Zerebral metastasiertes Schilddrüsenkarzinom

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MEDIZIN
KASUISTIK
Zerebral metastasiertes Schilddrüsenkarzinom
Komplette Remission nach Radioiodtherapie
Alexis Vrachimis, Kurt Werner Schmid, Heribert Jürgens, Otmar Schober,
Matthias Weckesser, Burkhard Riemann
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Hirnmetastasen treten bei etwa 0,9 % aller differenzierten Schilddrüsenkarzinome auf. In diesen Fällen beträgt das mediane Überleben Erwachsener weniger als ein Jahr. Die Radioiodtherapie wird nur selten angewandt,
weil ihr Nutzen nicht belegt ist. Bei Kindern ist die Situation möglicherweise
anders.
Falldarstellung: Bei einer 15-jährigen Patientin wurde 2005 im Rahmen einer
Thyreoidektomie in ektopem Schilddrüsengewebe eine oxyphile Variante eines
papillären Schilddrüsenkarzinoms nachgewiesen. Anschließend erfolgte eine
orale hochdosierte Radioiodtherapie. Der posttherapeutische 131Iod-Ganzkörper-Scan zeigte multiple Metastasen in Skelett, Lungen und Weichgeweben neben einer physiologischen Anreicherung im Schilddrüsenrestgewebe. Zwei
Hirnmetastasen wurden in der Magnetresonanztomographie diagnostiziert.
Verlauf: Im Anschluss an die initiale Therapie wurde eine altersadaptierte,
hochdosierte Radioiodtherapie bis zu einer Gesamtaktivität von 35 GBq durchgeführt. Es wurde eine komplette Remission sämtlicher Metastasen in Gehirn,
Skelett, Lungen und Weichgeweben erzielt. Im CT des Thorax zeigten sich stabile Residuen. Die Thyreoglobulin-Werte gingen während der Nachsorge über
7,5 Jahre kontinuierlich auf < 2 ng/mL zurück. Bei der letzten Kontrolle im Mai
2013 war die Patientin beschwerdefrei. Potenzielle Spätreaktionen der hochdosierten Radioiodtherapie, insbesondere Leukämie beziehungsweise Sekundärmalignome traten nicht auf. Die Fertilität der Patientin blieb erhalten, sie hat
nach Abschluss der Therapie zwei gesunde Kinder entbunden.
Schlussfolgerung: Das selten auftretende Krankheitsbild eines multifokalen
Schilddrüsenkarzinoms konnte durch die alleinige Radioiodtherapie erfolgreich
therapiert werden. Die Fallvignette zeigt, dass Therapiemodalitäten im Einzelfall erfolgreich sein können, obwohl sie bei den meisten Patienten in gleicher
Situation nicht oder schlecht wirksam sind.
►Zitierweise
Vrachimis A, Schmid KW, Jürgens H, Schober O, Weckesser M, Riemann B:
Cerebral metastases from thyroid carcinoma—complete remission following
radioiodine treatment. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(50): 861–66.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0861
Klinik für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Münster, Deutschland:
Dr. med. Vrachimis, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Schober, Prof. Dr. med. Weckesser, Prof. Dr. med. Riemann
Institut für Pathologie und Neuropathologie, Universitätsklinikum Essen, Deutschland:
Prof. Dr. med. Schmid
Klinik für Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – Pädiatrische Hämatologie und Onkologie,
Universitätsklinikum Münster: Prof. Dr. med. Jürgens
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 50 | 13. Dezember 2013
as differenzierte Schilddrüsenkarzinom, das die
follikulären und papillären Karzinome umfasst, ist
der häufigste endokrine Tumor. Es zeigt trotz eines großen Anteils lymphogener und hämatogener Metastasen
sehr günstige Behandlungsergebnisse und eine exzellente
Prognose mit 10-Jahres-Überlebensraten über 90 %
(1–6). Darüber hinaus konnten hochwertige klinische
Studien das Überleben der Hochrisikopatienten mit differenzierten Schilddrüsenkarzinomen signifikant verbessern (7). Diese Karzinome zeichnen sich dadurch aus,
dass sie in der Regel auf die Schilddrüse beschränkt bleiben und nur wenige Patienten Fernmetastasen aufweisen.
Die prognostisch günstigste Fernmetastasierung findet
man in der Lunge, gefolgt von Metastasen der Knochen
(8). Patienten über 45 Jahre mit Fernmetastasen haben
nachweislich ein schlechteres Überleben als die Normalbevölkerung (9).
