375_431_BIOsp_0410.qxd 386 09.06.2010 10:47 Uhr Seite 386 W I S S E N SCH AFT Genetik des Hörens Mausmodelle für Taubheit und progressiven Gehörverlust HELMUT FUCHS 1 , SIBYLLE WAGNER 1 , VALERIE GAILUS-DURNER 1 , MARTIN HRABE DE ANGELIS 1, 2 1 INSTITUT FÜR EXPERIMENTELLE GENETIK, HELMHOLTZ ZENTRUM MÜNCHEN 2 LEHRSTUHL FÜR EXPERIMENTELLE GENETIK, TU MÜNCHEN Im ENU-Maus-Mutagenese-Projekt des Instituts für Experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum München werden interessante Mausmutanten als Modellsysteme für menschliche Krankheiten erzeugt. Darunter befinden sich Mausmodelle, die dazu dienen, progressiven Gehörverlust und Taubheit genauer zu untersuchen. In the ENU mouse mutagenesis project at the Helmholtz Zentrum München valuable mouse mutant lines for the investigation of deafness, progressive hearing loss and vestibular defects are generated and analyzed. The mutant lines from the project are highly requested by the scientific community. Screening nach Mausmutanten ó Im ENU-Maus-Mutagenese-Projekt des Instituts für Experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum München werden mittels ENU(Ethylnitrosoharnstoff)-Mutagenese Mausmutantenlinien erzeugt. Insgesamt wur- den mit dieser Technologie nahezu 1.000 Mausmutantenlinien generiert. Im Dysmorphologie-Screen des Projekts [1] werden Mausmutanten mittels anatomischer Untersuchungen auf offensichtliche Krankheitssymptome verschiedener Organsysteme identifiziert. Dabei wird auch darauf geachtet, ob die Mäuse charakteristische Bewegungen zeigen, welche auf Veränderungen des Innenohrs schließen lassen: Dies können eine abnormale Gangart, das Stereotypie-artige im Kreis Laufen oder ein Kopfnicken sein. Mittels einer Clickbox (ein Gerät, welches für einen Sekundenbruchteil einen Ton einer Frequenz von 20 Kilohertz abgibt) wird ein Hörtest durchgeführt (Abb. 1). Eine normal hörende Maus sollte bei diesem Test einen sogenannten „Preyer-Reflex“ zeigen. Dies ist ein kurzes Zucken der Maus, bei dem die Ohren leicht nach hinten gekippt werden. Eine abweichende Reaktion der Maus lässt auf ein verändertes Hörvermögen schließen. Internationale Zusammenarbeit Die weitere Charakterisierung der Mausmutanten mit Hörverlust und Innenohrdefekten erfolgt in Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Instituten. Ursprünglich wurde in zwei ENU-Mutagenese-Projekten am Helmholtz Zentrum München und am Medical Research Council (MRC) in Harwell nach interessanten Mutanten geforscht. Diese werden an das Institut Pasteur in Paris bzw. an die Universität Tel Aviv zu weiteren Untersuchungen weitergeleitet. Am Medical Research Council in Nottingham bzw. am Sanger-Zentrum in Hinxton können zusätzlich spezielle Untersuchungen durchgeführt werden. Methoden für die detaillierte Charakterisierung von Mausmodellen ˚ Abb. 1: Maus beim Hörtest mit einer Clickbox. In Bezug auf die Gehörmutanten können zu deren genaueren Charakterisierung als weiterführende Tests die Präparation des Ossiculums (Hammer, Amboss, Steigbügel), elektrophysiologische Untersuchungen, die elektronenmikroskopische Untersuchung des Cortischen Organs, der ABR(auditory brainBIOspektrum | 04.10 | 16. Jahrgang 375_431_BIOsp_0410.qxd 388 09.06.2010 10:47 Uhr Seite 388 W I S S E N SCH AFT Tab. 1: Überblick über die bisher veröffentlichten Gehör-Mutantenlinien aus dem Münchner ENU-Projekt. Name Abkürzung Chromosom Gen Referenz Tailchaiser Tlc 9 Myo6 [8], [9] Headturner, Headchuck Htu, Hdck 2 Jagged1 [10] Catweasel Cwe 12 Six1 [11] Headbanger Hdb 7 Myo7a [12] Beethoven Bth 19 Tmc1 [2] Doarad Dor 13 AP-2alpha = Tcfap2a [13] Hush Puppy 8 [5] Diminuendo Dmdo 6 miR-96 [3] Oblivion Obl 6 Atp2b2 [14] Whirligig, Floncer, Carousel (n. c.) Whi, Flo, Crsl 4 Chd7 [15] [16] [15] n. c.: