7.1 Entwicklung der Fragestellung Die bisherigen Überlegungen, die die Entwicklungen der Aggressionsforschung darstellten und kritisch reflektierten, zeigten, dass eine Untersuchung nur dann dem Phänomen Aggression gerecht wird, wenn sie folgende Aspekte mitberücksichtigt: Der Mehrdimensionalität in der Aggressionsgenese ist Rechnung zu tragen. Aggression muss außerdem in ihrer destruktiven wie konstruktiven Dimension wahrgenommen werden. Dies muss sich in der Analyse der verschiedenen individuellen Aggressionsformen von Frauen und Männern konkretisieren. Es sollten nicht nur die quantitativen Maßstäbe des „mehr oder weniger", sondern des „anders als" im Hinblick auf Motive und Wahrnehmungen i n der geschlechtsspezifischen Aggressionsforschung angelegt werden. Dem Geschlecht als einer bislang weitestgehend vernachlässigten Untersuchungskategorie kommt entscheidende Bedeutung zu. Die Einbeziehung der Kategorie „Geschlecht` erweitert und differenziert die verschiedenen Facetten des Phänomens „Aggression". Die Einsicht in geschlechtsdifferenzierende und nicht nur geschlechtstypische Verhaltensweisen schwächt diese These nicht ab, sondern eröffnet vielmehr die Forschungsfrage, ob das biologische Geschlecht als einziger Parameter einer geschlechtsspezifischen Aggressionsanalyse ausreicht oder ob nicht auch soziale, psychische und (oder) kulturelle Differenzen innerhalb des biologischen Geschlechts stärker zu gewichten sind. Neben der Berücksichtigung dieser Aspekte, folgt die Untersuchung der These, dass der Bereich der Phantasie - neben der Realität - zur Konkretisierung geschlechtsspezifischen Aggressionsverhaltens beiträgt. Die verbreitete Überzeugung, höhere männliche Aggressivität sei eine anthropologische Konstante, wäre ohne den Bereich der Phantasien nicht zu überprüfen. Das Anliegen der Studie ist es, individuelle Formen des Umgehens mit Aggressionen auf der Ebene des Handelns wie auch auf der Ebene der individuellen Vorstellungen, Gedanken und Phantasien empirisch zu eruieren und diese darauthin zu prüfen, ob differente Aggressionsformen und -phantasien geschlechtsspezifisch eindeutig zurechenbar sind. Die Zusammenhänge zwischen der Kategorie „Geschlecht` und realem aggressiven Verhalten bzw. Aggressionsphantasien sind bislang im deutschsprachigen Raum weitgehend unerforscht. Im Hinblick auf die Dynamik von bewusstem und unbewusstem aggressiven Verhalten, Erleben und Phantaicren sind für die empirische Studie vor allem drei Thesen von Bedeutung: 1. Im Sinne FREUDS (1908, VII; 1917, XI) kann die Phantasie eine Ersatz- bzw. Kompensationsfunktion für eine defizitäre Realität innehaben. Reiche Phantasietätigkeit wird durch einen Mangel begründet, entsteht als Reaktion auf die nach FREUD stets enttäuschende äußere Realität. In FREUDS Theorie der Phantasie findet sich eine Gleichsetzung von Phantasielosigkeit und Glück. Aber es geht nicht nur um reale (Vor-)Bilder: „[S]ie [die Tochter, Erg. d. Verf ] hat es nicht nötig, mich [die Mutter, Erg. d. Verf.] brüllen und prügeln zu sehen - aber dass ich mir mit Lust ausmalen kann, zurückzuschlagen, wenn einer es reichlich verdient hätte, dürfte für sie wichtiger sein als alle Ermunterungen sich zu wehren" (ebd., S. 74). „Der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit` [Hervorh. d. Verf] (Freud 1908, VII, S. 216). „Da die Realität im allgemeinen unbefriedigend ist, erschaffen wir uns ein Phantasieleben, in welchem wir uns für die Unzulänglichkeit der Realität durch die Vorstellung von Wunscherfüllungen entschädigen" (Sandler/Nagera 1966, S.193). Vor allem auch die Abwesenheit des Vaters"' kann starken Einfluss auf die Entwicklung von Aggressionsphantasien bei Mädchen haben. 2. Eine zweite Position als Kontroverse zu FREUDS Auffassung der Phantasie als Kompensation oder Wunscherfüllung vertritt ERNST BLOCH (1985). BLOCH betont die Zugkraft, die vorwärtsdrängende d.h. auch realitätsverändernde Kraft [„Vorwärts-Intention" (S. 115), „nach vorwärts disponiert` (S. 132)] der Phantasie. In seinen nach vorwärts gerichteten Phantasien zeigt sich das nicht Abfindenwollen mit dem Mangel und darin liegt zugleich der Kern der Hoffnung auf eine Möglichkeit, die Welt zu verändern. Jeder Tagtraum erweist sich nach BLOCH als Traum von einem besseren Leben. „Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewussten, bewusst bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben" (S. 101). Während die traditionelle Psychoanalyse im Gefolge FREUDS die Phantasieäußerung vorrangig als Hinweis auf verdeckte Bedürfnislagen oder Konflikte versteht, die kompensiert, aber nicht verändert werden können, betont BLOCH die Phantasie als „utopisierende" Stärkung. Realität kann durch Phantasie im Sinne einer Ausgestaltung der Realität zu einer besseren Welt verändert werden. Auch HAGEMANN-WHITE (1979, 1984) sieht diese Wechselwirkung zwischen Phantasie und veränderbarer Realität. Reiche Phantasietätigkeit muss nicht im Sinne FREUDS mit einer unbefriedigenden Realität einhergehen. Vielmehr ermöglicht erst ein reiches Phantasieleben eine ausgefüllte Realität. Auf das Phänomen Aggression bezogen, benötigen Menschen Bilder und Namen für aggressive Empfindungen und Erregungen, um sie in der Realität überhaupt zeigen zu können. HAGEMANN-WHITE begründet die bei Mädchen häufig vermisste reale Aggression durch fehlende Aggressionsphantasien. „Mädchen [sind] keine wirklich imponierenden Aggressionsphantasien zugänglich. Eltern können machen, was sie wollen: Gewalt ist männlich. Ohne Aggressionsphantasien, die die Realität übersteigen (ebenso wie die Wut des Kindes seine Durchsetzungsmöglichkeiten und seine Ichstärke übersteigen), entwickelt sich keine freie Aggression innerhalb der realen Kämpfe von Kindern" ( Hagemann-White 1979, S. 72). 220 „Noch vor dem Einsetzen spezifischer Sanktionen erschwert die unsichere Beziehung zum Vater dem Mädchen, Aggressionsphantasien `ohne Rücksicht auf Verluste' auszuspinnen; ihre Aggressionen sind nicht zielgehemmt, sondern der Möglichkeit einer Zielbildung beraubt. (Dagegen führt die Unsicherheit des Sohnes in Bezug auf die Mutter eher zur Steigerung seiner Aggressionsphantasien)" (Hagemann-White 1979, S. 78). „Aggressionen sind unter diesen Voraussetzungen für das Mädchen selbst gefährlich: gegen die Mutter schon wegen der Schwierigkeit, zwischen sich selbst und der Mutter zu unterscheiden, und wegen des Glaubens an deren Allmacht (Vergeltungsgefahr); gegen den Vater sind Aggressionen aber überhaupt nicht möglich, weil er sich ja entziehen könnte, wenn die Tochter nicht mehr lieb wäre" (ebd., S. 78). 3. Das WINNICOTTSCHE Konzept des „Intermediären Raums" ermöglicht es, aggressive Phantasien als Dimension seelischer Verarbeitung zu erfassen. Phantasien lassen die Realität nicht nur als objektiv, als „außen", als von einem Selbst losgelöst erfahren, sondern ermöglichen, dass die Realität als für einen Selbst bedeutungsvoll und sinnvoll erlebt und mit inneren Erlebnisstrukturen verknüpft werden kann (vgl. Schäfer 1985, 1986, 1989, 1995; Winnicott 1983, 1989). Im Hinblick auf die Forschungsfrage nach Geschlechterunterschieden im individuellen, alltäglichen Aggressionsverhalten und in Aggressionsphantasien, wurde eine gegenstandsadäquate Methodenpluralität zusammengestellt, die drei verschiedene aufeinanderfolgende methodische Erhebungsverfahren umfasst: © Fragebogen zum psychischen Geschlecht nach SANDRA BEM (Sex-Role Inventory) Bildassoziation 221 „Das Mädchen aber erlebt: der Vater kann sich ihr jederzeit, nach seinem Belieben und nach einer Gesetzmäßigkeit, die sie nie durchschaut, entziehen. Und das tut er auch. Sofern ihre Begierde sich auf das andere Geschlecht richtet, erlebt sie primär: der Geliebte kann dich jederzeit, ohne Vorwarnung und ohne erkennbaren Grund verlassen und dich liebend und sehnend zurücklassen" (Hagemann-White 1979, S. 76). Der Junge, so Hagemann-White (1979), erlebt hingegen, dass die Mutter trotz Versagungen und Enttäuschungen verfügbar ist. „Sofern seine Begierde sich auf das andere Geschlecht richtet (die gleichgeschlechtliche Begierde wird mit maßlosen Ängsten besetzt), erlebt er den Gegenstand seiner Begierde als prinzipiell verfügbar" (S. 76). 221 o Leitfadeninterview Auswertungsverfahren dieser Erhebungsmethoden sind die Median-Split- Methode, die Sprachinhaltsanalyse nach GOTTSCHALK und GLESER, die Grounded Theory nach GLASER und STRAUSS sowie quantitative Varianzanalysen. Es werden 16 Frauen und 16 Männer verschiedener Alters- und Berufszugehörigkeit ... in einem ersten Schritt mit Hilfe des Sex-Role-Inventory nach SANDRA BEM auf ihr psychisches Geschlecht hin untersucht. Mit diesem methodischen Schritt sollen polarisierte Denkmodelle, die gerade in Bezug auf die Zusammenhänge von Aggression und Geschlecht verbreitet sind, schon im Design der Studie überwunden werden. In einem zweiten Schritt werden die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu einer Bildassoziation aufgefordert. Auf einen von der Verfasserin entworfenen und an bekannte projektive Tests (TAT, RORSCHACH) angelehnten Bildreiz hin, sollen assoziative Phantasien geäußert werden. Mit dieser Methodik wird eine Annäherung an Phantasieinhalte intendiert. In einem dritten Schritt werden die 32 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner mittels eines fokussierten Interviews über ihre aggressiven Gedanken, ihr Erleben und ihr aggressives Verhalten befragt. Das dabei gewonnene Sprachmaterial - das der Bildassoziationen wie der Interviews - wird mit den Aggressionsausdrucksskalen der Sprachinhaltsanalyse von GOTTSCHALK und GLESER kodiert. Biologisches und psychisches Geschlecht konnten so nrit den differenzierten Kategorien aus den Aggressionsskalen für Bildassoziation und Interview korreliert werden. Ergänzend zu dieser quantitativen Auswertung werden die Interviews entsprechend der Grounded Theory von GLASER und STRAUSS qualitativ ausgewertet. Diese dem Forschungsgegenstand angemessene Auswahl methodischer Zugänge soll im folgenden kurz erläutert werden. 222 Die Untersuchungsgruppe, bestehend aus 16 Frauen und 16 Männern, ist heterogen i m Hinblick auf Milieuzugehörigkeit und Berufsausbildung (Handwerk, akademische wie sozialpädagogische Berufe). Voraussetzung für die Auswahl der Befragten war einerseits Berufserfahrung, um eine Beschränkung der Untersuchung auf Studierende zu verhindern, andererseits sollten die Gesprächspartnerinnen nicht dem engeren Beziehungs- und Freundeskreis der Verfasserin angehören, um eine „vorurteilsfreie Auswertung" des doch sehr persönlichen Datenmaterials zu gewährleisten. Die Altersgrenze der Untersuchungsgruppe liegt zwischen 25 und 40 Jahren. 