Hirnmetastasen sind weiterhin eine sehr seltene Komplikation, die bei 0,15–1,3 % der Schilddrüsenkarzinome
auftritt (10–12). Man findet sie häufiger in den Hemisphären und sehr selten im Kleinhirn (13, 14) und in der
Hypophyse (15, 16). Diese Metastasen sind in der Regel
asymptomatisch, und nur wenige Patienten haben Symptome wie Kopfschmerzen, Sehstörungen oder Schwächen der Augenmuskulatur. Die intrakraniale Metastasierung ist mit einer schlechten Prognose und einem
Überleben nach Diagnose von weniger als einem Jahr
verbunden (11, 17, 18).
Nach den aktuellen internationalen Leitlinien (ATA
2009) ist bei Patienten mit Hirnmetastasen die komplette
Tumorresektion das Verfahren der ersten Wahl (19). Sollte diese Therapieoption nicht bestehen, können die Optionen einer Radiotherapie, einer Radioiodtherapie (im Falle
einer ausreichenden Iodavidität) oder einer Chemotherapie beziehungsweise biologischen Therapie mit TyrosinKinase-Inhibitoren im Rahmen klinischer Studien diskutiert werden. Die Radioiodtherapie wird nicht häufig für
die Behandlung von Hirnmetastasen eingesetzt, weil es
nur wenige Hinweise auf ihren Nutzen gibt.
Für die vorliegende Arbeit wurde eine PubMed-Recherche nach Artikeln mit den Stichworten „differentiated thyroid cancer“, „radioiodine“ und „brain metastases“
oder „brain metastasis“ durchgeführt. Es wurden nur klinische Studien und Fallberichte aus dem Publikationszeitraum 1977 bis 2012 ausgewertet, bei denen auch Radioiod zur Behandlung der Hirnmetastasen eingesetzt
wurde. Darüber hinaus wurden Patienten mit Kalotten-
D
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TABELLE
Übersicht der Literatur
Studie
N
Behandlung
Hirnmetastasierung
Überleben (Jahre)
Shen; 2012 (25)
1
Klubo-Gwiezdzinska;
2012 (30)
2
Miranda; 2010 (26)
1
Walczyk; 2010 (31)
1
Erem; 2004 (32)
RAI + RC + Sorafenib
S
n.u.
RAI
n.u.
n.u.
RAI + OP + RTX + RC
M
10
RAI + RTX
n.u.
2
1
OP + RTX + RAI
S
n.u.
McWilliams;
2003 (33)
4
2 OP + RAI
1 OP + RTX + RAI
1 OP + RC + RAI
S
1,5
Cha; 2000 (34)
1
OP + RAI + RTX + RC
S
>3
Misaki; 2000 (35)
9
4 RAI + RTX
2 RAI + RC
2 OP + RAI
1 OP + RAI + RTX
5S
4M
0,8
keine signifikante
intrakranielle RAI-Speicherung
24
(+ 8 post
mortem)
7 OP
13 RTX
6 CTX
3 RAI
11 S
12 M
1
nur 3/18 Patienten
mit RAI-Speicherung
Samuel; 1997 (18)
15
3 RAI
in Kombination mit OP,
RTX und/oder CTX
6S
9M
< 0,5
Biswal; 1994 (17)
5
2 RTX + RAI
1 RTX
1 OP + RTX + RAI
1 OP + RAI
S
2 starben
4 Monate und 7 Jahre nach
Diagnose; 3 leben 12–23 Monate
nach der Behandlung
Miyamoto; 1991 (36)
2
RAI
n.u.
n.u.
Andrews; 1987 (37)
1
OP + RTX + RAI
S
2,75
Krishnamurthy;
1977 (24)
2
RAI
n.u.
2
Chiu; 1997 (11)
Kommentare
gering differenziertes
Schilddrüsenkarzinom
keine RAI-Speicherung und kein
Ansprechen auf die Behandlung
zerebellum
N, Anzahl der Patienten; S, solitär; M, multipel; n.u., nicht untersucht; RAI, Radioiod; OP, Operation; RTX, Radiotherapie; RC, (Gamma-Knife) Radiochirurgie; CTX, Chemotherapie
oder Kopfhautmetastasen mit Kontakt zum Gehirn sowie
Patienten mit nichtdifferenziertem Schilddrüsenkarzinom
von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Die Tabelle
fasst die Literaturübersicht zusammen.
