(„Skript“) zur Vorlesung Sommersemester 2006 „Ethik: Tradition

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Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
1
Freie Universität Berlin
Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
Institut für Philosophie
Lehrstuhl Praktische Philosophie und Ethik
Professor Dr. Dietrich Böhler
Materialien („Skript“) zur
Vorlesung Sommersemester 2006
„Ethik: Tradition versus Zukunftsverantwortung oder: sich im Diskurs
verantworten“
Ankündigung und Kommentar
Die Vorlesung gibt eine Einleitung in die Ethik. Einerseits stellt sie die wichtigsten Gedanken
und Orientierungsgehalte vor, wie sie sich seit den kulturellen Durchbrüchen der
Hochreligionen, Weisheitslehren und der hellenischen "Philosophie" als 'ethischer
Traditionsbestand' der Menschheit entwickelt haben. Andererseits zieht sie die Gedanken und
Orientierungen der Tradition, aber auch deren Distanzierung im modernen 'westlichen
Zeitgeist', nämlich die Komplementarität von subjektiver Wert- und Normenanerkennung
versus moralfreier formaler Rationalität, in einen kritischen Diskurs der Geltungsprüfung.
So stellen sich vor allem drei Fragen:
(1) Welche lebensweltlichen ethischen Orientierungen oder philosophischen Ethiken lösen
den Anspruch ein, nicht bloß als partikulare Wertorientierung einer Gruppe oder Kultur,
sondern als einsehbar verbindliche Orientierung – universal, d. h. für alle, welche allein nach
sinnvollen Argumenten suchen - gelten zu können?
(2) Läßt sich die moderne westliche Subjektivierung der Moral, ihre Entgegensetzung von
ethischer Entscheidung und moralfreier Rationalität, wie auch die moralische Entleerung der
Vernunft durch Gleichsetzung mit einer formalen (bzw. nur Mittel und Zweck
kalkulierenden) Rationalität in einem argumentativen Dialog aufrechterhalten? Kann man
diese Annahmen als glaubwürdiger Argumentationspartner aufrechterhalten – als sinnvolle
Diskursbeiträge?
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(3) Auch wenn wir den Gedankenweg der ethischen Tradition behutsam nachgehen, ja, wenn
wir ihn wohlwollend rekonstruieren als Weg zu einer 'praktischen Vernunft', welche die
Achtung der Menschenwürde und die Suche nach dem universalisierbaren Urteil zum
Inbegriff der Moral erhebt, stellt sich in der hochtechnologisch und marktwirtschaftlich
globalisierten Zivilisation doch ein neuartiges Problem, das einer 'Zukunftsverantwortung'´:
Welche individuellen Handlungsweisen und kollektiven (z. B. Konsum) Verhaltensweisen,
welche politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, welche hochtechnologischen Projekte
können ‚wir’ hinsichtlich ihrer möglichen, vielfach zeitlich und räumlich grenzenlosen,
Wirkungen moralisch rechtfertigen?
Wer ist dieses ‚Wir’? Das sind wir alle, die nachdenken und auf irgendeine Weise teilnehmen
am öffentlichen Diskurses – auch und gerade dann, wenn dieser geführt wird mit Blick auf die
Menschengattung als Teil der Natur und auf die moralische Idee der Menschheit bzw. der zu
achtenden Menschenwürde.
Für das Bachelorstudium gilt die Vorlesung zusammen mit dem 'Interpretationskurs: Aristoteles und
Kant' als Basismodul.
Zur Vorbereitung und Begleitung empfehle ich:
- Apel und Burckhart (Hg): Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001;
- Düwell u.a. (Hg): Handbuch Ethik, Stuttgart 2002;
- Hans Jonas: Fatalismus wäre Todsünde, Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im
dritten Jahrtausend. Hg. und eingeleitet von D. Böhler, Münster 2005
- Hans Jonas: Leben, Wissenschaft, Verantwortung, Hg. und mit Nachwort versehen von D.
Böhler, Reclam 2004.
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Inhalt
1
Hinführende Erörterung …. S. 5
1.1
Was heißt Zukunftsverantwortung? Die Problemdimensionen …. S. 5
1.2
Gibt es eine Brücke zwischen Tradition und Zukunfstveranwortung? Worin
besteht die geltungslogische Grundlage der Zukunftsverantwortung? ….S. 6
1.3
Faktische versus eigentlich moralische Urteilskriterien in der Aufstufung zur
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit …. S. 20
1.4
Wie beurteilen Sie jetzt Sokrates’ Argumente im „Kriton“? …. S. 40
2
Erblasten und Weichenstellungen der Philosophie. Sokrates, Platon, Aristoteles und
die Idee des Sich-im-Diskurs-Verantwortens …. S. 52
2.1
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik
oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. …. S. 52
2.2
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen. …. S. 64
2.3
Platon: Vom Dialog zur einsamen Ideenschau, vom sokratischen Diskurs zum
totalitären Kosmos-Polis-Mythos? Keine Moralbegründung bei naturalistischem
Fehlschluß, keine Verbindlichkeit ohne Diskurs. …. S. 67
2.4
Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens. Der
Gemeinschafts- und Geltungsbezug der Rede als Basis einer dialogischen
Sinnkritik. …. S. 84
2.5
Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoria-Ontologie.
Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog? …. S. 96
2.6
Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung für
den methodischen Solipsismus …. S. 106
3
Ethische Intuitionen versus moralische Kriterien seit der „Achsenzeit“ der
Hochkulturen. Jesu Liebesethik, das verantwortungsethische Defizit in der
europäischen Ethik und Max Weber …. S. 115
3.1
Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen
Komplementarität offenen Begründungsfragen …. S. 136
4
Kants metaphysisch dualistische und methodisch inkommunikative (solipsistische)
Vernunftethik – Moralität als Pflichterkenntnis und guter Wille …. S. 140
4.1
Kants Gleichsetzung des „moralischen Werts“ mit einem, „von keiner Neigung mehr
angereizten, lediglich aus Pflicht“ erfolgenden Handeln (GMS, S. 398) und Schillers
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4
Ironisierung dieses Motivrigorismus – eine reductio ad absurdum? …. S. 150
5
Probleme der normativen Ethik: Begründung und Bedeutung von ‚Moral’,
‚Verantwortung’ und ‚Zukunftsverantwortung’ …. S. 156
5.1
Nach Kant: Das Problem eines logisch universalen Prinzips der Moral und seiner
Orientierungsfähigkeit …. S. 156
5.2
Abschluß der „Kritischen Summe“ aus Kant. Wolfgang Kuhlmann, Karl-Otto Apel
und Hegels Formalismuskritik. Oder: Die Selbstaufhebung des Kategorischen
Imperativs in ein „Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit" und der
solipsistischen Vernunftethik in eine kommunikative Diskurs- und folgenbezogene
Verantwortungsethik …. S. 164
5.3
Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit …. S. 179
5.3.1 Die Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft …. S. 179
5.3.2 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit als Verbindlichkeitsbedingungen von
Normen und Geltungsbedingungen von Handlungen bzw. Beschlüssen …. S. 179
6
Was heißt moralische Mitverantwortung für die Zukunft in der hochtechnologischen
Zivilisation? …. S. 189
6.1
Jonas versus Diskursethik – zwei Antworten auf die wissenschaftlich-technologischen
Herausforderungen der praktischen Vernunft …. S. 193
6.2
Jonas’ metaphysischer Begründungsversuch, Kants „Faktum der Vernunft“ und das
dialogische Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit …. S. 211
6.3
Welche Risiken lassen sich verantworten? Jonas’ Gedankenexperimente: die
„Heuristik der [moralischen] Furcht um den Menschen“ und „das Element der Wette
im Handeln“ …. S. 221
6.4
Gehalte des Moralprinzips und der Sinn von ‚Verantwortung’ …. S. 227
6.5
Moralprinzip und regulative Ideen oder: Dialektik von Bewahrung der Gattung und
Fortschritt in der Verantwortung …. S. 229
6.6
Verantwortung primär als Fürsorge oder primär als Rechtfertigung im öffentlichen
Diskurs? Moralphilosophie und demokratischer Rechtsstaat …. S. 235
7
Sich-Verantworten im Dialog …. S. 246
7.1
„Wo bist du?“ Sokratische Kohärenz und Glaubwürdigkeit des Diskurspartners.
Moralische Orientierungskraft der Dialogreflexion …. S. 248
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5
I 1 Was heißt Zukunftsverantwortung?
Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden
Situation 1980 nach Apel und Böhler, Funkkolleg
Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen
menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren
Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel oder Mesobereich der
Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppeninteressen bzw. Nationalinteressen
vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der
Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart
und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals,
daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und
Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu ethischen Problemen des Makrobereichs zu
werden: Z.B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer
Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde;
und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und
ihrer militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der
Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern
auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.
Situation 2006 – mit Blick auf Jonas (1978!)
Dramatisierung des Atomproblems, von der Mesoebene her: Konflikt der nördlichen
Atommächte mit Iran (angeblich mit dem Irak Sadam Husseins)
Dramatisierung des machtstrategischen Verhältnisses der Mesoebene durch Terrorismus
Dramatisierung von Makrobereichsproblemen (z.B. Ozon, Erwärmung, Wasserprobleme und
–mangel, Welthunger, Feinstaub)
Ein vierter Verantwortungsbereich, die Tiefendimension der Verantwortung für Gehalt und
Verbindlichkeit des Moralprinzips entsteht durch die Unterordnung allgemeiner moralischer
Orientierungsbegriffe wie >Menschenwürde< und Intuitionen wie >Ehrfurcht vor dem
Leben< unter besondere Interessen des Mikrobereichs (Heilungs-, Kinderwunsch) oder des
Mesobereichs (technologisches Industrieinteresse)
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I 2 Gibt es eine Brücke zwischen Tradition und Zukunftsverantwortung? Worin besteht die
geltungslogische Grundlage der Zukunftsverantwortung?
Eine solche Brücke scheint es in der Tat zu geben. Denn es deutet sich in der abendländischeuropäischen Denktradition eine Einsicht an, die sich dank jener kommunikationsbezogenen
Denkweise der Gegenwart, die wir „Diskursphilosophie“ nennen können, so weit ausarbeiten
lässt, dass sie geradezu das geltungslogische Fundament der Zukunftsverantwortung bildet.
Diese Einsicht besteht aus drei Elementen:
(a) Zu allem, was Du tust und was du erlebst, bist du schon im Begriff Stellung zu nehmen.
(b) Indem Du Etwas als etwas Bestimmtes tust oder erlebst, hast Du auch die Möglichkeit,
einen Diskurs über die Bedeutung und Begründung deiner Handlungsweise und deiner
Erlebnisinterpretation zu führen. Das „Ich führe einen Diskurs“ muss alle deine Handlungen
und Erlebnisse begleiten können.
Du sollst einen solchen Begleitdiskurs so führen, dass für dein Urteil, das ein Ergebnis dieses
Diskurses ist, die besten Argumente sprechen. So nämlich, dass dein Urteil bzw. deine
Handlungsmaxime die Zustimmung all derer verdienen, die nichts als sinnvolle Argumente
gelten lassen und ernsthaft nach dem besten Arument suchen. Dein Urteil bzw deine Maxime
soll der Zustimmung einer unbegrenzten idealen Argumentationsgemeinschaft würdig sein.
( c) Dass Du Dich so verhalten sollst, ist eine nicht sinnvoll bezweifelbare Pflicht; ja die
Pflicht der Pflichten. Es ist die Diskurs- bzw. Vernunftpflicht. Aus diesem Sollen leiten sich
auch die moralischen Pflichten ab. Denn in ihm ist das Prinzip der Moral enthalten und ineins
damit das der Zukunftsverantwortung. Warum? Es handelt sich um das Prinzip des Sich-imDialog-Verantwortens gegenüber allen möglichen sinnvollen Argumenten zur Sache mithin
auch jener, die von künftigen Argumentationspartnern geltend gemacht werden können.
Die beiden ersten Elemente aus (a) und (b) dieser dreigestuften Einsicht bilden den Anfang,
das heißt die Grundlage des Philosophierens. So bezeichnet der Anfang der Philosophie den
Ort, an dem wir alle, die etwas als etwas Bestimmtes tun und erleben, der Möglichkeit nach
immer schon sind. Dieser unser permanente Möglichkeitsort ist der Diskurs.
Gleichviel, ob wir einen Diskurs, eine stellungnehmende begründende Erörterung in realer
Anwesenheit Anderer mit den Anderen führen (als Dialog) oder ob wir alleine (in einem
Monolog) über etwas nachdenken, stets befinden wir uns in einem dialogförmigen Verhältnis.
Dieses hat einen sozialen Beziehungsaspekt und einen Geltungsaspekt, der seinerseits logisch
und sozial ist.
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Die soziale Beziehung ergibt sich daraus, daß wir denkend oder sprechend eben (leise oder
laut) mit jemandem sprechen. Dabei nehmen wir für das Gesagte bzw. Gedachte in Anspruch,
es sei wahr oder richtig. Daraus erwächst das Geltungsverhältnis der Rede. Auch wenn wir
einen solchen Anspruch nicht direkt gegenüber jemandem erheben, so bezieht er sich doch,
logisch betrachtet, auf mögliche Andere, die ihn verstehen und prüfen könnten und die ihm
ggf. zustimmen würden: der logische Bezugspunkt für die Geltungsansprüche unserer
ausgesprochenen oder unausgesprochenen Gedanken ist die nicht begrenzbare Gemeinschaft
all derer, die ihren Sinn verstehen und ihren Wahrheitsgehalt bzw. ihre praktische Richtigkeit
prüfen bzw. erkennen könnten.
"Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem andren, oder mit sich, wie mit einem
andren …" sagt Wilhelm von Humboldt und stellt die duale Struktur, die Dialogförmigkeit
des Sprechens und zugleich damit die des Denkens fest;1 denn dieses ist ein leises Sprechen.
In diesem Sinne fährt er fort:
"Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher
Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und
Erwiderung bedingt."2
Wer immer etwas denkt, der "spricht" (zumindest leise), und wer spricht, der ist dadurch in
ein dialogförmiges Verhältnis eingetreten; insofern ist er im "Dialog". So nennen wir im
allgemeinen und in diesem Text einen sozialen Sinn- und Handlungszusammenhang, der auf
der (immer möglichen und von den Beteiligten immer schon vorausgesetzten)
Wechselseitigkeit von Anrede und Erwiderung, Anspruch und Erwartung beruht.
Hingegen soll dann von argumentativem Dialog, von Argumentation oder von Diskurs, in
dem allein Gründe, also Argumente, zählen, die Rede sein, wenn der Geltungsaspekt im
Vordergrund steht. Das ist immer dann der Fall, wenn der besondere Geltungssinn eines
Gesagten berücksichtigt wird; etwa, indem Andere einen Zweifel dagegen vorbringen oder
einen Einwand bzw. ein Gegenbeispiel. Dann sind Gründe oder weitere und bessere Gründe
für das Gesagte gefragt: der Sprecher, die Sprecherin soll den Anderen Rede und Antwort
stehen; ein Dialog der Argumente ist eröffnet – ein Diskurs im terminologischen Sinne der
Diskurspragmatik und Diskursethik.
In meiner Erörterung werde ich immer dann von „Dialog“ sprechen, wenn es primär um das
soziale Verhältnis zwischen Sprechern geht, um ihre gemeinsame Hintergrund-Praxis, die sie
1
Humboldt, "Über den Dualis" in: 1963, Bd. III, S. 137 f. und in: Schriften zur Sprache, Stuttgart: Reclam 1995
, S. 24.
2
Ebenda, 1963, Bd. III, S. 138 und in: Reclam 1995, S. 24f.
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wie eine Institution mit Rollen und Normen verbindet. Demgegenüber bevorzuge ich den
Ausdruck „Diskurs“, sofern die kognitive Form und epistemische Ebene der
Geltungsrechtfertigung z.B. als Wahrheitsprüfung im Vordergrund steht. Ich verwende
„Diskurs“ insofern synonym zu „Argumentation“. Diese Begriffsverwendung läßt sich durch
folgende Figur veranschaulichen.
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[Figur 1]
Dialog (als Interaktionsform)
reziproker sozialer Sinn- und Handlungszusammenhang:
Sprecher
Hörer
"Ich" als etwas Behauptender und
"Du" als etwas vom Sprecher
Versprechender,
Erwartender, und
zugleich als wirklicher und möglicher
zugleich als möglicher
Hörer, der seine Rede kontrolliert und
Sprecher, der etwas behaupten und
die Erwiderung erwartet
versprechen würde
Diskurs (i. S. von Argumentation)
reziprok strukturierter logischer Sinnzusammenhang:
Argumentation(en) zur Begründung
als Rechtfertigung/ Prüfung
der Geltung (Wahrheit oder Legitimität)
einer Rede (Sachverhaltsaussage oder
Handlungsorientierung bzw. Norm)
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Es ist gut möglich, daß sich mittlerweile Widerspruch regt und das in der Kapitelüberschrift
angefragte "Du" zu Wort kommen will. Vielleicht ist es, geneigte Leserin, geneigter Leser, Ihr
eigener Widerspruch, den ich mit meinem Ansatz bei dem Diskurs herausfordere. Sie könnten
– als Opponentin bzw. Opponent "O" – dagegen etwa Folgendes einwenden.
O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs,
sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die ohne
Kommunikation vollzogen werden oder doch stumm vollzogen werden können. Zum
Beispiel: wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen
Diskurs zu führen.
Darauf würde ich – als Proponent "P" – mit folgender Erwiderung antworten.
P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise
kommunizierst, wenn du stumm bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du
Sprachzeichen und Begriffe einer Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als
Sinnhintergrund deiner Handlungsweise voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst
du mit diesen Beispielen nicht ins Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu
meiner These, daß du auch in der Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist.
O: Nanu, das sollte mich wundern!
P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es
allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es
jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser
Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine
Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du
mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen
auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden.
O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen?
P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig
machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die
Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren,
demonstrierst, daß du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst
durch dein 'Es Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner
Rechenhandlungen ein.
O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer
bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch
einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte
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demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein
anstelle des Diskurses?
P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die
Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen
der Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne
aktualisierbaren Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn
eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der
Praxis kontrollieren und kritisieren können usw.
O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte
etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir
passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs.
P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich
keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; du hast ihn im
Hintergrund. Analog verhält es sich mit allen anderen Verhaltensweisen – und auch
Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben bzw. später darüber reden und dich
somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und genau das hast du soeben ansatzweise
bereits getan, indem du solche Begebnisse sprachlich ausgedrückt und als etwas
charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich bin in einer Stimmung oder in einer
Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem du sie als etwas bestimmt hast, was
du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst hast diese Beispiele schon als
Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse anschließen lassen; und zwar von
innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese erfahren ein Widerfahrnis nur
insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich, Stellung nehmend, zu diesem
Begebnis oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung nehmende Sich Verhalten ist
bereits ein Begleitdiskurs.
O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs?
P: Ja, wir sind immer schon zugleich im Diskurs oder doch betreffbar und befragbar als
Diskursteilnehmer, weil der Diskurs das ständige Begleitphänomen unseres Lebens ist als
Ort unseres Verstehens und Verantwortens.
O: Hierzu stellen sich aber eine ganze Reihe von Fragen, und es lassen sich im einzelnen
wohl manche Einwände vorbringen.
P: Gewiß. Vieles bleibt zu diskutieren und im Diskurs zu erkennen; ganz im Sinne der
Hauptthesen dieser Einleitung und Grundlegung: der Diskurs ist das normative
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Fundament sowohl der Philosophie, wie auch der Lebenswelt. Und das kann
grundsätzlich jeder Mensch einsehen und zur Orientierung fruchtbar machen.
Vorgriff: Philosophieren als Sich im argumentativen Dialog Verantworten
Es ist kein purer Zufall, daß aus der Anfangsgeschichte der Philosphie eine Gestalt herausragt,
die zum Inbegriff des argumentativen Dialogs, des kritischen Diskurses, geworden ist:
Sokrates (469 – 399 v.Chr.). Denn ohne den sokratischen Ansatz einer Klärung, Prüfung und
Kritik der Meinungen im Dialog und ohne die sokratische Etablierung des argumentativen
Dialogs als Instanz der Geltung wäre in dem kulturellen Schmelztiegel Athen zwar
mancherlei zusammengeschossen, Rhetorik und Dichtung, sophistische Bildungsbewegung
und kosmologische Spekulation bzw. Metaphysik, Mathematik und Musik, Architektur und
Plastik – und all das in Vollendung; aber "Philosophie" als Liebe zu einem Wissen, das sich
als Wissen ausweisen kann und soll, mithin Philosophie als Kritik, als Methode und
Werkzeug der Vernunft, wäre ohne den Ansatz bei dem argumentativen Dialog nicht geboren
worden. Es wäre dann z.B. bei einer Metaphysik als bloßer Spekulation geblieben.
Sokrates und sein Lieblingsschüler, der junge Platon (427 – 347 v.Chr.), ertasteten die
methodische Praxis des dialégesthai (διαλέγεσθαι), der gemeinsamen Untersuchung von
Meinungen, die als Thesen, als Beiträge zu einem Dialog vorgebracht und damit distanziert
werden, so daß sie – ohne Ansehen der Person und allein durch Argumente – geprüft werden
können. Die Prüfung hat das Ziel, Allgemeines herauszufinden: Allgemeines, das gültig ist –
wahr oder richtig.3 Gesucht wird die gut begründete und daher allgemeingültige Auffassung
zu einer strittigen Frage. Diese Suche verstehen Sokrates und Platon nach dem Muster einer
gerichtlichen Vernehmung, Untersuchung und Urteilsfindung, benennen sie daher auch mit
einem juridischen Terminus: Elenchos – Prüfung, Beweisführung.
Der springende Punkt einer solchen Prüfung ist es, daß sie einen Härtetest darstellt, weil ihr
selbst Kriterien innewohnen, Geltungsmaßstäbe, anhand derer eine Meinung und insoweit
auch ihr Vertreter geprüft werden. Sokrates und Platon tasten sich vor allem zu einem
fundamentalen Maßstab vor, der zugleich die Bedeutung einer moralischen Norm hat, weil er
den Vertreter einer Meinung bei seiner Wahrhaftigkeit bzw. Ernsthaftigkeit als Zeuge bzw.
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Dazu unübertroffen die Einführungen von Gottfried Martin: Martin 1978, Martin 1974 und Martin 1967.
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als Argumentationspartner packt. Dieser Maßstab ist die Selbstübereinstimmung im Sich
Unterreden bzw. im Dialog.4
Die Diskurspragmatik hat im Anschluß daran eine Formel der dialogisch verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit möglicher Argumentationspartner entwickelt: Das letztliche Kriterium für die
Gültigkeit einer Meinung oder einer Maxime bzw. Handlungsweise sei deren Verträglichkeit
mit der Rolle des Partners in einem Dialog, worin nach allen sinnvollen Argumenten der zu
beurteilenden Situation/Sache gesucht wird.
