Warum es durchaus nicht absurd ist, Feinde zu lieben

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P. i. R. Dr. Albrecht Weber (evangelisch)
über: Matthäus 5, 38-48
Oldenburg, am 01.11.2009
21. Sonntag nach Trinitatis
Hinweis:
Diese Predigt ist eine vom Autor überarbeitete und aktualisierte Fassung einer Predigt im
Rahmen eines Gottesdienstes, der am 27.10.1985 in der Ohmsteder Kirche in Oldenburg i.O.
gehalten und von WDR, NDR und SFB übertragen wurde.
"Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt, Jesus
Christus.
Amen."
Jesus Christus spricht: "Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch
verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel."
Liebe Ohmsteder Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer!
Napoleon soll beim Rückblick auf die Jahre seiner Eroberungen einmal gesagt haben:
"Alexander, Caesar, Karl der Große und ich haben große Reiche errichtet. Aber worauf gründeten
sie sich? Auf Macht! Christus aber hat vor Jahrhunderten ein Reich errichtet, das sich auf Liebe
gründete, und noch heute sind Millionen bereit, für ihn zu sterben!"
Napoleon hat Recht damit: Mächtige Weltreiche sind vergangen und vergehen, das Reich Christi
aber bleibt. Und doch: Wie beschämend für Christen dieses Lob! Haben wir nicht in Geschichte
und Gegenwart Gewalt mit Gegengewalt beantwortet? Haben nicht Christen mitunter das Feuer
noch geschürt - in Religions- und sonstigen Kriegen, Hexenverbrennungen, Ketzervernichtungen,
Kreuzzügen und innerkirchlichen Streitereien? Haben wir Christen das Gebot der Feindesliebe je
richtig gehört und beachtet? Sind wir heute besser als unsere Vorväter?
"Ganz schön dumm!" rief ein Konfirmand, als ich seiner Gruppe das Evangelium von heute
vorgelesen hatte. Ein anderer rief entsetzt, als er die Möglichkeit vom Hinhalten der anderen
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Wange hörte: "Nie, nie würde ich so handeln!"
Jesus als Menschenfreund, als Symbol von Hilfsbereitschaft - da sind wir noch einverstanden.
Aber Jesus als Lehrer der Feindesliebe! Da geht er uns entschieden zu weit! Da stürzt er ja die
ganze Weltordnung um! Wo kommen wir da wohl hin?
Schon die bei uns üblichen Redensarten zeigen, dass wir gewöhnlich ganz anders denken und
handeln: "Der wird sich wundern! - Dem zeigen, wir, wo es lang geht! - Wer nicht hören will, muss
fühlen! - Gerechtigkeit muss sein! - Wie du mir, so ich dir! - Auf einen groben Klotz gehört ein
grober Keil! - Strafe muss sein! - Das hat er nun davon! - Dem werd' ich's heimzahlen! - Der hat
sich in mir verrechnet! - Das werd' ich ihm nie vergessen!"
Und nun Jesus: "LIEBT EURE FEINDE!"
Wer sind die Feinde, die es zu lieben gilt?
Sie haben viele Gesichter:
Vor meinen Augen steht ein Vater, der seine Familie so terrorisierte, dass sich der erwachsene
Sohn das Leben nahm. - Wir wissen von Mitbewohnern und Nachbarn, die ihre nebenan oder im
Mietshaus wohnenden Mitmenschen schikanieren, wo es nur geht. - Wir kennen den Kollegen,
der seinen Mitarbeiter ständig vor anderen schlecht macht. - Da ist der Chef, der seine Launen an
anderen auslässt. - Da sind Schüler, die einen Klassenkameraden hänseln, drangsalieren und
verprügeln, vielleicht wegen seines Sprachfehlers, seiner fremden Herkunft oder aus Neid wegen
seines schulischen Erfolges. - Da ist der Ehepartner, der seinem Weggefährten mit ätzender
Schärfe alle seine Fehler vorhält. - Da gibt es Diktatoren im Kleinen wie im Großen, Entführer,
Folterknechte und Beamte des Unrechts!
Menschen solcher Art soll ich lieben? Lieben - das ist doch ein Wort der Zärtlichkeit. Einen Menschen, der mir immer wieder das Leben
schwer macht, kann ich unmöglich lieben wie meine Frau und meine Kinder.
Liebe Hörerinnen und Hörer,
ich glaube auch nicht, dass Jesus das sogleich erwartet.