Falldarstellung
Im Oktober 2005 stellte sich ein 15-jähriges Mädchen
kaukasischer Abstammung mit seit 2 Wochen bestehender akuter Dyspnoe und linksthorakalen Schmerzen vor.
Im Röntgen-Thorax zeigte sich eine große retrosternale
Raumforderung mit einem Mediastinalshift nach rechts.
Die CT-gesteuerte Biopsie konnte nicht zwischen einem
Thymom und einem Thymuskarzinom differenzieren. In
der anschließenden kombinierten Positronen-EmissionsTomographie/Computertomographie (PET/CT) mit
18
F-Fluoro-Deoxyglukose (FDG) und Magentresonanztomographie (MRT) des Kopfes und der Wirbelsäule
wurden bifrontale Hirnmetastasen (4–5 mm), Läsionen in
zwei Brustwirbelkörpern, eine suspekte submentale
Raumforderung mit intensiver FDG-Anreicherung sowie
862
multiple Lungenmetastasen diagnostiziert. Aufgrund der
ungewöhnlichen Metastasierung erfolgten eine zweite
Biopsie des mediastinalen Tumors und eine solitäre pulmonale Metastasektomie. Die Diagnose des Thymoms
wurde bestätigt, aber unerwarteterweise wurde eine Lungenmetastase eines papillären Schilddrüsenkarzinoms
(solide Variante) nachgewiesen (Abbildung 1). Laut ihrer
Eigenanamnese war die Patientin am Tag ihrer Geburt
wegen einer kongenitalen Struma thyreoidektomiert
(Histologie: follikuläres Adenom) und 2002 wegen einer
Rezidivstruma linksseitig hemithyreoidektomiert worden
(benigne Histologie).
Die Schilddrüsen-Szintigraphie ergab ektopes Schilddrüsengewebe im Ductus thyreoglossus, das mit der FDG
anreichernden submentalen Raumforderung in der PET/
CT korrelierte. Sowohl das ektope Schilddrüsengewebe
als auch das Thymom waren wegen lokaler Beschwerden
(WHO B1) im Jahr 2005 reseziert worden. Im ektopen
Schilddrüsengewebe zeigte sich eine oxyphile Variante
eines papillären Schilddrüsenkarzinoms. Weiterhin bestäDeutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 50 | 13. Dezember 2013
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c
b
Abbildung 1: Histologie der Lungenmetastase des papillären Schilddrüsenkarzinoms (solide und mikrofollikuläre Variante; H&E) (a). Makroskopie (H&E) (b) und Immunhistochemie des Präparates mit deutlicher Expression des spezifischen Tumormarkers Thyreoglobulin (c). H&E, Hämatoxylin-Eosin-Färbung
tigte die Referenzpathologie follikuläre und solide Varianten eines papillären Schilddrüsenkarzinoms in dem im
Jahr 2002 resezierten Schilddrüsengewebe (Abbildung
2). Da die Gewebeproben, die 1990 entnommen worden
waren, nicht mehr aufbewahrt waren, konnte ein kongenitales papilläres Schilddrüsenkarzinom nicht ausgeschlossen werden. Daraufhin erfolgte eine orale, altersadaptierte hochdosierte Radioiodtherapie (50 MBq/
kg Körpergewicht [KG]) (20). Die posttherapeutische
131
Iod-Ganzkörper-Szintigraphie inklusive der Kombination aus Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie/Computertomographie (SPECT-CT) (vom Kopf bis
zum Becken) zeigte multifokale Metastasen des Skeletts
einschließlich des Schädels, der Lungen und des Weichgewebes sowie eine physiologische Anreicherung im
Schilddrüsenrestgewebe. Darüber hinaus korrelierten bifokale intrazerebrale Radioiod-Anreicherungen mit Hirnmetastasen in der MRT (Abbildung 3 a, b).
Nach den internationalen Leitlinien sollten vor einer
Radioiodtherapie zerebraler Metastasen eine perkutane
Bestrahlung und eine Glukokortikoid-Therapie diskutiert
werden, um eine mögliche TSH-induzierte und inflammatorische Schwellung der Metastasen zu verhindern.
Aufgrund der geringen Größe der Tumoren und des Alters der Patientin wurde zunächst auf eine Radiotherapie
verzichtet und die Radioiodtherapie unter CortisonSchutz durchgeführt. Das Vorgehen wurde interdisziplinär abgestimmt und anschließend das schriftliche Einverständnis von den Eltern der Patientin eingeholt.
