugt
werden, die zumindest Teilaspekte dieser menschlichen Er-
Abb. 3:
Chimäre Maus - übertragen wird
ein mutiertes Gen in Zellen einer
braunen Mauslinie. Durch den
Transfer dieser Zellen in eine
Mauslinie mit weißer Fellfarbe
entstehen gefleckte Nachkommen.
Die Zellen mit brauner Pigmentierung
tragen das mutierte Gen.
Erst Krankheitsmechanismen klären,
dann Therapien entwickeln
von Therapieformen, die sich gegen die
Krankheitsursache richten, ist es unabdingbar, die durch die Mutation ausgelöste Kaskade krankhafter Stoffwechselveränderungen aufzuklären und zentra-
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bracht. Mit Hilfe von Kontrollelementen, wie dem Tetrazyklin-Operator,
gelang es dann auch den Zeitpunkt zu
kontrollieren, zu dem das Gen aktiviert
wird (s. Info, S.56: konditionierte Veränderung).
Mit dieser Technologie erhielten
die Forscher ein völlig neuartiges und
vielversprechendes experimentelles
Handwerkzeug, um die pathologischen
Prozesse menschlicher Krankheitsbilder, die durch genetische Veränderungen verursacht werden, zu erforschen
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und Strategien für neue Therapien zu
entwickeln und zu erproben.
Mit dem Ziel die pathologischen
Mechanismen der Alzheimerschen und
Parkinsonschen Krankheiten zu entschlüsseln, haben wir in Zusammenarbeit mit der Firma Biofrontera Pharmaceuticals GmbH (www.biofrontera.de)
zahlreiche transgene Mauslinien erzeugt. Diese Mäuse tragen genetische
Mutationen, die in Menschen den Ausbruch der Krankheiten verursachen.
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Promotor fungiert
als „Genschalter“
Abb. 4:
M. Alzheimer - Hirnschnitte
transgener Mäuse:
A: Expressionsmuster des mutierten
humanen Gens APP in der Hirnrinde.
Immunhistochemischer Nachweis mit
einem humanspezifischen Antikörper
gegen APP.
B: Ausbildung von Amyloid-plaques
in der Hirnrinde einer 18-Monate alten transgenen Maus.
C: Nahaufnahme eines Amyloidplaques.
D: Amyloid-plaque umgeben von reaktiven Gliazellen (Astrozyten).
In den transgenen Mäusen unseres
M. Alzheimer-Projekts werden die mutierten humanen Gene APP und PSEN1
einzeln oder beide gleichzeitig hergestellt (exprimiert). Gesteuert durch den
Thy1-Promotor findet man in nahezu
allen Neuronen des Gehirns das mutierte humane Protein APP (Abb. 4A). Diese APP-Mäuse entwickeln altersabhängig spezielle Ablagerungen, die sog.
Amyloid-Plaques (Abb. 4B-D). Sie
sind ein Kardinalsymptom der Alzheimer-Pathologie. Durch die Kombination der APP- und PSEN1-Mutationen ist
es uns gelungen, den Ausbruch der Er-
krankung in den Tieren zu beschleunigen und das Ausmaß der Schädigungen
zu verstärken.
In unserem Parkinson-Projekt haben wir inzwischen transgene Linien
für alle bisher bekannten krankheitsverursachenden Gene erzeugt. Neben
einer Parkin-Knockout-Maus, die die
autosomal-rezessive Form des jugend-
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Abb. 5:
M. Parkinson: Transgene α -synuclein
(SNCA)-Mäuse. Zellen in der Hirnrinde transgener Mäuse, in denen das
fremde Gen, hier das mutierte humane α -synuclein, hergestellt (exprimiert) wird. Mauslinie 1 (A, B) zeigt
eine ubiquitär neuronale Expression,
Mauslinie 2 (C, D) exprimiert das
Transgen nur in dopaminergen Neuronen und die Mauslinie 3 (E, F)
exprimiert das fremde Gen ausschließlich in Gliazellen.
lichen/frühen Parkinsonismus widerspiegelt, haben wir transgene Mauslinien erzeugt, die mutiertes humanes
UCHL1 oder SNCA herstellen und dadurch als Modelle für die autosomaldominanten Formen des M. Parkinson
dienen (s. Glossar). Indem wir verschiedene Promotoren einsetzen, erhalten wir Mauslinien, die das fremde Gen
in unterschiedliche Zellen und Hirnregionen tragen. So haben wir Mauslinien, die das Transgen
in allen Neuronen des
Gehirns (ubiquitär) bzw.
ausschließlich in dopaminergen
Neuronen
(Botenstoff Dopamin)
aktivieren und solche,
die das Transgen nur in
Stützzellen (Gliazellen,
s. Abb. 4) tragen.