Er redet nicht von Gefühlen, sondern vom Tun der Liebe: Geht zwei Meilen mit, gebt dem, der
euch bittet, betet für eure Gegner, verhaltet euch freundlich. Das sind alles Tätigkeiten, nicht
Gefühle. Ich gewinne meinen Gegner nicht durch verborgene Gefühle, sondern durch ein Tun,
das ihm entgegengeht.
Was Jesu von jedem Christen erwartet, ist dies: Kämpfe den Hass in dir nieder und sieh` deinen
Gegner als einen Menschen an, für den auch du Mitverantwortung trägst.
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VERZICHTE AUF GEWALT! Haben uns denn die vielen Attentate, Terroraktionen, Revolutionen,
Staatsstreiche und Kriege eine gerechtere, friedvollere Gegenwart gebracht?
Ich meine, nein!
Im heutigen atomaren Zeitalter gilt mit neuer Dringlichkeit: Nur wenn alle Seiten das Wohl ihrer
Feinde mit bedenken, werden wir überleben.
Leider aber vergessen wir immer wieder, dass aber Hass zerstört und die Persönlichkeit zerfrisst.
Das trifft auch auf den Klassenhass zu, von dem schon Abraham Lincoln sagt: "Ihr werdet nicht
Brüderlichkeit schaffen, indem ihr Klassenhass schürt!" Auch VERGELTUNG stellt nie Gerechtigkeit her und schafft nur neues Unrecht. Sie bricht die
Brücke der Verständigung ab und verbreitet Angst und Schrecken. So gesehen erscheinen Jesu
Beispiele für Feindesliebe in einem ganz neuen Licht:
DEN SCHLAG DIE RECHTE BACKE kann ein Rechtshänder nur mit dem Handrücken austeilen.
Dies galt zur Zeit Jesu als tödliche Beleidigung. Indem der Geschlagene nicht zurückschlägt,
verzichtet er unter Schmerzen auf seine eigene Ehre und ermöglicht, dass der Kreislauf von
Gewalt und Gegengewalt unterbrochen wird. Das Risiko ist da, dass der Schläger weiterschlägt.
Aber zugleich ist Hoffnung auf ein Ende des Kampfes. Wir lernen: CHRISTEN KÖNNEN ES SICH LEISTEN, BELEIDIGUNGEN HINZUNEHMEN,
DENN GOTT SORGT FÜR IHRE EHRE.
In unserer heutigen Lesung will einer von seinem Gegner durch einen Prozess den ROCK
PFÄNDEN, ein langes, mit Ärmeln versehenes Kleid, das auf bloßem Leib getragen wurde. Jesus
sagt: Wehre dich nicht dagegen. Gib auch noch den Mantel dazu, den du sonst nachts bei der
Kälte als Decke brauchst. Damit beschämst du deinen hartherzigen Gegner und zeigst ihm: Mein
Recht und mein Schutz stehen bei Gott, auch wenn mir auf Erden Recht und Schutz genommen
werden. Wir lernen: CHRISTEN KÖNNEN ES SICH LEISTEN, AUF DURCHSETZUNG IHRES RECHTES
ZU VERZICHTEN, DENN GOTT STELLT IHR RECHT HER!
CHRISTEN STÜRMEN DIE BASTION IHRER FEINDE - DURCH ENTGEGENKOMMENDE
FREUNDLICHKEIT!
Da sind weiter nach Jesu Worten die verhassten römischen Besatzungssoldaten. Sie konnten
von Amts wegen einen Juden zwingen, ihr schweres Gepäck zu tragen. Wie demütigend muss
das für einen Juden gewesen sein: "Ich kann mich nicht wehren, den Lastesel für die Römer zu
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spielen, die unser Land überfallen und nur aufgrund von Waffengewalt hier das Sagen haben."
Und nun geht ein solch Gedemütigter freiwillig weiter, TRÄGT SEINEM VOLKSFEIND ungebeten
das Gepäck noch weitere 1 1/2 Kilometer. Vielleicht entsteht ein Gespräch. Vielleicht entdeckt der
Römer: Dieser Jude da betrachtet mich gar nicht als seinen Feind, sondern als einen
Mitmenschen. Trotz aller nationalen und weltanschaulichen Feindschaften und Grenzen liegt ihm
daran, mit mir Gemeinschaft zu suchen. Und mit einem Mal kann das Wunder stattfinden: AUS
EINEM FEIND WIRD EIN FREUND!