Diese Formel schließt das Problem der Zukunftsverantwortung ein, weil sie auch sämtliche
Ansprüche möglicher Betroffener, für die sinnvolle Diskursbeiträge, gute Gründe,
vorgebracht werden können, berücksichtigt. Denn es ist, geltungslogisch gesehen, eine
universalistische Formel.
Freilich hat Platon keine solche, dem Geltungssinne nach, streng universalistische Formel
aufgestellt. Was der, in manchen Dialogen Platons von Sokrates vorgetragene
Selbstübereinstimmungsgrundsatz genau besagt, ist nicht so leicht zu fassen bzw. nicht auf
eine eindeutige Formel zu bringen. Auch geht es uns hier nicht um Platonphilologie, sondern
darum, den Sokratischen Duktus fruchtbar zu machen. Dann bietet sich diese
(diskurspragmatisch aktualisierende) Interpretation an: Im Elenchos wird der Opponent darauf
hingewiesen, daß sein Rede, seine im Dialegesthai vorgebrachten Meinungen (als Aussagen),
nur dann im Dialog Sinn machen, d.h. nur dann als Diskursbeiträge verstanden und
beantwortet werden können, wenn sie mit seiner Rolle als Argumentationspartner
übereinstimmen. Was daraus im einzelnen folgt, wollen wir später untersuchen. Einstweilen
begnügen wir uns mit zwei, drei Vorgriffen bzw. ersten Annäherungen: Sinn macht eine
Meinung im Diskurs nur dann, wenn ihr Bedeutungsgehalt widerspruchsfrei ist, so daß alle
ihn (erstens) nachvollziehen bzw. verstehen und (zweitens) jetzt auch diskutieren bzw. prüfen
können. Auf diese Konkretion des sokratischen Sinnkriteriums steuert Platons Schüler
Aristoteles zu. Außerdem macht ein Dialogverhalten nur dann Sinn, wenn jemand eine
Meinung nicht bloß behauptet oder viele Worte darüber macht, sondern wenn er ernsthaft,
also kooperativ und diszipliniert, mit den Anderen nach dem besten Argument zur Sache
sucht. Dafür scheint Sokrates zu stehen.
Zur Philosophie konnte es kommen, weil die Sokratische Schule eine dialogbezogene
Sinnkritik ertastete, wenngleich diese geniale Errungenschaft von Platon in einen
kosmologischen, zunehmend seinstheologischen Zusammenhang gestellt und dadurch ent4
Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klinge, und daß noch so
viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und
mir widersprechen sollte.“ Gorgias, 482c.
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dialogisiert worden ist. Immerhin war der Sokratische Anfang sinnkritisch und in eins damit
dialogethisch genug, daß Platon zumindest in die Nähe eines methodisch wie moralisch
äußerst bedeutsamen Grundsatzes gelangen konnte: eines Grundsatzes, der Logik und Ethik,
Methode der stimmigen Rede und Lehre vom richtigen Handeln verbindet; und das nicht
irgendwie, sondern wohlbegründbar – ja m.E. letztbegründbar. Zwar gibt uns Platon weder
eine hinlänglich klare oder gar zufriedenstellende Formulierung eines solchen Grundsatzes,
noch führt er eine zureichende Begründung durch. Aber er gibt doch faszinierende Hinweise
… So können wir den frühen und mittleren Platon in diskurspragmatischer und
diskursethischer Perspektive folgendermaßen interpretieren: Oberste Maxime sei es, daß alle
relevanten Verhaltensweisen und Entscheidungen im Einklang (Homologie) mit der Rolle
eines Diskurspartners stehen sollen, der im Miteinander-Argumentieren nach dem besten
Logos (Argument, Grund, Satz) sucht – wie Sokrates es sich zur Gewohnheit gemacht habe.
An hervorgehobenen Stellen, im Frühdialog Kriton (46b4ff.) und im mittleren Dialog Gorgias
(482b, c) läßt Platon seinen Dialogführer Sokrates in dieser Richtung argumentieren und mehr
oder weniger in diesem Sinne agieren.
Entfaltet, begriffen und zum methodischen Fundament gemacht wurde jene Verbindung
freilich – bis gestern – so gut wie nicht. Die Philosophie ging theoretische Wege, zunächst
den Weg der Metaphysik als Theorie des Seienden bzw. des Seins, dann den auf die
Erkenntnismöglichkeiten eines Subjekts oder Bewußtseins überhaupt gerichteten Weg der
Erkenntnistheorie. Und sie beschritt diese Wege vornehmlich in einer nicht reflexiven,
sondern von sich selbst bzw. von der jeweiligen Praxis des Philosophierens absehenden, allein
auf das Problem als auf einen Gegenstand sehenden, Einstellung. Eine solche
themenkonzentrierte Einstellung, die absieht von dem, was ein Philosoph tut, indem er ein
Problem zu lösen versucht, können wir „theoretische Einstellung“ nennen. Damit haben wir
sie unausdrücklich (implizit) unterschieden von jener komplementären Einstellung, in der
man auf sich und das, was man beim Problemlösen usw. schon tut, achtet und sich fragt, was
man dabei wiederum voraussetzen muß. Was aber tut man? Man kommuniziert in einer realen
Sprache und Sprachgemeinschaft, indem man Fragen und Behauptungen an andere stellt –
und an sich selbst wie einen anderen. Diese rückbezogene Perspektive nimmt eine reflexive
Einstellung hinsichtlich des, alle Theorie immer schon begleitenden, sprachlichen und damit
kommunikativen Handelns ein; sie bezieht sich auf die handlungsträchtige, die „pragmatische
Dimension“ (von griechisch πράγµα oder πράξις für Handeln), welche wissenschaftlich beim
Theoretisieren, Analysieren und alltäglich, z.B. beim Arbeiten oder Spielen, mehr oder
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weniger hintergründig mit dabei ist. Und sie ist nicht nur irgendwie mit dabei, sie trägt den
Sinn des Ganzen, wie das folgende Schema veranschaulicht.
15
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16
Die semiotischen Sinn-Dimensionen von Sach- bzw. Situationsbezug der Rede und ihrer Pragmatik im Rücken
Erläuterungen:
dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u.
Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“
S2, 3,
referentiell-semantische Dimension.:
Situations- bzw. Sachbezug
...
pragmatisch-semantische Dimension.:
Wortgebrauch
Z
Z
SxÆ∞
Z
Syntaktische
Dim.∗
Sit
Z
S1
Z
Sn, n 1, n 2,
...
geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlichen
Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“
Sit
Z
S1
Situation bzw. Sache
Sprachzeichen
Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes bzw. in Bezug darauf
S1
_____________
Z
pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendun
Sprechers/Denkenden
S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞
dialogisch-pragmatische Dimension der Erhebung und Prüf
∗
Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen)
steht, mitzudenken.
Denn ein sprachlicher
Geltungsansprüchen:
Begleitdiskurs
Ausdruck (Zeichen) steht nie allein, da er (es) nur in Bezug auf andere verständlich ist.
Z .............................. Sn, Sn1, n2 ...
geschichtlich-pragmatische Dimension der Vermittlung und
Institutionalisierung von Sinn
Sn, Sn1, n2 ...
lebensweltliche Sprachgemeinschaft, von der jeder schon Si
Bedeutung übernommen hat
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S2, 3, ...
S xÆ ∞
handelndes Subjekt
faktische Argumentations- und
Kommunikationsgemeinschaft
kontrafaktische Argumentationsund Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ...
17
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
18
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
19
Die Aufdeckung jener kommunikativ pragmatischen Hintergrunddimension, zu der Sokrates,
Platon und z.T. auch ihr Schüler Aristoteles bereits ein wenig beigetragen haben, ist durch die
sprachpragmatische Wende der Philosophie im 20. Jahrhundert – mit bahnbrechenden
‚Vorläufern’ wie Wilhelm v. Humboldt (1767-1835) und Charles Sanders Peirce (1839-1914)
– auf die philosophische Agenda gesetzt worden. Die Begründung der Diskursethik oder
Kommunikations- und Dialogethik ergibt sich, indem man die pragmatische Dimension
zunächst
systematisch
aufzudecken
versucht
(Rekonstruktive
Pragmatik5
oder
6
Transzendentalpragmatik ) und alsdann diese Aufdeckung der Rekonstruktion in einem
reflexiven Dialog daraufhin prüft, ob sie sich noch mit einem sinnvollen Argumentationsbzw. Diskursbeitrag in Zweifel ziehen läßt oder nicht (Diskurspragmatik als reflexive
Sinnkritik). Verstrickt sich der Zweifelnde mit seiner Zweifelsbehauptung in einen
Widerspruch zwischen dieser geltend gemachten Aussage und der Rolle eines Partners im
argumentativen Dialog, so ist die Zweifelshandlung gescheitert, also der Zweifel an dem
fraglichen Rekonstruktionsergebnis X sinnlos. Dasjenige aber, welches sich nicht mehr
sinnvoll bezweifeln läßt, das gilt (sofern es auf der ganz elementaren pragmatischen Ebene
der internene Diskursbedingungen angesiedelt ist) unbezweifelbar, das ist letztlich gültig oder
letztverbindlich.7
Die skizzierte Denkfigur der dialogreflexiv sinnkritischen Begründung – wir werden sie
eingehend diskutieren – ist der Angelpunkt der Diskurs- oder Transzendentalpragmatik, die
Kants „transzendentale“ Frage: >Welches sind die internen, konstitutiven Bedingungen der
Möglichkeit der Erkenntnis?< auf die Kommunikation bezieht und damit sehr bescheiden,
nämlich so stellt: >Welches sind die Bedingungen des Sich Verständigens?< Oder: >Welches
sind die Sinnbedingungen der Kommunikation? Welche Bedingungen müssen erfüllt werden
können, damit ‚meine’ jeweilige Kommunikationshandlung für andere verständlich ist als
Beitrag in dem hier und jetzt mit ihnen geführten Diskurs?<
5
D. Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. 1985, bes. Kapitel V und VI
K.-O. Apel: Transformation der Transzendentalphilosophie, in: Transformation der Philosophie, Band II,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, S. 155-435. W. Kuhlmann, Letztbegründung, 1985. W. Kuhlmann und D.
Böhler (Hg.): Kommunikation und Reflexion, 1982. D. Böhler, D. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.): Die
pragmatische Wende, 1986. W. Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik, 1992. Ders.: 1992a.
7
W. Kuhlmann, Letztbegründung, 1985, bes. Kap. 2. Ders in: 1992a, S. 270ff. D. Böhler: Rekonstruktive
Pragmatik, S. 365f.
6
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
20
In dieser Weise, dialogbezogen auf sich selbst zurückzufragen, ergreift die Diskurspragmatik
die große Chance der sprachpragmatisch sensibilisierten Philosophie, nämlich abzukommen
von der kommunikations- und dialogvergessenen theoretischen Einstellung, um eine
dialogreflexive Einstellung zu gewinnen und dank dieser in sokratisch dialogischer Manier
eine Ethik des Sich im Dialog Verantwortens zu begründen.
1.3
Faktische versus eigentlich moralische Urteilskriterien in der Aufstufung zur
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Rekonstruktion der pragmatischen
Dimensionen kommt, insbesondere seit der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der
Formalpragmatik bzw. Diskurstheorie von J. Habermas, erscheint der argumentative Diskurs
als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft.8 Die Vernunft wird nun
entmythisiert. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition,
entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf,
als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu
erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogische Praxis, Geltungsansprüche zu erheben
und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ
verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis
von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und
das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei
sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre,
weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven
Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen
Diskursethik.9
8
K.-O. Apel, „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in:
Transformation, Band 2, S. 358-435. Ders., Studieneinheit 4 und 20, vgl. auch 1-3, in: Funkkolleg Studientexte 1
und 2.
J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des
kommunikativen Handelns, Frankf./Main 1984, S. 353-440
D. Böhler, STE 11 und 26, vgl. auch 12 und 13, in: Funkkolleg Studientexte 2 und 3.
Ders., Rek. Pragm. (1985), bes. S. 296ff, 335ff und 359ff.
9
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a.M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders., Das Apriori der
Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 358-435.
D. Böhler, Rek. Pragm. (1985); J. Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders.,
Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M.
1991; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985).
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
21
Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft.
Wenn die Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen
Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine, sondern zugleich
die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann ist es auch kein bloßes Kriterium der
Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm. Warum? Weil jeder, der nach
Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlöre und den möglichen
Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung gewähren könnte, wenn er die
Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage stellte, welches fordert: ›Suche einzig nach
solchen
Urteilen
und
Handlungsweisen,
die
selbst
in
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Situation gleichermaßen gehört worden
wären, begründete Zustimmung fänden.‹
In dieser Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen
Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer
„Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen
Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence
Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead
sowie John Dewey erarbeitet hat.10 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und
Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h.
Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat. Den Rahmen jener
Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“ Annahmen. Von G.H. Mead
entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die Menschen lernen, sich zur Welt in
der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über diese, symbolisch vermittelte,
Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir besitzen ein Selbst gerade insoweit,
als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen können.“11
Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer
Fragen
und
Konflikte.
Darüberhinaus
enthält
sie
–
und
das
ist
die
zweite
entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des moralischen Beurteilungskriteriums:
die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von
kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch
10
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung
(1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Garz, Kohlberg (1996)). K.-O.
Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des
moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte I ,1984 (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre
1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
22
universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die
stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium
moralischer Urteile.
Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel
zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf
Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.12 Das Verhältnis von idealtypischer
Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis
beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann
überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde,
phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann
jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen,
was Moral sein sollte.“13 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als
„Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie)
und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.14
Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose
Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen
Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie
wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw.
moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch
sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf
Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst
verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit
noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was
es heißt, moralisch zu sein.
Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird
man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe
11
G.H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität.
Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hrsg. v. H. Kellner, Frankfurt a.M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders.,
Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25.
12
Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses
bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, Schriften I,
Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff. Und: Peirce, Schriften II, Vom
Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankf. /M. 1970, S. 153ff und ebenda: „Vorlesung 7: Pragmatismus und
Abduktion“, S. 365ff.
13
Kohlberg, „From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of
moral development” in: Theodore Mischel (Hg), Cognitive Development and epistemology, New York 1971, S.
151-235. (Zit. bei Garz, Kohlberg, 1996, S. 38).
14
Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg, 1996, S.
37-42 und 49ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
23
leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und
Erläuterung dessen, was sich da entwickelt.
Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und
Performanz und auf dessen Idee der linguistischen Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß
die empirische Untersuchung der moralischen Entwicklung sich nicht stark von der
empirischen Untersuchung der grammatischen Entwicklung unterscheidet; diese geht aus
einer linguistischen Theorie grammatischer Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und
revidiert die formale linguistische Theorie. Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht
Sokrates’, daß man keine psychologische Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend
erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“15
Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn moralisch sei bzw. heiße, der
Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene Erläuterungsfrage, auf welche die
Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben wird, jeweils antworten, sei es auch
nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die systematisierte Aufstufung von
Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein.
An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick
auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum
moralisch sein?’ beantworten kann.
Als transzendental Fragender, die quaestio iuris
stellender Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die
„den Grund einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.16 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg
den Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des
moralischen Sollens als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur
Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, zeichnet
Kohlberg eine solche Begründung als rein moralische aus, die das Prinzipienniveau einer
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Darin sieht er das letztliche,
wenngleich eher kontrafaktische, Telos einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils.
Freilich versteht er es, wie Kant und Rawls, ganz im Sinne der methodisch akommunikativ
denkenden Traditionslinie – als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame
Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das
bleibt zu diskutieren.
15
Vgl. das Manuskript Kohlbergs: „General Preface, in: Essays in moral development“, 1978. Zit. n. Garz,
Kohlberg, 1996, S. 44.
16
Kant, GMS, Akademie-Ausg., S. 389.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
24
Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte
Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ –
angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen.
Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und
beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.17 In den gegebenen
Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der
gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren
Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle
Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als
Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der
abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die
um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die
stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und
verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.18 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich in
dieses Stufenschema der moralischen Urteilsentwicklung fassen:19
17
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f.
A.a.O., S. 100 f.
19
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974)), S. 100 f.
18
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
25
Ebene
Basis der moralischen Wertung
Entwicklungsstufen
I präkonventionelle
Ebene
quasi physische
Geschehnisse/Handlungen und
Bedürfnisse
1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung
und Gehorsam
2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller
Gegenseitigkeit (do ut des)
1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko
II konventionelle
Ebene
Übernahme guter und richtiger
Rollen, Einhalten der konventionellen
Ordnungen und Erwartungen
anderer
(Übergangsstufe 4 ½)
III
postkonventio
nelle Ebene
Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit
faktisch oder potentiell (
Gedankenexperiment) gemeinsamen
Normen, Rechten, Pflichten
3 Orientierung an vorbilden und konkreten
Tugenden mein Gruppe. Konformität
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von
Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst
willen. Rücksicht.
2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen
5 Legaistische Orientierung am Sozialvertrag i. S.
des Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl)
6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem
Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit: ideale wechselseitige
Rollenübernahme (z. B. kategorischer
Imperativ)
mögliche Regressionstendenzen
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
Stufen der Moralentwicklung nach Kohlberg
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f. und: From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and
Epistemology, New York 1871, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W.
Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays …
26
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
27
Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch
soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische
Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische
Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das
Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die
Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung
gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen
anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3.
Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein
Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen
Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt
werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle,
bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das
prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen
Urteilsbildung.
Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist
„die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der
Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen
zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der
Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei
dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“
Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der
Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der
Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,20 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch
kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen
einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch
einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen
Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven
Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein
Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene
Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose
Relativierungstendenz
und
ein
regressives
„,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“,
das
Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
28
dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist,
weil alles als erlaubt gilt. 21
Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten
Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung
zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten
Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und
Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft
werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die
Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die
Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können.
Die
Prinzipienorientierung
charakterisiert
Kohlberg
als
„postkonventionelle“
bzw.
„nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für ganz unangemessen. Suggeriert diese
Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw.
Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon
aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen
Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive
Vorstellung, die (auch) von Kohlbergs Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also
nicht gehen. Vielmehr kann eine prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als
Auseinandersetzung mit den sozialen bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen
bzw. egozentrierten Orientierungen gedacht werden. Auch besteht ja die moralische Funktion
von Prinzipien gerade in der kritischen Prüfung, welche Relevanz autonom Urteilende dem
einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der anderen sittlichen Konvention
begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen sollten. Aus diesem Grunde ist es
angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von
„postkonventionell“ spricht.
Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit
Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung
vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“
20
Ebd., S. 101.
Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff. E. Turiel, Adolescent
conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in cognitive
psychology: The Loyala symposium, Washington, D. C., 1973, S. 231-249; ders., Conflict and transition in
adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert, J. Habermas, G.
Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269.
21
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29
ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden
moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert,
z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest,
nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er
in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen,
daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘
definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der
Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die
moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie
schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen
Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).22 „Auf prinzipieller Ebene
besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als
gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten
Reziprozität“23.
Führt
man
Kohlbergs
Programm
einer
Sukzession
der
Ausdifferenzierung
und
Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei
Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das
metakonventionelle
biblische
Verständnis
der
Sozialordnung
als
Sitten-
und
Gemeindeordnung im Sinne des Sinai-Bundes mit dem „Bundesbuch“ der 10 Gebote als Stufe
5½
berücksichtigt.
Warum?
Hier
fallen
die
utilitaristischen
Untertöne
einer
Nutzenvereinigung weg; die Orientierung an dem, was gerecht und gut ist, die Achtung des
menschlichen Lebens, die Nächstenliebe und das Vertrauen auf einen Gott, dessen
Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsieht und auf dessen Güte Verlaß ist, treten in den
Mittelpunkt – und motivieren zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit einem Gott,
der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10, 12-21 und 32, 1-4; Josua 24;
Micha 6, 8; Psalm 119 etc.
Sodann ist die Prinzipienstufe 6 derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem
Anspruch gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit; was aber solange nicht eigentlich der Fall ist, als die moralische Prüfung
nicht selbst der Gegenseitigkeit entspricht, sondern akommunikativ angesetzt wird.
Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes.
S. 387ff, 410 und 430f.
22
Vgl. G. H. Mead, Mind, Self and Society. Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankf./M.
1968).
23
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
30
Schließlich muß die idealisierende Prinzipienfrage (6), ob eine Handlungsmaxime
überhaupt, nämlich unter Dialogpartnern, argumentativ zustimmungswürdig sei, im Blick auf
viele Handlungssituationen geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch aufgestuft werden. Zum Beispiel immer dann, wenn die Urteilenden
Verantwortung für anvertraute Schwächere bzw. Klienten tragen und dabei nicht voraussetzen
können, daß sie es in der Realität stets mit moralischen Handlungspartnern und
moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben werden. Wenn ein solches ‚Max-WeberProblem’ ansteht – und das ist nur ein verantwortungsethisches Musterbeispiel –, dann stellt
sich die prinzipienbezogene Verantwortungsfrage (7): ,Welche strategischen Gegenmittel
bzw.
konterstrategischen
Mittel
sind
unter
bestimmten
moralrestriktiven
Handlungsbedingungen für Diskurspartner zustimmungswürdig und also verantwortbar,
wiewohl sie das Gewissen und die moralische Identität der So-Urteilenden belasten müssen?‘
Überdies ist eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit durchaus mit der
feministisch von Carol Gilligan, politisch von Max Weber und zukunftsethisch von Hans
Jonas geltend gemachten Fürsorge- und Verantwortungsperspektive vereinbar, welche nonreziproke Handlungsbedingungen in der Realität berücksichtigt. Im Blick auf asymmetrische
und moralrestriktive bzw. nonmoralische Handlungsbedingungen fordert diese Perspektive
Konterstrategien ein. Doch müßten diese nach Maßgabe der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit rechtfertigbar sein. Wie anders sollten sie als moralisch und daher als
verantwortlich gelten können? Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und
Karl-Otto
Apel
eingeforderten,
Übergangs
von
der
„Gesinnungsethik“
zu
einer
„Verantwortungsethik“. Dieser Übergang schließt eine Identitätskrise auf Stufe 6 ein.
Hierbei handelt es sich um die eigentliche Moralkrise. Sie ergibt sich aus dem Konflikt einer
gesinnungsethischen Auffassung von der Anwendbarkeit des Moralprinzips einerseits und
einer verantwortungsethischen, und zwar moralstrategischen Auffassung andererseits. Zur
Lösung dieses Konflikts bedarf es zweierlei: logisch ist eine neue Fragestellung erforderlich,
um das Moralniveau der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit realitäts- und folgenbezogen zu
differenzieren, motivational und psychologisch sind eine hohe Konfliktbereitschaft und eine
starke Fähigkeit zur Selbstdistanzierung vonnöten.