Nach einer Serie altersadaptierter hochdosierter Radioiodtherapien (100 MBq/kg KG) bis zu einer Gesamtaktivität von 35 GBq konnte eine komplette Remission sämtlicher Metastasen des Gehirns, Skeletts, der Lungen und
Weichgewebe erreicht werden (Abbildung 3 c, d). Die
Patientin zeigte keine Frühreaktionen auf die Behandlung
wie zum Beispiel eine lokale schmerzhafte Schwellung
der Schilddrüse, des Tumors beziehungsweise der Metastasen, passagere Gastritis, passagere Knochenmarkveränderungen mit Thrombo- und Leukopenie oder radiogene
Sialadenitis. Neurologische Komplikationen konnten
ebenfalls zu keinem Zeitpunkt beobachtet werden. Während einer Nachsorge über 7,5 Jahre zeigte die CT des
Thorax konstante residuelle Vernarbungen (maximal 4
mm) ohne Korrelat in der 131Iod-Ganzkörper-Szintigraphie und FDG-PET. Die Thyreoglobulin-Werte gingen
kontinuierlich auf < 2 ng/mL zurück.
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Beim letzten Follow-up im Mai 2013 war die Patientin
unter der TSH-suppressiven Therapie mit L-Thyroxin beschwerdefrei. Die pulmonalen Veränderungen in der
Niedrigdosis-Thorax-CT waren konstant (maximal 4 mm)
und die Patientin zeigte weiterhin keinen morphologischen Hinweis auf zerebrale oder irgendeine andere Fernmetastasierungen. Außerdem hatte sie nach Abschluss der
Therapie zwei gesunde Kinder entbunden. Potenzielle
Spätreaktionen der wiederholten hochdosierten Radioiodtherapie (Xerostomie, Geschmacksveränderungen,
Sicca-Syndrom, permanente Knochenmarkdepression,
Lungenfibrose, Leukämie und Sekundärmalignome)
konnten in regelmäßigen klinischen und laborchemischen
Kontrollen sowie mittels Lungenfunktionsuntersuchungen ausgeschlossen werden.
Nach einer aktuellen Metaanalyse (n = 16 502) ist bei
Patienten, die eine Radioiodtherapie wegen eines Schilddrüsenkarzinoms erhielten, das relative Risiko für ein
Zweitmalignom leicht erhöht. Dies ist auf die gering erhöhte Rate an Leukämien zurückzuführen (21).
Diskussion
Hirnmetastasen stellen eine seltene Komplikation des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms dar, die lediglich bei
ungefähr 0,9 % der Patienten zu Lebzeiten entdeckt werden. Das mediane Überleben nach Diagnose der Hirnmetastasen beträgt typischerweise weniger als 1 Jahr (11, 18,
22). Der Nachweis von Hirnmetastasen ist ein negativer
prognostischer Faktor, daher muss die Behandlung für
den individuellen Patienten maßgeschneidert sein. Operation, Radiotherapie, Radioiodtherapie und Chemotherapie sind in der Literatur beschriebene Behandlungsoptionen. Die operative Resektion und externe Radiotherapie
sind traditionell die Hauptstützen der Behandlung. Nach
den aktuellen Leitlinien der American Thyroid Association für Patienten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom sollte unabhängig von der Iodavidität der Patienten
eine komplette operative Resektion von Hirnmetastasen
erwogen werden, da diese mit einem signifikant besseren
Überleben assoziiert ist. Die Radiochirurgie kann eingesetzt werden, um die Strahlenexposition des umgebenden
Hirngewebes zu begrenzen. Eine Ganzhirn- und Rückenmarksbestrahlung kann im Falle multipler Metastasen in
Betracht gezogen werden (19).
Es gibt bislang nur wenige Daten, die die Effektivität
der Radioiodtherapie nachweisen konnten. Einige Metas-
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b
Abbildung 2: Histologie des papillären Schilddrüsenkarzinoms (follikuläre [a] und herdförmig solide Variante [b]; H&E).