22 2 7.2 Fragebogen zuln psychischen Geschlecht223 (Bern Sex-Dole lnventory) Das von SANDRA LIDSITZ BEM (1974, 1975, 1976, 1977, 1993) in Kalifornien/ Stanford Anfang der 70er Jahre entwickelte Geschlechtsrolleninventar (Bein Sex-Rote Inventory) betrachtet Maskulinität und Feminität nicht mehr als Gegenpole eines einzigen Kontinuums, sondern als zwei unabhängige Dimensionen, die beide gleichermaßen zur Beschreibung eines Individuums herangezogen werden können. Das Inventar wurde entworfen, um das Konzept „psychische Androgynität" zu untersuchen. BEM geht davon aus, dass ein Selbstkonzept, das einseitig und in hohem Maße an ein Geschlechtsrollenstereotyp gebunden ist, eine Einschränkung der Persönlichkeit bedeutet. Sinnvoll sei dagegen, dass das Selbstkonzept eines Menschen sowohl maskuline als auch ferninine Komponenten beinhalte und somit eher situationsadäquate als rollenspezifische Verhaltensweisen ermögliche. Ein solches „androgynes" Selbstkonzept hätte also eine Erweiterung des Verhaltensrepertoires zur Folge. Die BEM-Skala misst die Geschlechtstypisierung im Persönlichkeitskonzept bzw. die Konstrukte „instrumentelles" und „expressives Selbstkonzept`. In der BEM-Skala werden je eine Männlichkeitsskala, eine Weiblichkeitsskala sowie eine neutrale Skala vorgegeben. Die befragte Person beurteilt sich hinsichtlich der sechzig Eigenschaften auf einer Sieben-Punkte-Skala. Die Items der f- und m-Skala wurden nach ihrer sozialen Erwünschtheit mit Hilfe von Beurteilungsgruppen ausgewählt. Zwanzig Eigenschaften sind als traditionell männlich definiert; zwanzig der Eigenschaften sind als traditionell weiblich definiert und zwanzig der Eigenschaften sind neutrale Eigenschaften. Für den deutschsprachigen Raum wurde in den 80er Jahren von MARIANNE SCHNEIDER-DOKER und ANDRE KÖHLER eine deutschsprachige Version entwickelt (vgl. SchneiderDüker 1978)... In der Forschungsdiskussion existieren zwei statistische Vorgehensweisen für die Auswertung der BEM-Skala: einerseits die Berechnung des Differenzwertes und des t-Wertes nach BEM, andererseits die Median-Split-Methode nach JANET T. SPENCE (Spence et al. 1975). In der vorliegenden Arbeit wurde bei der BEM-Skala die Median-Split-Methode angewendet. Die befragten Personen werden mit der Median-Split-Methode entsprechend ihrem Skalenwert auf jeder Dimension in zwei Gruppen eingeteilt. Liegt der Skalenwert über dem, der von der Hälfte der Befragten erreicht wird, dann fällt der Wert größer als der Median aus. Liegt der Skalenwert unter dem, der von der Stichprobe erreicht wird, dann fällt der Wert niedriger als der Median aus. 223 In der Literatur zum Konzept von Bern findet sich neben der Formulierung des „psychischen Geschlechts", die in der vorliegenden Arbeit Verwendung findet, auch der Ausdruck des „psychologischen Geschlechts" (vgl. Bierhoff-Alfermann 1 989). 224 Für die deutschsprachige Diskussion über den BSRI vgl. Bock 1988; Keller 1978; Schneider-Düker/Kohler 1988. 223 Ein Vorteil der Median-Split-Methode ist, dass auch undifferenzierte Personen mit einbezogen werden können. Somit ergeben sich vier „Typen" psychischer Geschlechtsorientierung: Die Auswertung der 32 Fragebögen ergab eine Vielfalt an psychischen Geschlechtern: maskuline, feminine, androgyne und undifferenzierte Geschlechtsorientierungen liegen vor. Deutlich wird, dass sich alle vier psychischen Geschlechter bei beiden biologischen Geschlechtern finden: Es gibt sowohl maskuline, feminine, androgyne und undifferenzierte Frauen wie maskuline, feminine, androgyne und undifferenzierte Männer. Außerdem gibt es unter den 16 Frauen und 16 Männern sowohl „sex typed" (Übereinstimmung des biologischen und psychischen Geschlecht) als auch „sex reversed" Orientierungen (Entgegensetzung des biologischen zum psychischen Geschlecht). Es zeigt sich als ein erstes Ergebnis, dass die befragten Frauen und Männer sich selbst gar nicht so „einseitig" sehen, wie es traditionelle, an Geschlechtsrollen orientierte Normen erwarten. 7.3 Sprachinhaltsanalyse als Auswertungsverfahren einer Bildassoziation Abbildung 4: Die vier psychischen Geschlechter aus der Perspektive der Median-Split-Methode. Wie aufgezeigt wurde, orientiert sich das Bern Sex-Role Inventory an geschlechtsbezogenen Eigenschaften sozialer Erwünschtheit, geht davon aus, dass stereotype Geschlechtsrollenorientierungen existieren und misst sozusagen den Anpassungsgrad einer Person an die geschlechtsspezifisch vorgegebenen Normen einer Gesellschaft. Dass das Konzept von BEM auf Geschlechtsrollenstereotypen beruht und in bipolaren männlichen bzw. weiblichen Geschlechtereigenschaften verhaftet bleibt, die es gleichzeitig zu überwinden sucht, ist eine fundamentale Kritik. Trotz dieser sicherlich berechtigten Kritik wurde in der vorliegenden Arbeit die Methode BEMS gewählt, weil dieses Verfahren zum Zeitpunkt der Erhebung (Frühjahr 1998) die einzige sinnvolle und ausreichend validierte Möglichkeit implizierte, bereits im Design der Studie polarisierte Denkmodelle zu überwinden (vgl. Beere 1990; Bem/Lenney 1976; Deaux 1984; Gaudreau 1977; Lenney 1991; Taylor/Hall 1982). Ein weiterer Vorteil ist, dass das jeweilige Selbstkonzept der befragten Frauen und Männer durch ihre Einschätzung der vorgegebenen Eigenschaften empirisch erfasst werden kann. Außerdem ist die Bem-Skala ein etabliertes Instrument in der Erforschung von geschlechtsspezifischen Persönlichkeitseigenschaften und kann, auch für größere Stichproben, in seiner standardisierten Form leicht und zuverlässig angewendet werden. In einem zweiten Schritt werden die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner aufgefordert, auf einen von der Verfasserin entworfenen und an bekannte projektive Tests angelehnten Bildreiz hin, assoziative Gedanken und Phantasien zu äußern.` Ziel ist es, neben der im Interview intendierten Annäherung an vordergründig bewusste Einstellungen, durch einen Bildreiz spontane, aggressive Assoziationen zu evozieren, die sich der Ebene der Phantasie annähern und einer direkten Befragung häufig entziehen. Die Sprachinhaltsanalyse von GOTTSCHALK und GLESER dient der inhaltsanalytischen Erfassung und Quantifizierung von Affekten, die sich im verbalen Inhalt gesprochener Texte niederschlagen, und eignet sich somit als Kodierverfahren, um sowohl das projektive Material der Bildassoziation wie die transkribierten Interviews auszuwerten (vgl. Gottschalk 1986; Gottschalk/Gleser 1969; Gottschalk et al. 1969; Schöfer 1976, 1978, 1980; Schöfer et al. 1979). Das ausreichend validierte GOTTSCHALK-GLESER-Verfahren (vgl. Schöfer/Koch 1986) entspricht einem bedeutenden Bedarf, existieren doch bislang kaum zuverlässige und gültige Verfahren zur Objektivierung von Affekten. GEBT SCHÖFER und UWE KOCH haben das seit Mitte der 50er Jahre in Amerika entwickelte GOTTSCHALK-GLESER-Verfahren in Deutschland überprüft, eingesetzt und eine mit GOTTSCHALK abgestimmte revidierte deutsche Skalenform 225 In der vorliegenden Untersuchung bestand die Instruktion aus dem Vorlegen einer Zeichnung und der darauf bezogenen Aufforderung in Anlehnung an die TAT- und GG-Versuchsanweisung: „Ich bitte Sie, dass Sie sich die vorliegende Zeichnung anschauen, sich von ihr inspirieren lassen, und mir dann erzählen, welche Gedanken Ihnen gekommen sind. Dies kann so aussehen, dass Sie das beschreiben, was Sie in dem Bild zu sehen glauben, welche Assoziationen Ihnen dazu kommen oder dass Sie eine Geschichte erzählen, die Ihnen dazu einfällt. Hierfür haben Sie fünf Minuten Zeit, wobei ich nur zuhören werde, Ihnen anschließend aber eventuelle Fragen beantworten kann." vorgelegt, die die folgenden vier Aggressionsskalen umfasst, nach denen die Auswertung erfolgte: nach außen gerichtete offene Aggressionsskala (AOA) - die/der Sprechende äußert aggressive Impulse gegenüber anderen Menschen oder der Umwelt. 0 nach außen gerichtete verdeckte Aggressionsskala (AVA) - die/der Sprechende erzählt, dass andere Menschen sich anderen gegenüber aggressiv verhalten. Diese Form wird als abgewehrte Form der ersten gesehen, indem der eigene Impuls auf andere projiziert wird. © nach innen gerichtete Aggressionsskala (IA) - die/der Sprechende wendet aggressive Impulse gegen sich selbst. 0 ambivalente Aggressionsskala (AA) - andere Menschen verhalten sich gegenüber der/dem Interviewten aggressiv. Das gesamte Datenmaterial wird in Bewertungseinheiten - meist ein granunatikalischer Satz - eingeteilt und nach den einzelnen Aggressionsskalen ausgewertet. Satz für Satz wird der Text mit Hilfe von detaillierten Kategorien (Inhalt a bis n), denen Gewichte (3 bis 1) zugeordnet sind, pro Aggressionsskala ausgewertet. Alle Gewichte der jeweiligen Skala werden zu einem Rohwert summiert, und dieser Rohwert wird nach einer Formel zum Endwert, zu einem Aggressionsscore, verrechnet. Für die Auswertung des Datenmaterials nach der Sprachinhaltsanalyse konnte die Verfasserin einen Psychologiestudenten als zweiten unabhängigen „Rater" gewinnen. Die Einübung ins Ratertraining erfolgte anhand der Anweisungen, Beispielsätze und -texte von SCHÖFER so lange, bis eine 90 % Übereinstimmung zwischen den Werten beider RaterInnen und den von SCHÖFER angegebenen Werten erreicht wurde (Schöfer 1980, S. 170ff.). Die Raterübereinstimmung von 90-91 % zwischen beiden RaterInnen wurde durch stichprobenartige Überprüfungen im Laufe der Auswertungsphase immer wieder überprüft und konnte während der gesamten Auswertung der Bildassoziationen und Interviews aufrechterhalten werden. Mit den anhand der Sprachinhaltsanalyse errechneten Aggressionsscores können ergänzende quantitative Analysen der Daten durchgeführt werden. Zweifaktorielle wie dreifaktorielle Varianzanalysen ermöglichen eine genauere Analyse der Interaktionen von biologischem und psychischem Geschlecht mit den differenzierten Kategorien aus den Aggressionsskalen für Bildassoziation und Interview. 7.4 Grounded Theory als Auswertungsverfahren des Interviews Das qualitative Leitfadeninterview bietet sich für den Untersuchungsgegenstand an, da in der relativ offenen Gestaltung der Interviewsituation die Sicht226 weisen des befragten Subjekts eher zur Geltung kommen als in standardisierten Interviews oder Fragebögen. Das fokussierte Interview eignet sich, um komplexe Tatbestände zu erfassen, da es ein strukturiertes Vorgehen impliziert und zugleich das subjektive Erleben der befragten Person in den Mittelpunkt stellt, denn die Befragten „selbst sind zunächst die Experten für ihre Bedeutungsinhalte" (Mayring 1993, S. 45). Im Zentrum des Interviews steht der individuelle Umgang beider Geschlechter mit Aggressionen. Gefragt wird nach einer konkreten Situation, in der die Befragten sehr ärgerlich waren, nach ihren realen wie wünschenswerten Reaktionen in dieser erinnerten Situation, der eigenen Zufriedenheit mit den konkreten Reaktionen, nach ihrem Umgang mit habituellen Reaktionsmustern sowie nach aggressiven Vorstellungen und Gedanken. Ausgewertet werden die Interviews in einem ersten Schritt mit der bereits dargestellten Sprachinhaltsanalyse von GOTTSCHALK und GLASER, um eine Vergleichbarkeit der Interviews mit den Bildassoziationen (Annäherung an die Phantasieebene) zu ermöglichen. In einem zweiten Schritt orientiert sich die Auswertung an der „Grounded Theory" - einer „in der Empirie verankerten" (Glaser/Strauss 1984, S. 108) Theorie - nach BARNEY GLASER und ANSELM STRAUSS, um mit dieser qualitativen Auswertung inhaltlich noch differenzierte und konkretere Themen herauszuarbeiten. (vgl. Glaser 1978; Glaser/Strauss 1967, 1984, Strauss 1994; Strauss/Corbin 1996). und STRAUSS folgend