Die Mutation wurde nicht explizit nachgewiesen. Tab. 2: Verknüpfung der mutierten Gene mit den beim Menschen bekannten Krankheiten. Gen Kategorie Assoziierte Krankheit beim Menschen (www.genecards.org, OMIM) Myosin VI (Myo6) Myosin Taubheit Myosin VIIa (Myo7) Myosin Usher-Syndrom Jagged1 (Jag1) Ligand des Notch-Rezeptors Alagille-Syndrom sine oculis homeobox 1 (Six1) Homeobox-Protein DFNA23, Branchio-Otic-Syndrom BOS3 chromodomain helicase DNA binding protein 7 (Chd7) Transkriptionsregulator CHARGE-Syndrom transmembrane channel-like 1 (früher transmembrane cochlea expressed 1) (Tmc1) Transmembranprotein fortschreitender Gehörverlust und prälinguale Taubheit transcription factor AP-2 alpha (AP-2alpha = Tcfap2a) Transkriptionsaktivierung Branchio-Oculo-Facial-Syndrom mikro-RNA 96 (miR-96) mikro-RNA ATPase Ca transporting plasma membrane 2 (Atp2b2) Transport ATPase stem response)-Test und die paint filling-Technik am Innenohr durchgeführt werden. Mausmutanten ermöglichen Erkenntnisse zur Biologie des Hörens Zu den bedeutendsten Mausmodellen, die über das Gehörmutanten-Projekt erzeugt wurden, zählen die Beethoven- und die Diminuendo-Mauslinie [2, 3]. Darüber hinaus sind aber unzählige andere Linien erzeugt worden. Bereits in den ersten Jahren des Projekts konnte die Anzahl der zur Verfügung ste- Taubheit henden Mausmodelle für Gehörverlust und Taubheit verdoppelt werden. Eines der ersten und bekanntesten Modelle stellt die Beethoven-Mutante dar. Heterozygote Mäuse haben einen progressiven Gehörverlust. Es konnte am Mausmodell gezeigt werden, dass der Gehörverlust mit einer Degeneration sowohl der inneren als auch der äußeren Haarzellen im Cortischen Organ einhergeht. Die Kartierung auf Chromosom 19 im Mausgenom machte eine Mutation im Tmc1-Gen (transmembrane channel- like 1) wahrscheinlich [2]. Eine T→A-Transversion in Exon 13 des Tmc1-Gens konnte letztendlich nachgewiesen werden. In einer backto-back-Veröffentlichung wurden die Daten des Mausmodells Beethoven mit einer Tmc1Mutation [2] zusammen mit Daten aus einer Humanstudie mit Patienten mit TMC1-Punktmutationen [4] gezeigt. Die Arbeit von Kurima et al. zeigte eine TMC1-Mutation in einer DFNA36(DEAFNESS, AUTOSOMAL DOMINANT 36)-Familie sowie in elf DFNB7/ B11(DEAFNESS, AUTOSOMAL RECESSIVE 7 bzw. 11)-Familien auf. Der funktionelle Zusammenhang zwischen der Tmc1-Mutation und der Haarzelldegeneration konnte jedoch nur durch die Studien am Mausmodell Beethoven herausgefunden werden. Mit der Mausmutante Diminuendo konnte zum ersten Mal nachgewiesen werden, dass mikro-RNAs auch eine Funktion für das Hören ausüben [3]. Bei den Diminuendo-Mäusen liegt eine Mutation im miR-96-Gen vor. Heterozygote Diminuendo-Mäuse haben progressiven Hörverlust, der mit Haarzellanomalien einhergeht. Homozygote Mutanten zeigen überhaupt keine Cochlea-Reaktion mehr. Für die in den Diminuendo-Mutanten veränderte miR-96 gibt es 132 erwartete Zielmoleküle. Davon konnten fünf Gene (Aqp5, Celsr2, Myrip, Odf2 und Ryk) experimentell als Targets nachgewiesen werden. Alle fünf Gene sind in den Diminuendo-Mäusen hochreguliert. Dagegen haben die in Diminuendo herunterregulierten Gene, von denen ein Zusammenhang mit dem Hören bekannt ist, keine Zielsequenz für miR-96. Aufgrund der großen Anzahl an Genen, die eine veränderte Genexpression in der Diminuendo-Mutante zeigen, der Komplexität der aufgetretenen Interaktionen sowie der Tatsache, dass viele regulierte Gene keine direkte Zielsequenz zu miR-96 aufweisen, wurde geschlossen, dass die molekularen Mechanismen, die in den Diminuendo-Mutanten ablaufen, nicht auf ein simples Wirkschema zurückzuführen sein werden. Vielmehr ist zu erwarten, dass es sich um vielfältige kleine Effekte handelt, die in einem komplexen