H&E, Hämatoxylin-Eosin-Färbung
tasen, insbesondere Hirnmetastasen, zeigen eine fehlende
Differenzierung, die zu einer unzureichenden RadioiodAnreicherung in den Metastasen führt und eine Radioiodtherapie unmöglich macht (23). Sofern Patienten allerdings ein erhöhtes Operationsrisiko aufweisen oder eine
Operation aufgrund der multifokalen Erkrankung nicht
möglich ist, scheint die Radioiodtherapie kleiner zerebraler Metastasen wie oben beschrieben eine attraktive Alternative als Einzeltherapie zu sein. Gegebenenfalls kann
sie auch in Kombination mit anderen Therapien eingesetzt werden.
Die fünf größten Studien mit Patienten mit Hirnmetastasen werden im Folgenden etwas ausführlicher besprochen. Chiu et al. (11) berichteten über 24 prämortale und
8 postmortale Fälle von Hirnmetastasen des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms. Das mediane Überleben betrug 12,4 Monate, sobald die Hirnmetastasen diagnostiziert wurden. Die krankheitsspezifische Mortalitätsrate
lag bei 67 %. Patienten, die einer chirurgischen Exzision
unterzogen wurden, wiesen ein medianes krankheitsspezifisches Überleben von 22 Monaten auf, verglichen mit
3,6 Monaten bei Patienten, die nicht operiert wurden
(p < 0,01). Im Gegensatz dazu schienen weder die externe
Radiotherapie des Gehirns noch die Chemotherapie einen
Einfluss auf das krankheitsspezifische Überleben zu haben. Eine Radioiod-Anreicherung wurde selten beobachtet. Sie zeigte sich lediglich bei 3 von 18 Patienten, die zu
ihrem Nachweis eine Ganzkörper-Szintigraphie erhielten.
Zwei von drei Patienten entwickelten neurologische
Komplikationen nach der Radioiodtherapie. Bei dem Patienten ohne neurologische Komplikationen wurde vor
der Radioiodtherapie eine singuläre Metastase chirurgisch entfernt. Insgesamt zeigten circa 9 % Patienten mit
Hirnmetastasen eines differenzierten Schilddrüsenkarzinoms ein krankheitsspezifisches Überleben > 36 Monate.
Allerdings werden in der Studie keine Angaben darüber
gemacht, inwieweit sich diese Patienten von den früher
verstorbenen Patienten unterschieden.
Samuel und Kollegen publizierten eine Serie von 15
Patienten mit Hirnmetastasen des gut differenzierten
Schilddrüsenkarzinoms (18). Mit Ausnahme von drei
Fällen mit unifokalen Hirnmetastasen hatten alle anderen
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ausgedehnte weitere Metastasen in verschiedenen Kombinationen. Nur zwei Patienten wiesen eine Radioiod-Anreicherung in den Hirnmetastasen auf. Allerdings wurden
drei weitere Patienten mit Radioiod behandelt, da sie an
anderen Stellen Iod-speichernde Metastasen aufwiesen.
Bei einem von ihnen erfolgte eine zusätzliche Chemotherapie, wohingegen zwei Patienten operiert wurden, von
denen einer eine adjuvante externe Radiotherapie erhielt.
Zwei Patienten starben innerhalb von 2 Monaten nach
Auftreten der Hirnmetastasen. Ein Patient lebte auch
noch 18 Monate nach der chirurgischen Exzision der
Hirnmetastase.
1977 stellten Krishnamurthy et al. eine prospektive
Studie zur Radioiodtherapie bei 54 Patienten mit Schilddrüsenkarzinom vor (24). Zwei Patienten mit Kleinhirnmetastasen wurden mit 6 beziehungsweise 14 GBq Radioiod behandelt, ohne dass eine komplette Ablation erreicht wurde. Beide Patienten starben letztlich am Schilddrüsenkarzinom innerhalb von 2 Jahren nach der initialen
Diagnose.
In der neuesten Studie wurde erstmalig die therapeutische Wirkung von Tyrosin-Kinase-Inhibitoren bei einem
Patienten mit Hirnmetastasen eines follikulären Schilddrüsenkarzinoms untersucht (25). Shen et al. berichteten
über eine 56-jährige Patientin, die eine Thyreoidektomie
und eine Radioiodtherapie aufgrund von Lungenmetastasen erhielt. Sie entwickelte eine rechtsseitige Hemiplegie
sowie weitere Symptome als Folge einer 5 cm großen Läsion im linken Parietallappen. Eine Radiochirurgie mit einer Gesamtdosis von 28 Gy war erfolglos. Hingegen verbesserten sich die Symptome und Krankheitszeichen dramatisch und kontinuierlich nach Beginn einer Behandlung mit Sorafenib. Ein partielles Therapieansprechen der
Hirnmetastase konnte über einen Zeitraum von mehr als
einem Jahr mittels bildgebender Verfahren dokumentiert
werden. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass eine
zielgerichtete Therapie wie mit Sorafenib eine wirksame
alternative Therapiestrategie zur Behandlung einer progredienten Hirnmetastasierung des differenzierten
Schilddrüsenkarzinoms sein könnte, wenn Operation, externe Strahlentherapie und Radioiodtherapie nicht geeignet sind oder ein schlechtes Ergebnis erzielen.