lassen sich im Rahmen eines Kodierungsprozesses (offen, axial, selektiv) verschiedene Themen und Motive aufzeigen, die in den unterschiedlichen Interviews immer wieder auftauchen. Diese sogenannten „Schlüsselkategorien" gelten dann als „gesättigt", wenn sie auf umfassende Weise die verschiedenen Facetten eines solchen Motivs, die sich in den Interviews zeigen, wiederzugeben vermögen. Die „entdeckten" (vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 108) Kategorien216 werden nicht nur auf Ähnlichkeiten und gemeinsame Verhaltensmuster, sondern auch auf ihre divergierenden Ausprägungen hin untersucht, ist doch „ (d]ie Entdeckung und Spezifikation von Unterschieden wie auch Ähnlichkeiten zwischen und innerhalb von Kategorien (...) außerordentlich wichtig und ein Herzstück der Grounded Theory" (Strauss/Corbin 1996, S. 89). Auf diesem Weg sollen zum einen ein schrittweises Herausarbeiten der Besonderheiten der Einzelfälle, zum anderen eine Einsicht in allgemeinere Strukturen der Einzelfälle erzielt werden. Die Arbeit mit der Grounded Theory zielt auf eine Theoriegenerierung, ausgehend von den erhobenen Daten, und wendet sich damit explizit gegen ein deduktives Vorgehen, in dem die empirischen Daten lediglich zur Überprüfung der vorab gebildeten Hypothesen und Theorien genutzt werden. Diese „Zurückstellung" theoretischer Konzepte zu Beginn des Auswertungsprozesses darf nicht mit einem theorielosen VorgeGLASER 226 Die Begriffe „Konzept" und „Kategorien" werden in den verschiedenen Darstellungen der Grounded Theory recht unsystematisch verwendet. In Anlehnung an Corbin/Strauss 1990b wird davon ausgegangen, dass „Konzept" die Benennung des Phänomens ist, das in den Daten auftaucht. „Kategorien" werden aus Konzepten entwickelt und sind auf einem höheren Abstraktionsniveau angesiedelt. 227 hen verwechselt werden. STRAUSS (1994) weist auf die Bedeutung des Kontextwissens für den Prozess der Theoriebildung hin, schärft doch dieses Vorwissen die „theoretische Sensibilität". In der vorliegenden Studie erfolgte die Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie n. ' auf der Grundlage der gesättigten Kernkategorien bzw. Schlüsselkategorien in einem dreistufigen Verfahren (Fallanalyse, Fallvergleich, Entwicklung einer Theorie). Da der Schwerpunkt dieser Veröffentlichung auf dem theoretischen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand zum Verhältnis von Aggression und Geschlecht liegt, können im Anschluss an diese Kurzdarstellung der methodischen Zugänge nur einzelne ausgewählte Ergebnisse der qualitativen wie quantitativen Untersuchung vorgestellt werden.` Bei der Entwicklung der gegenstandsbezogenen Theorie zur geschlechtsspezifischen Aggression gemäß der Grounded Theory kann der Prozess, wie die Sicht- und Handlungsweisen der befragten Subjekte in die Theorie einfließen, nicht in aller Ausführlichkeit rekonstruiert werden. Die „intersubjektive Nachvollziehbarkeit` (Steinke 1999) des Forschungsprozesses kann aus diesem Grund nicht in allen Aspekten gewährleistet.werden. 8.1 Ausgewählte Ergebnisse der qualitativen uswertung Einige ausgewählte der im Rahmen der Analyse nach der Grounded Theory herausgearbeiteten Schlüsselkategorien werden im folgenden dargestellt. Zunächst stehen sieben geschlechtsunspezifische bzw. geschlechtsübergreifende Kategorien im Mittelpunkt, die für beide Geschlechter gleichermaßen gelten: Relativierung des biologischen Geschlechts für den Umgang mit Aggression o Kontextabhängigkeit aggressiven Verhaltens c, Zusammenhänge zwischen Aggression und Verlustängsten © Entstehung, Inhalt und Funktion von Aggressionsphantasien Bedeutung der Herkunftsfamilie für den aktuellen Umgang mit Aggression o Einbezug von dritten Personen Polarisierung von Verhaltensoptionen Das biologische Geschlecht eignet sich nicht als alleinige existentielle Kategorie zur Differenzierung eines geschlechtsspezifischen Umgangs mit Aggression. Vielmehr zeigt sich in der qualitativen Analyse nach der Grounded Theory, dass die herausgearbeiteten „gesättigten" Schlüsselkategorien in den wenigsten Fällen Themen nur eines Geschlechts sind. Die Bedeutung des biologischen Geschlechts für den Umgang mit Aggression erfährt durch die qualitativen Ergebnisse, aber auch durch die quantitative Analyse, wie sich noch zeigen wird, eine Relativierung. 227 Glaser/Strauss (1967; Strauss 1994) unterscheiden zwischen „gegenstandsbezogenen" und „formalen Theorien". Gegenstandsbezogene Theorien werden für einen klar begrenzten Bereich des sozialen Lebens entwickelt (z.B. Professionalisierungsprozesse einer Berufsgruppe). Formale Theorien bleiben dagegen nicht auf einen Gegenstandsbereich beschränkt, sondern sind auf die Erfassung übergreifender sozialer Prozesse gerichtet (z.B. Theorien pädagogischen Handelns). 228 Da die empirische Studie noch andernorts veröffentlich wird, muss an dieser Stelle i n Kauf genommen werden, dass die Ausführlichkeit des theoretischen Überblicks (Kapitel 1 bis 6) auf Kosten einer empirischen Verankerung der gegenstandsbezogenen Theorie geht. 228 Der Umgang mit Aggressionen, so ein zentrales Ergebnis der qualitativen Auswertung, ist kontextabhängig. Diese Kontextabhängigkeit lässt sich durch die Kategorien des Ortes und der Bezugsperson(en) differenzieren, ohne dass beides gänzlich voneinander getrennt werden kann. Der Ort - ob im Berufsleben, im Privaten oder in der Öffentlichkeit - ist relevant, ob und wie Aggressionen von beiden Geschlechtern zum Ausdruck gebracht werden. Aber für die Art und Weise, wie die Interviewten im Einzelfall auf Wut und Ärger reagieren und mit ihren Aggressionen umgehen, ist es nicht nur entscheidend, wo sie 229 sind, sondern vor allem auch, wer sie wütend macht. Im beruflichen Bereich ist der offene Ausdruck von Aggressionen sanktioniert. Die Notwendigkeit, souverän zu wirken, die mangelnde Solidarität aufgrund von Konkurrenz sowie der drohende Arbeitsplatzverlust hemmen den direkten Ausdruck von Aggressionen."' Beide Geschlechter präferieren indirekte Aggressionsweisen. Was die Bezugsperson betrifft, so erschweren höherer Status und befürchtete bzw. reale Machtausübung direkte aggressive Handlungen gegenüber der/dem Vorgesetzten. Im privaten Bereich hingegen werden Ärger und Aggressionen offener ausgetragen. Hier erweist sich die Beziehungssicherheit als aggressionsförderlich. Wie stark der Ausdruck bzw. Nicht-Ausdruck von Aggressionen mit verschiedenen Ängsten zusammenhängt, ist ein weiteres Ergebnis der qualitativen Auswertung. Die Möglichkeiten eines offenen und unmittelbaren aggressiven Umgangs mit dem Gegenüber reduzieren sich, unabhängig vom biologischen Geschlecht, wenn Ängste ins Spiel kommen. Von den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern werden vor allem die Angst vor einem Beziehungsverlust und die Angst vor Eskalationen beschrieben. Kontexte, in denen der Verlust der Beziehung eine reale Bedrohung darstellt, erweisen sich als aggressionshemmend. Hingegen ermöglichen eine Beziehungssicherheit wie auch eine Selbstsicherheit den Ausdruck von Gefühlen des Ärgers und der Aggression. Eng verknüpft mit der Angst eines Beziehungsverlustes, ist die Angst vor Eskalation. Dass der Ausdruck von Aggression scheinbar automatisch die Situation verschärft und mit einem Kontrollverlust einhergeht, hemmt den Ausdruck existentieller Gefühle wie Ärger und Aggression und verhindert ein kreatives Ausprobieren verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten. Das Gefühl bzw. die Vorstellung, dann nicht mehr „Herr der Lage" zu sein, sondern von der Situation und eigenen Emotionen bestimmt zu sein, erweist sich als aggressionshemmend. In diesen Momenten starker Erregung, verbunden mit der Angst, die Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren, kommt aggressiven Phantasien eine entscheidende Bedeutung zu. Für fast alle Interviewten bilden diese bewussten Phantasien eine wichtige Gegenwelt zur Realität. Eine genauere Analyse ihres Inhaltes zeigt, dass die Vorstellung, den eigenen Aggressionen körperlich Ausdruck zu verleihen, Frauen und Männern gemeinsam ist. Beide Geschlechter verspüren eine Lust, das Gegenüber - meist ein männliches - zu schlagen und sich zu prügeln. Diese Angriffsphantasien kennen keine Begrenzung und gehen bei einigen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern so weit, dass sie für den anderen tödlich enden sollen. Die Phantasie erlaubt Aggressionsformen, die zum einen eigene reale Verhaltensweisen übersteigen, zum anderen im Lebensalltag tabuisiert sind. Die Funktionen aggressiver Phantasien sind vielfältig. Phantasierte körperliche Aggressionen haben vor allem die Funktion der Ver229 Hier ist zu betonen, dass die Frauen und Männer der Untersuchungsgruppe mit gleichen „Anteilen" im Handwerk, in akademischen wie sozialpädagogischen Berufen vertreten sind. 230 geltung und Rache, aber auch im FREUDSCHEN Sinne Kompensationsfunktion. Erweist sich der reale aggressive Gegenschlag als berechtigte Antwort auf einen in der Realität erfahrenen gewalttätigen Angriff gegen die eigene Person als unmöglich, so kann diese Ohnmachtserfahrung durch die Phantasie eines aggressiven Gegenschlags kompensiert werden. Neben diesen Phantasien körperlicher Aggression von Frauen und Männern finden sich in einigen weiblichen Phantasien auch Momente von Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und kraftvollem, lebendigem und beharrlichem Auftreten. Die weiblichen Phantasien, in denen Vorstellungen eigener Stärke, Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbehauptung mit einfließen, stellen zum einen auch eine bedürfnisbefriedigendere Situation her, zum anderen fungieren sie als Impuls für zukünftiges Handeln (vgl. Bloch 1985). Die phantasierten aggressiven Bilder sind gleichzeitig (Vor-)Bilder für reales, wünschenswertes Verhalten (vgl. HagemannWhite 1979, 1984). Es steht für die Interviewten fest, dass diese Phantasien die eigene Handlungsfähigkeit stärken und häufig etwas Befreiendes haben, Spannungen abbauen helfen. Neben diesen Schlüsselkategorien wird von fast allen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern die Beziehung zur Herkunftsfamilie, zur Mutter und zum Vater, als bedeutsam für den eigenen, aktuellen Umgang mit Aggression thematisiert. Dies ist um so bemerkenswerter, weil sie zum einen nicht danach gefragt wurden, zum anderen sich räumlich längst von ihrer Herkunftsfamilie gelöst haben und zum Teil sogar eigene Familien gegründet haben. Die Beziehung zur Mutter wird von den interviewten Frauen und Männern als ein „Sonderfall" bezeichnet, sei es, weil sie als eine völlig sichere, angst- und ambivalenzfreie Beziehung empfunden wird, sei es, weil es gerade ihr gegenüber sehr schwer ist, den eigenen Aggressionen in irgendeiner Form Ausdruck zu verleihen. Es existiert also, unabhängig vom biologischen Geschlecht, zum einen das Bild einer ungebrochenen Dyade mit dem mütterlichen Primärobjekt, der gegenüber wir uns nicht schuldig fühlen müssen und von der wir wissen, dass sie uns nie verlässt. Daneben gibt es das Bild einer mächtig und dominant erlebten Mutter, der nur mühsam etwas entgegengesetzt