Seelisch
heikel
ist
die
Findung
eines
moralischen
Distanzverhältnisses
zur
gesinnungsethischen Identität auf Stufe 6. Denn das gesinnungsethische Einssein von
anerkanntem Moralprinzip und ‚meinem’ Selbstverständnis als moralischer Person muß
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
31
aufgehoben werden in das verantwortungsethische Selbstverhältnis eines realistischen,
moralisch reifen Diskurspartners. Jetzt muß die Erkenntnis angeeignet werden, daß es in
nonmoralischen Handlungssituationen erforderlich ist, sich gleichsam die Hände und die
Seele schmutzig zu machen, um verantwortungsethische Konterstrategien zu suchen und diese
in praktische Urteile bzw. in Handlungsmaximen umzusetzen.
Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder
Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie also überhaupt der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung
finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 für den Verantwortlichen das
nüchtern situationsbezogene Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als
eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit als argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt in Kraft. Der Blick richtet
sich nun aber auf non-reziproke Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche
nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der
Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem
der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer Strategien“.24 Wird dieses
Problem durchdacht, dann transformiert sich die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in
eine Verantwortungsethik. Um diesen Überstieg von der unmittelbaren prinzipienethischen
Orientierung zu einer moralstrategisch gebrochenen Orientierung am Moralprinzip geht es auf
Stufe 7.
Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik
des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, kann die Frage aufkommen,
inwiefern derlei für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von Bedeutung
sei. Die Antwort ergibt sich daraus, daß erst das dritte, das kommunikationsphilosophische
Paradigma im Stande ist, Kohlbergs Idee zur würdigen und fruchtbar zu kritisieren. Mehr
noch, die soeben vorgetragene (und noch abzuschließende) Auseinandersetzung ist selbst ein
signifikantes
Ergebnis
Kommunikationsphilosophie
des
–
und
dritten
auch
philosophischen
ihrer
Paradigmas,
Weiterentwicklung
von
der
Habermas’
Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen Reflexion auf
,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird deutlich, wenn wir
24
K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar? In:
Funkkolleg Studientexte, 3, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f. Ders., The
Response of Discourse Ethics, Leuven 2001, S. 77ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
32
auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste Auseinandersetzung mit
Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren zurückblicken.
Jürgen Habermas hat (1976) den Anstoß zu einer kommunikationsbezogenen Reformulierung
von Kohlbergs höchster Stufe gegeben. Er zeigte, daß von einer verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit strenggenommen erst dann die Rede sein kann, wenn die Bedürfnisse der
Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle Überlieferung naturwüchsig
fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch angewendeten Prinzip der
Verallgemeinerung überprüft“ und damit die Bedürfnisinterpretationen „nicht länger als
gegeben angenommen, sondern in die diskursive Willensbildung einbezogen werden“25. Im
Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß Kohlberg nochmals, wie Kant mit dem
Kategorischen Imperativ, auf das einsame Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe:
„Der Einzelne überlegt sich, ob seine subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar
sind [...], aber er berät sich nicht mit anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der
Stufe 6 noch nicht die (entscheidende) „Forderung einer zwischen allen Betroffenen zu
vollziehenden Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.26
Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser moraltheoretischen
Erkenntnis eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen, nämlich die, Kohlbergs
Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik zu
belassen und dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch eine siebente Stufe der
„universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe hinzuzufügen.27 Doch ergibt
es keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der
Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
offensichtlich unterbietet – also fehlerhaft angesetzt ist.
Außerdem ist der Geltungsanspruch eines Gewissensentscheids selbst ein Anspruch auf
Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt,
wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, kaum realisieren läßt. Daher
sieht er sich zu einer kommunikationsentlasteten, mehr oder weniger einsamen Urteilsbildung
genötigt. Sein Geltungsanspruch ist aber der, „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu urteilen.
25
J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 88 und 87.
26
K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des
moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte, 1, 1984 (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre
1980), S. 62.
27
J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f. Vgl. Apel, a. a. O., S. 62f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
33
Damit hat er die Verpflichtung anerkannt, sich um das beste Wissen zu bemühen.28 Und das
beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt man durch Kommunikation mit den
Betroffenen,
das
zweitbeste
durch
Methoden
der
Interpretations-
und
Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht mögliche Gespräch über den
Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt bzw. gewollt haben, durch
sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht. Das Regulativ für die
Hermeneutik bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden Anderen:
„Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).29
Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann
muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert
werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden (Kommunikation auf
Stufe
7)
wäre
Flickschusterei.
Die
mithin
erforderliche
verständigungsbezogene
Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6 müßte zudem zwei verschiedenartige
Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses
zusammenwirft. Das ist einmal die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle
eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Das
ist außerdem die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung
zielt. In einem ersten Schritt geht es um die kommunikative Sinnermittlung als Verständigung
zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre
Situation. Zu fragen ist zunächst: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der
dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die
Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“
Erst dann, wenn wir uns durch direkte Kommunikation oder hermeneutische
Verfahren dieses Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder
praktischen Diskurs im engen Sinne zu führen. Der praktische Diskurs ist erst der zweite
Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren
Interessen und Werten so-und-so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun
wieder möglichst kommunikativ geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im
28
Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G. H- Meads Beziehung des
Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin und
sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar:
D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte, 2,
bes. S. 347-350; ders., Rek. Pragm., S. 339ff.
29
Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 276, vgl. 274ff. und in Bd. 3,
S. 858f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
34
Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Im Diskurs geht es um die
Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise.
Aus unseren Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Idee
einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen
Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle
wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule
(„Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt.
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35
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils:
Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik
Diskursebene
I
Vorkonventionell: Egoismus
Stufe der Orientierung
Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau Bezugspunkt
1 Orientierung i. S. von Ego-Intuitionen bzw. an Lustgewinn Reziprozität von Gehorsam – Freiheit
Je meine Handlung
und Machtkonformität
Strafvermeidung bzw. Belohnung (gut
Strategismus
2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit
Tauschperspektive
Instrumentell relativistische
Je meine/deine
Gegenseitigkeit (do ut des)
Handlungsweise
Reifungskrise: zur Anerkennung der Anderen und der Sozialität
II
Konventionell: Bezug auf
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden
,unserer‘ Gruppe
Soziale Identität und Anerkennung
Rollen →
gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit
gruppenbezogene
von Erwartungen in ,unserer‘Gruppe
Fürsorge
Ordnungs- und Rechtsbewußtsein:
Normensystem →
Gegenseitigkeit des generalisierten
Institutionenloyalität
persönliche Autorität und
konkrete Werte/Normen
Bezug auf
funktionale Autorität u.
Rechtsnormen bzw. –
verfahren
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und
sozialer Ordnung um ihrer selbst willen
(normativen) Anderen
mögliche Regressionstendenzen
ist, was mir nützt)
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
36
Reifungskrisen: zur Autonomie („Krisenstufe 4½“), zur Folgen- und Strategie-Verantwortung (Identitätskrise auf 6)
III
Metakonventionell:
5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des
Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl)
Gedankenexperimente
oder Diskurse über die
Politische Autonomie gegenüber der
Verfassungs- bzw.
Verbindlichkeit von Konvention und
Sozialvertrags-
Gesetz: Vertragspartnerschaft
grundsätze
5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott Theonomie mit partieller Autonomie
Bundesgrundsätze (10
Einsehbarkeit (für mich)
dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B.
gegenüber Eigeninteressen und
Gebote) und
und Zustimmungs-
19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und
Verpflichtungen von 3 bis 5:
Nächstenliebe,
würdigkeit (für alle) von
Jesus)
Korrelation mit Gott, dem Gerechten
Goldene Regel,
Kommunikative Diskurs-Einstellung
Moralprinzip ‚D’ →
Werten/ Normen/
Handlungsweisen
6 Orientierung am Gewissen und am universalen
Moralprinzip: Vom „Kategorischen Imperativ“ als
mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½,
einsamem Test der Verallgemeinerbarkeit zum Dialog-
Verallgemeinerbare Verständigungs-
Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von
und Geltungsgegenseitigkeit unter
Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein
(möglichen) Diskurspartnern
argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“
Menschenwürde und
Diskurs-Gerechtigkeit:
alle Rechtsansprüche!
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7 Ausgang von (6) mit Blick auf Menschheitsgefahren,
37
Diskurs-Autonomie gegenüber
Diskursverant-
Nichtwissen und faktische Moralrestriktionen: ‚Können
moralischen Gesinnungsmaximen (6):
wortungsprinzip →
wir als Diskurspartner die Erfolgsstrategie X moralisch
argumentative Zustimmungs-
Erfolgsbezogene
noch verantworten?’
würdigkeit im Blick auf nonreziproke
Zukunftssorge gemäß
Handlungsbedingungen
‚D’ für das
Schutzwürdige
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
Die
hier
vorgeschlagene
Entwicklungslogik
reformuliert
38
Kohlbergs
Schema
in
diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier
Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, sie kann zudem
das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½).
Drittens
bestimmt
verallgemeinerbare
sie
das
moralische
Gegenseitigkeit,
so
Prinzipienniveau
daß
auch
das
der
Stufe
6
strikt
Beurteilungsverfahren
als
nicht
monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an
die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment
durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung
an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht
und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist,
wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die naiv
idealistische
Tendenz
des
moralischen
Prinzipienurteils
aufgehoben.
Die
vierte
Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von Kommunikation,
prinzipiengeleitetem Idealdiskurs und real folgenbezogenem Verantwortungsdiskurs: Die
realistische Zukunftsverantwortung konkretisiert, der konterstrategische Erfolgsgesichtspunkt
ernüchtert die Orientierung an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die
Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden
können, zeigt die Sukzession der Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Die
faktische Orientierung bei Normenkonflikten differenziert sich im Laufe der Sozialisation, der
Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung derart, daß die Urteilenden die Frage, was
‚moralisch’ heiße, in logischer Aufstufung der Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit)
beantworten. Dieser Differenzierungsweg stellt, bis zur Krisenstufe 4 ½, einen generellen
Bildungsprozeß dar. Von dem weiteren Gelingen oder Scheitern dieser Selbstbildung hängt es
ab, ob und in welchem Grade das metakonventionelle Prinzipienniveau gewonnen wird. Der
Logik nach besteht hier eine sukzessive Differenzierung der möglichen Antworten auf die
Frage, was es heißt, moralisch zu sein; und zwar
Stufe 5: Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die
Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes,
Stufe 5 ½: Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und
Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen,
Stufe 6: Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit,
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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Stufe 7: Sich-Distanzieren von der gesinnungsethischen Harmonie zwischen Moralprinzip
und Handlungsweise und Sich-Einlassen auf verantwortungsethische Situations- und FolgenDiskurse, deren Ergebnisse, die Urteile, dem Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
genügen.
Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Sie ermöglichen es
den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf
Urteilsautonomie, sprich: auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung
der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die
wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die
normative Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise)
moralisch sein?“ Denn auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener
Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen
Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – folgende Antworten:
‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt
habe, daß andere Orientierungen mit meinen Ansprüchen, ein autonomer Diskurspartner zu
sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine moralische Identität zerstören würden.’
Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und
warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung
auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort:
‚Ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegen andere meine
Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch
genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich, ein Diskurspartner, die Pflicht habe,
meine Urteilsbildung und mich selbst an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu
orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’
Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur bzw. der von dir zu
beurteilende Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindet oder solche Handlungsnebenfolgen
nicht ausschließen kann, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in
Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der
Stufe 7: du benötigst jetzt eine Strategie der schmutzigen Hände, eine Handlungsweise, für
die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit)
keinen Konsens finden kannst, was aber deiner guten Gesinnung zuwider ist, weil du
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
40
niemanden ‚hintergehen’ willst. Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument
sucht,
mithin
letztlich
die
Geltungsgegenseitigkeit
in
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten und moralischen Diskurspartner, ob du es
sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d. h. rechtfertigen und daher sollen kannst,
die nötige Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst
du einsehen: du kannst diesen bequemen Weg nicht ernsthaft wollen. Denn er ist unvereinbar
mit deiner moralischen Identität, weil diese in letzter Instanz von deiner Übereinstimmung mit
der Geltungsgegenseitigkeit abhängt, also von deinem Einklang mit einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen
Egoismus: du würdest im Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein
gesinnungsethisches Moral- und Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten,
darüber aber deine moralische Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein
argumentativen Diskursen (konsequente Stufe 6) fahren lassen).
Weiterhin gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner
moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht
vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners
unverträglich ist, das darf er nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse
führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage
kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern,
denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß
sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.
1.4
Arbeitsunterlage
Wie beurteilen Sie nach unserer Diskussion der Kohlbergschen Entwicklungslogik Sokrates’
Begründungen seines Entschlusses, sich nicht durch Flucht der Hinrichtung zu entziehen?
(I) Der erste Grund, den Sokrates vorbringt,
bezieht sich noch nicht konkret auf die
Handlungssituation, sondern ist eine allgemeine Maxime oder Grundnorm, die den
moralischen Gehalt des Logosgrundsatzes dadurch weiterführt, daß der Grundsatz auf eine
Situation angewandt wird, in der jemandem – hier Sokrates – offensichtlich Unrecht
geschieht. Der beste Logos könne dann doch nicht in der Maxime bestehen, man solle auf das
zugefügte Unrecht seinerseits mit einem Unrecht reagieren. Denn Unrecht zu tun sei
schlimmer als das Erleiden eines Unrechts, wie es im „Gorgias“ heißen wird. Das erinnert an
den 1. Korintherbrief des Paulus und sogar (fast) an Jesu radikales Liebesgebot in der
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
41
„Bergpredigt“30: Kriton 49 a 3 - 49 e. (Vgl. Platon, Gorgias, 473 a 5, 474 b – 476 a. 1.
Korinther 6, 7 und Matthias 5, 38 ff bzw. Lukas 6, 27 ff.)
(II) Konkret – gewissermaßen al ersten Beitrag zu einem praktischen Diskurs über die Frage
„Was soll man in der Situation S1 richtigerweise tun?“ – plädiert Sokrates dafür, alle
Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat
(Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen. Er
pflichtet des Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, „daß er durch die Tat uns
gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer wir befehlen“: Kriton 51 e 4 f.
(III) Sokrates stellt seine Vaterlandsliebe als Grund heraus An ihr habe er sich ebenso wie an
„unseren Gesetzen“ stets orientiert: Kriton 51 2 – c 5.
(IV) Sokrates gibt sich und den Freunden zu bedenken, daß er durch eine Flucht seine
Freunde in die Notlage bringen kann, ihrerseits aus der Heimat fliehen zu müssen: Kriton 53 a
8 – b 3.
(V) Sokrates wirft in die Waagschale, daß er in den für ein Asyl in Frage kommenden Poleis
Theben oder Magera (vermutlich) kein gutes Leben zu erwarten hätte, weil man ihn auch dort
dann als Rechtsverächter diskreditieren könnte oder würde: Kriton 53 b 3 – c 8.
(VI) Sokrates sorg sich um seine Kinder: seine Flucht (mit Kindern) würde sie in der Fremde
zu Fremdlingen machen, wohingegen sich in Athen (nach seiner Hinrichtung) die Freunde um
sie kümmern würden. So dürften sie in Athen besser aufwachsen und besser ausgebildet
werden als in der Fremde: Kriton 54 b 2 – 4.
Einige Teilnehmer der Vorlesung haben meine Frage schriftlich beantwortet. Ihre
Stellungnahmen seien hier mit meinem Kommentar wiedergegeben.
30
Platon, Gorgias, 473 a 5, 474 b 2ff, vgl. 475 b – 476 a. 1. Korinther 6,7 und Matthäus 5,38ff bzw. Lukas
6,27ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
42
Statements
Markus Fett
I. Sokrates’ erste Begründung würde ich Stufe 6 zuordnen: aufbauend auf Stufe 5, die von
Sokrates die Einhaltung der Gesetze fordert, fügt sich bei dieser Begründung für ihn hinzu,
dass Unrecht, welches von jenen Gesetzen an ihm verübt wird, nicht erlaubt, dass er
gleichermaßen
mit
Unrecht
reagiert.
Ein
Standpunkt,
der
ganz
im Sinne
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit steht.
Kommentar Böhlers:
Entspricht Sokrates’ Maxime wirklich ganz der Prinzipienebene der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit? Das bedeutete ja, daß Sokrates den Unterschied zwischen einem
konkreten Gebot bzw. einer direkten Handlungsorientierung und dem Prinzip der zu
verallgemeinernden Gegenseitigkeit machte, daß er mithin seine Maxime anhand dieses
Prinzips (als eines Geltungskriteriums) prüfen würde, indem er fragte: ‚Ist es
verallgemeinerbar, weil ich in jeder Situation zumutbar und verantwortbar, diese Maxime
als verbindliche Handlungsorientierung aufzustellen?‘
Das wäre die verantwortungsethische Diskursfrage auf Stufe 7. Eine solche fehlt. Das
heißt: Sokrates unterstellt eine direkte, konkrete Handlungsorientierung als Prinzip, statt
daß er sie an dem Moralprinzip auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin prüfte. Das ist
rigoristisch.
II. Demzufolge steht die zweite Begründung auf Stufe 5. Stufe 4 käme eventuell auch in
Frage, doch da Sokrates in seinem Entschluß nicht schwankt, ferner vor einem Rückfall auf
niedere Stufen aus Angst weit entfernt scheint, halte ich Stufe 5 für angemessen.
Kommentar Böhlers:
Nein, es fehlt eine Legitimitätsprüfung der Gesetze im Sinne der Stufe 5, deren
Gedankenexperiment für die Bürger Grundrechte als Legitimitätskriterium des Staates und
als prinzipielle Grenze seiner Macht geltend macht..
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
43
III. Vaterlandsliebe klingt für mich eher nach Stufe 3, der Orientierung an der Gruppe, Idolen
usw. Durch den Hinweis auf die Gesetze schwingen jedoch auch die Stufen der ersten beiden
Gründe mit.
Kommentar Böhlers:
ja.
IV. Die Sorge um seine Freunde steht auf Stufe 6, vielleicht sogar 7, da er trotz ihres bewußt
eingegangenen Risikos deren Angebot nicht annimmt.
Kommentar Böhlers:
Diese Fürsorge entspricht der Gruppenorientierung von Stufe 3. Doch läßt sie sich in der
Tat auf der Prinzipienebene (6 und 7) begründen: durch eine – selbst gegenüber den
Freunden noch moralstrategische Erwägung und Entscheidung. Denn dadurch entlastet
Sokrates sie von den Folgen.
V. Im Exil kein gutes Leben führen zu können, klingt nach einer sehr niedrigen Stufe.
Vergessen darf man jedoch nicht, daß Sokrates schon aufgrund seines langen, erfüllten
Lebens gar nicht wirklich daran denkt. Sein hohes Alter läßt ihm die Entscheidung zusätzlich
leicht fallen und weist für mich sogar auf Stufe 7 hin.
Kommentar Böhlers:
In gewisser Weise – aber u.U. ausschließlich in Verantwortung für sich allein! Die
Ansprüche von Frau und Kindern ermittelt er gar nicht, sondern entscheidet sich über ihre
Köpfe hinweg. Auch fragt er sich nicht, ob es nicht eine moralische Strategie zum Wohle
der Familie sein kann, im Ausland bei gewissen Rufeinbußen und Bildungseinbußen ein
Familienleben aufzubauen. Das müßten wir uns auf Stufe 7 fragen.
VI. Sokrates Sorge um seine Kinder schließt mindestens das Prinzip der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit ein, auch wenn seine Familie vielleicht viel lieber gern (wie Sokrates’
Freune) mit ihm fliehen würden. Sokrates entscheidet einfach, was für sie das Beste wäre: es
klingt nach Stufe 6, vielleicht auch 7.
Kommentar Böhlers:
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
Sokrates
scheint
sich
methodisch
solipsistische
zu
verhalten;
44
um
Verständigungsgegenseitigkeit bemüht er sich nicht. Insofern verfehlt er das Prinzip der zu
verallgemeinernden Gegenseitigkeit im Sinne der diskursethisch differenzierten Stufe 6.
Und von einer moralstrategischen Erörterung gemäß Stufe 7 ist nichts zu sehen.
Kohlbergs eigene Zuordnung
Der Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 scheint für Sokrates tatsächlich im Mittelpunkt zu stehen,
Stufe 5 erscheint als Durchschnittswert, zumal die Gründe aus Stufe 5 in allen anderen
Begründungen mitschwingen. Da Sokrates absichtlich eine Vorbildfunktion übernimmt (eine
Flucht wäre ein schlechtes Beispiel; und nicht zu vergessen ist, daß Sokrates ja überhaupt
schon mal in die Situation der Hinrichtung gekommen ist; er ist kein blinder Anhänger von
law and order) steht seine eigentliche Motivation meiner Meinung nach auf Stufe 6, vielleicht
7.
Kommentar Böhlers:
In der Tat: Sokrates’ Motivation sollten wir der Kohlbergschen Stufe 6 zurechnen, d.h.
freilich unter Einschluß der methodischen solipsistischen Tendenz; sein Selbstverständnis
ist nicht an dem Prinzip der Verständigungsgegenseitigkeit orientiert. Nun fragen wir aber
nach den Argumenten, die er vorbringt, nicht nach seinen guten Intentionen. Wir wollen
seine Begründungen prüfen. Gibt er eine verantwortungsethische Begründung? Und wo
deutet er eine Strategie zur Verbesserung der athenischen Gesetze und Verfahren an, eine
Langzeitstrategie für mehr Gerechtigkeit in der Polis?
Die Stufe, auf welcher das moralische Handeln nach den Geboten Gottes steht, würde ich nur
im Idealfall jüdischen oder christlichen Gläubigen als Stufe 5 1/2 bezeichnen. Auf Atheisten
trifft sie nicht zu, auch wenn der Inhalt der Gebote sehr im Sinne der verallg. Gegenseitigkeit
funktioniert. Für viele Gläubige sind diese Göttlichen Gesetze jedoch gleichsam schon auf
Stufe 4 anzusiedeln, da sie bei den meisten leider noch keine eigenständige moralische
Haltung darstellen (wie auf Stufe 5 ½), sondern nur die Übernahme allg. Absichten. Diesen
Eindruck haben zumindest viele Mitmenschen bei mir hinterlassen.