Die spannenden
Fragen, die sich nun stellen sind (i), welche
Funktionsstörungen durch
die eingeführten Genmutationen in den Mäusen
ausgelöst werden, (ii) ob
sie denen von Parkinson-Patienten gleichen
und, wenn nicht, (iii)
welche kompensatorischen Mechanismen in
der Maus die Krankheitsentstehung erfolgreich
verhindert haben. Zur
Beantwortung dieser Fragen setzen wir
eine breite Palette histologischer und
molekularbiologischer Methoden sowie
Verhaltensstudien ein. Wir charakterisieren den pathologischen Zustand der
Tiere und definieren Zeitpunkte, die
mit deutlichen degenerativen Veränderungen einhergehen. Diese Zeitpunkte
stehen dann im Mittelpunkt unserer
Genexpressionsanalysen. Mit dem
DEPD ®-Verfahren (Digital Expression
Pattern Display, Patent-Nr. DE1980
6431C1) und einer hochentwickelten
Bioinformatik versuchen wir den Genen auf die Spur zu kommen, die die
degenerativen Prozesse steuern.
Die eingeführten Mutationen haben
bereits zu pathologischen Veränderungen in den Mäusen geführt: So hatte
z.B. das gezielte Entfernen des Gens
Parkin (Parkin-Knockout-Maus) bereits
in jungen Tieren biochemische und
Transgenic animal models
Abb. 6:
An einer Sterilbank wird das
Kulturmedium für die Stammzellen vorbereitet, die für die
Herstellung transgener Tiere
benötigt werden.
Animal models are important tools
used in experimental medical science
to better understand the pathogenesis
of human disease. Advances in molecular genetics provide approaches for
the establishment of animal models
using transgenic technology.
In order to learn more about the
molecular events underlying the neurodegenerative diseases M. Parkinson
and M. Alzheimer, we have developed
transgenic animals that mirror different
aspects of their neuropathology. Analyses of these animals give us valuable
insight and clues to the underlying
pathogenesis and allow us to develop
new therapeutic approaches.
abstract
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Abb. 7:
Unter dem Mikroskop werden die gefärbten Hirnschnitte von transgenen
Mäusen ausgewertet. Transgene Tiere
erkennen die Forscher an veränderten
Neuronen bzw. Gliazellen, die beurteilt und gezählt werden.
Herstellung transgener Tiere
Konventionelle Veränderung
Einbringen von Fremd-DNA an unbestimmter Stelle in irgendein
Chromosom.
Gezielte Veränderung
(Gene Targeting)
Gene, die den
Zelltod bringen
Einführung eines zusätzlichen DNAFragments in ein Zielgen.
Einführung einer Deletion in ein
Zielgen.
Gezielte Veränderung einzelner
Nukleotide des Zielgens.
Konditionelle Veränderung
Gerichtete genetische Abwandlung,
die nur ein spezifisches Gewebe
oder einen Zeitabschnitt in der Entwicklung eines Organismus oder
beides betrifft.
info
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morphologische Veränderungen in den
Neuronen zur Folge, die bei Parkinsonikern absterben. Auch wenn die Erkrankung bei den noch jungen Tieren
nicht vollständig identisch mit der
beim Menschen ist, so besteht die
Hoffnung, dass der Krankheitsprozess
fortschreitet und noch weitere, pathologische Veränderungen erzeugt.
Die in den transgenen Mäusen beobachteten Defekte werden dadurch
verursacht, dass durch das Entfernen
des Parkin-Gens weitere Gene an- bzw.
abgeschaltet werden. Die Gruppe dieser nachgeschalteten Gene haben wir
mit der DEPD®-Methode analysiert.
Schon in jungen transgenen Tieren fanden wir dabei bereits bekannte mit dem
Zelltod verbundene Gene, aber auch
eine bemerkenswerte Zahl von Genen,
die bislang nicht mit degenerativen Prozessen in Zusammenhang gebracht
wurden. Diese Gene eröffnen uns ein
ganz neues Verständnis zelltodinduzierender Prozesse.
Durch die transgenen Tiere haben
wir somit erstmals die Chance, die
Krankheit am lebenden Organismus zu
untersuchen und die krankheitsverursachenden Prozesse aufzuklären. Das
heißt auch, dass mit Hilfe dieser Tiere
neue Diagnosemethoden und Therapieansätze entwickelt werden können.
Glossar:
autosomal-rezessive Form: Das Gen liegt auf
einem Körperchromosom (Autosom), nicht auf
einem Geschlechtschromosom und seine Merkmalsausprägung tritt gegenüber der seiner Kopie
(Allel) zurück.
dominante Form: Vorherrschen der Merkmalsausprägung eines Gens.
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