werden kann. Aggressionen ihr gegenüber zu äußern, ist gefährlich, weil damit Trennung riskiert wird und die Identifizierung mit der Mutter gefährdet scheint. Außerdem erschwert das Gebot, die Mutter zu achten, ein direktes Aggressionsverhalten ihr gegenüber. Aber nicht nur der Mutter, sondern auch dem Vater wird von weiblichen Gesprächspartnerinnen im Hinblick auf die Entstehung, Entwicklung und dem Ausdruck von Aggressionen eine große Bedeutung eingeräumt. Sind die Beziehungen zu den Müttern ambivalent - einerseits wird die Beziehung als geschützt und angstfrei beschrieben, andererseits scheint es ihr gegenüber sehr schwer, eigene Aggressionen auszudrücken -, wird dem Vater von den Frauen eine eindeutige Bedeutung zugeschrieben. Der Vater wird als Verursacher von Angst, Schmerz und Ärger beschrieben. Da es den Töchtern in der Beziehung zum Vater nicht erlaubt ist, offen zu sagen, was sie verletzt und wütend gemacht hat oder Aggressionen zu zeigen, spielt ihre Phantasie eine entscheiden231 de Rolle, um die Aggressionen gegenüber dem Vater zu kompensieren. In diesen Phantasien malen sich die Frauen aus, wie sie sich gerne an ihren Vätern für die Verletzungen und Kränkungen, die diese ihnen über Jahre angetan haben, rächen. Der Vater kann sich in den weiblichen Phantasiebeschreibungen nicht mehr wehren und verliert seine Macht und Dominanz, die ihm in der Alltagsrealität zukommt. Nun zu den letzten beiden geschlechtsübergreifenden Kategorien: dem Einbezug von dritten Personen und der Polarisierung von Verhaltensoptionen. Für fast alle Gesprächspartnerinnen, unabhängig vom biologischen Geschlecht, stellen Gespräche mit dritten Personen eine wichtige Ressource dar. Bei dieser dritten Person wird sich - dies gilt für den beruflichen wie privaten Bereich Rat und Hilfe geholt. Im Privaten geht es primär darum, sich mit dieser dritten meist weiblichen - Person auszutauschen, sich über die Auseinandersetzung oder den Ärger zu verständigen, die Sichtweise, die Einschätzung oder das potentielle Handeln der/des anderen zu erfragen, oder sich sogar eine nachträgliche Legitimation für die eigene Reaktion einzuholen. Im beruflichen Bereich ersetzt dieser Austausch mit Dritten häufig den direkten Ausdruck des Ärgers gegenüber der Person, über die man sich geärgert hat. Dieser indirekte Aggressionsmodus findet seine Form vor allem im „Lästern" und ist auf berufliche Abhängigkeitsstrukturen zurückzuführen. Die Bedeutung des Gefühlsausdrucks von Wut und Ärger wird von beiden Geschlechtern betont, aber blockiert bzw. belastet durch eine Polarisierung von Verhaltensoptionen. Für die meisten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gibt es nur einen sehr geringen Spielraum im Umgang mit ihren Aggressionen. Die verengte Polarisierung von Optionen zeigt sich darin, entweder ganz ruhig zu bleiben oder völlig die Beherrschung zu verlieren, zu schweigen oder die andere/den anderen anzuschreien, zu flüchten oder die andere/den anderen physisch anzugreifen. Zwischen diesen beiden Verhaltensweisen scheint es für die meisten kaum Handlungsalternativen zu geben. Neben diesen geschlechtsübergreifenden Schlüsselkategorien sollen im folgenden zwei „gesättigte" Schlüsselkategorien darstellt werden, die eindeutig geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen den interviewten Frauen und Männern zum Ausdruck bringen: © Verständnis des Umgangs mit Aggression als Lern- und Reifungsprozess o Weibliche Sehnsucht nach Verständigung Die Umgangsformen von Frauen und Männern mit Aggressionen verändern sich und unterliegen Lernprozessen. Frauen bewerten ihre Veränderungen im Umgang mit Aggressionen als Lern- und Reifungsprozess. Während sie ihren früheren Umgang meist als selbstschädigend und unproduktiv beurteilen, haben sie nun einen neuen als aufregend und positiv empfundenen Zugang zu diesen Gefühlen gefunden. Den Themen der Grenzverletzung, Grenzwahrnehmung 23 2 und dem Durchsetzen eigener Grenzen kommt in den von Frauen beschriebenen Lernprozessen eine große Bedeutung zu. Sich häufig anzupassen und zu versuchen, es allen Recht zu machen, verbunden mit der Erfahrung, selbst mit den eigenen Bedürfnissen häufig zu kurz gekommen zu sein, wird von vielen Frauen beschrieben, und es ist ihnen ein Anliegen, ihre Grenzen bewusster wahrzunehmen und deutlicher und direkter zu sagen, wenn sie verletzt und gekränkt sind. Auch Männer beschreiben eine Veränderung ihres Umgangs mit Aggression. Sie interpretieren diese allerdings nicht als ein Lern- oder Reifungsprozess. Außerdem spielt das Thema der Abgrenzung für sie keine Rolle. War ihr früheres Verhalten durch sehr impulsive und heftige Reaktionen gekennzeichnet und verstand sich als legitime aggressive Antwort auf eine erfahrene Aggression unter Männern, erfahren sich die Männer heute in ihren Reaktionen als ruhiger und weniger angreifbar. Auf einen zweiten Aspekt geschlechtsspezifischer Differenzierung verweist die Schlüsselkategorie der weiblichen Sehnsucht nach Verständigung. Frauen haben das Bedürfnis, über aggressionsauslösende Momente unmittelbar miteinander zu sprechen und verbinden damit die Hoffnung auf Klärung. Bei Männern i m Gegensatz ist zum einen der Anspruch, über Konflikte zu reden, weit weniger ausgeprägt, zum anderen haben sie selten das Bedürfnis, unmittelbar mit dem Gegenüber über die konflikthaften Situationen zu kommunizieren. Sie wollen erst einmal räumliche wie emotionale Distanz zu den Geschehnissen und Ruhe und Zeit für sich, um eigene Spannungen abzubauen und um die Dinge emotionsfreier und rationaler betrachten zu können. Während einige wenige der interviewten Männer nach dieser Distanz noch die Bereitschaft zeigen, sich über die Geschehnisse gemeinsam auszutauschen, hat die Mehrheit der Männer diese spätere Bereitschaft nicht mehr. Viele beschreiben, dass sie einfach flüchten und kein Interesse an weiteren problematisierenden Auseinandersetzungen haben. Diese Fluchttendenz im Anschluss an Streitereien ist bei Männern weit ausgeprägter als bei Frauen. Dem fluchtartigen Verhalten liegen verschiedene Motive zugrunde: es geht zum einen um eine räumliche wie emotionale Distanz zum Geschehen und zu der Person, die den Ärger (mit-)verursacht hat. Ruhe für sich, sei es in Form eines Rückzugs, um alleine zu sein, in Form einer Ablenkung oder auch als Zeitgewinn, um den Konflikt rationaler und emotionsfreier betrachten zu können, sind einzelne Momente dieser männlichen Fluchttendenz. Auch wenn das Bedürfnis eines klärenden Gesprächs für Frauen typisch ist, soll dies nicht über die Beobachtung hinwegtäuschen, dass Frauen auch diejenigen sind, die schweigen. Dem spezifisch weiblichen Phänomen der Sprachlosigkeit steht das männliche Verhalten des Flüchtens gegenüber. Im Gegensatz zu den Männern, die flüchten und damit in gewisser Weise auch schweigen, ist den Frauen diese Verhaltensstrategie bewusster, sie thematisieren ihre Stärken und Schwächen. Im Phänomen des Schweigens verbinden sich aktive Sprechverweigerung mit passiver Sprachlosigkeit aus Ohnmachtserfahrungen heraus. Die 233 Motive sind vielfältig: das Schweigen kann als aktiver Verweigerungsakt von Frauen gewählt werden, kann Selbstbestrafung wie Bestrafung des anderen bedeuten. Es kann aber auch eine Möglichkeit zum Schutz des Selbst und zur Bewahrung der eigenen Identität darstellen." anzanalyse bestätigen. Es kommt vielmehr auf das „Zusammenspiel" von biologischem und psychischem Geschlecht an. 8.2 Ausgewählte Ergebnisse der statistischen uswertung Das Datenmaterial wurde nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ausgewertet. Mit den anhand der sprachinhaltsanalytischen Auswertung nach Gottschalk und Gleser errechneten Aggressivitätsscores wurden verschiedene statistische Auswertungsschritte möglich. Bei der dreifaktoriellen Varianzanalyse, die der Frage nach dem Verhältnis von Bild- und Interviewform zum biologischen und psychischen Geschlecht - beide Formen der Geschlechter werden hier zusammengeführt betrachtet - nachgeht, zeigen sich signifikante Interaktionen. Diesen signifikanten Ergebnissen kommt angesichts der für statistische Auswertungsverfahren geringen Stichprobenzahl (VP = 32) eine hohe Bedeutung zu. Über die drei Variablen AOA (nach außen gerichtete offene Aggressivität), AVA (nach außen gerichtete verdeckte Aggressivität) und IA (nach innen gerichtete Aggressivität) zeigen sich bei der dreifaktoriellen Varianzanalyse signifikante Interaktionen zwischen biologischem Geschlecht und psychischer Männlichkeit. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt darstellen: Die dreifaktorielle Varianzanalyse zeigt folgende drei signifikante Interaktionen sex x mask x AOA (.08) Sex x mask x AVA (.08) sex x mask x IA ( .05) Weder in alleiniger Abhängigkeit vom biologischen noch vom psychischen Geschlecht, weisen die Bildassoziationen und Interviews signifikante Interaktionen auf, wie der Signifikanztest, die zweifaktorielle und dreifaktorielle Vari- Tabelle 2 * Hinweis auf Signifikanz Dem biologischen Geschlecht kommt nur in Abhängigkeit vom psychisch Männlichen eine Bedeutung zu. Ebenso kommt dem psychischen Geschlecht (dem männlichen) nur in Abhängigkeit vom biologischen Geschlecht (weiblich und männlich) eine Bedeutung zu. Festzuhalten bleibt, dass im Hinblick auf aggressives Verhalten in Bildassoziation und Interview das biologische Geschlecht in Verbindung mit psychischer Männlichkeit interessante signifikante Effekte zeigt. Im folgenden werden zwei der drei signifikanten Interaktionen sex x mask x AOA und sex x mask x IA im einzelnen dargestellt und interpretiert. Der Übersicht halber sind bei den graphischen Darstellungen nur die signifikanten Interaktionen eingezeichnet. Bevor diese beiden signifikanten Interaktionen im folgenden dargestellt werden, sollen vorweg noch einige Bezeichnungen erklärt werden: Die Bezeichnung„ Sex"meint das biologische Geschlecht. Das Wort„ mask" bezeichnet die psychische Männlichkeit. 230 Ohne an dieser Stelle auf das Motiv des (weiblichen) Schweigens ausführlicher eingehen zu können - dies kann lediglich als Forschungsdesiderat angemeldet werden -, sei auf seine literarische Verarbeitung verwiesen. In dem Buch „Das Piano" in eindruckvoller Weise von Jane Campion (1994) verfilmt - beschließt Ada in ihrer Kindheit aus nicht erklärten Gründen zu schweigen. Seit diesem Zeitpunkt teilt sie sich und ihre Gefühlswelt nur noch über ihr Piano mit. Auch in dem Roman „Das Geisterhaus" von Isabel Allende (1985) entscheidet sich Clara im Alter von neun Jahren - nachdem sie den Tod ihrer Schwester vorhergesagt hat und glaubt, ihn mit i hren eigenen Kräften bewirkt zu haben -, nicht mehr sprechen zu wollen. 234 F meint die biologische Frau und M den biologischen Mann. Mask+ steht für ausgeprägte psychische Männlichkeit. Mask- verneint psychische Männlichkeit und steht für psychische Weiblichkeit, psychische Androgynie und psychische Undifferenziertheit. Anhand der Mittelwerte lässt sich das Ausmaß der jeweiligen Aggressionsform ablesen. 