Kommentar Böhlers:
Sie nähern sich hier der Unterscheidung Genese vs. Geltung. Nach jener schließt ein
Gottesbund Atheisten aus. Zu prüfen wäre, welche Gebote des Dekalogs im argumentativen
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
45
Diskurs verallgemeinerungsfähig und allgemein zustimmungswürdig sind, also für jeden, der
allein sinnvolle Argumente gelten läßt. Auch bei partikularer und exklusiver Genese kann der
normative Gehalt einer Vereinbarung universal gültig sein.
N.N.
Eingangs scheint die Argumentation Sokrates sich auf der 4. Stufe zu bewegen; besonders
wenn die Notwendigkeit unterstrichen wird, Unrecht sei in jedem Falle zu vermeiden, auch
wenn es der Rettung eines Menschenlebens dient. Die Begründung des Standpunktes mit dem
Verweis auf die Rolle des Staates als sozialer Organismus, der dem Menschen rückbindende
dankbare Verpflichtungen auferlegt, hebt den ethischen Anspruch jedoch auf die 5. Stufe,
insofern mit dem wechselseitigen Nutzen der Gehorsam begründet und in ein nachweisbares
Versprechensverhältnis eingebunden wird („Flucht als Gesetzesverletzung“)
Kommentar Böhlers:
Wird
seine
Begründung
dem
Niveau
des
Sozialvertrags
wirklich
gerecht?
Legitimitätsprüfung an subjektiven Lebens- u. Freiheits- und Grundrechten
Kohlbergs Zuordnung rechtfertigt sich gerade durch den Umstand, dass Sokrates nicht über
den Bezugsrahmen des soziozentrischen hinaus argumentiert, aber ebensowenig nicht nur
egozentrische Motive stark macht oder eben eine Unterwerfung unter das Gesetz, um der
Erhaltung der überpersönlichen Ordnung willen.
Eine ebenfalls sehr brauchbare und mit einem erstaunlichen research-Reichtum fundierte
Konzeption entwicklungslogischer Stufen ist in Don Becks „Spiral Dynamics“ beschrieben.
Ken Wilber greift sein Modell in seinem Buch „Ganzheitlich Handeln“ auf und ordnet die
letztgenannte 4. Stufe in diesem Denken dem „Blauen Meme“ zu.
Finkewitz, Filipp
Sokrates begründet die Verweigerung der Flucht damit, dass er von ihr behauptet, dass sie
unrechtmäßig ist, also die bestehende Rechtsordnung verletzt. Ihm ist die bestehende soziale
Ordnung so wichtig, dass er sich nicht gegen sie stellen will. Deshalb würde ich dieses
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
46
Argument der Kohlbergstufe 5 zuordnen, weil Sokrates sich am Gemeinwohl orientiert (und
so den Egoismus hinter sich lässt)
Kommentar Böhlers:
Ja, das tut er. Aber fragen Sie: Läßt er vielleicht auch legitime moralische Rechtsansprüche
(i.S. von Menschenrechten) und Grunderfordernissen eines Rechtsstaats bzw. eines
gerechten Rechten hinter sich? Moral und gerechtes Recht dürfen nicht der Konformität
geopfert werden.
Ein weiteres Argument ist Sokrates Vaterlandsliebe. Er fühlt sich dem Vaterland verpflichtet.
Ich würde diesen Grund er Kohlbergstufe 3 zuordnen, weil Sokrates hier auf seine Gruppe
(besser: auf seine Mitbürger und somit auf sein Vaterland) Rücksicht nimmt.
Das dritte Argument, was Sokrates gegen eine Flicht vorbringt, ist, die Gefährdung der
Freunde durch eine Flucht. Wenn er nämlich flüchtet, müßten sie auch die Stadt verlassen. Ich
ordne dieses Argument der Stufe 3 zu, da Sokrates hier auf seine Freunde Rücksicht nimmt
und sie nicht gefährden will (gruppenbezogene Fürsorge).
Kohlbergs Zuordnung zur Stufe 5 halte ich für richtig, weil Sokrates Hauptargument gegen
eine Flucht die Verletzung der sozialen Ordnung, also des Gesellschaftsvertrages ist. Sein
Verhalten richtet sich ganz an dieser Ordnung aus und deshalb nimmt er sogar den Tod in
Kauf. Er fühlt sich der Gesellschaft verpflichtet und will sich deshalb nicht über sie stellen
(Gemeinwohl).
Kommentar Böhlers:
Aber das ist auf Stufe 5 als metakonventionellem Gedankenexperiment in gewisser Weise
vorausgesetzt: Als Sachwalter von Gemeinwohl und subjektiven Freiheitsrechten
klammern
wir
als
Verfassungsbegründer
die
faktische
Verbindlichkeit/Geltung
bestehender Gesetze oder anderer Konventionen ein, um sie auf ihre Legitimität – nach
Maßgabe subjektiver Freiheitsrechte und des Gemeinwohls – zu prüfen. Ein Verzicht auf
diese kritische Prüfung bedeutete einen Rückfall auf blinden Gesetzesgehorsam i.S. von
Stufe 4 (Rechtspositivismus und Insitutionalismus).
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
47
Frau Mendenz
Sokrates
argumentiert
v.a.
gegen
Ende
des
Kriton
i.S.
konsequentialistischer
Nutznießerschaft. Als Sprößling Athens und aufgrund seiner Biographie habe er im Guten
einstweilen akzeptiert, was nun Tribut fordere. Die Apostrophierung des Rechtssystem als
von den Einzelnen anerkanntes bzw. berechtigtes, daher nun auch zu berücksichtigendes
Institut weist indes über Stufe 5 hinaus, auf den Kat. Imperative.
Kommentar Böhlers:
Wohl allein dann, wenn i.S. des Kategorischen Imperativs eine Verallgemeinerbarkeitsund Menschenwürde-Prüfung des Gesetzes vollzogen würde. Wo ist das aber hier der Fall?
Das Hades-Argument bspw. scheint mir der sog. Stufe 5 1/2 verhaftet, sich im Bund mit
einem gerechten Gott wähnend. Ausdrücklich verneint Sokrates insofern eine Vorstellung
‚ausgleichender Gerechtigkeit‘: „Unrecht und Böses mit gleichem vergeltend“. Als
Unschuldiger habe er (von dem Herrscher der Unterwelt) nichts zu befürchten.
Kommentar Böhlers:
Ja. Hier legt Platon den Gesetzen auch die Unterscheidung ‚gesetzliche Ordnung –
ausübende Menschen‘ in den Mund und unterstellt die Gesetze selbst als gerecht, schreibt
aber den sie ausübenden Menschen Unrechtmäßigkeit zu (54 b/c). Freilich: Wie steht es
mit der Gerechtigkeit einer Ordnung, die weder Berufungsinstanzen kennt noch den
Menschenwürdegrundsatz
und
subjektive
Freiheitsrecht
wie
das
der
freien
Meinungsäußerung? Ist darin nicht eine Tendenz zum Unrechttun der Menschen, die dieses
Recht anwenden, bereits angelegt? Hier müßte wohl die Mitverantwortung des
Polisbürgers als Diskurspartners (der den besten Logos sucht) für die Gerechtigkeit greifen
– in der Welt, nicht im Hades.
Außerdem ist es nicht universalisierbar, weil das Argument Atheisten nicht einbeziehen
kann.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
48
N.N.
(I) Also auch nicht der, dem Unrecht geschieht, darf Unrecht tun… Diese Begründung bezieht
sich meiner Meinung nach auf die Wahrung einer höheren Einsicht in die Ordnung bzw. das
zwischenmenschliche Zusammensein, auf der Grundlage eines besseren Wissens und dessen
Einsicht. Also: meines Erachtens nach Stufe 6.
Zu Kohlbergs Zuordnung zu Stufe 5:
Das sehe ich genauso. Denn in Sokrates Argumenten wird die höhere Einsicht in soziale
Strukturen unabhängig von der persönlichen Lage ausgedrückt. Man ordnet die eigene
Entscheidung der Einsicht in das soziale Wohl unter.
Kommentar Böhlers:
Aber: Ist diese Unterordnung in der gegebenen non moralanalogen Situation (Justizirrtum,
gravierende Willkürelemente im Polis-Recht, Fürsorgeanspruch von Frau und Kindern,
Geltungsanspruch auf den besten logos und Orientierung daran) zu rechtfertigen? Das wäre
die Anwendung des Moralprinzip auf die Situation...
Es gilt zu unterscheiden zwischen den jemeinigen partikularen Interessen versus
Verallgemeinerungsfähigen moralischen Geltungs- und Rechtsansprüchen. Die dürfen
nicht einem faktischen Gemeinwohl, das auch nur einen partikularen Stellenwert hat,
untergeordnet werden.
Kolkenbrock, Maire
Zu Sokrates’ 4. Argument
Diese Begründung würde ich der dritten Kohlberg Stufe zuordnen. Es geht hier nicht um ein
allgemeines Prinzip oder um den Nutzen der Gesellschaft, sondern um gruppenbezogene
Fürsorge. Sokrates möchte nicht, daß seine Freunde durch seine Flucht zu Schaden kommen
und verzichtet somit um das Wohl der Gruppe willen auf die Möglichkeit, sein Leben zu
retten.
Kommentar Böhlers:
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
49
Ja. Fragen Sie sich nur noch, ob sich dieses Fürsorgeargument hier nicht auch anhand des
Moralprinzips
der
verantwortungsethische
zu
verallgemeinernden
Differenzierung
Stufe
Gegenseitigkeit
7)
(Stufe
rechtfertigen,
also
6
und
auf
der
Prinzipienebene einholen ließe.
Zu Kohlbergs Bewertung
Kohlberg bezieht sich bei seiner Zuordnung wahrscheinlich besonders auf Sokrates’ zweites
Argument, worin Sokrates erklärt, er habe als Bürger der Polis deren Gesetze und Normen
anerkannt und müsse nun auch nach ihnen handeln. Diese Begründung ist wohl eindeutig der
Stufe 5 zuzuordnen, da sie sich auf das kompromißlose Einhalten der Gesetze der
Gesellschaft stützt. Auch die Begründung durch Vaterlandsliebe könnte vielleicht der 5. Stufe
zugeteilt werden, da auch sie das Allgemeinwohl zur Grundlage hat.
Dennoch kann bezweifelt werden, ob die Stufe 5 tatsächlich eindeutig im Vordergrund von
Sokrates’ Argumentation steht, da auch andere Stufe vertreten zu sein scheinen, bespw. Stufe
6 bei der ersten Begründung, die einem kategorischen Imperativ durchaus nahe kommt, aber
vielleicht sogar die Stufe 2 bei der fünften Begründung, Sokrates hätte im Exil wohl kein
allzu gutes Leben zu erwarten, was eine rein egoistische Motivation zu sein scheint.
Kommentar Böhlers:
Kohlbergs umstandslose bzw. undifferenzierte Zuordnung zur Stufe 5 überspringt den
kritischen und rechtskonstitutiven Anspruch dieser Stufe als eines metakonventionellen
Gedankenexperiments. Außerdem trägt Kohlberg nicht der Irrtumsfähigkeit einer
Verfassungsstiftung Rechnung, aus der sich ihre Revisionsbedürftigkeit ergeben kann.
Was das erste Sokratische Argument, demzufolge Unrecht nicht mit Unrecht vergolten
werden dürfe, anbelangt, so kommt es in der Tat dem Kategorischen Imperativ nahe.
Allerdings müßte diese Maxime im Blick auf die besondere Situation und die Folgen, die
ihre Anwendung unter besonderen Situationsbedingungen haben kann, ihrerseits am
Kategorischen
Imperativ,
genauer:
am
Moralprinzip
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit, geprüft werden können, um als befolgungsgültig ausgewiesen zu werden.
Vorsicht mit der Motivbeurteilung; prüfen wir die Begründungen! In der „Apologie“ gibt
Sokrates als Grund an, daß er, wenn selbst nicht Athen, noch weniger im Ausland seine
beunruhigende, die Bürger verunsichernde Diskurs-Existenz des Selbstverständnis- und
Tugend-Prüfers würde führen können. Zu philosophieren, zu befragen und kritisch zu
hinterfragen sei aber das höchste Gut, also das wahre gute Leben…
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
50
J.P Müller
Er kann – im Sinne Kants – nicht wollen, dass sein Verhalten (- sich diskursextern inkohärent
zu verhalten -) allgemeines Gesetz werde.
Denn würde es allgemeines Gesetz werden, dass man in Ausnahmefällen den selber zuvor
(zumindest implizit) zugestimmten Gesetzen (hier: denen der Stadt) zuwider handeln und
damit seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlieren dürfe, könnte bald niemand mehr
als glaubwürdiger Diskurspartner gelten.
Ich denke, zentral ist hier die (freilich nicht so formulierte) Forderung nach
diskurskohärentem Verhalten.
Man kann nicht ein Leben lang durch seine Bürgerschaft die geltenden Gesetze als
verbindlich anerkennen, um sich dann – wenn sie gegen einen selbst gewendet werden –
ihnen zu entziehen, ohne damit die eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dies scheint mir das
zentrale Argument zu sein. Die anderen Gründe erscheinen mir eher wie „schmückendes
Beiwerk“.
Kommentar Böhlers:
Ja, das Glaubwürdigkeitsargument ist zentral. Fragen Sie sich aber: Worauf ist es zu
beziehen – bloß auf den faktischen Mann Sokrates und das Faktum seiner Anerkennung
durch eine partikulare Gemeinschaft? Das wäre ein naturalistischer Fehlschluß. Oder geht
es um die Glaubwürdigkeit des Argumentationspartners Sokrates, der sich allein dem
besten logos (metakonventionell, argumentations- und prinzipienbezogen) verpflichtet
weiß?
Kohlbergs Zuordnung zu Stufe 5: Kohlberg hat mit seiner Einschätzung insofern recht, als
Sokrates die Einhaltung der sozialen Regeln betont. Dies klingt nach Stufe 5. Ich glaube, es
geht Sokrates aber um mehr, nämlich seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner (s.o.).
Die Orientierung an den Regeln ist daher geboten, weil er sie selber als gültig anerkannt hat.
Sie zu brechen, hieße, gegen die eigene Meinung zu handeln.
Kommentar Böhlers:
Verwechseln Sie hier nicht wiederum die Glaubwürdigkeit von Sokrates in seiner
Argumentationsrolle
eines
Diskurspartners
mit
der
faktischen
Identität
des
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
51
Meinungssubjekts Sokrates? Kann der faktische Sokrates sich geirrt haben? Allein aus
Zu Punkt 2)
1) der Arbeitsunterlage
diesem Faktum einer freiwilligen Anerkennung folgt nicht die Verbindlichkeit des
Anerkannten. Vielmehr muß dieses im Diskurs, nach Prüfung aller relevanten Folgen (hier:
athenisches Rechtssystem) und aller moralischen Ansprüche, als anerkennungswürdig
begründet werden können. Ist das der Fall?
E. V. Foerster
Sokrates´ Argumente - Zuordnung zu Kohlberg-Stufen
1.
Der beste Logos könne nicht in der Maxime bestehen, man solle auf zugefügtes Unrecht
seinerseits mit Unrecht reagieren. Unrecht zu tun ist schlimmer, als Unrecht zu erleiden.
Kohlberg-Stufe 6:
Sokrates orientiert sich hier an einem Moralprinzip, das für ihn, über die etwaige konkrete
Nützlichkeit für ihn selbst oder seine Gemeinschaft hinaus, absolute Geltung zu beanspruchen
scheint. Die Orientierung an universalen Moralprinzipien ist charakteristisch für Stufe 6 des
Kohlberg-Schemas.
2.
Alle Rechtsnormen, die der Polisbürger (quasi durch Sozialvertrag) anerkannt hat, seien
uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen.
Kohlberg-Stufe 4 oder 6:
Sokrates betont die Notwendigkeit ausnahmsloser Befolgung der Gesetze, ungeachtet ihres
Inhalts. Diese strikte Orientierung am Recht um seiner selbst willen ist typisch für KohlbergStufe 4. Das sozialvertragliche Element, das in diesem Argument ebenfalls eine Rolle spielt,
könnte zwar auf Kohlberg-Stufe 5 (Orientierung am Sozialvertrag) hindeuten. Es tritt m.E.
aber hinter der Forderung nach unbedingter Befolgung des absolut geltenden Gesetzes (Stufe
4) zurück: Sokrates bemüht den Vertragsgedanken hier nämlich nicht, um die Geltung des
Gesetzes zu begründen, wie dies für Stufe 5 charakteristisch wäre, sondern ausschließlich, um
seine, Sokrates´, Bindung an das als Gesetz zu begründen.
In der Begründung der eigenen Bindung an das Gesetz aufgrund konkludenten
Vertragsschlusses (mit dem Gesetz als Vertragspartner :-)) könnte aber ein Hinweis auf
Elemente der Stufe 6 gesehen werden. Die absolute Geltung des Gesetzes für den einzelnen
ist vor dem Hintergrund absoluter Moralprinzipien und des Gewissens des Einzelnen nur
denkbar, wenn dieser zunächst die Möglichkeit hatte, die Gesetzesbindung für sich zu
akzeptieren oder abzulehnen.
Kommentar Böhlers: Ja, die betätigte Autonomie des einzelnen ist eine notwendige
Geltungsbedingung eines moralrelevanten Vertrages. Schwerlich ist sie jedoch auch die
hinreichende; schon deshalb nicht, weil sich der bone fide und autonom zustimmende
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
52
Vertragspartner über die Folgen des Vertrages hat täuschen können. Spätestens in diesem Fall
steht der kommunikative Diskurs darüber an, wie der Vertrag im Lichte des Moral- und
Diskursprinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu revidieren sei.
3.
Orientierung an der Vaterlandsliebe wie an unseren Gesetzen.
Kohlberg-Stufe 4/5 ½:
Sokrates misst dem Vaterland, d.h. der Gesellschaft, welcher er entstammt, so große
Bedeutung bei, dass er ihr, wie einem Vater, absoluten Gehorsam zu schulden glaubt, selbst
wenn sie sich, wie ein Vater, willkürlich zeigt. In der Art und Weise, wie Sokrates den
Anspruch des Vaterlandes auf absoluten Gehorsam beschreibt, scheint die Legitimation des
Gehorsamsanspruches sich weniger aus einem Sozialvertrag, als vielmehr aus einem Bund
mit einer höheren Instanz herzurühren. Dies spricht für eine Einordnung auf Stufe 5 ½. Die
absolut geltende Gehorsamspflicht auch bei Willkür des Vaterlandes spricht jedoch auch für
Kohlberg-Stufe 4.
Kommentar Böhlers: Letzteres ist m.E. in der Tat der Fall. Denn sowohl Kohlbergs
Sozialvertragsstufe 5 als auch die von mir hinzugefügte Gottesbund-Stufe 5 ½ setzen
willkürfreie Begründung des Vertragsgegenstands und freie Einsicht in diese samt freier
Anerkennbarkeit des Vertrages voraus. Dieses metakonventionelle Urteilsniveau ist
unvereinbar mit einem blinden Gehorsam gegenüber law and order – „was immer die Gesetze
auch befehlen“ …
Freilich kann die Vorstellungen des Sozialvertrages – so tendenziell bei Rousseau – und
manifestiert in dessen völkischer Aneignung durch Carl Schmitt – und auch die des
Gottesbundes – so in der wilhelminischen „Thron und Altar“-Theologie eines sturen
Legalismus und rechtspositivistischen Gehorsams mißbraucht werden; was freilich auf die
Urheber dieses ideologischen Mißbrauches zurückfällt.
4.
Flucht könnte die Freunde ihrerseits in eine Notlage bringen.
Kohlberg-Stufe ?:
Kommentar Böhlers: Aber warum sollte die athenische Mehrheitsmeinung – Sokrates
disqualifiziert sie als die unwahre bzw. ungerechte Meinung „der Vielen“ - den Ehrentitel
und Geltungsrang einer ‚Gemeinschaft der Gerechten’ verdienen? Läßt sie sich denn etwa an
die (logisch) universalen Moralprinzipien messen?
Dies sind jedenfalls nicht, wie Sie mit einem Kategorienfehler formulieren, „in“ einer
faktischen Gemeinschaft lokalisierbar, sie verweisen auf die ideale
Argumentationsgemeinschaft des „universe of discourse“ (Mead).
5.
Befürchtung, auch im Exil als Rechtsverächter diskreditiert zu werden und möglicherweise
kein gutes Leben zu haben.
Vordergründig Kohlberg-Stufe 3, eigentlich Kohlberg-Stufe 6: Das Argument stellt auf die
(möglicherweise fehlende) Akzeptanz und Anerkennung einer für maßgeblich gehaltenen
Gruppe ab. Dies ist typisch für die 3. Stufe des Kohlberg-Modells. M.E. stehen hinter diesem
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
53
Argument jedoch „höherwertige“ Überlegungen: Tatsächlich geht es Sokrates um die
Meinung der Bürger, die noch berechtigter Weise bestimmte gemeinsame Grundsätze
vertreten können, während er, Sokrates, nach seiner Flucht diese Grundsätze verraten hätte
und damit aus der „Gemeinschaft der Gerechten“ ausgeschlossen wäre. Es geht also um die
Geltung universaler Moralprinzipien in einer Gemeinschaft, die sich über die gemeinsam
gehaltenen Moralprinzipien definiert.
Kinder wären nach einer Flucht Fremdlinge, während sie in Athen besser aufwachsen dürften.
Kohlberg-Stufe ?:
Ob man in diesem Argument die „erfolgsbezogene Zukunftssorge für das Schutzwürdige“ im
Sinne der Stufe 7 sehen kann erscheint mir zweifelhaft, da es hier nicht um die moralische
Verantwortung für unbekannten künftige Gefahren geht, sondern schlicht um die Abwägung
konkreter, vorhersehbarer Nachteile für die eigenen Kinder, die für Sokrates in gleicher Weise
ein Rolle spielen dürften, wie absehbare Nachteile für seine eigene Person.
Michael Schock
(1)
Sokrates geht mit der Aussage, Unrecht nicht mit Unrecht zu vergelten, über die Stufe
2 der Ich-Orientierung mit Tauschperspektive hinaus und mahnt die Einhaltung von
positivem Recht an (Stufe 4)
Kommentar Böhlers:
Ja. Doch welche Stufe nimmt Sokrates dabei selber ein? Er gibt doch eine Begründung für
die Einhaltung von Recht und Ordnung – auch angesichts ihrer Verletzung (durch das
Rechtssystem). Diese Begründung steht ja nicht selber auf Stufe 4, sondern gibt offenbar
ein höherstufiges Kriterium an, das besagt, wie man sich im Konfliktfalle zu den Normen
eines Rechtssystems (also zu dem normativen Gehalt von Stufe 4) verhalten solle.
So stellt sich hier die Frage: Wie charakterisieren Sie seine Maxime, man dürfe ein
Unrecht nicht mit einem anderen vergelten, nach ihrem geltungslogischen Status?