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Abbildung 3: Die erste posttherapeutische Iod-Ganzkörper-Szintigraphie zeigt multifokale Metastasen des Skeletts einschließlich des Schädels, der Lungen, der
Weichgewebe und des Gehirns neben einer physiologischen Anreicherung im Schilddrüsenrestgewebe (a). Darüber hinaus erkennt man bifrontale Hirnmetastasen in
der Magnetresonanztomographie (MRT) (b). (Abdruck mit Dank an das Institut für Klinische Radiologie, Universitätsklinikum Münster.) Nach wiederholten Radioiodtherapien (Gesamtherddosis 35 GBq) konnte eine komplette Remission aller Metastasen des Gehirns, Skeletts und Weichgewebes erzielt werden (c/d).
Das mit Abstand längste Überleben eines Patienten mit
Hirnmetastasen wurde von Miranda et al. publiziert (26).
Sie beschrieben einen 69-jährigen Patienten, der sich mit
progredientem Schwindel, Kopfschmerzen und Erbrechen bei multiplen Hirnmetastasen eines papillären
Schilddrüsenkarzinoms vorstellte. Der Patient erhielt
über einen Zeitraum von 10 Jahren eine Gesamtaktivität
von 44 GBq Radioiod. Außerdem wurde der Patient einer
partiellen chirurgischen Resektion der Hirnmetastasen
unterzogen und erhielt eine Ganzhirn-Bestrahlung mit 44
Gy, gefolgt von zwei Gamma-Knife Bestrahlungen (jeweils 15 Gy). Zum Publikationsdatum waren die biochemischen Tests im unauffälligen Bereich und der Patient
war weiterhin asymptomatisch. Die Autoren kommen zu
dem Schluss, dass ein kombiniertes Vorgehen mit chirurgischer Exzision, Radioiodtherapie, Ganzhirn-Bestrahlung und Gamma-Knife-Behandlung erfolgreich war, um
Hirnmetastasen des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms zu behandeln.
Der hier vorgestellte seltene Fall einer jungen Patientin, die an einem differenzierten Schilddrüsenkarzinom
mit multifokalen zerebralen und extrazerebralen Metastasen mit erhaltener Iodavidität erkrankt war, zeigt ein exzellentes Ergebnis über einen Nachsorgezeitraum von 7,5
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Jahren nach einer alleinigen Serie hochdosierter Radioiodtherapien. Zusammenfassend betrachtet könnte eine
alleinige hochdosierte Radioiodtherapie bei kleinen
Hinrmetastasen erwogen werden, wenn eine Operation
kontraindiziert ist und auf eine Bestrahlung verzichtet
werden soll, um die Nebenwirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn von Kindern und Jugendlichen zu minimieren (27).
Resümee
Das Schilddrüsenkarzinom ist ein seltener Primärtumor
bei Kindern und Jugendlichen. Die Behandlungsergebnisse sind trotz eines beträchtlichen Anteils lymphogener und hämatogener Metastasen günstig (28, 29). Die
vorliegende Arbeit zeigt, dass es immer wieder Tumorpatienten gibt, bei denen Therapiemodalitäten, die bei
den meisten Patienten in gleicher Situation nicht oder
schlecht wirksam sind, doch im Einzelfall erfolgreich
sein können.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 4. 1. 2013, revidierte Fassung angenommen: 11. 7. 2013
865
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Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Alexis Vrachimis
Universitätsklinikum Münster
Klinik für Nuklearmedizin
Albert-Schweitzer-Campus 1; Geb. A1
48149 Münster
[email protected]
Zitierweise
Vrachimis A, Schmid KW, Jürgens H, Schober O, Weckesser M, Riemann B:
Cerebral metastases from thyroid carcinoma—complete remission following
radioiodine treatment. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(50): 861–66.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0861
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 50 | 13. Dezember 2013
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