235 ildass®zhtion mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen in der Bildassoziation als weibliche, androgyne und undifferenzierte Frauen: 1,89 > 1,12 (p = .030). Interview A(DA Mask+ 1,29 1,36 2,44 2,69 ask- 1,12 1,89 2,37 2,19 0 Im Interview zeigt sich bei biologischen Frauen kein Effekt von psychischer Männlichkeit. Bei den Männern hingegen zeigt sich, dass diejenigen mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit signifikant mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen im Interview zeigen als die Männer mit nichtpsychischer Männlichkeit: 2,69 > 2,19 (p =.047). 0 Insgesamt zeigt sich bei der Bildassoziation nur ein Effekt beim biologischen Geschlecht (p = .098) und nicht bei psychischer Männlichkeit (p = .46) oder sex x mask (p = . 17). Hingegen zeigen sich beim Interview sowohl für psychische Männlichkeit (p = .03) wie für sex X mask (p = .09) signifikante Effekte, allerdings ergeben sich keine Effekte für das biologische Geschlecht (p =.80). 23 1.12 2 0 Abbildung 5 Ergebnisse: © Im Interview zeigen sich insgesamt mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen (AOA) als in der Bildassoziation. Frauen mit geringerer psychischer Männlichkeit, also weibliche, androgyne wie undifferenzierte Frauen zeigen signifikant mehr AOA-Aggressionen im Interview als in der Bildassoziation: 2,37 > 1,12 (p = .001). In der Bildassoziation zeigen sich bei psychischer Männlichkeit (mask+) keine Effekte des biologischen Geschlechts. Bei psychischer Weiblichkeit, Androgynie wie Undifferenziertheit zeigen sich hingegen Effekte des biologischen Geschlechts: biologische Männer ohne psychische Männlichkeit, also weibliche, androgyne und undifferenzierte Männer zeigen signifikant © 236 0 Abbildung 6 Interessant ist bei der Variable AOA - nach außen gerichteter offener Aggressionen - vor allem das Interview, ergeben sich dort verschiedene signifikante Effekte [mask+ (p = .03), sex X mask (p = .09)]. Die Gruppe der „männlichen Männer" - also die Gruppe, bei der biologisches und psychisches Geschlecht übereinstimmen (,sex typed") - zeigt signifikant mehr nach außen gerichtete 237 offene Aggressionen als die weiblichen, androgynen und undifferenzierten Männer (p =.047). In der Bildassoziation, mit der versucht wird, sich unbewussten Vorstellungen anzunähern, zeigt sich ein weiterer Effekt. Weibliche, androgyne und undifferenzierte Männer zeigen in der Bildassoziation signifikant mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen als weibliche, androgyne und undifferenzierte Frauen. Hier zeigt sich ein Effekt beim biologischen Geschlecht (p = .098). lldassoziatlon Ergebnisse: In der Bildassoziation zeigen sich keine Effekte: sex (p = .44); mask (p = . 16); sex x mask (p =.65). Im Interview hingegen zeigen sich Effekte: sex e IA F Mask+ 1,50 Mask- 1,94 1,79 1 1,57 1,20 1,75 [ildassoziation Mittelwerte sexxrnask 2 Während sich im Interview für die biologischen Frauen keine signifikante Differenz für mask+ und mask- ergibt: 1,57 > 1,42 (p = .39), zeigt sich diese für die biologischen Männer: 1,75 > 1,20 (p =.000). ® Außerdem zeigt sich, dass biologische Männer mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit im Interview signifikant weniger nach innen gerichtete Aggressivität zeigen als biologische Frauen mit psychischer Männlichkeit: 1,20 < 1,57 (p =.043). x I A(05) (--0 mask+ - - mask (p = .001). Zudem zeigt sich im Interview, dass biologische Männer mit nichtpsychischer Männlichkeit signifikant mehr nach innen gerichtete Aggressivität zeigen als Frauen mit nicht-psychischer Männlichkeit: 1,75 > 1,42 (p = .007). Interview 1 x 3 mask- 1,94 21,50 9 M 0 biologisches Geschlecht Abbildung 7 Abbildung 8 23 8 239 Bei der Variable nach innen gerichteter Aggression (IA) ist vor allem das Interview von Interesse, da sich in der Bildassoziation keine Effekte zeigen. Wie für die Aggressionsform AOA - nach außen gerichteter offener Aggression -, ist auch für die Aggressionsform IA - nach innen gerichteter Aggression -, die Gruppe der biologischen Männer mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit im Vergleich zur Gruppe der nicht-männlich identifizierten Männer von besonderem Interesse. Im Interview zeigen die Männer mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit signifikant weniger nach innen gerichtete Aggressionen als die Männer mit nicht-psychischer Männlichkeit (p = .000). Bei der Variable nach innen gerichteter Aggression wird außerdem deutlich, dass Männer mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit signifikant weniger nach innen gerichtete Aggressionen im Interview zeigen als männliche Frauen (p = .043). Außerdem zeigt sich, dass Männer mit nicht-psychischer Männlichkeit signifikant mehr nach innen gerichtete Aggressionen im Interview zeigen als Frauen mit nicht-psychischer Männlichkeit (p =.007). Bei den Frauen mit psychischer Männlichkeit („sex reversed") gehört die nach innen gerichtete Aggression eher zum Verhaltensrepertoire als bei den „sex typed" Männern, die, wie sich bei der Variable AOA zeigte, den offenen Aggressionsmodus bevorzugen. Die nicht-männlich identifizierten Männer zeigen signifikant mehr nach innen gerichtete Aggressionen im Interview als die weiblichen, androgynen und undifferenzierten Frauen. Hier zeigt sich, dass dem psychischen Geschlecht eine große Bedeutung zukommt. 8.3 Diskussion der Ergebnisse Die Ergebnisse der qualitativen wie quantitativen Datenanalyse belegen, dass sich die Kategorie des biologischen Geschlechts als alleinige existentielle Kategorie zur Differenzierung eines geschlechtsspezifischen Umgangs mit Aggression nicht eignet. Zum einen belegt die statistische Auswertung, dass dem biologischen Geschlecht nur in Verknüpfung mit dem psychischen Geschlecht eine signifikante Bedeutung zukommt. Zum anderen wird in der qualitativen Analyse nach der Grounded Theory deutlich, dass die herausgearbeiteten gesättigten Schlüsselkategorien in den seltensten Fällen nur für ein Geschlecht gelten. Nur der unvoreingenommene Blick auf die von den interviewten Frauen und Männern selbst akzentuierten Kategorien eröffnet das Widersprüchliche und Dynamische in den konkreten Lebenserfahrungen von Frauen und Männern. Hierbei unvermeidbare eigene Annahmen immer wieder durch das empirische Datenmaterial hinterfragen zu lassen, bleibt als hoher Anspruch an qualitative wie quantitative Forschung bestehen. 240 Der Umgang mit Aggressionen, so zeigt sich in der qualitativen Auswertung, ist vielmehr kontextabhängig. Generell zeigt sich, dass der Umgang mit Ärger bzw. der Ausdruck von Aggression im beruflichen und privaten Kontext sehr unterschiedlich ist. Für die Art und Weise, wie auf Wut und Ärger reagiert und mit Aggressionen umgegangen wird, ist es jedoch nicht nur entscheidend, wo man ist, sondern vor allem auch, wer die Aggression verursacht. Gegenüber Personen mit höherem Status haben fast alle, unabhängig vom biologischen Geschlecht, Schwierigkeiten, Gefühle des Ärgers auszudrücken. Dies verschärft sich, wenn mit dem höheren Status die Ausübung von Macht gegenüber den Betroffenen verbunden ist. Für den beruflichen Bereich ist das der hierarchischen Struktur entsprechende Verhalten charakteristisch. Nehmen die Betroffenen in Hierarchie- und Machtgefälle eine untergeordnete Position ein, ist der offene, direkte Ausdruck von Aggressionen erschwert oder sogar nicht erlaubt. Aggressionen sind möglichst zu unterdrücken. Es gilt, nicht nur Haltung zu bewahren, sondern auch nach außen hin souverän zu wirken. Diese Sichtweise impliziert eine Internalisierung gesellschaftlicher Erwartungen und eine Anpassung an das berufliche System."' Zu bedenken ist, dass das Verhalten, das im Alltag als weibliches Verhalten identifiziert wird, auch aus der Position resultieren könnte, die die Frau innehat. Weil Frauen im Durchschnitt niedrigere Positionen in der sozialen und ökonomischen Hierarchie besetzt halten, finden sie sich häufiger als Männer in Situationen wieder, in denen eigentlich beide Geschlechter „Probleme" mit Aggressionsäußerungen haben. Vor diesem Hintergrund erfährt die These der „weiblichen Friedfertigkeit` eine Perspektivenerweiterung: Die Friedfertigkeit ist kein Wesensmerkmal weiblichen Verhaltens, sondern Charakteristikum eines gesellschaftlichen Kontextes, in dem Frauen aufgrund niedrigerer Machtpositionen vordergründig friedfertig erscheinen müssen. Das Verhalten ändert sich gegenüber einer Person, die in der beruflichen Hierarchie klar untergeordnet ist. Unter diesen Bedingungen ist es sehr viel leichter, den eigenen Ärger offen und direkt auszudrücken. Zusätzlich enthemmend wirkt hier die Beobachtung, dass der Untergeordnete auch von anderen ArbeitskollegInnen beschimpft und nicht akzeptiert wird. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es neben den zuvor skizzierten Verhaltensweisen auch einige wenige Personen gibt, die im beruflichen Bereich sehr viel leichter das benennen, was sie ärgert. Klare Regeln und vorgegebene Kommunikationsformen einerseits, erleichtern es, Ärger und eigene Aggressionen offener und direkter als in privaten Beziehungen auszudrücken, andererseits steht für diese Personen in den beruflichen Beziehungen nicht soviel auf dem Spiel. Während für die erste, weit größere Gruppe das Gefühl einer ungesicherten 231 Bei diesen Ergebnissen ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass 14 der 32 interviewten Personen - allerdings gleichermaßen auf beide Geschlechter verteilt - BerufsanfängerInnen sind und hierarchisch untergeordnete Positionen einnehmen. Es ist durchaus denkbar, dass sich bei anderer Zusammensetzung der Stichprobe auch ein anderes Verhältnis von beruflichem und privatem Bereich zeigen kann. 241 Existenz den Ausdruck von Ärger und Aggressionen im beruflichen Bereich hemmt, ist es für die zweite Gruppe leichter, ihren Ärger im Beruf zu äußern, weil ihnen kein schwerwiegender Beziehungsverlust droht. Gerade die weniger verbindliche und ungesicherte Beziehungsstruktur im beruflichen Sektor erl eichtert es dieser kleinen zweiten Gruppe das, was sie ärgert, auch zu benennen. Erweisen sich berufliche Beziehungen für die Mehrheit als problematisch im Hinblick auf den Ausdruck von Aggression, ist der private Bereich ein Ort, an dem Ärger und Aggression offen ausgetragen werden. In privaten Beziehungen - die Partnerbeziehung, die Familie, Freundschaftsbeziehungen - fällt es fast allen leichter, ihre Aggressionen - vor allem verbale Aggressionen - auszudrücken. Doch der Umgang mit eigenen Aggressionen variiert auch im privaten Bereich, je nachdem, ob das Gegenüber die eigene Partnerin/der eigene Partner oder eine Angehörige/ein Angehöriger der Herkunftsfamilie ist. Die Beziehung zur eigenen Partnerinlzum eigenen Partner ist für viele ein „geschützter Raum". Dort ist es möglich, sich zu streiten, Konflikte auszutragen, ohne als Folge den Verlust der Beziehung befürchten zu müssen. Diese Beziehungssicherheit ist für viele eine notwendige Voraussetzung, um Gefühle des Ärgers thematisieren und eigene Aggressionen offen und direkt ausdrücken zu können. Zu dieser Beziehungssicherheit gehören die Erfahrungen, die Reaktionen der Partnerin/des Partners gut einschätzen zu können und der anderen/dem anderen