(2)
Als Polisbürger weist Sokrates darauf hin, dass die Gesetze im Austausch von
Argumenten entstanden sind und durch den Sozialvertrag (Stufe 5) gestützt werden.
Der Einzelne könne sich am besten mit der Orientierung an Stufe 6, auch Stufe 7
in diesen Gesetzgebungsprozess einbringen. Damit ist eine Grundlage in Richtung
einer idealen Argumentationsgesellschaft geschaffen. Die Einhaltung dieser Normen
(Stufe 5-7) ist damit höher zu werten als die bloße Befolgung von positiven Normen.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
54
Kommentar Böhlers:
Gut. Nur warum sollte man sagen, daß Sokrates hier auf den Stufen des Moralprinzips (6
und 7) urteilt? Das würde doch bedeuten, er unterschiede strikt zwischen der
(kontrafaktischen) Ebene der Moral-Kriterien und der moralischen Grundnorm einerseits
und der faktischen Ebene von Gesetzen, Verfassungen etc. andererseits, um nun deren
moralische Geltungswürdigkeit zu prüfen. Das tut er freilich nicht, sondern schließt aus
dem Faktum des athenischen Sozialvertrags auf dessen Geltungswürdigkeit. Ein
naturalistischer Fehlschluß – mit rechtspositivistischen Folgen.
(3)
Die Vaterlandsliebe ist als Bezugspunkt zu einer Gruppe auf Stufe 3 angesiedelt. Nur
wenn das Vaterland, wie das für Sokrates im Falle der grundsätzlich
argumentationsbereiten Polis zu sein scheint, zusätzliche Bezugspunkte der Moral
beinhaltet, kann dieser Orientierung über die Stufe 3 hinausweisen.
Kommentar Böhlers:
Ich stimme zu. Doch erweist sich diese Polis im Prozeß gegen Sokrates als
„argumentationsbereit“? Was würde Argumentationsbereitschaft voraussetzen?
Doch wohl zumindest zweierlei:
a) Anerkennung und Berücksichtigung des ebengenannten Unterschieds zwischen
Prinzipien/Kriterienebene und Ebene der faktischen Ordnung, die wiederum von den
konkreten Urteilen, die bei ihrem Verfahren gesprochen werden können, abzuheben
wäre.
b) Einsicht in die mögliche Verbesserungsbedürftigkeit einer faktischen Normen- und
Verfahrens-Ordnung; daran anschließend die Anerkennung der Fehlbarkeit eines
Urteilsspruches (im Sinne jener Ordnung), die auch dann bestünde, wenn die Ordnung
ideal wäre.
(4)
Die gruppenbezogene Fürsorge für die Freunde kann in Stufe 3 eingeordnet werden.
Kommentar Böhlers:
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
55
Gewiß. Zudem ließe sich die – freilich implizite – Begründung, warum Sokrates eine
Flucht mit Blick auf seine Freunde ablehnt, auch als Argument im Sinne der realen
Folgenberücksichtigung und im Sinne der Zumutbarkeit entfalten. Dann läge eine
Rechtfertigung der Fürsorge (gemäß Stufe 3) auf der verantwortungsethischen
Prinzipienstufe 7 vor…
(5)
Eine Orientierung an Ego-Intuitionen (Stufe 1) wie einem guten Leben würde Sokrates
in anderen Städten verwehrt werden. Ein Grund dafür ist, dass er sich als Teil der
Argumentationsgemeinschaft, seiner Polis mit seiner Mißachtung, der von Ihm [im
Diskurs] akzeptierten Regeln, unglaubwürdig machen würde (Verweis auf Stufe 6
möglich).
Kommentar Böhlers:
Unglaubwürdig machte sich Sokrates als Teil der faktischen Athener und vielleicht der
faktischen Thebener bzw. megarischen Kommunikationsgemeinschaft. Doch inwieweit
handelt es sich dabei um eine Argumentationsgemeinschaft, nicht zu reden von einer
reinen Argumentationsgemeinschaft, von der gälte, daß sie nichts als sinnvolle Argumente
anerkännte und zudem nach dem besten sinnvollen Argument zur Sache suchte?
Ohne diese geltungslogische Ebenendifferenzierung liefert sich Sokrates einen
naturalistischen Fehlschluß aus; er verwechselt die faktische Anerkennung seiner
Glaubwürdigkeit in den Augen seiner Mitbürger mit der (letztlich geltungswürdigen)
Anerkennung als Diskurspartner durch andere strikte Argumentationspartner.
(6)
Neben der Sorge um die eigenen Kinder (Stufe 3) würde ich Sokrates Prüfung der
besten Argumente im dialogischen Sinne einer idealen Argumentationsgemeinschaft
verstehen wollen, dann würde eine Zuordnung auf Stufe 6 möglich.
Kommentar Böhlers:
Ja und Nein. Sie hätten, im Blick auf die Kinder, ganz Recht, wenn man einiges
ausklammert. Z. B., daß er nicht nach den Ansprüchen seiner Frau fragt, die er einfach von
den Freunden nach Hause bringen läßt. Z. B., daß er seine Kinder nicht selbst anhört oder
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
56
mögliche Anwälte seiner Kinder einbezieht (seine Frau, seine Freunde…); er überspringt
also unser Prinzip der Verständigungsgegenseitigkeit auf Stufe 6.
Zur Berücksichtigung der idealen Argumentationsgemeinschaft (als der letztlichen
Geltungsinstanz) würde es zudem gehören daß Sokrates sich auch um sich selbst sorgte,
und zwar in doppelter Hinsicht: als Anspruchssubjekt mit den moralischen
Rechtsansprüchen auf Menschenwürde und Gerechtigkeit aber auch als Adressaten
derjenigen moralischen Pflichten, die an der Rolle des Argumentations-Partners haften.
Klar ist, daß wir mit diesen unseren Fragen und Beurteilungen über den faktischen Athener
Horizont teilweise hinausgehen. Philosophisch aber mit dem Recht der Wahrheits- bzw.
Richtigkeitssuche – und historisch nicht einfach überfordernd, sondern den logischen und
ethischen Universalismus fortsetzend, den Sokrates selbst, etwa mit dem Logosgrundsatz,
und z. B. egalitäre Syskisten wie Antiphon31 vertreten haben.
(zu Kohlbergs Einordnung Stufe 5) Unter Kriton 51 b 5 – b 6 sagt Sokrates, ein Vaterland
müsse man „…überzeugen, oder tun, was es befielt“.
Dieser Satz kommt etwas ausführlicher unter Kriton 51
c 1 – c 2 zur Geltung: „…tun, was der Staat gebietet und
das Vaterland, oder es überzeugen, was eigentlich Recht
sei?“ An diesen kleinen Stellen wird auf das
Mitwirkungsrecht bei Rechtsnomen durch
überzeugungskräftige Argumentation hingewiesen (Stufe
5), im Gegensatz zur sonst im Text eher unkritischen
Akzeptanz von Gesetzen (Stufe 4).
Kommentar Böhlers:
Das ist eine feine Differenzierung gegenüber meiner eigenen Kritik.
31
Zu Antiphon und zu Anonymus Jamblichi: K.-O. Apel, „Zur geschichtlichen Entfaltung der Vernunft… (I)“,
in: Ders. u. a., (Hg.), Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 74-80.
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Zum Beschluß, ohne Kommentar
Bernadette Herrmann (Mitarbeiterin der Edition Werkausgabe Hans Jonas)
(I)
Grundsatz: „Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun“. (Kriton 49 a-e)
Stufe 6: Gewissensorientierung. Test der Zustimmungswürdigkeit der Maxime. Im
Zentrum des Blicks scheint jedoch eher die Unversehrtheit der eigenen Seele als das Wohl
aller Betroffenen zu stehen. Reine Gesinnungsethik. Maxime wird nicht als regulatives
Prinzip gehandhabt und aus verantwortungsethischen Gründen distanziert (etwa wenn es um
Leben und Tod oder das Wohlergehen Mitbetroffener geht), sondern rigoristisch gehandhabt.
(II)
„Rechtsnormen sind einzuhalten.“ (Kriton 51 e)
Stufe 5: insoweit Sokrates von der Idee des Sozialvertrags her argumentiert.
Diese beinhaltet aber die Möglichkeit der Revidierung von Gesetzen, sie gelten nicht als
sakrosankt. (siehe allerdings 52 a – Verweis auf diese Möglichkeit)
Regression auf Stufe 4: Rigorismus von Law and Order, faktisch geltende Gesetze
sind zu halten
Evtl. Stufe 7: Athener Demokratie/Rechtsstaat als Fürsorgegegenstand, im Sinne der
Perspektive der Bewahrung von schon realisierten Diskursbedingungen (Athener Demokratie
zu sehen als real existierende Verkörperung mit menschlichen Fehlentscheidungen, aber eben
ansatzweise verwirklichte ideale Kommunikation in verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit)
(Möglicherweise falsche Situationseinschätzung, Überbewertung der eigenen Wirkung auf die
Gesellschaft im Sinne einer durch seine Gesetzesuntreue zunehmenden Korruption...)
(III)
Vaterlandsliebe und „unsere Gesetze“ (Kriton 51 a-c)
Stufe 3: Orientierung an den Werten und Normen der eigenen Lebenswelt; von hier
aus faktizistischer Fehlschluß auf
Stufe 4: Befolgungswürdigkeit „unserer Gesetze“ mit Argumentationsumweg auf
Stufe 5: Akzeptanz des Sozialvertrages (allerdings durch faktisches NichtAuswandern)
(IV)
Verantwortung für Freunde (Kriton 53 a-b)
Stufe 7: Verantwortungsethische Argumentation, allerdings solipsistisch verkürzt. Die
Freunde sind bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, werden aber als Diskurspartner nicht
ernstgenommen. Rein asymmetrische Fürsorgeverantwortung.
(V)
Kein gutes Leben im Asyl (wegen schlechten Rufs) (Kriton 53 b-c)
Stufe 1: Vorkonventionelle Orientierung am persönlichen Glück.
Stufe 3: Verlust der Gruppe und der mit ihr geteilten Werte und Normen
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Stufe 7: (Bezug: schlechter Ruf): Argumentation vom Verlust der
Diskursglaubwürdigkeit
her:
Verantwortungsperspektive:
Sokrates
sieht
seine
Glaubwürdigkeit und damit sein Lebenswerk, seine Dialog- und seine metakonventionelle
Hinterfragungspraxis, also seine Wirkung in Richtung auf mehr Metakonventionalität und
Verständigungsgegenseitigkeit in Gefahr.
(Diese Sicht ist an fallible Situationseinschätzung gebunden: Sokrates geht davon aus, daß
seine Flucht von den meisten als motiviert im Sinne von Stufe 1 bis 3 interpretiert würde,
nicht im Sinne von 7, und daß er persönlich wirklich eine so starke Wirkung hat, die
unabhängig von ihm nicht glaubwürdig von seinen Schülern fortgeführt werden kann. Weil er
so mißverstanden werden kann, entscheidet er sich wegen seiner Verantwortungspflicht gegen
eine Flucht.)
In der Apologie ist es Platon auch sehr um seine Glaubwürdigkeit zu tun. Er will die Richter
rein argumentativ zu einem Freispruch bewegen und nicht mit Emotionen bzw. emotionalem
Druck agieren und auch aus Todesfurcht nicht von seinem Grundsatz abweichen.
(Gesinnungsethische Orientierung an Stufe 6 statt verantwortungsethische an Stufe 7).
Sokrates hebt seine Wohltaten als kritisches Regulativ der athenischen Institutionen hervor
(getrieben von seinem Daimonion, der Stimme des Gottes des Orakels in Delphi,
vermeintliches Wissen als Nichtwissen zu entlarven – Sokrates als Weisester: im Besitz des
Wissens seiner eigenen Unwissenheit).
Nach dem für ihn vernichtenden Urteil kann er einen Gegenantrag stellen: Eigentlich meint
er, verdiente er für sein Tun als Wohltäter Athens eine Belohnung: nämlich die Speisung im
Prytaneion.
Verbannung als Strafe abgelehnt, denn ein Leben ohne Prüfung und Erforschung, ohne
Selbstreflexion und ohne Dialog ist nicht lebenswert. (Aufgrund von dieser Entscheidung
wäre eine Flucht umso unglaubwürdiger.)
Sokrates beantragt allerdings die Zahlung einer Strafsumme, um dem Todesurteil zu entgehen
(also kein vollkommener Rigorismus, Verantwortungsethik bis zur Grenze des Verlusts der
moralischen Identität, nämlich der Glaubwürdigkeit als Diskurspartner – gemäß der
Sokratischen Situationseinschätzung).
(VI)
Verantwortung für die Kinder (Kriton 54 b)
Stufe 3: Institutionelle asymmetrische Fürsorgeverantwortung. Verantwortung des
Familienoberhauptes für seine Kinder. Situationseinschätzung fallibel. Solipsistisch verkürzt,
Kinder und andere Betroffene
werden nach ihrer Situationsinterpretation nicht gefragt.
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2
Erblasten und Weichenstellungen der Philosophie. Sokrates, Platon, Aristoteles
und die Idee des Sich-im-Diskurs-Verantwortens
2.1
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik oder:
Sokrates’
Vorwegnahme
und
Verfehlung
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit.
In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der
Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses
berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man
kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die
Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit
Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I)
es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede,
Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."32
Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers
jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins
Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein
individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte
vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende,
argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich ausdrücklich auf das
Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht. In der
Tat nimmt Platons Text bzw. die Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen
Elenchos zwei Rollen in Anspruch: die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet
und will (Ich I), und die Diskurs-Rolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige
Gründe, gelten lassen will (Ich II). Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch
er im Abendland und in Europa zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser
beiden Rollen. Im „Gorgias“ spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an,
was sein Gesprächspartner, der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als
philosophische Verrücktheit. Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra
oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir
uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir
[scil: , der ich der Philosophie obliege,] widersprechen sollte.“33
32
33
Platon, Kriton, 46 b.
Platon, Gorgias, 482 b/c.
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Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis
des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von
Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht?
Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen
Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht,
dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu
werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)?
In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide
Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in
Einklang bringt, indem er sich in der Praxis (Ich I) an das hält, was er im Diskurs (Ich II)
erkennt.34 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des Sokrates mag man die
sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch eine Kohärenz von
‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da Sokrates das Streben
nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu verkörpert, wird er durch die
Jahrtausende als moralisches Vorbild anerkannt. Jenes Kohärenzstreben hat Sokrates, wie
Karl Jaspers es ausdrückt, zu einem „maßgebenden Menschen“ gemacht.35
Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die
ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis
einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der
Diskursbegriff,
verliert
seinen
Verpflichtungsgehalt
und
damit
seine
ethische
Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf,
die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den
bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw.
für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche
Konsequenz.36 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als
Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt.
Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein
durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen
rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen
Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog –
34
Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D.
Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51.
35
K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127.
36
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff.
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passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in
Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu
gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt
der „Diskurspragmatik“37, wie ich die Begründungsreflexion der Diskursethik nenne.
Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten
Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich
beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann,
unterstellen wir, ihr fehle nichts und sie sei unmißverständlich – im Sinne von Gadamers
„Vorgriff der Vollkommenheit“.38 Wenn wir nämlich darüber hinwegsehen, daß dieses
Votum eine subjektive Evidenz zum Gültigkeitsmaßstab macht, daß es auch nicht auf die
Unterscheidung achtet zwischen dem Ergebnis eines zufälligen faktischen Diskurses und dem
eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten Argumentationspartnern, die alle
relevanten Argumente zur Situation hinlänglich berücksichtigt hätten, dann lassen sich daraus
auf den ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für die Verbindlichkeit einer Aufforderung
herausheben. Denn der Sokratische Dialog bringt Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht
irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, sondern unhintergehbar sind.
Warum unhintergehbar? Sie haften an jener Kommunikations-Rolle, die man dadurch
übernommen hat, daß man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen Gedanken, ein Gefühl,
ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und dadurch, daß man diesen
Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung (sich und anderen
gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines Diskursteilnehmers, der zugleich
die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern? Nun, diese Rolle wird getragen von generellen
dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle im Diskurs haben. Sie sind allgemeingültig,
weil sie zu den Sinnbedingungen jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen
Klärung gehören: es sind normative Voraussetzungen, ohne deren Anerkennung ‚meine’ und
‚deine’ Beteiligung an einer Überlegung sinnlos wäre – ein unverständliches Verhalten, so
daß andere Diskursteilnehmer nicht wissen könnten, woran sie mit mir sind. Denn ihre
Diskurserwartungen beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ zuhören und mit ‚mir’ im Gespräch
sind, erwarten regulär von ‚mir’, daß ich die konstitutiven Diskursbedingungen erfülle, so daß
sie mit ‚mir’ als ihrem Diskurspartner kooperieren können. Die für das Sich-Verständigen
37
Dazu in diesem Buch: II –Verbindlichkeit aus dem Diskurs.
Ferner: D. Böhler, Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß der Berliner
Diskurspragmatik und Diskursethik, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik.
Strategien contra Moral? EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 105-148.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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und für das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im
Dialog der Argumente so mitzuarbeiten, daß ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der
des besten Arguments folge (1) und daß ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll
Argumentierenden als die entscheidende Instanz für die Prüfung und Anerkennung von
vorgeschlagenen Normen bzw. von behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont
unserer faktischen Gemeinschaft selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente
zur Sache und alle involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu
prüfen (2).
So läßt sich der Logosgrundsatz als Prinzip aller argumentativen Diskurse – sei es etwa
praktischer, theoretischer oder ästhetischer und expressiver Art – entfalten. Dermaßen
expliziert, würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche
Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die
in kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie sich als getragen
vom besten Argument erweist.39 Und das beste praktische Argument ist, sagten wir,
dasjenige, welches sich sowohl durch Verständigungsgegenseitigkeit als auch durch
Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe
6 gerecht wird.
Vergleichen wir unsere Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten, die der
Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und berücksichtigen wir
zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal seiner Frau und
Kinder, geltend gemacht werden können, dann fragt sich: argumentiert Sokrates eher im
Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als Ich I oder strikt als Partner in einem rein
argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht, mithin als Ich II?
Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt er vor
allem sechs Gründe vor.
(I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist,
wie oben (in § 1.4) gesagt, eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch
erhebt, den besten Logos über das Gut-Leben (ευ ζην) darzulegen, daß dieses nämlich „mit
dem ehrenhaft und gerecht leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu
berücksichtigen: nicht also die Meinung „der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und
38
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975 (zit.:
Wahrheit und Methode), S. 277f.
39
Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg
Studientexte, II (1984), S. 313-355, hier 339.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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Sachverständige hinsichtlich des Gerechten und Ungerechten „sagen wird, und das, was die
Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7).
Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der
Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns
klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten,
uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste
Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern
zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel
bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung
erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten
Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz
zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder
idealen Argumentationsgemeinschaft.
Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch
weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein
Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun,
und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation
unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern sondern auch eine Sinnbedingung der
Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural
von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren
Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).40 Er nähert sich der
Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie
ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der
hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die
sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von
Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen…
Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der
einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des
Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie
plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim
Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der
40
H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa), S.
14 f., 164 ff., und 214 ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b –
48 a1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird,
was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich
das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich
meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden
auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur
darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit
dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich
eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten
Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die
berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte tut.“41
Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird,
kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte
moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen
darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht,
als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Diese Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf keine
Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen ist,
nicht wieder Unrecht tun darf (49 a5-b6).
(II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein
erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen
Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die
Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch
zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien
noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen
gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere,
etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte
Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch
eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann
Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht?
(III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den
Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch
41
W. Bröcker, Platos Gespräche. Frankfurt a. M. 21967. S. 32.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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befehlen mögen42. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten,
„daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!]
wir befehlen.“43
Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law
and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des
metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung
der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen
freiwilliger Übereinkünfte voraus. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal
gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden –
allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des Prinzips
der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben geschlossener
Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja illegitime
Verbindlichkeiten einschließen.
(IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische
Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus
der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn
de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.44 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die Suche
nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, welche
dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt.
Auch ein Vergleich des Arguments (3) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für
Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die
Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum
Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde.
(V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des
Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu
müssen.45
Doch
nehmen
die
Freunde
dieses
Risiko
offenbar
im
Sinne
einer
verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf
Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich
wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird
42
Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den
Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen (δίκαια,
dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien.
43
Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“
44
Ebd., 51 a 2 – c 5.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde
kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U.
existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für
seine Freunde.
(VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein
gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden
angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht.
Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als
Rechtsverächter ansehen könnte.46 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle
Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der
Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In
Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch
selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“
distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine
Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit…
Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit,
daß
es
abschließend
mit
dem
Hinweis
auf
den
Glaubwürdigkeitsverlust
des
Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze
entzogen hätte47 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen könne,
weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.48 Auf der reinen Geltungsund Prinzipienebene wäre das Glaubwürdigkeitsargument allein dann durchschlagend, wenn
es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der realen Gesellschaft von
Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den Diskurspartner (Sokrates II)
zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer bezöge, die nach dem besten Logos
suchen.
Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente,
verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den
besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen
Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall. Aber – und darauf liefe
wohl eine Überlegung von Bernadette Herrmann (in § 1.4) hinaus – könnten wir Sokrates
nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe kommen, indem wir für ihn
45
Ebd., 53 a 8 – b 3.
Ebd., 53 b 3 – c 8.
47
Ebd., 53 c 5ff.
48
Ebd., 53 d 1ff.
46
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eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine dritte, in der „Apologie“
vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den Menschen ist, täglich sich
über die Tugend zu unterreden“49, „zu philosophieren […] und sich selbst sowie andere zu
prüfen“50, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu geben.51 Wenn aber schon die
Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien, dessen philosophisch kritische
Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig akzeptieren. Also müßte
Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der anderen vertauschen“.52
Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir
berücksichtigen jetzt freilich – sowie auch Sokrates’ eigene Argumentation – bloß das
Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als
Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.)
Nun hängt die Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet,
offenbar von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist
nun einmal eine ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf
Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten
Gesetze (Stufe 4). Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen
Verbesserung mit der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit
prozeduraler Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit
vorzuziehen.
Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild
dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also
die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen
hatte.53 Daß Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die moralische
Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens in eine
menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also lohnt es
das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst vor der
Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis – als auch seine Freunde späterhin die Ziele
einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten,
sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten
wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die
49
Apologie, 38 a 2
Ebd., 28 e
51
Ebd., 39 c7
52
Ebd., 37 c 7 – d 6
53
Ebd., 37 c 4 – 38 a 8
50
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
68
ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch
kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der
Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz
entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur
Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt.
Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“54
Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischne Situationsstrategie gleich, von der gölte,
daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische
Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens.
