Inkontinenz bei Multipler Sklerose

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Leben mit MS
Alles fliesst?
Inkontinenz bei Multipler Sklerose
Viele unsichtbare Symptome begleiten den Alltag von MS-betroffenen Menschen.
Dazu gehört auch die Inkontinenz: Bei den meisten MS-Betroffenen machen Blase
und Darm nicht immer das, was bei Gesunden selbstverständlich ist. Wir versuchen, uns dem Thema aus medizinischer Sicht zu nähern.
■ Unser Harntrakt erfüllt zwei Aufgaben: Urinspeicherung und Blasenentleerung. Während unsere Blase Urin
speichert, dehnt sie sich elastisch aus
und der Schliessmuskel sorgt für einen
sicheren Verschluss der Blase. Bei Harndrang entspannt sich der Schliessmuskel
und gibt den Weg für den Urin frei. Somit können wir die Blase durch geringen Kraftaufwand an einem Ort unserer
Wahl entleeren. Obwohl uns dieser Vor-
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gang selbstverständlich erscheint, so ist
er doch Folge eines komplizierten Zusammenspiels unseres Nervensystems.
Die Steuerung erfolgt durch Nervenzentren in Grosshirn, Hirnstamm, Rückenmark und im kleinen Becken. Diese
stehen miteinander in stetiger Verbindung, um die Funktionen von Blase und
Schliessmuskel zu kontrollieren und zu
koordinieren. Bei der MS führen die
Schädigungen des Nervensystems zur
Beeinträchtigung dieser Kontrolle. Als
Folge entstehen Blasenfunktionsstörungen, die sowohl Inkontinenz als auch
Restharn nach sich ziehen können.
Folgen der MS
für die Blasenfunktion
Das Ausmass der Blasenprobleme hängt
von der Art der Nervenveränderungen
ab. Bei Schädigungen im Gehirn oder
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in den oberen Abschnitten des Rückenmarks entsteht häufig eine «überaktive
Blase» (die Blase verkrampft sich unkontrolliert). Die Folge davon ist ein plötzlicher, nicht unterdrückbarer Harndrang,
der oft zum Urinverlust führt. Auch die
Wahrnehmung der Blase kann gestört
sein. Durch Veränderungen im Rückenmark kann die Aktivität von Blase und
Schliessmuskel nicht mehr koordiniert
werden. Daher kommt es gleichzeitig zu
einer Verkrampfung von Harnblase und
Schliessmuskel (sog. Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie). Dies ist die gefährlichste Störung, da in der Harnblase ein
sehr hoher Druck entsteht. Dieser Druck
behindert den Abfluss von Urin aus den
Nieren oder presst Urin zu den Nieren
zurück, was mittelfristig Nierenschäden
verursacht. Nach Veränderungen der
Nerven im kleinen Becken empfangen
Blase und Schliessmuskel keine Nervenimpulse mehr. Dadurch kann die Blase
keine eigene Aktivität mehr aufbauen, die Entleerung ist mühsam und es
bleibt oft Restharn zurück. Dieser kann
zu Harnwegsinfekten führen oder die
Nierenfunktion beeinträchtigen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer
ausgeprägten Schliessmuskelschwäche.
Formen
der Blasenfunktionsstörung
Durch die Vielzahl der möglichen Störungen können ganz unterschiedliche Beschwerden entstehen. Bei einer
überaktiven Blase bzw. Dranginkontinenz bemerkt man einen einschiessenden Harndrang, kann aber nicht mehr
schnell genug eine Toilette erreichen.
Ein schlaffer Schliessmuskel bedingt eine
Belastungsinkontinenz: Bei körperlicher
Belastung, z. B. Husten, Niesen oder Lachen, kann der Schliessmuskel das Wasser nicht mehr halten. Bei einer schlaffen
Blase und bei einer Detrusor-SphinkterDyssynergie (s. o.) kann die Entleerung
der Blase erschwert sein und Restharn
entstehen.