vertrauen zu dürfen. In Anlehnung an die Gedanken WINNICOTTS ist die Erfahrung, dass das Gegenüber die eigenen Aggressionen ertragen und „überleben" kann und nicht mit einem sofortigen Beziehungs- oder Kontaktabbruch droht, von hoher Bedeutung. in den Kontexten, in denen mit einem Beziehungsabbruch gerechnet werden muss oder gar damit, dass man verlassen wird, fällt es sehr schwer, Kränkungen und Ärger offen auszudrücken. Die Kontextabhängigkeit aggressiven Verhaltens macht besonders deutlich, wie sehr aggressive Verhaltensweisen mit subjektiven Risikoeinschätzungen einhergehen. Der eigene Ausdruck bzw. Nicht-Ausdruck von Aggressionen und Gefühlen des Ärgers und der Wut hängt jedoch nicht nur damit zusammen, wer der/die Verursacher(in) des Ärgers ist, und wo sich die Interviewten befinden, sondern wird darüber hinaus von weiteren wesentlichen Aspekten beeinflusst. Neben der bereits dargestellten Angst vor einem möglichen Beziehungsverlust, erschwert die Angst vor Eskalation - real erlebt wie phantasiert - den Ausdruck von Ärger und Aggression. Hinter dieser Angst verbirgt sich zum einen die reale Erfahrung oder Phantasie, dass das Geschehen nur eskaliert und außer Kontrolle gerät, wenn der eigene Ärger zum Ausdruck gebracht wird, zum anderen die unsichere Einschätzung der Reaktion des Gegenübers. Ein kreatives Ausprobieren verschiedener Ausdrucksmöglichkeiten wird durch die Existenz dieser Verlustängste erschwert. Unabhängig vom biologischen Geschlecht verfügen die befragten Frauen und Männer nur über ein sehr begrenztes Repertoire von Aggressionsverhalten und erleben den eigenen Umgang mit Aggression als ausgesprochen unbefriedigend. Bei beiden Geschlechtern zeigt sich eine verengte Polarisierung von Optionen: entweder ruhig zu bleiben oder die Beherrschung zu verlieren. Vor dem Hintergrund dieses qualitativen Befundes rückt die Frage nach der Befähigung zu einer Vielfalt von Handlungsoptionen in den Mittelpunkt. Es wird wichtig sein, Bedingungen zu schaffen, in denen gelernt werden kann, Wut und Ärger kontrolliert auszudrücken und daran zu arbeiten, die Optionen, die beiden Geschlechtern für den Umgang mit Aggression zur Verfügung stehen, zu differenzieren und zu erweitern. Eine solche Diversität unterschiedlicher, der Situation angemessener Formen von Aggression, wird nur möglich sein, wenn ich Aggression im Sinne der Systemtheorie als einen Persönlichkeitsanteil, aber eben auch nur als einen unter anderen, akzeptieren lerne. Den Erfahrungen, dass der oder die andere meine Aggressionen „überlebt" und Aggressionen auch beziehungsförderlich sein können, kommt im Hinblick auf eine realistische Einschätzung eigener Aggressionen sowie kreatives Ausprobieren verschiedener Aggressionsoptionen eine hohe Bedeutung zu. Die im Interview erfragten bewussten Phantasieinhalte bilden einen wichtigen Gegenpol zur Realität. Mit Blick auf den Aspekt der Entstehung dieser aggressiven Phantasien kann zusammenfassend konstatiert werden, dass Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht, Momente starker Erregung, verbunden mit der Angst, die Kontrolle über sich und/ oder die Situation zu verlieren, zur Entstehung aggressiver Phantasien beitragen. Aber auch ungeklärte Konfliktgeschehen sowie tiefe Kränkungen und Verletztheiten lassen aggressive Phantasien entstehen und suchen in ihnen nach Verarbeitungsmöglichkeiten.' Die Inhalte der Phantasien zeigen Aggressionsformen, die in der Realität tabuisiert sind. Körperliche Aggressionen bilden einen Hauptinhalt weiblicher wie männlicher Aggressionsphantasien. In Anlehnung an FREUD (1900) kann dies mit einem gewissen „Nachlassen der Zensur" (II-111, S. 496) im Bereich der Phantasie erklärt werden. Die Phantasietätigkeit eröffnet nach Freud dem Menschen die Möglichkeit, die Freiheit von äußerem Zwang zu genießen, auf die er in Wirklichkeit längst verzichten musste. So ist es möglich, „abwechselnd noch Lusttier zu sein und dann wieder ein verständiges Wesen" (Freud 1917, XI, S. 387). FREUD vergleicht das „seelische Reich der Phantasie" mit einer dem Realitätsprinzip entzogenen „Schonung", einem „Naturschutzpark", in dem alles wuchern und wachsen darf, wie es will, auch „das Nutzlose, selbst das Schädliche" (ebd.; vgl. Pagel 1984, S. 41 £). Hier zeigt sich FREUDS vorrangige Sichtweise der Phantasie als regressivkompensatorisches Moment - „regressiv in mehr als einem Sinne, insofern gleichzeitig ein Zurückweichen vor dem Leben [bzw. vor frustrierender Realität, Erg. d. Verf ] und ein Zurückgreifen auf die Vergangenheit eintritt" (Freud 1918, XII, S. 82). 232 Hier wird bereits auch eine erste Funktion aggressiver Phantasien angesprochen. 242 243 Den körperlichen Ausdrucksformen kommt primär die Funktion zu, Vergeltung und Rache auszuüben. Für einige Frauen haben körperliche Aggressionsphantasien die Funktion, sich an einer konkreten Person, häufig dem Vater, zu rächen. Der Vater wird von ihnen als Verursacher von Kränkungen, Angst und Schmerz beschrieben. Da es den Töchtern in der Beziehung zum Vater nicht erlaubt ist, offen zu sagen, was sie verletzt und wütend gemacht hat bzw. wenn diese Frauen ihre Aggressionen zeigen, es dann von ihren Vätern nicht ernst genommen wird, kommt der Phantasie eine entscheidende Rolle zu, um die unterdrückten realen Aggressionen in der Phantasie zu kompensieren. Hier wird ein Moment des von JESSICA BENJAMIN aufgezeigten weiblichen Dilemmas, eigenes Begehren - Selbsttätigkeit, Handlungsfähigkeit und Aktivität - unter den gegebenen Bedingungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung vom Vater anerkannt zu bekommen, um es aus dem eigenen Selbst entspringend zu erleben, empirisch eindrucksvoll belegt. Die Versuche, sich dem Vater mit „identifikatorischer Liebe" zuzuwenden, scheinen zum Scheitern verurteilt. Neben diesen geschlechtsübergreifenden Schlüsselkategorien erweist sich das Verständnis des Umgangs mit Aggression als Lern- und Reifungsprozess als eine erste geschlechtsspezifische Schlüsselkategorie. Die befragten Männer interpretieren die Veränderung ihres Umgangs mit Aggression nicht wie die interviewten Frauen als Lern- oder Reifungsprozess. Die These liegt nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Beobachtung und dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont gibt, dass Männer den angemessenen Umgang mit Aggression beherrschen müssen. Außerdem zeigt sich, dass für Frauen und Männer unterschiedliche Veränderungen im aggressiven Verhalten relevant sind. Die interviewten Frauen beschreiben die Notwendigkeit, die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit rechtzeitiger wahrzunehmen, bewusster mit ihren Aggressionen umzugehen, sie zu spüren, beharrlicher bleiben zu können und sich nicht so schnell von diesen existentiellen Gefühlen abbringen zu lassen. Viele der interviewten Frauen sind mit einem Wut- und Aggressionsverbot aufgewachsen und beschreiben die Erfahrungen mit ihren eigenen Aggressionen als für sie neu und aufregend. In den Erzählungen der Männer werden die Themen der Grenzverletzung, Grenzwahrnehmung und Durchsetzung eigener Grenzen nicht thematisiert. Als wesentliche Veränderungen betonen die Männer, dass sie ruhiger geworden sind. Bei ihrer Beschreibung spielt der Begriff des „Ausgleichs" eine besondere Rolle. Er wird jedoch nicht im Sinne einer friedlichen Einigung, sondern als Legitimation für einen Gegenschlag unter Männern verwendet. Aggressionen, meist physischer Art, sind für Männer gerechtfertigt, wenn der andere angefangen hat. Dieser „Ausgleich" dient diesen Männern zum eigenen Spannungsabbau und zur Herstellung eines neuen Gleichgewichts: sie sind nicht mehr nur „Opfer" und damit ohnmächtig und hilflos, sondern erlangen durch ihren Gegenschlag neue Macht in der Beziehung. War das frühere Verhalten einerseits durch sehr i mpulsive und heftige Reaktionen, andererseits durch die Beantwortung einer Aggression, verbaler, physischer oder psychischer Art, stets mit einer Gegen244 aggression - meist in derselben Form - gekennzeichnet, veränderte sich dies aus Sicht der Männer in den letzten Jahren. Zum einen scheinen sie nicht mehr so leicht angreifbar zu sein, zum anderen sind auch ihre Reaktionen ruhiger geworden. In Anlehnung an CHODOROW (1985) könnte argumentiert werden, dass sich die weibliche einseitige Beziehungsorientierung um Momente der Autonomie und des Sich-Abgrenzens erweitert. Ob die von den interviewten Männern beschriebene Distanzierung vom aggressiven „Ausgleichskampf` unter Männern mit einer zunehmenden Beziehungsorientierung einhergeht, kann hier nur als Frage formuliert werden. Es zeigt sich, dass die beiden Geschlechter in Bezug auf die Veränderungen ihres Aggressionsverhaltens nicht unbedingt in eine Richtung lernen, die sie „angleicht` und aufeinander zuführt. Sie lernen vielmehr in sehr differenter Weise. Die Vielfalt und Bedeutung psychischer Orientierungen und das Heraustreten beider Geschlechter aus ihrer Polarisierung ist nicht notwendigerweise von einer Annäherung der Geschlechter begleitet. Es wird aber auch deutlich, dass beide Geschlechter unterschiedliche Assoziationen mit dem Begriff „Aggression" verknüpfen. Während es den Frauen primär um Momente der Selbstbehauptung, dem Durchsetzen eigener Grenzen geht, sprechen die interviewten Männer von einem „Schlagabtausch" unter Männern. In den Gesprächen mit den Frauen wird dem konstruktiven Verständnis von Aggression eine hohe Bedeutung für die eigene Zufriedenheit und das eigene Wohlbefinden eingeräumt. Neben dieser unterschiedlichen Beschreibung und Bewertung von Veränderungsprozessen bei Frauen und Männern stellt sich die weibliche Sehnsucht nach Verständigung als ein zweiter geschlechtsspezifischer Aspekt dar. Festzuhalten ist, dass die beschriebene Ungleichzeitigkeit und Verschiedenartigkeit des Bedürfnisses von Frauen und Männern, über aggressionsauslösende Situationen und Gefühle des Ärgers zu sprechen, häufig eine Ursache für Konflikte, Kränkungen und Missverständnisse darstellt. Die weibliche Sehnsucht nach Verständigung, verbunden mit der Hoffnung, die Dinge klären zu können, ist mit hohen Erwartungen überfrachtet. Dieser Wunsch, die Konfliktsituationen unmittelbar und miteinander zu klären, hat auch seine Grenzen. Auch in engen Beziehungen ist es nicht möglich, sich „vollständig" über Gefühle des Ärgers auszutauschen. Nicht alles kann in Interaktionen angesprochen und verarbeitet werden, sondern es scheint ebenso erforderlich, Verletzungen zum einen mit sich alleine zu „verarbeiten", zum anderen auch Dinge ungeklärt und unausgesprochen stehen zu lassen. Dieser Diskussion einzelner Ergebnisse aus der qualitativen Analyse folgen nun ausgewählte quantitative Ergebnisse. 