"Wer ist der größte Held?" fragt die jüdische Spruchweisheit. Und die Antwort lautet: "Der,
welcher seinen Feind zu seinem Freund macht." Welch schwierige Aufgabe für uns alle, liebe
Mitchristen, für einen jeden von uns, mich nicht ausgeschlossen!
Darum fragen wir Jesus noch einmal: Wie kommst du dazu, uns so etwas Schwieriges
zuzumuten, Feinde zu lieben, Feinde als Freunde zu gewinnen?
Und ich höre Jesus antworten:
"GOTT liebt auch deinen Gegner. Und das gibt ihm einen bleibenden Wert. Mag sein Wert unter
der Schmutzschicht seiner Aggressionen und Schlechtigkeiten verborgen sein - GOTT gibt ihm
eine Chance. Warum nicht auch du?
GOTT ist großzügig ihm gegenüber. Warum nicht auch du?
GOTT bietet ihm seine Freundschaft an, solange erlebt. Warum nicht auch du?
GOTT verharmlost nicht das Verbrechen. Er verabscheut es. Gott unterscheidet zwischen dem
Verbrechen und dem Menschen, der es begeht. Für den Menschen tritt er ein. Warum solltest du
nicht auch so unterscheiden?"
GOTT LÄSST DIE SONNE IMMER WIEDER AUFGEHEN ÜBER EINER WELT, DEREN
GESCHICHTSBÜCHER UND TÄGLICHE NACHRICHTEN VOLL SIND VON
UNGEHEUERLICHKEITEN - EIN ZEICHEN SEINER LIEBE UND GEDULDIGEN LANGMUT.
Wie oft gehen wir an Gott gleichgültig vorüber? Wie oft, liebe Christen, wollen wir wohl das Gute, tun aber das Gegenteil? - Und doch schenkt
uns Gott in unserem Land unverdientermaßen soziale Sicherheit und Wohlstand. Das alles nur
deshalb, weil er nicht Gleiches mit Gleichem vergilt: Vielmehr beantwortet er noch immer Untreue
mit Treue und Undank mit Liebe. Er lässt die Sonne für alle Menschen scheinen. Selbst der
Bankräuber, der Terrorist, ja sogar der Mörder erfreuen sich an ihren Strahlen, an ihrer Wärme,
an ihrem freundlichen Leuchten. So großzügig ist Gott! So fast grenzenlos seine Liebe!
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UND ICH SOLLTE KLEINLICH JEDE KRÄNKUNG MIT EINER KRÄNKUNG BEANTWORTEN?
Nun, liebe Gemeinde, Jesus will mit seiner Aufforderung zur Feindesliebe nicht jede Gewalt
abschaffen, die das Böse eindämmen soll.
Wo kommen wir hin, wenn Schüler folgenlos ihre Lehrer schlagen, Diebe ohne jede Hinderung
einbrechen und Amokläufer wild um sich schießen dürfen? - In jedem Fall müssen wir abwägen:
Können wir ein Unrecht hinnehmen oder müssen wir etwas dagegen tun? - Bei diesem Abwägen
brauchen wir oft dringend den Rat anderer Christen. Oft brauchen wir auch ihre Fürbitte und Hilfe,
um auf dem eingeschlagenen Weg nicht zu straucheln.
Im Übrigen brauchen wir in dieser Welt weiterhin Polizei, Gerichtswesen und staatliche
Verteidigung. Aber das hat schon Folgen, wenn Polizisten, Richter, Gefangenenaufseher,
Politiker und Soldaten jeden als einen Menschen ansehen, den Gott liebt.
Freilich bleibt nach wie vor auch für Christen unter den Politikern umstritten, was das politisch,
etwa im Kampf gegenüber dem Terrorismus, bedeutet. Denn der Satz Helmut Thielickes, dass
die Bergpredigt Jesu (Matthäus 5 - 7) als "Grundgesetz des Reiches Gottes" nicht bedingungslos
als Gesetz dieser vergehenden Welt gelten könne, ist bisher nicht widerlegt.
Der Denkansatz von Präsident Obama erscheint dabei grundsätzlich als verantwortlich: Abbau
von Feindbildern soweit wie möglich, die Reden des Präsidenten in Kairo und vor der UN sind
hierfür vorbildlich; Verhandlungen, soweit als möglich und sinnvoll, sogar mit dem wegen
Völkermordes angeklagten Diktator des Sudan; militärische Maßnahmen nur, soweit wie
unumgänglich.