Diagnostik
Da die verschiedenen Formen der Inkontinenz und der Blasenentleerung
unterschiedlich behandelt werden, muss
man zunächst herausfinden, welches
Problem vorliegt. Hierzu reicht oft eine
Basisuntersuchung aus. Dazu gehören
Me ie nbe r gs Me inung
Die Hose und der Knopf
Über das Abenteuer des An- und Ausziehens habe ich schon mal geschrieben. Nun, da ich meistens im Rollstuhl
sitze, hat sich das Ganze natürlich
noch etwas verkompliziert. Wenn ich
früher noch ganz kurz aufgestanden
bin und die Hosen möglichst schnell hochgerissen habe,
bleibe ich heute sitzen und schlüpfe zuerst einzeln in
die Hosenbeine. Und weil ich gottseidank noch recht
kräftig in den Armen bin, stemme ich mich im Rollstuhl etwas hoch und bringe so die Hosen auch unter
mein Gesäss. Das Ganze muss ich dann aber noch
präzis justieren mit einigen kleinen Hüpfern links und
rechts, bis die Hose dann tatsächlich sitzt und ich den
vermaledeiten Hosenknopf endlich schliessen kann. Und
ja keine Hektik. Wenn wir nämlich Gäste haben,
abfahren sollten, das Taxi wartet oder das Essen schon
dampfend auf dem Tisch steht und ich mich darum
etwas beeilen sollte, kann der Knopf zu meinem klaren
Feind werden und sich ganz bewusst quer stellen,
weil er einfach nicht in seinen Schlitz hinein will. Ich
bin schon echt wütend geworden und habe den
Knopf vor lauter Ärger schon mal abgerissen, was die
Sache dann echt verschlimmerte. Weil ich mit dem
ganzen Prozedere wieder von vorne beginnen und ein
paar neue Hosen holen musste. Und mein Herumgefluche im Badezimmer trug auch nicht zu einem entspannten Abend bei. Da ich den Knöpfen heute
möglichst ausweiche, bevorzuge ich mittlerweile für meine Oberbekleidung Pullis und T-Shirts. Sie können
sogar auch einmal einen fehlenden Knopf verbergen.
Bitte umblättern
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ein ausführliches Gespräch über die bestehenden Beschwerden, eine klinische
Untersuchung sowie ein Urintest, um
eine Infektion auszuschliessen. Zudem
sollte eine Ultraschalluntersuchung von
Nieren und Blase mit Restharnbestimmung erfolgen. Sind diese Untersuchungen nicht ausreichend, um die Form der
Blasenfunktionsstörung zu erkennen,
können weitergehende Untersuchungen
(z. B. Blasendruckmessung, Blasenspiegelung) erforderlich werden.
Therapie
Bei einer Dranginkontinenz kann die Blasenüberaktivität auf verschiedene Arten
gedämpft werden. Hierzu stehen Medikamente (sog. Antimuskarinika) zur Verfügung, die sich bezüglich Wirksamkeit
und Verträglichkeit individuell teils stark
unterscheiden. Alternativ kann die überaktive Blase durch eine Elektrostimulation beeinflusst werden. Diese Behandlung
kann von Betroffenen zuhause mit einem
kleinen tragbaren Gerät durchgeführt
werden. Bei extrem ausgeprägten Problemen besteht die Möglichkeit einer Injektion von Botulinumtoxin A (z. B. Botox®)
in die Harnblasenmuskulatur.
Bei der Belastungsinkontinenz wird der
Schliessmuskel durch Beckenbodengymnastik oder Elektrostimulation gestärkt.
Wenn der Erfolg nicht zufriedenstellend
ist, kann eine Operation notwendig werden. Bei Restharnbildung ist ein medikamentöser Behandlungsversuch (sog.
Alphablocker) oder ein Schliessmuskelentspannungstraining (Biofeedback)
möglich.
Immer erfolgreich?
Nicht alle Formen der Harninkontinenz
lassen sich problemlos durch einfache
Behandlungsmassnahmen beheben. Bisweilen müssen verschiedene Therapien
miteinander kombiniert werden oder es
bleibt eine Restinkontinenz bestehen, die
mit Hilfsmitteln (Einlage, Pessaren, Tampons) versorgt werden kann. Bei einer
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (S. 11)
steht bei der Behandlung der Schutz der
Nierenfunktion im Vordergrund. Hierzu
wird die Blase vollständig ruhiggestellt,
z. B. durch Antimuskarinika in hoher
Dosierung oder durch Botulinumtoxin
A. Eine vollständig ruhiggestellte Blase
schützt zwar die Nieren, auch lässt der
störende dauernde Harndrang nach,
aber die Blase kann sich nicht mehr aus
eigener Kraft entleeren.