245 Die Ergebnisse der statistischen Auswertung zeigen eindrücklich, dass dem Zusammenspiel von biologischem und psychischem Geschlecht zur Erklärung von aggressivem Verhalten und aggressiven Phantasien eine besondere Bedeutung zukommt und binäre Geschlechtervorstellungen überwunden werden müssen. An die Stelle einfacher, binärer Geschlechtercodierungen müssen differenzierte Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit treten. Signifikante Interaktionen zeigen sich zwischen biologischem Geschlecht, sei es männlich oder weiblich, und psychischer Männlichkeit. Die Gruppe der männlichen Männer - biologisches und psychisches Geschlecht stimmen hier überein („sex typed") - zeigt signifikant mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen als die nicht-männlich identifizierten, also die weiblichen, androgynen und undifferenzierten Männer. Dies mag auf den ersten Blick vielleicht nicht überraschen, entspricht es doch unserem Alltagsverständnis, dass z.B. der „Macho" jemand ist, der sich eher dominant durchsetzt und Aggressionen direkt und offen zeigt. Diese Männer scheinen im Erwerb und Besitz derjenigen Eigenschaften, die im psychischen Sinne das biologische Geschlecht bestätigen. In Anlehnung an SUZANNE J. KESSLER und WENDY McKENNA (1978) soll von primären, biologisch fundierten, und sekundären Geschlechtszuschreibungen ausgegangen werden. Wo sich der männliche Körper als primäres einen sekundären männlichen Sozialcharakter angeeignet hat bzw. aneignet, zeigt sich der höchste Ausdruck nach außen gerichteter offener Aggression. Offenes aggressives Auftreten gehört für diese Gruppe von Männern zu ihrem Sozialcharakter, scheint gesellschaftlich wie persönlich anerkannt und kann dort, wo es explizit angefragt ist - im Interview - zum Ausdruck gebracht werden. Nach außen gerichtete offene Aggression dient dazu, sich als männlich zu inszenieren und identifizieren zu lassen. Biologische Männer mit gering ausgeprägter Männlichkeit zeigen hingegen signifikant weniger nach außen gerichtete offene Aggression - sei es, weil sie Zugänge zu alternativen, nicht typisch männlichen Verhaltensweisen gefunden haben, sei es weil die nach außen gerichtete offene Aggression eines nichtmännlichen Mannes nicht das gleiche Maß an sozialer Akzeptanz wie die offene Aggression des männlichen Mannes erfährt. Ein weiteres signifikantes Ergebnis für die Variable nach außen gerichteter offener Aggressionen (AOA) ist, dass nicht-männlich identifizierte Männer in der Bildassoziation signifikant mehr nach außen gerichtete offene Aggressionen zeigen als nicht-männlich identifizierte Frauen. Vielleicht - so eine Hypothese zeigen Männer trotz geringer psychischer Männlichkeit deutlich mehr nach außen gerichtete Aggression in der Bildassoziation als Frauen, weil es im persönlichen wie gesellschaftlichen Bereich mehr Bilder aggressiven männlichen Verhaltens gibt. Hiermit würde sich die These bestätigen, dass das Vorhandensein realer Bilder und (Vor-)Bilder aggressiven Verhaltens die Wahrscheinlichkeit aggressiver Phantasien erhöht. Es wäre aber auch vorstellbar, dass die weiblichen, androgynen und undifferenzierten Männer mehr nach außen gerich246 tete offene Aggressionen als weibliche, androgyne und undifferenzierte Frauen in der Bildassoziation zeigen, weil sie ihre Nicht-Erfüllung des „Männlichkeitsmusters" kompensieren. Wie für die Aggressionsform nach außen gerichteter offener Aggression ist auch für die nach innen gerichtete Aggression die Gruppe der biologischen Männer mit ausgeprägter psychischer Männlichkeit im Vergleich zur Gruppe der nicht-männlich identifizierten von besonderem Interesse. Ein zweiter Befund ist, dass biologische Männer mit nicht-psychischer Männlichkeit („sex-reversed") signifikant mehr nach innen gerichtete Aggression zeigen als männliche Männer. Während dieses Ergebnis vielleicht noch zu erwarten war, zeigen biologische Männer mit nicht-psychischer Männlichkeit auch mehr nach innen gerichtete Aggression als weibliche, androgyne und indifferente Frauen. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, wird doch in der Literatur die nach innen ausgerichtete Aggression häufig als ein typisch weiblicher Aggressionsmodus dargestellt. So wäre zu erwarten, dass die Frauen, die noch dazu nicht-männlich identifiziert sind, weit höhere Werte in nach innen gerichteter Aggression zeigen als die nicht-männlich identifizierten Männer. Leider lassen sich die Ergebnisse bei weiblichen Gesprächspartnerinnen nicht mit gleicher Klarheit bzw. Signifikanz konturieren. Selbst Frauen, die sich zu ihrem weiblichen Körper einen männlichen Sozialcharakter angeeignet haben („sex reversed"), bevorzugen die nach innen gerichtete, in der Literatur als „weiblich" beschriebene Aggression. Obwohl die Differenzierungen innerhalb des weiblichen Geschlechts - dem alltagstheoretischen Augenschein nach - als offenkundiger und auffälliger erscheinen, zeigen die statistischen Ergebnisse, dass innerhalb des männlichen Geschlechts gegenwärtig die psychisch tiefgreifenderen Differenzierungen vermutet werden müssen. Zurück zu dem Befund, dass biologische Männer mit nicht-psychischer Männlichkeit signifikant mehr nach innen gerichtete Aggression zeigen als männliche Männer und nicht-männlich identifizierte Frauen. Damit wird erneut die hohe Bedeutung des psychischen Geschlechts und sein Einfluss auf den Aggressionsausdruck belegt, besonders bei der Gruppe der biologischen Männer. Die nicht-männlichen Männer zeigen somit nicht nur die niedrigsten Werte in nach außen gerichteter offener Aggression, sondern zudem Höchstwerte in nach innen gerichteter Aggression. Positiv formuliert, stellen offene Aggressionen für diese nicht-männlichen Männer keine so essentielle Komponente von Männlichkeit dar wie für die männlichen Männer. Problematisch ist, dass sie ihre Aggressionen gegen sich selbst wenden, indem sie sich kritisieren und von sich und ihrem Verhalten enttäuscht sind.` Diese nicht-männlich identifizierten Männer sind stärker Selbstwidersprüchen und Schuldgefühlen ausgesetzt 233 Dies sind Inhalte der dritten Aggressivitätsskala IA: III c2 bedeutet, dass der Sprechende sich selbst kritisiert und sich herabsetzt; 111 cl heißt, dass der Sprechende von sich enttäuscht ist (vgl. Sehöfer 1980). 247 als die männlichen Männer und die Frauen. Dieser signifikante Befund, dass biologische Männer, die nicht männlich identifiziert sind, die höchsten Werte für nach innen gerichtete Aggression aufweisen, macht das Konfliktpotential deutlich, das mit der Auflösung bipolarer Strukturierung von Weiblichkeit und Männlichkeit durch die Subjekte angesichts des kulturell dominanten bipolaren Musters freigesetzt wird, und das sich als Konflikt zu allererst in den Subjekten vollzieht. Eine Abweichung vom männlichen Geschlechterstereotyp geht mit besonderen Belastungen und Konflikten einher. Gehen wir in Anlehnung an ROBERT CONNELL davon aus, dass die nichtmännlichen Männer Alternativen zur hegemonialen Männlichkeit - diese ist gekennzeichnet durch Männerdominanz, komplementäre und hierarchische Arbeitsteilung und dominante Heterosexualität - entdeckt haben, wird auch ihr unterschiedlicher Umgang mit Aggression verständlicher."" Könnte doch aggressives offenes Auftreten für die Gruppe der männlichen Männer, die die Privilegien der begemonialen Männlichkeit für sich beanspruchen, ein wichtiges Mittel sein, die eigene Dominanz aufrechtzuerhalten und Maskulinität zu beanspruchen und zu bestätigen. Zu der weniger privilegierten Gruppe der weiblichen, androgynen und undifferenzierten Männer werden häufig auch Homosexuelle, aufgrund ihrer gering ausgeprägten psychischen Männlichkeit, gezählt. „Die patriarchale Kultur hat eine sehr simple Erklärung für schwule Männer: es fehlt ihnen an Männlichkeit. (...) Die Vorstellung von der fehlenden Männlichkeit hat ihre Grundlage offensichtlich in der in unserer Kultur vorherrschenden Meinung über das Mysterium der Sexualität: Gegensätze ziehen sich an. Wenn jemand von Männlichkeit angezogen wird, dann muss diese Person weiblich sein - und wenn es ihr Körper nicht ist, dann eben irgendwie ihre Psyche" (Connell 1999, S. 165). beschreibt in seinem Kapitel „Ein sehr normaler Schwuler" (S. 165-184), dass in den Lebensläufen dieser Männer ein „Sich-Einlassen auf die hegemoniale Männlichkeit" (S. 168) zu finden ist. Weiter heißt es: „Homosexuelle Männlichkeit stellt für eine Geschlechterordnung wie die moderne westliche einen Widerspruch dar. Diese Lebensgeschichten zeigen (...), dass der mögliche Widerspruch Wirklichkeit geworden ist und sogar alltäglicher Bestandteil des eigenen Lebens wird. Der unpolitische Eindruck, den diese Männer erwecken, ist ein Anzeichen für die Etablierung einer öffentlich sichtbaren Alternative zur hegemonialen Männlichkeit" (S. 183-183). CONNELL (1999) Die Entwicklung von alternativen Männlichkeiten zur hegemonialen Männlichkeit könnte, so eine These, für die weniger privilegierte Gruppe der weiblichen, androgynen und undifferenzierten Männer mit widersprüchlichen Lebenserfahrungen verbunden sein, denen gerade auch im Hinblick auf aggressives Verhalten eine Bedeutung zukommt. 234 Vgl. Kap. 4.1. 24 8 us enfass Dieses letzte Kapitel der Arbeit verfolgt weniger das Anliegen, die Analyse des Phänomens Aggression zu einem Abschluss zu bringen, als vielmehr die Diskussion theoretischer Konzepte (erster Teil) und empirischer Ergebnisse (zweiter Teil) um eine Zusammenfassung zu erweitern. Es geht primär und die Frage, welche Dimensionen eine Theorie über die Zusammenhänge von Aggression und Geschlecht zu berücksichtigen hat, was sie zu leisten vermag und wo ihre Grenzen liegen. Insgesamt machten die theoretischen Ausführungen deutlich, dass menschliche Aggression mehrdimensional erklärt werden muss und dass die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht diese Dimensionen erweitert und differenziert. Es zeigte sich in den finnischen Untersuchungen, dass Frauen andere Ausdrucksformen der Aggression zeigen als Männer. Sie präferieren den indirekten Aggressionsmodus. Mit ANNE CAMPBELL konnte aufgezeigt werden, dass Frauen nicht nur auf andere Weise ihre Aggressionen zeigen, sondern auch andere Motive und Wahrnehmungen mit der Aggressionsausübung verbinden als Männer. Dass Frauen und Männer sich in ihrem Kommunikationsverhalten unterscheiden und im Hinblick auf ihr Aggressionsverhalten sehr unterschiedliche Veränderungen erleben und beschreiben, belegt die qualitative Datenanalyse nach der Grounded Theory. Die Ungleichzeitigkeit und Verschiedenartigkeit des Bedürfnisses von Frauen und Männern, über aggressionsauslösende Situationen und Gefühle des Ärgers zu sprechen, stellt häufig eine Ursache für Konflikte und Missverständnisse zwischen den Geschlechtern dar. Ob sich aus den unterschiedlich beschriebenen Lernprozessen der Geschlechter - Frauen möchten ihre Aggressionen bewusster wahrnehmen und ausdrücken lernen, Männer hingegen betonen, dass sie nach einer Zeit sehr heftiger „Ausgleichskämpfe" unter Männern nun nicht mehr so leicht angreifbar sind und ihre Reaktionen ruhiger geworden sind - neue Konflikte zwischen ihnen ergeben oder auch Formen einer neuen Geschlechtersolidarität gefunden werden, kann hier nur als Frage formuliert werden. Der Einsicht in geschlechtsdifferenzierende und nicht nur geschlechtstypische Verhaltensweisen kommt gerade im Themenfeld von Aggression eine hohe Bedeutung zu. Wesentlich ist allerdings, dass die Kategorie Geschlecht nicht als eine statische, sondern als eine dynamische Kategorie