So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und
Verantwortungsethik
argumentieren.
Verantwortlichkeiten für Sokrates’
Allerdings
nur
dann,
wenn
auch
die
Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden
könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die
Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem
als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist
also alles andere als leicht zu nehmen.
Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen
wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische
Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative
– Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu
schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates Aussagen und
Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische
Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn
verantwortungsethisch hoch zu interpretieren?
Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder
und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates
überhaupt
nicht.
Die
zu
berücksichtigenden
Ansprüche,
Tugenden
und
Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung
‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt
es nicht einmal. Sokrates blendet die Familie als ein Gut mit Anspruch auf seine Fürsorge
aus. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht mitnehmen,
und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu machen, und weil
54
Apologie, 39 c 3 –d 2
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
69
die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen werden, so daß sie, in
Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...55
Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht
auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine
Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende,
jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier
präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und
Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat
allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit
sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von
Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch
irgend etwas anderes höher als das Recht.“56 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die
Argumentationsgemeinschaft,
der
Realathener
(Sokrates
I)
überwältigt
den
Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische
Regression.
Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der
Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“57 – fordert zur Diskussion heraus. Man
berücksichtige dazu zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50a bis
52e, doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer
wir [die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale
Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines
Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen
Gesetze und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll, und zwar auch an
subjektiven Freiheitsrechten als Grund- bzw. Menschenrechten. Sokrates hingegen führt kein
solches Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen
rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der
athenischen
Gesetze
und
Verfahren.
Das
bedeutet
die
Vermeidung
einer
Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen
Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ –
gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist
55
Ebd., 54 a – b 1.
Ebd., 54 b 2 - 4.
57
L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view. In N.F. Sizer & T.R. Sizer, Hg.,
56
Moral education. Five lectures, S. 57-83. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1970. Dazu D. Garz, a.a.O., S.
119f, vgl. 116ff und 60f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
70
Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten
Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht
entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins
Sakrosankte erhebt.
Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Anspruch und Sinn der Idee
des Sozialvertrags diametral entgegen. Die Orientierungsfunktion des Sozialvertrags läßt sich
mit Kohlberg zwar als „legalistische Orientierung“ beschreiben. Sie hat hier jedoch – eben
das unterscheidet die „postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-andOrder-Stufe 4 – das gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten
argumentativ
geführten
oder
führbaren
praktischen
Willensbildungsdiskurs
zur
geltungsstiftenden Voraussetzung. Anderenfalls könnte Kohlberg den Sozialvertragsgedanken
nicht zu Recht als postkonventionelles (logisch: metakonventionelles) Urteilsniveau
auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser Urteilsstufe
individuelle Grundrechte als vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert werden
können. Eben das hat er getan – nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische „Declaration of
Independence“ als „Dokument der Stufe fünf“ würdigte.58
Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt. Ist doch der
Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der
den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger
verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua
Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“
ausgestatteten Menschen.59 Es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde, der
aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische
Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint.
Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs, dem es nicht um eine historisch
hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates sondern um deren
Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form einer Tabelle
bringen. Horizontal stellt die Tabelle Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines
argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der
Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die
58
L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American education,
in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11.
59
Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen Zentralbegriff“
erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I shall principally
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
71
Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution
„Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen
Diskurs der Argumente.
take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 140ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
72
Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e
Kriterien,
Bezugspunkte
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (S.)
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Unberücksichtigt:
Situationsanalyse fehlt,
keine Verständigung
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse,
keine Verständigung
(auch nicht
advokatorisch)
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse,
keine Verständigung
Ja, in der
Verteidigung
seiner selbst
vor Gericht
[Argument V]
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung,
daher keine
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Keine
Situationsanalyse,
keine Verständigung,
daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Argument II
Argument I
Antizipation von
Stufe (5) mit
Regression auf
Stufe (4)
Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht
metakonventionell, sondern
konventionell (regressiv)
gehandhabt
Person
(Ich I)
Anspruch auf
Wahrheit,
Gültigkeit
qua
Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit
Gerechtigkeit
Diskurspartner
(Ich II)
[Argument V]
Bedeutet die Flucht
den Verlust der Diskursglaubwürdigkeit?
- Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6)
- [Märtyrertum als
moral. Strategie (7) →
Wahrung von
Rechtsloyalität u. –
sicherheit (4 u. 5)?]
Argument I
Frau
Ein moral. Gehalt des
Logos-Grundsatzes
(6), aber
gesinnungsethisch
verabsolutiert, mithin
eher als Stufe 4-Norm
denn als autonom
anzuwendendes,
metakonventionelles
Moralkriterium
angesetzt
Argument III
faktizistischer
Fehlschluß von
Sokrates’
Bürgerverhalten
(3) auf
Legitimität der
Gesetze (4)
Siehe Spalte Sokrates
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
Kriterien,
Bezugspunkte
Leben
73
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Sokrates (I + II)
Frau
Kinder
Freunde
Polis
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
Argument V
Argument VI
Argument VI
Argument IV
S. beruft scheint sich
in der Egoperspektive
Stufe (1) auf
persönliches Glück zu
berufen und auf die
faktische Akzeptanz
durch eine Gruppe
(Stufe 3)
S. delegiert seine
Fürsorgeverantwortung
undialogisch und ohne
das moralische Prinzip
der Zumutbarkeit zu
klären
In Übereinstimmung mit
seiner lebensweltlichen
Rolle (3) übt Sokrates
Fürsorgeverantwortung
für seine Kinder, aber
Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner
Asymmetrische
Fürsorgeverantwortung
(Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner,
solipsistisch
verkürzende
Antizipation von (7))
Unberücksichtigt
bleibt und muss
die Frage
bleiben, ob ein
Staat das Recht
auf Todesstrafe
beanspruchen
darf, da die
Idee der
Menschenwürde fehlt
Es fehlt die Frage: Ist ein
Sozialvertrag überhaupt legitim, der
einem Staat die Todesstrafe
zuspricht (Prinzip der
Menschenwürde als
Rechtskonstituens)
__________
__________
bei Ausblendung von
Verantwortungspflichten des
Familienoberhaupts
(3); aber in „Apologie“
mit verantwortungsethischer Perspektive:
Wirkungsmöglichkeit
für kritische
Philosophie wahren
(Stufe 7)!
Menschen
würde
__________
__________
_______
Menschenwürdegrundsatz
unvereinbar mit Todesstrafe
→ Legitimation der Flucht
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
74
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
2.2
75
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen.
Wie enttäuschend Platons Argumente am Schluß des Kritondialogs und auch dessen
monologischer Charakter für uns als Diskurspartner auch sind, wie tief sie auch unter das
Urteilsniveau
des
Logosgrundsatzes,
geschweige
das
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit, zurückfallen, so bahnbrechend, im Kern allgemeingültig und fruchtbar
aufnahmefähig bleiben der Logossatz selbst und sein Rahmen, das Sokratische Konzept des
Denkens als dialogförmiger Prüfung von Geltungsansprüchen, als Elenchos. Das sind zwei im
Diskursuniversum unverlierbare und für die Argumentationsgemeinschaft unverzichtbare
sokratische Errungenschaften. Sie gehören zum eisernen Bestand der Diskurspartnerrolle, so
daß sie sich jede Person als Ich II aneignen kann, wie sehr sie auch die geschichtlichen
Kontextbedingungen, Konventionen und partikularen Ansichten eines Ich I – hier die des
antiken Atheners Sokrates bzw. seines Schülers Platon – überholen und kritisch distanzieren
mögen.
Das Verfahren und der Begriff des élenchos bzw. der έλεγξις sind oft weich und können teils
moralische, teils juridische Nuancen haben. Beim frühen Platon mündet der Elenchos in eine
Kritik des vermeintlichen Wissens, in ein Wissen des Nicht-Wissens. Dieses negative Wissen
besagt jedenfalls, daß die naiv behaupteten Meinungen und deren naiver Anspruch, sie
präsentierten hinreichendes Sachwissen, dann nicht mehr Bestand haben, wenn sich ihre
Vertreter auf das logízesthai, das strenge Suchen nach dem zureichenden Argument,
einlassen. Die naiven, vor-argumentativen und vor-dialogischen Wissensansprüche können
nicht mehr bestehen, wenn man heraustritt aus der Arena der alltäglichen Selbstbehauptung
und eintritt in den dialogisch-logischen Raum des Erhebens und Prüfens der eigenen
Ansprüche als Geltungsansprüche; d.h. als dialogischer Angebote, welche mit Gründen zu
versehen sind und anhand von Gründen geprüft werden müssen – gemeinsam im
Argumentieren. Man läßt dann die unphilosophische Praxis des puren Fürwahrhaltens seiner
jeweiligen Meinung und des Durchsetzenwollens seiner Orientierungen bzw. normativen
Vorstellungen hinter sich, distanziert sich insofern davon und eröffnet die philosophierende
Praxis von Argumentationspartnern in einer Gemeinschaft des Argumentierens. Durch diese
Alltags- und Selbstdistanzierung setzt man sein bisheriges, vermeintliches Wissen skeptisch
in Klammern, man betrachtet es als ein Nicht-Wissen und begibt sich nun erst auf die –
gemeinsame und strikt argumentative – Suche nach begründbarem Wissen, das sich nicht bloß
auf ein Meinen und Wollen sondern auf den einsehbaren Logos stützt.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
76
Verstehen wir Sokrates’ dialogischen Ansatz in dieser Weise, dann läßt sich auch die Ironie
des Sokrates, ja zum Teil sogar sein rabulistisches Dreinschlagen, als ein strategisches Mittel
würdigen – eine harte Schule, die es mit der bornierten Selbstbehauptungspraxis des
alltäglichen Etwas-Meinens und Etwas-Wollens zu tun hat und dagegen eine Erziehung zum
Miteinanderargumentieren setzt. Offenbar verfährt der kritische, teils ironische, teils
unbarmherzige Sokrates nach der Maxime: Ohne schmerzhafte Einsicht in das Nichtwissen
des alltäglichen Durchsetzenwollens von Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen ist
der Weg zur Erkenntnis des Wahren und Richtigen im vorhinein verstellt.
Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei
dem frühen Platon auch den Beschluß: hier münden die Dialoge in die Erkenntnis einer
Aporie oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der Lebensweise übereinstimmt.60
Doch erschließt diese negative Erkenntnis jene ‚positive’ Orientierung, die Sokrates im
„Kriton“ als seinen Grundsatz formuliert: die Orientierung an der Vereinbarkeit von
Verhalten und Sagen, von Handlungsweise und Logos – eben des diskursiv geprüften Logos.
Als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die Verträglichkeit von Lebenspraxis und
diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegels emphatische Kritik der Sokratischen Negativität muß
daher zugestehen, daß sich in der Gestalt des Sokrates das metakonventionelle Prinzip der
Subjektivität mit dem des Logos als Gespräch in gegenseitiger Anerkennung verbindet.61
Eben daraus ergibt sich implizit eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige Tugend
der dialogischen Praxis, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich hochachtet,
und des Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus Glaubwürdigkeit und
Lebendigkeit erwachsen. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der Logos als Resultat eines
argumentativen Dialogprozesses verstanden, mithin auf kommunikative Weise nach
Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der Tugenden: Glaubwürdigkeit in
Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, von Interessensubjekt und
Dialogpartner.
So stellt Platon in der Rede des Laches den Sokrates als Menschen vor, der die Tugend
verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe.62 Wie? Indem er
60
Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit
(1969)), bes. S. 91 ff, vgl. S. 87-107.
61
„Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens
entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der Mensch ist
das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.“ So G.W.F. Hegel,
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke (1971), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471, 497 und
514f.
62
Platon, Laches, 188 c- 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: ders., Wahrheit (1969), S. 87-107,
bes. S. 88ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
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diese Übereinstimmung jeweils kritisch sucht. Nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in
dem ein Rechtsanspruch geprüft wird, läßt er sich auf eine Prüfung der üblicherweise
mitgebrachten Wissensansprüche ein. Dabei kommt er – klassisch in der „Apologie“ – zu dem
Eingeständnis, diese nicht einlösen zu können: „ich bin Mitwisser, des Tatbestands, daß ich
nichts weiß“, bekennt er vor Gericht63.
Um dieser paradoxen Aussage einen haltbaren Sinn abgewinnen zu können, müssen wir
erneut die Explikationsfrage stellen, wer denn jene erste Person sei, die ein – wie immer
kritisches – Wissen von sich zum Ausdruck bringt, und wer sich hinter jenem Ich verbirgt,
über das sie das kritische Urteil fällt, er wisse nichts. Letzterer, von dem behauptet wird, er
habe kein Wissen von der gerade verhandelten Sache, ist offenkundig unser naives, seine
Meinungen und Annahmen schlicht behauptendes Alltags-Ich, das Meinungssubjekt (I). Das
andere ‚Ich’ hingegen, welches als der kritische Zeuge auftritt, der das Zu-wissen-Meinen des
Selbstbehaupters als Nichtwissen entlarvt, ist der Logos-Sucher: ‚Ich’ (II) als Partner eines
Diskurses, in dem nicht Meinungen zählen sondern einzig gute Gründe, die für oder gegen
eine Annahme sprechen. Als Elenktiker bzw. Aporetiker lebt Sokrates von einer Zwei-RollenDialektik. Denn der Sokratische Elenchos ist so angelegt, daß die unmittelbare Rolle dessen,
der schlicht etwas meint und behauptet (I), konfrontiert wird mit der reflektierten Rolle
dessen, der sich in einem argumentativen Diskurs weiß und nun als Diskurspartner (II) zu
einer bestimmten Meinung – hier zu einer, die er selbst (als I) vertritt – Stellung bezieht.
Die paradox anmutende Selbstaussage aus Sokrates’ Verteidigungsrede ist alles andere als
Ausdruck einer skeptizistischen Attitüde. Sokrates tritt nicht als Skeptiker, wohl aber als
Dialektiker auf. Er kann die naiven Ansprüche des Sachwissens einklammern, ja das
Nichtwissen in der Sache konzedieren, weil er ein Wissen vom argumentativen Dialog hat.
Dank eines, wenngleich nicht näher bestimmten geschweige denn reflexiv ausgewiesenen,
dialogpragmatischen Wissens kann Andere wie sich selbst auf die Prozedur des Elenchos, der
kritischen Prüfung, verweisen und damit auf den argumentativen Diskurs als die letzte
Geltungsinstanz. Daraus entspringt seine radikale Glaubwürdigkeit, die au fond kritische
Tugend der Diskursglaubwürdigkeit. Allerdings läßt sie sich nicht als eine Tugend verstehen,
die man haben kann, wie man einen Besitz oder eine Eigenschaft hat, sondern als permanente
Aufgabe. Sie hat insofern etwas von einer „regulativen Idee“ (à la Kant, Peirce und Apel) an
sich, als ‚wir’ auch im Diskurs eben Menschen sind: endliche und leibliche, affektbeladene
und interessengeleitete, auf fallible Informationen und Interpretationen angewiesene Wesen,
63
Platon, Apologie, 22 c.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
78
die sich täuschen können. Worin? Vor allem in der Erkenntnis von Sachverhalten und der
Einschätzung von Situationen.
In der semantischen Relation der Gegenstandserkenntnis können wir uns so gut wie immer
irren; hier besteht Fallibilität, von der freilich die natürliche, alltägliche Einstellung wenig
wissen will – sie behauptet viel lieber: ‚ich weiß!’. Dagegen setzen Sokrates, Lessing und
Kant das permanent selbstkritische Denken. Das selbstkritische Denken ist es, welches
Sokrates so lebensvoll macht. Aufgrund dessen erscheint er, im Unterschied zu vielen seiner
festgewurzelten und eingefahrenen Gesprächspartner, so überaus lebendig – aufgeschlossen
und offen für Kritik, für begriffliche Horizonterweiterung und Präzisierung der Rede. Hannah
Arendt konnte daher pointieren: „Der Sinn von Sokrates’ Tun lag in diesem selbst. Oder
anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, und daraus folgt, daß das Denken
immer wieder neu anfangen muß.“64
Doch kann jene kritische Lebendigkeit des Suchens nach dem besten Logos nicht bedeuten,
daß die Tugend des Denkens bzw. des argumentativen Diskurses im puren Offensein
bestünde, als ob ihr keine festen, von Sokrates gewußten logischen Regeln und dialogischen
Verpflichtungen innewohnten. Nein, diese Lebendigkeit speist sich aus der infalliblen
diskurspragmatischen Einsicht in die Verbindlichkeit bestimmter Dialogversprechen, die
Sokrates durch den Logosgrundsatz zum Ausdruck bringt. Es sind zunächst die Versprechen,
nichts als das beste Argument gelten zu lassen und die Gesprächspartner als
Argumentationspartner zu nehmen sowie zu achten etc. Insofern ist der Sokratische
Rückgang auf den kritischen Dialog auch der „erste Versuch einer Sprachethik (besser:
Dialogethik)“. Vittorio Hösle belegt diese Interpretationsthese vor allem mit dem
Thrasymachos- und dem Gorgias-Dialog.65
2.3
Platon: Vom Dialog zur einsamen Ideenschau, vom sokratischen Diskurs zum
totalitären Kosmos-Polis-Mythos? Keine Verbindlichkeit ohne Diskurs.
Seit dem mittleren Platon – klassisch im „Menon“ – tritt freilich eine anamnetische und daher
maieutische Dialektik an die Stelle des Sokratischen Elenchos. Sie ist es, die kognitive bzw.
moralische Intuitionen zu Bewußtsein bringt und in ein begriffliches Wissen transformiert:
geleitet von dieser Dialektik könne der vernunftbegabte Teil der Seele sein implizites
64
H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S. 178;
vgl. 166ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
79
Vorwissen wieder erinnern (Anamnesis), es dabei explizieren und in Besitz nehmen, indem er
es in die Form des Logos bringt, also dessen Gehalt auf Allgemeinbegriffe bringt, genauer:
auf Begriffe mit Kriterienfunktion.66 Im „Phaidon“ begründet Platon die Anamnesis-Lehre
ausdrücklich. Er verweist auf die Wiedererinnerung der von der Seele vor der Geburt eines
leibhaften Individuums geschauten Urgestalten des Seienden. Durch eine Reflexion
auf
notwendige Idealisierungen in einer faktischen Erkenntnis will er zeigen: wir wissen immer
schon mehr, als wir in der Sache und ausdrücklich wissen. Denn wer z. B. gleiche Holzstücke
sehe, der wisse im Grunde auch, daß diese nur annähernd, nicht aber vollkommen gleich
sind. Wie aber könnte man das in der Erfahrung Gegebene als defizient gleich, gut, seiend
usw. erkennen, besäße man nicht ein „Vorwissen“ (προειδέναι) von dem, was vollkommen
und an sich gleich, gut, seiend usw. ist. Dieses Wissen vom Vollkommenen könne nicht aus
der sinnlichen Erfahrung stammen, vielmehr liege es ihr zugrunde – als ein Maßstab-Wissen a
priori.67
Allein mit Bezug auf die Ideen, gewissermaßen im Vergleich mit den Ideen, könne das
sinnlich Gegebene als defizient gleich, als defizient gut oder groß oder gerecht erkannt
werden. In dieser These steckt die erste Gruppe von Prämissen der Ideen- und AnamnesisLehre. Genaugenommen macht Platon hier drei Voraussetzungen: Einmal die eidetische
Gleichsetzung von Erkennen und Sehen, von Etwas Erkennen mit dem Sehen einer Gestalt
bzw. Firn demgemäß die Gleichsetzung begrifflichen Wissens und Kriterien-Wissens (bzw.
Vorwissens) mit dem Gesehenhaben einer Form, Proportion oder Gestalt. Damit verwebt er
ganz unausdrücklich und vermutlich auch unbewußt naiv die vorkommunikative
Unterstellung, daß einer für sich alleine ein kriteriales Wissen haben könne. Diesem
methodischen
Erkenntnis-Solipsismus
liegt
ein
ebensolcher
Solipsismus
des
Verstehenkönnens bzw. Regelfolgens zugrunde. Es ist das die – dritte – Voraussetzung: einer
könne überhaupt prinzipiell alleine – eben aus der je eigenen Seele – Sinn und Bedeutung
besitzen, ohne daß darüber eine Verständigung in einer realen Gemeinschaft (als Bedingung
der
Möglichkeit
solipsistischen
intersubjektiver
Unterstellungen
Beziehungen)
sind
typisch
erforderlich
für
die
sei.
Diese
klassische
eidetisch-
Sprach-
und
Erkenntnisauffassung: den Sinn der Rede versteht sie gegenstandstheoretisch, die Funktion
der Sprache sieht sie in der Beziehung von Dingen, und den Erkenntnisvorgang deutet sie
65
V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334f, vgl.
314-359.
66
Vgl. G. Martin, Einleitung in die allgemeine Metaphysik, Stuttgart 1974.
67
Vgl. L. Oeing-Hanhoff, Art. „Anamnesis“, in Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, S. 263.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
80
nach dem Muster des Sehens. Diese Annahmen haben sich tief ins abendländische Denken
eingesenkt und werden uns immer wieder begegnen.
Fragt man nun, wie Menschen ein Wissen der Ideen erhalten haben können, so antwortet
Platon darauf mit einem Mythos, einer spekulativen Erzählung, die eine (für hellenische
Kosmosfromme) plausible Vorstellung vermittelt. Das leistet der Mythos von der Präexistenz
der Seele vor ihrer Einkörperung in den Menschen. Die Voraussetzung dieses Mythos entzieht
sich freilich einer Prüfung im Diskurs. Es sind die Glaubensannahmen, daß ein Dualismus
von Seele und Leib bestehe und daß die Existenz der Seele nicht an die des Leibes gebunden
sei. Diese Seelenmetaphysik bildet den Kern de zweiten Prämisse, dank derer Platon das
Problem zu lösen versucht:
Wie ist ein kriteriales begriffliches Wissen, ein Wissen von Ideen möglich?
1. Prämisse: Das kriteriale eigentliche Wissen ist ein Erinnern an die Schau der Urgestalten /
Strukturen des Seienden.
2. Prämisse: Der Ort jenes Wissens ist die Seele als unabhängig vom Leib.
Conclusio: Das Ideenwissen kann der Mensch nicht aus seiner jetzigen und sinnlichen
Erfahrung gewinnen, sondern nur dadurch, daß er ein Vorwissen als „Zuvorgesehenhaben“
der Ideen hat, und zwar vor seiner Geburt: dank seiner Seele, die die Ideen bereits geschaut
hat. Daran muß er sich nur wieder erinnern. Wenn man z. B. das Bild des Simmias sehe, dann
erinnere man sich
(a) an den wirklichen Simmias (Phaidon, 73e 6-10) und
(b) bemerkt, daß das Bild in der Ähnlichkeit hinter der wirklichen Gestalt des Simmias
zurückbleibe (Phaidon, 74a 5-7), und dabei
(c) setze die Seele ein Zuvorgesehenhaben „des Gleichen“, „des Vollkommenen“, „des
Eigentlichen“ voraus; welches Struktur-, Urgestalt- bzw. Ideen-Wissen die Seele nicht aus der
sinnlichen Erfahrung – z.B. der Anschauung des Bildes ‚Simmias vor dem Haus bei der
Begrüßung von…’ – haben könne, wohl aber dazu benötige (Phaidon, 75c 4 – d 5).
