KLINISCHE VORSTELLUNGEN Es ist unverkennbar, daß

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Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung
VI K T OR VON W E I Z S Ä C K E R , H E I D E L B E R G
KLINISCHE VORSTELLUNGEN
Es ist unverkennbar, daß gegenwärtig ein lebhaftes und vielartiges Bemühen
um eine Erkenntnis der organischen Krankheiten im Gange ist, die besser
oder vollständiger sein möchte, als die der naturwissenschaftlichen Medizin.
Meist handelt es sich darum, durch psychologische Untersuchung die organischen Krankheiten nach Entstehung, Fortschritt und Wesen weiter aufzuklären. Dabei sind die benutzten Arten von Psychologie so verschieden, daß
ihre Anwendung in der Praxis zu geradezu entgegengesetzten, unter Umständen sogar einander aufhebenden Ergebnissen führen müßte. So kann
eine charakterologische Testprüfung die Eigenschaft „Geiz“ als Merkmal der
Person ergeben; während eine Psychoanalyse zeigt, daß es sich gar nicht um
Geiz, sondern um eine abnorme erotische Triebverwendung handelt. Auf einen
organisch Kranken angewendet, würde aber das erste einen Beitrag zur Konstitutions- oder Erbpathologie geben, das zweite eine Erweiterung der Funktionspathologie darstellen, bei der eine meist äußere Störung eine Reaktion
hervorruft. Es ist aber klar, daß die erste Vorstellung eine mehr fatalistische,
die zweite aber eine aktivistische ärztliche Haltung zur F olge hat.
Es ist nicht zu erwarten, daß ein Überblick über die so verschiedenen Bestrebungen zutage bringt, ob sich hinter dem Wunsche nach mehr Psychologie
in der Medizin nicht doch ein gemeinsames Motiv verbirgt. Ich habe hier einen
anderen, sehr anspruchslosen Grund, die verschiedenen Reformbemühungen
kurz und unsystematisch aufzuzählen: es soll nur das Unterfangen begründet
werden, daß ich, auf Einladung eines der Herausgeber der PSYCHE, hier
einige klinische Vorlesungen zu veröffentlichen wage.
Die naivste und wahrscheinlich verbreitetste Art, Körperliches und Seelisches
zu verbinden ist die, daß man die Körperstörung einfach als gegeben nimmt
und die Seele darauf reagieren läßt wie die Saite auf den Bogenstrich. Jemand
habe also ein Magengeschwür bekommen und sei dadurch schmerzgeplagt,
nervös, müde und verdrossen geworden. Man kann hier kaum von Psychologie
sprechen. — Besonders Spezialärzte haben dann zu beobachten geglaubt, daß
gewisse Krankheiten, etwa die Tuberkulose, häufig mit einem ganz bestimmten seelischen Bilde einhergehen und haben diesen seelischen Typus, eventuell
m it Mitteln der psychologischen Charakterologie, herausgearbeitet. W ar vorhin nur eine Reaktion der Psyche auf die Krankheit gemeint, so bleibt diesmal eine offene Frage, ob der seelische Typus ein Wegbereiter der Krankheit
war, ob das Umgekehrte der Fall war, oder endlich ob psychischer und somatischer Typus aus einer unbekannten, tieferen und eventuell einheitlichen
W urzel der ganzen Krankheit hervorgehen. Sorgfältige Studien über den
psychischen Typus etwa von Zuckerkranken, Hypertonikern, Fettsüchtigen,
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