Aber genau hier brauchen Politiker unsere besondere Fürbitte, vor allem im Blick auf das
Abwägen der Frage: Was sind die Kriterien dafür, was militärisch unumgänglich ist? Denn immer
wieder passieren hier Denkfehler, drängen sich scheinbare "Sachzwänge" auf und finden
ungerechtfertigte Übergriffe und Fehlleistungen statt.
Wie schwierig es mit der Feindesliebe ist, zeigt eine kleine Geschichte, die ich neulich las: Zwei
kleine Jungen dreschen heftig aufeinander ein. Kommt ein Passant vorbei und fragt:
"Habt ihr noch nie etwas von Feindesliebe gehört?" "Der da", antwortete einer der beiden
Streithähne, "der da, das ist ja nicht mein Feind, das ist doch nur mein Bruder!"
Zum Schluss: Gibt es denn überhaupt Menschen, die je Feindesliebe praktiziert haben?
Ja, es gibt sie und hat sie gegeben. Ich nenne ein paar Namen:
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KÖNIG DAVID, der in einer Höhle seinen Todfeind Saul verschont. JESUS, der am Kreuz für seine Feinde betet: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
tun." Ähnlich betet STEPHANUS, der erste Märtyrer. Der amerikanische Präsident ABRAHAM LINCOLN machte einen Feind zum Minister und
gewann ihn damit als Freund. Der Norddeutsche LUDWIG NOMMENSEN, der im 19. Jahrhundert die Batakkirche auf Sumatra
begründete. Er besuchte die Mörder seines Sohnes im Gefängnis und brachte ihnen die
Versöhnung durch Christus. - Ähnlich verhielt sich PAPST JOHANNES PAUL II. seinem
Attentäter gegenüber. Der Lehrer GEORD MAUS wurde in der Zeit des 3. Reiches auf dem Weg nach Dachau
umgebracht, weil er im Unterricht bestätigte, dass die Liebe zum Feind auch den Engländern gilt.
Ich denke weiter an über 200.000 JUGENDLICHE, die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in mehr
als 30 Ländern Europas Brücken der Versöhnung über Gräber hinweg gesucht haben. Sie haben
Kriegsgräber instandgesetzt und menschliche Bande zwischen einst verfeindeten Völkern
geknüpft. Weiter weiß ich von CHRISTEN IN ISRAEL, ÄTHIOPIEN, TOGO (WESTAFRIKA),
NORDIRLAND, UND IM LIBANON, die im Geist der Feindesliebe gewaltlos zwischen den
Fronten vermitteln! Ob wir nicht auch von ihnen lernen können?
Es mag sein, liebe Hörer, dass ich auf dem Suchpfad der Feindesliebe immer wieder strauchle
und meinen Gegner verabscheue. Wo ich aber für ihn bete, weicht der Groll, und aus dem
Abscheu wird ein Mitleiden mit dem anderen.
Feinde zu lieben ist nichts für Feiglinge und schwache Naturen. Wir sind dabei zu großen
Anstrengungen herausgefordert aus der Gemeinschaft mit Gott und der Kraft, die ER verleiht.
FEINDESLIEBE UND WEHRLOSIGKEIT SIND KEIN ERFOLGSREZEPT FÜR DEN FRIEDEN
DER WELT. Wehr- und gewaltlos waren in diesem Jahrhundert Millionen von Juden, als sie
ermordet wurden, ohne dass damit sogleich die Welt friedlicher geworden wäre.
Feindesliebe führt manchmal geradewegs ins Leiden - wie bei JESUS oder dem Lehrer Georg
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Maus oder bei Martin Luther King. - Aber in dieser wehrlosen Liebe leuchtet etwas auf von dem
verlorenen Paradies und dem kommenden Königreich Gottes.
Menschen, die nicht aus der Kraft Christi leben, können wir diesen Weg nicht aufzwingen. Aber
wir können versuchen, sie für diesen Weg zu gewinnen.
Von ihm sagt der berühmte Geiger YEHUDI MENUHIN:
"LIEBE ALLEIN, NICHT HASS, KANN DIE WELT HEILEN!"
Darum, liebe Schwestern und Brüder in Ost und West: Es reicht Jesus nicht aus, wenn wir unsere
Gegner lediglich erdulden und links liegen lassen. Gehen wir ihnen doch schon heute einen
versöhnlichen Schritt entgegen! Und der Friede Gottes, der höher ist alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus
Jesus, unserem Herrn. –
Amen
© Albrecht Weber 2009
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