begriffen werden muss. Die statistische Auswertung hat gezeigt, dass dem biologischen Geschlecht nur 249 in Verbindung mit dem psychischen Geschlecht eine signifikante Bedeutung zukommt. Von binären Geschlechtercodierungen muss daher Abschied genommen werden. Plakative Aussagen über „typisch weibliches" und „typisch männliches" aggressives Verhalten dürfen nicht mehr ohne weiteres getroffen werden. An ihre Stelle treten differenzierte Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit. Es zeigt sich als ein Ergebnis des Bein Sex-Role-Inventorys, dass die beiden Geschlechter in ihrer gelebten Praxis bereits auf dem Wege sind, sich aus ihrer Polarisierung herauszubewegen. Dass sie sich dabei allerdings nicht unbedingt aufeinander zu bewegen und sich „angleichen", wurde bereits beschrieben. I m Gegensatz zu dieser empirischen Realität zeigt die Beschäftigung mit verschiedensten theoretischen Ansätzen zur Erklärung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen, dass viele Theorien unhinterfragt alltagstheoretische Typisierungen über „die Frau" und „den Mann" wiederholen, tradieren und reifizieren. So entsteht der Eindruck, dass durch die Vorannahmen der Geschlechterkategorie und des Systems der Zweigeschlechtlichkeit binäre Kategorisierungen nicht hinterfragt werden, sondern sehr schnell eine Bestätigung erfahren. Gemäß eines solchen Denkens sind Frauen und Männer in unserer Kultur und in der gegenwärtigen Zeit nun einmal so: die Mütter mütterlich, die Väter als Repräsentanten der „aufregenden" Außenwelt distanziert, die Töchter aggressionsgehemmt und die Söhne aggressiv. Mit der Differenzierung zwischen biologischem und psychischem Geschlecht versucht die Untersuchung bereits in ihrem Forschungsdesign polarisierte Denkmodelle, die gerade in Bezug auf die Verhältnisse von Aggression und Geschlecht sehr verbreitet sind, zu überwinden. Die Kategorie Geschlecht wird nicht von vornherein in ihrer schlichten Zweiteilung verstanden. Als ein Befund der statistischen Auswertung kann festgehalten werden, dass die psychischen Differenzierungen innerhalb des biologischen Geschlechts sehr viel stärker zu gewichten sind. Außerdem zeigt sich, dass innerhalb des männlichen Geschlechts gegenwärtig die psychisch tiefgreifenderen Differenzierungen vermutet werden müssen. Die nicht-männlich identifizierten Männer (sexreversed) zeigen Höchstwerte in nach innen gerichteter Aggression. Es zeigt sich als ein Befund, dass eine Abweichung vom männlichen Geschlechterstereotyp mit besonderen Belastungen und Konflikten einhergeht. Bei den männlich identifizierten Männern (sex-typed) zeigt sich, dass offenes aggressives Verhalten dazu dient, sich als männlich zu inszenieren und identifizieren zu lassen. Die Kategorie Geschlecht als eine wesentliche Einflussgröße auf aggressives Verhalten in den Blick genommen zu haben, ist ein charakteristisches Kennzeichen der Arbeit. Neben der Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht sowie den psychischen Differenzierungen innerhalb des biologischen Geschlechts, verdeutlicht die 250 vorliegende Arbeit auch die Notwendigkeit, kulturelle, individuelle und situative Faktoren in eine Theorie über die Zusammenhänge von Aggression und Geschlecht zu integrieren. Aggression muss als ein kulturabhängiges Phänomen betrachtet werden. Die kulturelle Betrachtung von Aggression zeigt die Vielfalt unterschiedlichster Formen weiblicher und männlicher Aggression sowie kulturspezifische Tabuisierungen. Jede Gesellschaftsstruktur gibt bestimmte Aggressionsformen vor, legitimiert ihre Anlässe und Äußerungsformen und sanktioniert bzw. tabuisiert wiederum andere. Der interkulturelle Vergleich negiert die einseitige Charakterisierung der Frau als friedfertig und zeigt verschiedene Aggressionsformen auch für Frauen auf, abhängig von der jeweiligen Gesellschaftsstruktur. Der Kulturvergleich zeigt aber auch, dass sich die verschiedenen Gesellschaften stärker untereinander in ihrem Aggressionsausmaß und ihren Aggressionsformen unterscheiden als dies kulturübergreifend für beide Geschlechter gilt. Neben der Betrachtung von Aggression als einem kulturabhängigen Phänomen haben individuelle Faktoren eine bedeutende Relevanz im Hinblick auf die Entwicklung von Aggressionsformen. Die Altersentwicklung, verschiedene Lebensphasen, die Entwicklung kognitiver, verbaler und intellektueller Fähigkeiten sowie die Einschätzung der Wirkung eigener Aggressionen bzw. eigene Risikoeinschätzungen sind wesentliche Aspekte, die zur Differenzierung eines Umgangs beider Geschlechter mit Aggression beitragen. Deutlich wird, dass neben der Lebensphase der Kindheit die weibliche wie männliche adoleszente Entwicklung berücksichtigt werden muss, will man zu einem differenzierten Verstehen eines geschlechtsdifferenzierenden Umgangs mit Aggression gelangen. Die Diskussion verschiedener empirischer Studien zeigt, dass die Adoleszenz für Mädchen häufig mit einem Verlust an Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen einhergeht, und die adoleszente Lebensphase für die weibliche Aggressionsentwicklung einen „Wendepunkt` (Brown/Gilligan 1997) mit sich bringt. Festzuhalten ist, dass die Lebensphase der Adoleszenz mit ihren krisenhaften Momenten große Auswirkungen auf das Aggressionsverhalten, besonders auf die Form der Aggression beider Geschlechter hat. Aber auch die eigene individuelle Selbstsicherheit und die Sicherheit in den Beziehungen haben eine große Relevanz für das eigene Aggressionsverhalten, so ein Ergebnis der qualitativen Datenanalyse. Beziehungssicherheit erweist sich als aggressionsförderlich. In den Kontexten, in denen die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner das Gefühl einer „gesicherten Existenz" haben, fällt es ihnen leichter, ihre Aggressionen auszudrücken. In Anlehnung an WINNICOTT ist die Erfahrung, dass das Gegenüber den Ausdruck eigener Aggressionen aushält und „überlebt` und nicht mit Vergeltung, Liebesentzug oder einem Beziehungs- bzw. Kontaktabbruch droht, von hoher Bedeutung. Diese These WINNICOTTS kann als ein wesentliches theoretisches Interpretament der empirischen Daten bestätigt werden. 251 Die Notwendigkeit, situative Faktoren in eine Theorie zum Phänomen „Aggression und Geschlecht" zu integrieren, zeigt sich zum einen in der Beobachtung, dass Methodik und Kontext der jeweiligen Untersuchungen das Maß der gefundenen Geschlechterunterschiede verringern, aber auch vergrößern können. Der Kontext, in dem Aggression und Gewalt evoziert werden bzw. auftreten, muss berücksichtigt werden. Ebenso muss der Blick für geschlechtsspezifische Bedeutungsinhalte einer „Versuchsanordnung" geschärft werden. Welche Bedeutung hat für beide Geschlechter eine ähnliche Situation? Die Kontextabhängigkeit aggressiven Verhaltens wird außerdem durch die qualitative Datenanalyse belegt. Der Ausdruck von Aggression beider Geschlechter ist im beruflichen und privaten Kontext sehr unterschiedlich. Für die Art und Weise, wie auf Wut und Ärger reagiert und mit Aggressionen umgegangen wird, ist nicht nur der Ort entscheidend, sondern auch, wer die Aggression verursacht hat. Unabhängig vom biologischen Geschlecht, erschweren höherer Status und befürchtete bzw. reale Machtausübung direkte aggressive Handlungen gegenüber der/dem Vorgesetzten. Für den beruflichen Bereich ist das der hierarchischen Struktur entsprechende Verhalten charakteristisch. meinem Geschlecht - nicht als Bedrohung, sondern als konstitutives Moment von Kommunikation und Selbstwerdung zu erfahren. Die zentrale Frage einer pädagogischen Anthropologie wird sein, wie es uns gelingen kann, Subjekte zu befähigen, Widersprüche zwischen biologischem Geschlecht und sozialen wie psychischen Selbstentwürfen auszuhalten, sowie sie zu ermutigen trotz mangelnder existentieller Kohärenzerfahrungen identitätsstiftende Selbstentwürfe zu erproben und zu entwickeln, die sich nicht immer mit kulturellen Erwartungen und Ansprüchen an Geschlechtlichkeit decken müssen. Dies ist nach BENJAMIN (1996) nur zu realisieren, wenn „eine Welt mit festgelegten, unüberwindlichen Grenzen zugunsten eines Übergangsraumes [verlassen wird], in dem die konventionellen Gegensätze zu beweglichen Wänden werden und lustvolle Spannung schaffen" (S. 21). Zusammenfassend gilt einerseits, die Kategorie „Geschlecht` überhaupt erst einmal in ihrer Bedeutung für das Phänomen der Aggression in den Blick zu nehmen und hierbei die psychischen Differenzierung innerhalb des biologischen Geschlechts stärker zu gewichten, andererseits aber auch die Größe „Geschlecht` nicht als einzige aggressionsrelevante Kategorie zu begreifen, sondern die Bedeutung kultureller, individueller und situativer Aspekte anzuerkennen und zu berücksichtigen. Fragt man nach den möglichen pädagogischen Konsequenzen der quantitativen Erkenntnisse, so muss festgestellt werden, dass der Befund, eine Abweichung vom männlichen Geschlechterstereotyp gehe mit hohen psychischen Belastungen einher, in bisherigen Konzepten zur Jugend- und Männlichkeitsarbeit nicht angemessen berücksichtigt wurde. Die Bedeutung verschiedener Männlichkeiten, ihre Verhältnisse zueinander und was es heißt, sich als Mann von kulturell erwarteten männlichen Verhaltensweisen zu verabschieden, muss mehr in den Blick geraten. Die Pädagogik kann an den Dispositionen - gesamtgesellschaftlich, institutionell wie individuell - arbeiten, die die Wahrnehmung und die Sensibilität für diese Ausdifferenzierung des Geschlechts fördern. Um diese Sensibilität entwickeln zu können, bedarf es sozialer Erfahrungsräume, in denen das Changieren zwischen verschiedenen Selbstkonzeptvarianten (sozialer wie psychischer Geschlechtsorientierungen) erlernbar ist. Zum Gelingen dieser Lernprozesse ist die Auseinandersetzung mit Vorbildern von Nöten, dies zeigt auch die empirische Studie. Ist doch die entscheidende Voraussetzung dieser Lernprozesse, die Andersartigkeit des Anderen - der andere Mensch, das andere Geschlecht, das andere in 252 253 Abels, Heinz, 1975: Alltagswirklichkeit und Situation. 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Sollte von einer/einem Autor(in) mehrere im selben Jahr veröffentlichte Werke vorliegen, so werden diese mit a und b unterschieden. Besteht das AutorInnenkollektiv aus mehr als zwei Personen, wird dies im Literaturverzeichnis vollständig, im laufenden Text der Arbeit jedoch nur mit dem Namen der/des ersten Autorin/Autors und der Abkürzung et al. angegeben. Auch hier werden - nach Beschränkung auf die Angabe einer/eines Autorin/Autors - Werke gleicher Jahre mit a und b unterschieden. 255 Armbruster, L. Christo£, 1995: Ende der Männlichkeit? In: Widersprüche, 56157, S. 63-76. Ashmore, Richard D.; Del Boca, Frances K., 1986: The Social psychology of female-male relations: a critical analysis of central concepts. Orlande/San Diego/New York/London/Sydney. Auchter, Thomas, 1993: Aggression als Zeichen der Hoffnung. Zur Theorie des ` Bösen' bei Donald W. Winnicott. In: Werkstattschriften zur Forensischen Psychiatrie: „Beziehungspflege", Be-Handlungen im Maßregelvollzug, 5, S. 42-58. 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