Die Seele habe nämlich jeweils vor der Geburt eines Menschen (d.h. vor ihrer Einwohnung in
einen Leib) jene Erkenntnis von „dem Gleichen“ etc. empfangen. Und so hätten wir auch
„schon vor und bei dem Akte der Geburt [erkannt] sowohl das ‚Gleiche’ und das ‚Größere’
und das ‚Kleinere’ als auch die ganze Fülle solcher Wesenheiten.“ An der zitierten Stelle des
Phaidon erweitert Platon die Reihe der vorgewußten Begriffe mit Kriterienfunktion zugleich
auf die Gebiete der Ästhetik und der Ethik, die er als Kosmostheologe nicht nur untereinander
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
81
nicht trennt sondern die er als Pythagoräer auch nicht von der Mathematik und Geometrie
scheidet, weil er diese als Wissenschaft von den Proportionen des Kosmos versteht. So fährt
er fort: „Nunmehr steht bei unserem Gespräch genau so wie das ‚An-sich-Gleiche’ im
Vordergrunde auch das ‚An-sich-Schöne’, das ‚An-sich-Gute’ und das ‚Gerechte’ und das
‚Fromme’ und, wie ich meine, alles, dem wir das Siegel des ‚an-sich’ aufprägen bei der
Bewegung de Gedanken, in der Red und Antwort stehen. So ist der Schluß notwendig, daß
wir von alledem ein Wissen bereits vor der Geburt empfangen haben“ (Phaidon, 75 c 7 – d 5;
nach der Übersetzung von Franz Dirlmeier).
Platon kann dem, als „Idee“ bestimmten, richtigen Logos zugleich den ontologischen Rang
einer Seinsstruktur und den transzendentalen Stellenwert einer internen Erkenntnisbedingung
zumessen. Denkt er etwa ontologisch und transzendentalphilosophisch in einem? Jedenfalls
hat Kant mit Blick auf das Problem der synthetischen Erkenntnis a priori Platon gewürdigt,68
wenngleich er dessen „mystische Deduktion der Ideen“ als ontische Hypostasierung
verwarf.69 Ihm dem kritischen Transzendentalphilosophen, der nach den Bedingungen der
Möglichkeiten der Erkenntnis im Erkenntnis-Subjekt
fragte und als solche die reinen
Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und die regulativen Vernunftideen rekonstruierte,
mußte Platon ontologisches Ideenkonzept als schwärmerisch und dogmatisch erscheinen.
Doch konzediert er, daß die überschwenglich hypostasierende Sprache Platons „einer
milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist“.70
Eine solche rettende Auslegung gibt der Begründer der Transzendentalpragmatik, Karl-Otto
Apel, in metaethischer Hinsicht: „Die Ideen des Guten, Schönen, Gerechten, der Tugend usw.
sind nach Platon […] das ‚wahrhaft Seiende’, im Unterschied zu den
Erfahrungsgegenständen, die immer nur vorübergehend und in einer bestimmten Hinsicht gut,
schön, gerecht, tugendhaft usw. sein können. Eben durch diese ontologische Unterscheidung
hat Platon jedoch erstmals die gedankliche Voraussetzung auch für die Unterscheidung
zwischen den Normen und beschreibbaren Tatsachen des menschlichen Handelns geschaffen.
Die modernen – nicht mehr metaphysisch-ontologischen – Unterscheidungen zwischen
Fakten und Normen, zwischen (erfahrbarem) Sein und (aufgegebenem) Sollen, zwischen
Realität und Ideal und die wichtige Einsicht, daß das eine nicht auf das andere zurückgeführt
zu werden vermag, können und müssen als Abwandlungen der Platonischen
Grundunterscheidung zwischen der sinnlich erfahrenen Realität und den Ideen begriffen
68
Kant, KrV, B370f
B371, Anm.
70
Ebenda.
69
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
82
werden. Kurz: ohne den Platonischen Begriff der ‚Ideen’ ist auch der moderne Begriff der
‚Normen’ nicht zu verstehen. Darin liegt die bleibende Bedeutung des Platonischen
Idealismus gerade für ein Denken, das sich ethischen Idealen als ‚regulative Prinzipien’
(Kant) unterstellt. […] Die bleibende Bedeutung des Platonischen Idealismus wird jedesmal
dann besonders deutlich, wenn Philosophen im Namen eines Naturalismus oder
Materialismus den Anspruch einer ethisch engagierten Kritik an bestehenden
Gesellschaftsordnungen erheben. Denn, wie recht sie auch immer mit ihrer Entlarvung der
materiellen, z. B. ökonomisch bestimmten >Interessen als Ursachen realer gesellschaftlicher
Zustände haben mögen: ihre eigene Kritik an diesen Zuständen und ihr Engagement im Sinne
einer Veränderung der bestehenden Zustände haben gar keinen Sinn, wenn sie nicht auch
Ideen, regulative Prinzipien oder Normen voraussetzen, die die vorfindbare Realität
überschreiten. Denn allein aus den feststellbaren Tatsachen dieser Realität, aus den Tatsachen
dessen, was ist, kann niemals eine Norm, die besagt, was sein soll, abgeleitet werden. Wie
leicht aber wird dieser Fehlschluß [… ein naturalistischer Fehlschluß] immer wieder
begangen!“71 In der Tat: Wie oft wird in Publikationen und Diskussionen die von Platon
nahegelegte Unterscheidung zwischen Norm und Tatsache übersprungen.
In Kantischer Perspektive haben die Neukantianer Wilhelm Windelband und Paul Natorp die
Ideenlehre gewürdigt. 72 Vittorio Hösle charakterisiert die Anamnesis-Lehre als „mythische
Verkleidung der Entdeckung synthetischer Erkenntnis a priori“.73 Zweifellos hat Platon damit
den Reflexionserrungenschaften der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie, dem Zentrum der
„Kritik der reinen Vernunft“, vorgearbeitet. Freilich decken weder Hösle noch die
Neukantianer auf, daß der reife Platon kommunikationsvergessen, mithin eigentlich
undialogisch denkt, wenngleich er in Dialogform schreibt. Im Rahmen seiner maieutischen
Dialektik inszeniert der Ideen- und Anamnesistheoretiker den elenktischen Diskurs als ein
von Sokrates, dem ‚Hebammenkünstler’ („Maieutiker“), angeleitetes Zwiegespräch der Seele
mit sich selbst. Der Elenchos wird zum angeleiteten Seelenmonolog. Zugeschärft wird diese
Entdialogisierung des Sokratischen Dialogs, weil Platon tendenziell sprachwidrig denkt –in
semantischer wie in pragmatischer Hinsicht. Semantisch konzipiert Platon den Sachbezug im
Sinne eines geistigen Sehens, so daß er die Sachverhalte, besser: die Strukturen der Dinge,
buchstäblich vorstellt. Darauf zielt die sprachanalytische Kritik der formalen Semantik von
71
K.-O. Apel, Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II), in: Funkkolleg
Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. 1, S. 90f.
72
P. W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 151975, S. 83-102. P. Natorp, Platos
Ideenlehre, Leipzig 21922.
73
V. Hösle, Wahrh. u. Gesch. (1984), S. 360ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
83
Tugendhat.74 In pragmatischer Hinsicht geht Platon gegen den kommunikativen Sinn der
Sprache an, indem er die Tätigkeit des Denkenden nicht kommunikativ und intersubjektiv
versteht, sondern als ein virtuell einsames Sehen. Die Erkenntnisrelation begreift er daher
nicht zugleich als dialogisches Verhältnis, vielmehr unterstellt er sie als eine bloße SubjektObjekt-Beziehung. Hier setzt die transzendentalpragmatische Kritik an.75
Je länger, desto stärker ordnet Platon den Sokratischen Diskursansatz der θεωρία (theoria) als
Schau der ewigen Strukturen bzw. Ideen des Kosmos unter und führt so das Paradigma einer
(im Grunde) einsamen Erkenntnis ein: Erkenntnis als geistige Schau der göttlichen und daher
ewigen, unwandelbaren, immer selbigen Strukturen.
Allein die kosmosmythischen Gottesprädikate von Parmenides – ewig, unwandelbar, immer
selbig etc. – scheinen ihm eine wahre Erkenntnis zu ermöglichen. Er sucht eine im kosmosmetaphysischen Sinne wahre Erkenntnis – als Schau des Wahren. Dieses Wahre sei eben das
unwandelbare Sein hinter den wandelbaren Erscheinungen, wie es die Parmenideischen
Gottesprädikate charakterisieren, und das heißt: so, wie es der göttliche νούς (nous), das
geistige Auge Gottes, erschaue. Platons Wahrheitskriterium ist es, daß die Methode, dank
derer der Philosoph zu seinen Aussagen über das, was ist, gelange, jenem göttlichen Schauen
entspreche. Eine solche Entsprechung bewerkstellige die anamnetische Dialektik. Sie zielt
darauf, das unstete zeitlich Seiende, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung und des
Meinens (δόξα, doxa), durchschauen, um die Ideen, die ewigen Seinsstrukturen,
auszusprechen76. Der Dialektiker soll die ewige Gegenwart des wahren Seins zu einer
intellektualen Anschauung bringen.
[#Folie 16]
Den philosophischen Diskurs legt Platon bis in die Neuzeit auf metaphysische
Grundunterscheidungen fest – zunächst auf eine ontologische und eine epistemische bzw.
erkenntnistheoretische. Dabei ergibt sich diese aus jener, weil er von der Ontologie ausgeht,
genauer: von der ontotheologischen Differenz zwischen dem zeitlich Seienden, das der
vorphilosophischen doxa als das Wahre erscheine, und den immer selbigen Strukturen bzw.
Ideen und Paradigmen, weil daran das wahre und eigentlich göttliche Sein hafte.
Platons Erkenntnisproblem ist: wenn es bloß das zeitlich Seiende gäbe, welches entsteht, sich
wandelt und vergeht, würde daraus folgen, daß sich alle Dinge permanent veränderten. Als
74
E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 18ff, vgl. 36ff, passim.
K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 334ff.; D. Böhler, Wittgenstein und Augustinus, in: A. Eschbach,
J. Trabant (Hg.): Foundations of Semiotics 7: History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, S. 343-369
(zit.: Wittgenstein u. Augustinus (1983)), S. 352ff.
76
Vgl. G. Picht, Wahrheit (1969), S. 36-87, bes. 76ff, ferner S. 112-131.
75
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
84
theoria-Ontologe schließt er daraus, daß es dann unmöglich wäre, überhaupt etwas
Bestimmtes zu erschauen und diese eindeutige Sicht der Dinge in eine Feststellung zu
bringen, einen Logos, der das Wahre buchstäblich festhalten könnte. Dieser zugleich optischtheoretische und ontologische Fehlschluß von der Beschaffenheit der Dinge als Gegenständen
einer geistigen Schau auf den Geltungssinn von Aussagen und Behauptungen ist das
metaphysische Erkenntnisproblem. Seit Heraklit hat es die griechischen Seinsdenker
beunruhigt. Dieser eigentümliche Fehlschluß ist für die sprach- und diskurswidrige
Denkweise der theoria-Ontologie charakteristisch. Platons Lösung dieses ‚Problems’ ist der
Versuch, sich und die Polis in absolute Sicherheit zu bringen vor der Bedrohung durch das
Bewegliche und Unstete, die Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit. Nichts scheint freilich
die gesuchte totale Sicherheit zu gewährleisten als die ewige Gleichförmigkeit des Kosmos
und das unwandelbare Insichstehen der Ideen, der reinen Formen. Diese Welt-, Geschichtsund Praxisflucht ist von erkenntnisphilosophischer und politischer Bedeutung. Ihre politische
Konsequenz ist sein ordnungsfunktionalistisches Gerechtigkeitsverständnis77 und sein
totalitäres Eintrachtsmodell der Polis.
Platon wollte sich und Athen retten vor der Geschichtlichkeit, der Wandelbarkeit, von der er
das Zusammenleben bedroht sah. Am liebsten ein für alle mal wollte er die krisengeschüttelte,
eine Demokratie suchende Stadtkultur Athens ordnungsaristokratisch nach dem Vorbild des
harmonischen Regelkreises „Kosmos“ formieren.78 Dieser Formierungswille führt ihn in der
„Politeia“ zu zwei, auf unterschiedliche Weise von der Natur als Bewertungsgrundlage
ausgehenden, Untersuchungen über Gerechtigkeit, verstanden als Tugend der Polis. Schon in
dem ersten, kürzeren „Weg“, der die Lehre von der Philosophenherrschaft und damit auch die
Ideenlehre noch ausklammert, setzt er – wie auch im „Gorgias“ – voraus, daß bloße
Vereinbarungen über Normen (θέσει, thesei) nicht moralisch verbindlich sein könnten, wohl
aber das, was „von Natur aus“ (φύσει, physei) für die Menschen gut sei. Und da die
Menschen nicht etwa, wie Gott, autark sondern bedürftig und zur Bedürfnisbefriedigung auf
eine funktionsfähige Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen seien,79 sucht Platon
nach einer Gesellschaft, die so geschlossen und einträchtig wie möglich geordnet sei,80 damit
dort alle Klassen ihre Aufgaben zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse optimal
77
Dazu K.-H. Ilting, Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik, (1978). In: Ders., Grundfragen der
praktischen Philosophie, hg. v. P. Becchi u. H. Hoppe, Frankfurt a. M. 1994 (zit.: Grundfragen), S. 296-325, bes.
S. 304-318.
78
Platon, Politeia, 500 c/d und Timaios, 47 a-c.
Kritisch dazu: H.P. Schmidt, Frieden, Stuttgart/Berlin 1969 (zit.: Frieden (1969)), S. 37-57, bes. 48ff. Ders., Die
Erfahrung des Bösen, in: Funkkolleg Studientexte, III (1984), S. 677-731, bes. 691-695.
79
Platon, Politeia, 369 b 5 – c 11.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
85
ausführen. Die gesuchte reibungslos funktionierende und absolut stabile Polis soll, wie ein
Individuum, möglichst eine Ganzheit sein.81 Diese Funktionsganzheit versteht Platon, in
Analogie zu der eines gesunden organischen Körpers, als die naturgemäße „Gerechtigkeit“
einer Polis.82
Daß
diese
Einführung
Verbindlichkeitsfrage
von
verfehlt,
Gerechtigkeit
ist
klar.
bzw.
Karl-Heinz
politischer
Ilting,
Gerechtigkeit
dessen
Analyse
die
des
Gerechtigkeitsmodells nach Platons erstem, leichteren Weg (in den Büchern II bis IV) ich
gerade skizziert habe, schließt zu Recht: „Wenn dieser ganze Staat rein nach
Zweckmäßigkeitserwägungen konstruiert ist, so sind alle seine Gesetze nichts als Ratschläge
der Klugheit, denen jeder, wenn er vernünftig ist, nur soweit folgt, als dies im Interesse seines
wohlverstandenen Eigenwohls liegt. Moralisch verbindliche Normen sind sie durchaus nicht,
da Platon ja keinerlei über den Gesichtspunkt des Eigeninteresses hinausweisende Gründe
ihrer Verbindlichkeit namhaft zu machen versucht hatte.“ Er scheine nicht einmal gesehen zu
haben, „daß auch nach seiner Konstruktion eines Idealstaats die Frage noch immer offen ist,
wieso denn eigentlich die in seinem Staatsmodell vorgesehenen spezifischen Aufgaben für die
Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindliche Pflichten und Rechte sind. […] Daß
Platon auf dem von ihm verfolgten Wege das Problem einer Begründung der Ethik verfehlen
muß, zeigt sich womöglich noch klarer, wenn man prüft, wie er anschließend (434 d 2 – 444 a
9) auch die Gerechtigkeit eines menschlichen Individuums, analog zur Gesundheit eines
organischen Körpers als Funktionsgerechtigkeit seiner ‚Seele’ und ‚Seelenteile’ zu
interpretieren versucht. Indem er das menschliche Individuum bzw. dessen ‚Seele’ als eine
Art Mikrostaat auffaßt, verzichtet er von vornherein darauf, die Anerkennung und Befolgung
von Normen und die moralischen und rechtlichen Beziehungen zwischen Individuen als das
Kernproblem der Gerechtigkeit zu erörtern. ‚Gerecht’ ist nach dieser Deutung ein Individuum
nicht im Hinblick auf verbindliche Normen und auf seine Mitmenschen, sondern primär in
bezug auf sich selbst: wenn nämlich seine ‚Seele’ gesund ist (443 c 9-d 1). Platon unterstellt
zwar, wenn auch ohne große Plausibilität, daß solche ‚Gesundheit der Seele’ die beste
Garantie gerechten Handelns ist. Aber ein anderes Interesse an der Gerechtigkeit als das des
wohlverstandenen Eigenwohls kann er auch hier nicht geltend machen.“83
80
A. a. O., 422 a 8 und e 8, 423 b 10, 433 a 5, 462 b 1-2 u. ö.
A. a. O., 462 c 7-10, 464 b 1.
82
A. a. O., 444 c 1-7.
83
K.-H. Ilting, Grundfragen, S. 309f.
81
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
86
Erst in dem zweiten, dem „längeren Weg“84, der Politeia, den Büchern V bis VII, kommt mit
dem Postulat der Philosophenherrschaft die Ideenlehre zum Zuge. Sie ist Platons Antwort auf
die
herakliteische
Beunruhigung.
Karl
Raimund
Popper
hat
sie
gewissermaßen
85
erkenntnispsychologisch rekonstruiert. Seine Hauptquelle ist Aristoteles. Dieser berichtet in
der „Metaphysik“, Platon habe es für unmöglich gehalten, „daß es eine allgemeine Definition
für ein Sinnesding gebe, weil die Sinnesdinge in dauernder Veränderung begriffen seien.“
Hingegen habe er die intelligiblen Dinge, die Strukturdinge bzw. reinen Formen, auf die sich
die Definitionen bezögen, Ideen genannt und die These entwickelt, daß die veränderlichen
Sinnesdinge nur dank einer ‚Teilhabe’ (µέθεξις, methexis) an jenen Ideen und Urbildern
bestünden.86
Aristoteles’ Bericht zeigt, daß Platon die ontologische Differenz der Metaphysik: ‚zeitlich
Seiendes versus ewige Seinsformen’ mit der epistemischen Unterscheidung ‚sinnliche
Wahrnehmung
versus
intellektuelle
Anschauung
bzw.
intuitive
Vernunfteinsicht’
zusammendenkt. Die epistemische Differenz ergänzt Platon durch die methodologische
Differenzierung zweier Erkenntnisweisen, welche auf akommunikativen Voraussetzungen
beruhen und insofern einen methodischen Solipsismus unterstellen.87 Er unterscheidet eine
schauende, intuitive Vernunfteinsicht von einer analytischen und konstruktiven διάνοια
(dianoia) als diskursiver Verstandeserkenntnis. Die Vernunft (νούς, nous), verstanden als das
Auge des Geistes, bezieht Platon auf das, was von dem wahren göttlichen Sein sichtbar ist,
auf den Kosmos. Gemäß parmenideischer Tradition und mit pythagoreischen Obertönen
verkündet er „den Kosmos-Mythos [...] in geläuterter Gestalt“ (Hans P. Schmidt)88: von dem
göttlichen nous durchwaltet, habe der Kosmos die schlechthin vollkommene Gestalt der
Kugel, und alles in ihm, auch die Zeit, schwinge in der Harmonieform des Kreises, befinde
sich mitten in einer ewigen Stetigkeit.
Neben dem VI. Buch der „Politeia“ ist der kosmologische Dialog „Timaios“ die wichtigste
Quelle für diesen Ansatz einer intuitiven Kosmos-Vernunft. Der „Timaios“, den sich die
römische Welt durch eine Teilübersetzung Ciceros, die christliche durch die kommentierte
Edition des Neuplatonikers Chalcidius (um 400 n. Chr.) aneignete, konnte bis in die Neuzeit
84
Politeia, 504 b 2.
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons, Bern 1957 (zit.: Die offene
Gesellschaft (1957)), S. 56ff.
86
Dazu Aristoteles, Metaphysik, 987 b 7 ff. Vgl. 1078 b 10-1079 a 4. Die von Aristoteles (Metaphysik 987 a 30b 18) rekonstruierten Gedankenschritte auf dem Weg zur Ideenlehre spürt Popper vor allem im „Phaidon“ (65 a66 a, 70 e, 74 a f und 99 f), im „Kratylos“ (439 c ff), in der „Politeia“ (485 a/b, 508 b ff, 509 c-511 e und 523 a527 c), im „Sophistes“, im „Theaitetos“ (174 b und 175 c) und im „Timaios“ (28 a-29 d und 48 e-55 c) auf.
87
Vgl. D. Böhler, Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit, in: Funkkolleg Studientexte, II (1984), S. 343-369.
88
H.P. Schmidt, Frieden (1969), S. 52.
85
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
als
Platons
Hauptwerk
gelten.
Er
hat
noch
Kant
ein
87
physikotheologisches
Hintergrundsverständnis für seine methodologische Ethik vermittelt. In dem Dialog
„Timaios“ bestimmt Platon das Verhältnis von göttlichem nous, Kosmos und menschlichem
Denken (der hier unspezifisch gebrauchten διάνοια), indem er das Vermögen des Sehens als
das höchste menschliche Gut auszeichnet:
„Nun aber hat der Anblick von Tag und Nacht, vom Umlauf der Monate und Jahre, von Tagund Nachtgleiche und den Sonnenwenden die Zahl ans Licht gebracht und uns die Erkenntnis
der Zeit und die Suche nach der Natur des Alls gespendet. Hieraus haben wir die Herkunft der
Philosophie gewonnen, und ein höheres Gut ist nie gekommen noch wird jemals kommen
zum sterblichen Geschlecht als Gabe der Götter [...]. Gott hat die Sehkraft für uns erfunden
und uns damit begabt, damit wir die Umläufe des göttlichen Geistes [des nous] am Himmel
erblicken und sie als Vorbild für die Umläufe unseres eigenen Denkens [dianoia] gebrauchen,
welche jenen verwandt sind – den Unverwirrbaren die Verwirrten. Wenn wir sie aber gelernt
und uns die der Natur entsprechende Richtigkeit ihrer Berechnungen angeeignet haben, dann
sollen wir die ganz und gar unablenkbaren Umläufe des Gottes nachahmen und so die
schweifenden Umläufe [des Denkens] in uns selbst ordnen.