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Katheterismus
Falls die Blasenentleerung aus eigener
Kraft nicht mehr möglich ist, wird eine
Entleerung mittels Katheter notwendig.
Grundsätzlich wird zwischen Dauerkathetern und Einmalkathetern unterschieden.
Dauerkatheter erscheinen auf den ersten
Blick zwar praktisch (man muss sich nicht
mehr um die Blase kümmern), weisen bei
Langzeitgebrauch aber viele Probleme
auf. Besonders bei Kathetern durch die
Harnröhre (transurethralen Kathetern,
DK) ist das Risiko für Entzündungen
von Blase, Prostata und Hoden massiv
erhöht. Zudem kann es zu Schädigungen
der Harnröhre kommen. Bei Kathetern
durch die Bauchdecke (suprapubischen
Kathetern, SPF) sind die Risiken geringer, allerdings führen auch sie im Laufe
der Zeit zu chronischen Blasenentzündungen und Blasensteinen. Nach etwa
10 Jahren Dauerkatheterableitung steigt
das Risiko, Blasentumore zu entwickeln.
Daher sollten Dauerkatheter besonders
bei jungen Menschen vermieden werden.
Zudem schränken sie die Lebensqualität
stark ein (Inkontinenz, Geruchsbelästigung). Ist ein Dauerkatheter dennoch
unumgänglich, sollte wenn immer möglich ein suprapubischer Katheter gewählt
werden.
Heute hat sich der intermittierende Katheterismus als Methode durchgesetzt.
Durch Einmalkatheter wird die Harnblase 3- bis 5-mal am Tag vom Patienten selber (oder durch Angehörige/Pflegende)
entleert. Da der Katheter nur sehr kurze
Zeit in der Harnblase verbleibt, ist das
Infektionsrisiko geringer. Ausreichende
Hygiene und korrekte Technik beugen
Harnwegsinfekten vor. Durch den Einsatz besonders gleitfähiger Spezialkatheter werden Schmerzen vermieden und
die Harnröhre wird vor Verletzungen ge-
schützt. Der intermittierende Katheterismus ist heute die schonendste Möglichkeit, die Harnblase sicher zu entleeren.
Blasenschrittmacher
Durch eine minimal invasive Operation
werden, ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher, Elektroden an den Nerven angebracht und mit einem Impulsgeber dauerhaft stimuliert. Durch dieses
Verfahren können sowohl der starke
Harndrang als auch die Restharnbildung behandelt werden. Voraussetzung
für eine erfolgreiche Stimulation sind
noch ausreichend intakte Nerven. Daher
kommt diese Operation nur für Patienten in Frage, die sehr wenige Schübe
haben und bei denen die Nerven im Blasenbereich noch gut genug erhalten sind,
um auf die Stimulation zu reagieren.
Hohe Lebensqualität trotz
Blasenfunktionsstörung
Nahezu alle Menschen, die von MS betroffen sind, entwickeln Probleme mit
der Blasenfunktion. Nicht bei jedem
Patienten wird dauerhaft eine vollständige Normalisierung der Blasenfunktion
erreicht, aber durch moderne Behandlungsmethoden kann eine hohe Lebensqualität trotz Blasenfunktionsstörung
gewährleistet werden.
Text: Prof. Dr. med. Jürgen Pannek, Neuro-Urologie, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil
Neues Infoblatt Inkontinenz
Unser Infoblatt zum Thema Inkontinenz
können Sie telefonisch bestellen oder
herunterladen:
Download: www.multiplesklerose.ch,
Bestellmöglichkeit: T 043 444 43 43
STÖRUNG
THERAPIE
Dranginkontinenz/überaktive Blase
Medikamentös (Antimuskarinika)
– Funktionelle Elektrostimulation
– Botulinumtoxin A
– Neuromodulation
Restharnbildung
Medikamentös (Alphablocker)
– Biofeedback
– Neuromodulation
– Intermittierender Katheterismus
Belastungsinkontinenz
Beckenbodengymnastik
– Elektrostimulation/Biofeedback
– Operation
Zusammenfassung der Behandlungsmöglichkeiten bei Blasenfunktionsstörungen.
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