Netz zusammenspielen. Zahlreiche weitere Mutanten wurden durch das Konsortium untersucht. Hierbei konnten die unterschiedlichsten Anomalien gezeigt werden. In der Hush-Puppy-Mutante konnten z. B. bereits äußerlich sichtbare morphologische Phänotypen beobachtet werden: eine Veränderung der Ohrmuschel sowie Veränderungen der Schädelform. Bei den Mäusen, die bereits in jungem Alter eine VermindeBIOspektrum | 04.10 | 16. Jahrgang 375_431_BIOsp_0410.qxd 390 09.06.2010 10:47 Uhr Seite 390 W I S S E N SCH AFT rung des Hörvermögens aufweisen, konnte gezeigt werden, dass Amboss und Steigbügel nicht richtig entwickelt sind [5]. Tabelle 1 zeigt einen Überblick der bisher veröffentlichten Mutantenlinien. In Tabelle 2 sind die Verknüpfungen der betroffenen Gene mit Krankheitssyndromen beim Menschen zusammengestellt. Hotspots Aus den Angaben in Tabelle 1 deutet sich die Tendenz an, dass es bezüglich der ENU-Mutagenese auf Chromosom 2 und Chromosom 4 zu sogenannten hotspots kommt. Sowohl unter den in München erzeugten Mutanten als auch bei anderen Projekten sind mehrere Mauslinien mit Veränderungen im Jag1-Gen und Chd7-Gen gefunden worden. Chd7 ist aber nicht nur in Bezug auf ENU-Mutagenese ein hotspot, sondern grundsätzlich ein Gen, von dem es schon eine große Anzahl an Mutanten gibt (siehe www.informatics.jax.org). Dies kann einerseits darauf zurückzuführen sein, dass die entstandenen Mutanten aufgrund ihres deutlichen Phänotyps (starkes Kreislaufen) sehr einfach zu erkennen sind. Da es aber eine große Menge an gene-trap-Mutanten an diesem Locus gibt, und gene-trap-Mutanten Phänotyp-unabhängig generiert werden, spricht dies dafür, dass es sich bei Chd7 tatsächlich um einen echten hotspot handelt. einem weiteren Schritt konnten zwei modifier-Loci auf Chromosom 7 und 14 gefunden werden. Der Einfluss des genetischen Hintergrunds auf den Phänotyp einer Mausmutante wurde auch in einem anderen Projekt genutzt: Da der genetische Hintergrund einen Pool von modifier-Genen darstellen kann, wurde die Beethoven-Mutante dazu verwendet, systematisch nach Genen zu suchen, die mit dem Tmc1-Gen in Wechselwirkung stehen. In einer Studie von Noguchi et al. konnten insgesamt sechs Loci auf sechs Chromosomen kartiert werden, die mit dem „Beethoven-Gen“ Tmc1 interagieren [7]. Ausblick Die bisherige Arbeit mit Mausmutanten konnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, wichtige Informationen über die molekularen Mechanismen von Taubheit, progressiven Gehörverlust und anderen Innenohrdefekten zu gewinnen. Die Erkenntnisse aus diesen Forschungsarbeiten, sowie die dadurch verfügbaren Mausmodelle stoßen weltweit auf großes Interesse. Beethoven wurde von mehreren Gruppen angefragt, um weiterführende Arbeiten durchzuführen. Darunter sind bereits erste Versuche, Ansätze für Therapien auszuloten. ó [5] Pau H, Fuchs H, de Angelis MH et al. (2005) Hush puppy: a new mouse mutant with pinna, ossicle, and inner ear defects. Laryngoscope 115:116–124 [6] Kiernan AE, Li R, Hawes NL et al. (2007) Genetic background modifies inner ear and eye phenotypes of jag1 heterozygous mice. Genetics 177:307–311 [7] Noguchi Y, Kurima K, Makishima T et al. (2006) Multiple quantitative trait loci modify cochlear hair cell degeneration in the Beethoven (Tmc1Bth) mouse model of progressive hearing loss DFNA36. Genetics, im Druck [8] Hertzano R, Shalit E, Agnieszka K et al. (2008) A Myo6 mutation destroys coordination between the myosin heads, revealing new functions of myosin VI in the stereocilia of mammalian inner ear hair cells. PLoS Genet 4:e1000207 [9] Kiernan AE, Zalzman M, Fuchs H et al. (1999) Tailchaser (Tlc): a new mouse mutation affecting hair bundle differentiation and hair cell survival. J Neurocytol 28:969–985 [10] Kiernan AE, Ahituv N, Fuchs H et al. (2001) The Notch ligand Jagged1 is required for inner ear sensory development. Proc Natl Acad Sci USA 98:3873–3878 [11] Bosman EA, Quint E, Fuchs H et al. (2009) Catweasel mice: a novel role for Six1 in sensory patch development and a model for branchio-oto-renal syndrome. Dev Biol 328:285– 296 [12] Rhodes CR, Hertzano R, Fuchs H et al. (2004) A Myo7a mutation cosegregates with stereocilia defects and low-frequency hearing impairment. Mamm Genome 15: 686–697 [13] Ahituv N, Erven A, Fuchs H et al. (2004) An ENUinduced mutation in AP-2alpha leads to middle ear and ocular defects in Doarad mice. Mamm Genome 15:424–432 [14] Spiden SL, Bortolozzi M, Di Leva F et al. (2008) The novel mouse mutation Oblivion inactivates the PMCA2 pump and causes progressive hearing loss. PLoS Genet 4:e1000238 [15] Hawker K, Fuchs H, Angelis MH et al. (2005) Two new mouse mutants with vestibular defects that map to the highly mutable locus on chromosome 4. Int J Audiol 44:171–177 [16] Pau H, Hawker K, Fuchs H et al. (2004) Characterization of a new mouse mutant, flouncer, with a balance defect and inner ear malformation. Otol Neurotol 25:707–713 Literatur Der Einfluss des genetischen Hintergrunds auf den Phänotyp Ein weiteres interessantes Ergebnis der bisherigen Arbeiten ist die Abhängigkeit des Phänotyps vom genetischen Hintergrund, auf dem sich die Mutation befindet: Es gab bereits vor der ersten ENU-Mutante eines Jagged1Gens eine Knock-out-Maus zu diesem Gen. Allerdings wurde diese Maus auf einem anderen genetischen Hintergrund erzeugt. Während die Jag1-Mutantenlinie aus dem ENUProjekt durch einen deutlichen „Kopfnicker“Phänotyp charakterisiert ist, ist dieses Verhalten bei der Knock-out-Maus nicht zu erkennen. Um den Einfluss des genetischen Hintergrunds auf den Phänotyp einer Mutantenlinie zu untersuchen, wurden in einem Experiment die Knock-out-Maus und die ENU-Mutante über mehrere Generationen gekreuzt. Kiernan et al. konnten darin zeigen, dass auch 32 Prozent der Knock-out-Tiere in der N2Generation auf C3H das charakteristische Kopfnicken aufweisen d. h. es wurde eine Rückkreuzung auf den Elternstamm durchgeführt, bei dem das Kopfnicken in den Mutanten beobachtet werden konnte [6]. In [1] Fuchs H, Schughart K, Wolf E et al. (2000) Screening for dysmorphological abnormalities – a powerful tool to isolate new mouse mutants. Mamm Genome 11:528–530 [2] Vreugde S, Erven A, Kros CJ et al. (2002) Beethoven, a mouse model for dominant, progressive hearing loss DFNA36. Nat Genet 30:257–258 [3] Lewis MA, Quint E, Glazier AM et al. (2009) An ENUinduced mutation of miR-96 associated with progressive hearing loss in mice. Nat Genet 41:614–618 [4] Kurima K, Peters LM, Yang Y et al. (2002) Dominant and recessive deafness caused by mutations of a novel gene, TMC1, required for cochlear hair-cell functions. Nat Genet 30:277–284 Kontaktadresse: Dr. Helmut Fuchs Helmholtz Zentrum München Institut für Experimentelle Genetik Ingolstädter Landstraße 1 D-85764 Neuherberg Tel.: 089-3187-3151 Fax: 089-3187-3500 [email protected] AUTOREN Helmut Fuchs Sibylle Wagner Wissenschaftlich-technischer Leiter der German Mouse Clinic am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz Zentrums München. Leiterin des ENU-MutageneseProjekts am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz Zentrum München. Valerie Gailus-Durner Martin Hrabe de Angelis Wissenschaftlich-administrative Leiterin der German Mouse Clinic am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz Zentrums München. Direktor des Instituts für Experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum München und Lehrstuhl für Experimentelle Genetik an der Technischen Universität München BIOspektrum | 04.10 | 16. Jahrgang