Von der Stimme und dem Gehör gilt wieder dasselbe, daß dieses Geschenk eben deshalb und
zu demselben Zwecke uns von den Göttern verliehen sei; denn die Rede [logos] hat den
selben Zweck und trägt das meiste zu dessen Erreichung bei. Soviel aber von der Musik der
Stimme nützlich ist, so wurde es dem Gehör zum Zwecke der Harmonie geschenkt. Die
Harmonie aber, welche verwandte Bewegungen hat wie die Umläufe der Seele in uns selbst,
ist dem, der sich den Musen hingibt gemäß der Vernunft [nous], nicht zum Genuß einer
irrationalen Lust, so wie man es heute meint, gegeben; vielmehr ist sie uns von den Musen als
Beistand verliehen worden gegen die in uns aufgekommenen unharmonischen Umläufe der
Seele, um sie zur Ordnung und mit sich selbst in Einklang [συµφωνία, symphonia] zu
bringen“89.
Das menschliche Denken, sofern es auf den Kosmos schaue, und die menschliche Seele,
sofern sie auf die Harmonie der kosmischen Sphärenmusik höre, würden in eine Mimesis
dieser Wohlordnung hineingezogen und so aus der Unordnung der Affekte herausgebracht.
Das Denken bezieht Platon mimetisch auf den göttlichen nous als das Urbild allen Denkens.
Eine ungeheuer folgenträchtige Bezugnahme: bis zu Kant und Hegel, ja bis zu Husserl wird
die reine Kontemplation des (ursprünglich göttlichen) nous als Archetyp der Vernunft
gelten...
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
88
Georg Picht, an dessen Übersetzung ich mich soeben angelehnt habe, kommentiert unsere
Stelle: „Im Hintergrund steht die pythagoreische Lehre, daß die Bewegungen der Gestirne und
die Bewegungen der Musik identisch sind, weil sie der gleichen Mathematik gehorchen. Wie
Damon gelehrt hat, daß sich die Haltung des Menschen durch die Gewöhnung den geordneten
Bewegungsabläufen der Musik angleicht, so kann der Mensch auch durch die Betrachtung der
Sterne die Bewegungen seiner Seele dem Kosmos angleichen und so seine ursprüngliche
Verwandtschaft mit dem die Sterne bewegenden νούς entdecken. Dies ist der geschichtliche
Boden von Kants berühmtem Wort aus dem Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft:
‚Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und
Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte
Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.’ Der Begriff ‚Kosmos’, der bei Platon
den Gedanken trägt, bezeichnet die Ordnung in der Bewegung. Deshalb kann der gleiche
Begriff auf die Bewegung der Sterne und Gezeiten und auf die Bewegung der Musik bezogen
werden. Diese Bewegungslehre bildet, wie wir aus dem ‚Timaios’ erfahren, jene Brücke
zwischen Musik und Astronomie, die es Platon im ‚Staat’ erlaubt, die Lehre des Damon auf
die Betrachtung des Kosmos zu übertragen.“90
Im VI. Buch der „Politeia“ spricht er die kosmosmimetische Funktion ausdrücklich der
Philosophie zu. Von daher bestimmt er die philosophische Begründung des rechten
Verhaltens als Rückgang auf die göttlich-natürliche Ordnung des Alls. Das ist Platons
eigentümlich kosmologisch-naturalistischer Fehlschluß. Naturtheologisch suggestiv, hat er
spekulativen Konsens erzeugt und Metaphysikgeschichte gemacht. Ist es doch die weithin
einflußreiche Stoa, die Platon hierin folgen und – über Cicero – auch der Rhetorik eine
naturalistische Hintergrundsmetaphysik vermitteln wird. Nicht weniger wirkungsträchtig ist
der Bildungsbegriff, den Platon an die ethische Kosmos-Mimesis anschließt. Die ethische und
politische Orientierungsaufgabe des Philosophen bestimmt er als Hineinbildung der
Besonnenheit und der Gerechtigkeit in die Sitten und in die Polis: „Der Philosoph also, der
mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten umgeht, wird auch wohlgeordnet [κόσµιος] und
göttlich, soweit es dem Menschen möglich ist. […] Ihm entsteht eine Notwendigkeit, Sorge
zu tragen, wie er das, was er dort sieht, auch in die Sitten der Menschen, die persönlichen und
der öffentlichen, ein-bilden könne, und nicht allein sich selbst zu bilden.“91 Die Bildungsziele,
89
Platon, Timaios, 47 a 5 - 47 d 6.
G. Picht, Wahrheit (1969), S. 120.
91
Platon, Politeia, Buch VI, 500 c 9 bis d 1, vgl. 500 d 3 - d 6. κόσµιος ist, wie Georg Picht betont, „ein im
Griechischen geläufiges Wort zur Bezeichnung der Menschen, die sich in Zucht zu halten wissen. Aber in
unserem Zusammenhang gewinnt es, wie wir sehen, einen anderen Sinn. Es wird damit gespielt, daß κόσµιος
90
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
89
welche die Kosmosmimesis mit sich bringt, sind „das der Natur nach (physei) Gerechte,
Schöne, Besonnene und alles dergleichen“.92 Die nach diesem „göttlichen Paradigma“ zu
bildende Polis und keine andere könne „glücklich“ sein.93 Nicht also die moralische
Verbindlichkeit, die Anerkennungswürdigkeit von Normen, ist das letzte politisch-ethische
Ziel des, der Kosmos- und Ideenschau hingegebenen und zur Fürsorge um die Polis
genötigten, Philosophen, vielmehr ist es die gott- und naturgemäße Beglückung der Polis und
durch dieses Kollektiv auch der Menschen als Poliszugehörige.
Ein naturtheologisch geheiligter Eudaimonismus hat das letzte Wort. Die Philosophie gibt
dann weder Raum für eine öffentliche Verständigung über das, was die Bürger wollen und
worin sie politische Bedingungen ihres – das heißt aber: ihres individuellen – Glückes bzw.
ihrer Werte sehen, noch ist sie selbst ein Diskurs zur Rechtfertigung von Normen mit dem
Ziel ihrer begründeten, freien Anerkennung durch die Normadressaten. Sie hat überhaupt
keinen Platz für einen öffentlichen Diskurs. Sie anerkennt daher auch keineswegs eine
autonome Einsicht von Diskurspartnern in das, was sie den Bürgern normativ vorgibt, also
das, was sie jeweils praktisch und politisch sollen – den konkreten normativen Gehalt von
Gerechtigkeit, Schönheit und Besonnenheit.
Sind Diskursteilnehmer, geschweige denn Diskurspartner, dann überhaupt noch am Platze?
Nötig ist nur der Philosoph und zwar zuerst als Auge und Mund des die Naturordnung
schauenden sowie vermittelnden Geistes, sodann als Hineinbildner der geschauten
Naturordnung in die menschliche Welt. Ein gigantischer Fehlschluß von dem, was das
natürliche Sein in Wahrheit sei, auf das, was die Polis glücklich mache und was die
Menschen, man höre, daher als ihre Pflichten bzw. Rechte (in der Polis) anerkennen sollen.
Auch das, was Platon auf dem „längeren Weg“ der Politeia vorbringt, ist kein moralisches
Verbindlichkeits- sondern ein eudaimonistisches Klugheitsargument von der Form eines
problematisch-hypothetischen Imperativs. Diese Klugheitsregel versieht er aber mit
apodiktischer, weil kosmotheologischer Autorität, mit einer naturtheologisch entliehenen,
logisch freilich erschlichenen Verbindlichkeit. Sie geriert sich, als sei sie ein kategorischer
Imperativ, da sie die Handlungsweise des kosmotheoretischen Polisbildners in der Tat „als an
sich gut vorgestellt“ hat, was Kant als Merkmal eines Kategorischen Imperativs auszeichnet.94
auch heißen könnte: dem Kosmos ähnlich, ein Abbild des Kosmos. Dieser Gedanke wird dann im ‚Timaios’
ausgebaut. Hier ist der Ursprung des Gedankens vom Menschen als einem Mikrokosmos.“ (G. Picht, a.a.O., S.
121.)
92
Platon, Politeia, 501 b.
93
Ebd., 420 b 7 f., 420 c 1-4, 421 b 6 f., 472 c 9.
94
Kant, GMS, S. 414. Was sich aus der Perspektive des Platonlesers als ein problematisch-hypothetischer
Imperativ aufgrund einer möglichen, ihm angesonnenen Absicht darstellt, ist für Platons Philosophen, den die
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
90
Platon suggeriert damit, was er begründen müßte, aber glücksethisch und kosmostheoretisch
umgeht: moralische Verbindlichkeit.
Die tiefgreifenden Folgen sind: Verdrängung eines möglichen praktischen Diskurses zur
Rechtfertigung von Normen, Entmenschlichung und Entgeschichtlichung der Lebenswelt
zugunsten der „besten Polisordnung“, die „das wahrhaft Göttliche ist“, während „alles andere
bloß menschlich“ sei.95 Platon beschreibt die politisch-ethische Bildungsaufgabe des
Philosophen nach dem Muster eines Malers, der in seinem Gemälde ein göttliches Urbild
darstellen will. Zu diesem Zweck müsse er die Polis und die Sitten der Menschen fast wie
eine Wachstafel reinigen, um dann das Göttliche in sie einprägen zu können.96 Die
kosmosgemäße und gottgefällige Bildung bestimmt Platon also nicht etwa, wie es der
christliche Neuplatonismus seit Nikolaus von Kues tun wird, als Bildung zur Idee des
Menschen – eine solche gibt es bei Platon im Ernst nicht. Vielmehr geht es ihm um das EinBilden des Göttlichen in das bloß Menschliche. Dessen geschichtliche und plurale Natur sei
radikal zu verändern: durch ‚Bildung’ als „Technik der Umkehrung“97 (περιαγωγή, periagoge)
und durch eine Bildungspolitik, die im Sinne einer ποίησις (poiesis) als eine zweckgemäße
Herstellung gedacht ist. Alle erfolgsführenden Mittel scheinen dann recht zu sein. So ersteht
eine kosmostheologisch gerechtfertigte, insofern bedenkenlose Poiesis des Politischen, deren
Zweck der ordo-Idealstaat ist und zu deren notwendigen Mitteln die Überwindung des unstet
Geschichtlichen, mithin die Beherrschung der Pluralität gehört. Doch ist Pluralität nicht eine
Bedingung
menschlicher
Existenz
–
auch
in
dem
emphatischen
Sinne
eines
menschenwürdigen Daseins?
[#bis hier geändert 7.6.2006]
Hannah Arendt, die die Pluralität als conditio humana des Politischen entwickelt hat, urteilt
scharfsichtig, wenn sie Platons idealpolitische Utopie als au fond tyrannische Spielart einer
‚monarchischen’ Politik kritisiert. Inwiefern? Der Versuch, der Pluralität, mithin der
Individualität und Verschiedenartigkeit, „Herr zu werden“, sei „immer gleichbedeutend mit
dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen“.98 Wie weit Platon von diesem
Problembewußtsein und von dem moralisch rechtspolitischen Prinzip der Öffentlichkeit, ja
auch nur von deren Wertschätzung als einem Gut entfernt ist, demonstriert er auch durch
Kosmosschau zur Bildung der Einheitsordnung einer idealen, kosmosgemäßen Polis nötigt, ein assertorischhypothetischer Imperativ. Dieses assertorische Moment wird von Platon freilich mit einem kategorischen
Vernunft-Schein versehen, indem er sich auf die göttliche Kosmosvernunft beruft.
95
Platon, Politeia, 497 b/c. Im Lichte der kosmosmetaphysischen „theoria” kann „das menschliche Leben“
ohnehin nicht „als etwas Großes“ gelten: 486 a 8 ff.
96
Ebd., 501 a 2 - c 2.
97
Ebd., 518 d 3 f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
91
seine Theorie der Tyrannis. Mit ihr reagierte er auf die Anarchie, von der er behauptet, sie
ergebe sich in der Demokratie zwangsläufig. Demokratie sei eben der Überschuß an „Freiheit
der Menge“, der in der Gleichstellung von Hintersassen, ja sogar von Sklaven mit den
Polisbürgern gipfeln könne und daher zur Anarchie führe. Diese nötige dann die Tyrannis
herbei.99
Den systematischen Grund für Platons Abgleiten in die Tyrannis sieht Hannah Arendt darin,
daß sein Modell einer Philosophenherrschaft „die Schwierigkeiten des Handelns“ so lösen
und auflösen soll, „als handele es sich um Erkenntnisprobleme“.100 Genauer gesagt: Platon
vertritt einen Primat der kosmos- und polis-metaphysischen theoria und will daher die
moralischen Fragen behandeln, als seien es metaphysische Erkenntnisaufgaben, welche durch
spekulative Schau, von göttlichem Standpunkt und Sehepunkt her, gelöst werden könnten.
Öffentlichkeit, Dialog, kommunikative Auseinandersetzung ergeben unter diesem Primat
keinen Sinn. Auch eine freie Anerkennung der den Bewohnern seiner utopischen Polis
auferlegten
Pflichten
und
der
den
Wächtern
sowie
den
Philosophenherrschern
zugeschriebenen Rechte ist unter diesem Primat kein Thema mehr. Ebensowenig bedarf es
einer Verständigung über den Sinn des Glücks, dessen die Polis teilhaftig werden soll, indem
sie der funktionalen Gerechtigkeit zugeführt wird, so daß jede Klasse das Ihrige und jeder
„das Seinige tue“, „wozu nämlich seine Natur [sic!] sich am geschicktesten eignet.“101
Platons utopische Bildungspolitik ist im Ansatz inhuman, gewalttätig und totalitär; gilt es ihr
doch als ausgemacht, daß die menschliche Natur „von Kindheit an gehörig beschnitten und
das ihrer Abstammung Verwandte (ihrer Genese Zugehörige) ausgeschnitten werden [muß],
das sich nämlich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten
anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet“.102 Für das Hineinbilden des
Göttlichen vermittels Herausschneidens des Menschlichen sollen die Herrscher des
Idealstaates – „zum Wohle der Beherrschten“ – nicht nur zu Lüge, Täuschung und Betrug
greifen.103 Sie sollen sogar, insgeheim, staatlichen Kindermord praktizieren, damit
sichergestellt sei, daß ausschließlich jene Sprößlinge der Herrscherklasse aufgezogen werden,
98
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München o.J. (zit.: Vita activa), § 31, S. 215.
Platon, Politeia, 562 f, bes. 563 a 1 f und 563 b 3-6.
100
H. Arendt, a.a.O.
101
Politeia, 433 a 6-9.
102
Platon, Politeia, 519 a 8 - b 4.
103
Ebd., 459 c-d.
99
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
92
die sich als die tüchtigsten erwiesen haben: Politeia 459 d – 460 c und 461 c 4f. Eingeschoben
wird die rassehygienische Behauptung, das Geschlecht der Wächter müsse eben „rein“ sein.104
Wem stockt bei dieser Lektüre nicht der Atem? Einer solchen ‚politischen Bildung’ ist
offenbar – kosmostheologisch – fast alles erlaubt. Sie kennt nicht die, in dem andersgearteten
Geist der Bibel angelegte, Norm der Menschenwürde. Ebenso ist sie unberührt von dem
normativen Begriff eines rein kommunikativen Handelns, der den zwischenmenschlichen
Umgang jesuanisch bzw. mosaisch und prophetisch an das Gebot der Nächstenliebe bindet105
oder ihn (letztlich) an den Normen mißt, die ‚wir’ als Partner eines gewaltfreien,
argumentativen Dialogs bereits in Anspruch genommen haben und auch anerkennen sollten,
weil wir sie ohne Selbstwiderspruch nicht in Zweifel ziehen können.
Zwar suchte Platon, wie Jonas sagt, „nach einem Staat, in dem Sokrates nicht zu sterben
braucht“106, doch läßt sein idealstaatlicher Entwurf keinen Raum mehr, um den Sokratischen
Logosgrundsatz als Diskursgrundsatz zu vertreten, also im Blick auf verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit und zu achtende Menschenwürde. Gemessen an einer Kohlbergschen
Entwicklungslogik des moralischen Urteils, läuft Platon mit der Idee des Guten zwar auf die
moralische
Prinzipienstufe
6
vor
–
wenngleich
nur
in
eudaimonistischer,
verbindlichkeitsunfähiger Perspektive –, entzieht ihr aber sowohl die Gewissensfreiheit als
auch den Selbstzweck der dialogbezogenen Anerkennung der Anderen und des Individuellen.
Infolgedessen fällt er von der metakonventionellen Moralebene zurück auf ein RollenTugend-Ethos der Stufe 3 und ein rigides Ordnungs-Institutionen-Ethos im Sinne von Stufe 4,
das aber von rechtsstaatlichen Grundsätzen wie den der Gleichheit der Rechtspersonen weit
entfernt ist.
Karl Raimund Popper, der die „Politeia“ in seinem Exil, auf der Flucht vor dem
Nationalsozialismus und angesichts des kommunistischen Totalitarismus gelesen hatte,
wertete Platons Anwendung der Ideenlehre auf das gesellschaftliche Leben als
paradigmatischen, Geschichte machenden Angriff auf „die offene Gesellschaft“107,
104
Ebd., 460 c 6, vgl. 459 e 1 f.
Darauf kommen wir im Zusammenhang mit Augustinus zurück: Hier Kapitel 2.6.1.
106
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.
1979, S. 298. Befremdlicherweise übt Hans Jonas an Platons Utopie nicht eine anthropologische Sinnkritik, wie
er sie in aller Schärfe Ernst Bloch gegenüber vorträgt, obgleich auch von ihr gilt, daß sie kein sinnvolles
„Wunschbild menschlichen Glücks“ bietet, weil sie unvereinbar ist mit „der Permanenz echten“, d.h. seiner
Würde, Freiheit und ‚Gebürtigkeit’ i.S. Hannah Arendts entsprechenden, „menschlichen Lebens“ (vgl. ebd., S.
378).
107
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft, I (1957).
105
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
93
wenngleich deren Idee, ein Kind der Aufklärung und eines normativen Liberalismus à la
Kant, durch die Wirkungsgeschichte der Platonischen Politik eher verzögert und dann erst
konterkariert worden ist. In der Tat lassen sich Platons idealstaatliche Überlegungen und
deren unmenschliche Folgerungen nicht als Überzeichnung resp. Übertreibung oder gar als
Ironie bagatellisieren. Vielmehr zieht Platon damit die Konsequenzen aus seinem Ansatz:
sowohl aus einem durch und durch akommunikativen Vernunftbegriff, der nicht den Dialog
und die argumentative Berücksichtigung bzw. Geltungsprüfung realer Ansprüche zum Prinzip
macht, sondern die Schau einer vorgeblich göttlichen Einheits-, Ruhe- und Ewigkeitsordnung
des Kosmos. Die ist freilich ein spekulativer Ordnungsmythos und mündet in eine „totalitäre
Gerechtigkeit“108, die die Maximen „Bringt die politischen Veränderungen zum Stillstand!“
und „Ersetzt die Pluralität durch Eintracht!“ kosmostheologisch abzuleiten versucht.
Sowohl Kommunikation mit möglichen Betroffenen über ihre Werte, Interessen und
Ansprüche, also eine Sinnverständigung, wie auch ein kommunikativer Diskurs über deren
Berechtigung, im Sinne der Geltungsgegenseitigkeit, ist ausgeschlossen, wenn man wie
Platon denkt: als metaphysischer Intellektualist, der eine theoria auf den natürlichen Kosmos
richtet und dessen spekulativ erschlossene Strukturen dann daraus Normen für das politische
Leben ableitet. Eben das ist die eigentümlich Platonische Spielart des naturalistischen
Fehlschlusses, die den Mittelteil der Politeia durchherrscht.109 Karl-Heinz Ilting hat das in
unerbittlicher Schärfe herausgearbeitet: Was immer Platon
„zweckmäßig zu sein oder seinen eigenen Wertvorstellungen zu entsprechen schien, nannte er
‚natürlich’. Daher erklärte er sein Modell eines Idealstaates und die dort vorgesehene
Herrschaftsordnung ganz unbefangen für naturgemäß und glaubte sich damit jeder weiteren Frage
nach rationaler Begründung enthoben. Daß Normen und Werturteile sich im übrigen prinzipiell nicht
aus Tatsachenfeststellungen und Naturbeschreibungen ableiten lassen, war ihm dabei ebensowenig
klar wie irgendeinem anderen Autor vor Hume.
Einen besonderen Grund hatte diese Unklarheit bei Platon in seiner Neigung, die vermeintlich
naturgemäßen Normen und Ordnungen mit Hilfe seiner Ideenlehre als etwas unveränderlich Seiendes
zu deuten, das in Akten intellektueller Anschauung unmittelbar erfaßbar sei. Ohne sich viel um den
fundamentalen Unterschied zwischen seiner teleologischen Naturauffassung bzw. Güterlehre und
seiner Lehre von den erfahrungsunabhängig erkennbaren Ideen zu kümmern, faßte er vielmehr beide
Zur Unvereinbarkeit von Platons kosmostheologischem Idealismus und dem christlich humanistischen
Neuplatonismus, der die Idee der Menschenwürde vorbereitet, vgl. D. Böhler, Ethische Motive der
humanistischen Neuzeit, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studienbegleitbrief 0, hrsg. vom
Deutschen Institut für Fernstudien, Weinheim/Basel 1980 (zit.: Ethische Motive (1980)), S. 108-118, bes. 110113.
108
K.R. Popper, a.a.O., S. 126 und das gesamte Kapitel „Totalitäre Gerechtigkeit“, S. 126-168.
Auch Hans P. Schmidt, Frieden (1969), S. 49ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
94
Konzeptionen im Mittelteil der ‚Politeia’ unbedenklich in einer Lehre von der teleologischen Idee des
Guten zusammen. ‚Natur’ und ‚Idee’ wurden für ihn dadurch zu miteinander vertauschbaren
Ausdrücken.“110
Im Mittelteil der „Politeia“ kosmologisch ansetzend schließt Platon von der Natur des
Kosmos, deren Ordnung sich dem Ideenblick des Philosophen zeigt, auf die Ordnung, die sich
die Menschen geben sollen. Weil dieses Sollen, dieser normative Orientierungsgehalt, damit
er gelten kann, Anerkennungs- und Zustimmungswürdigkeit seitens der Menschen
voraussetzt, Platon diese aber nicht aufzeigt, bleiben seine Sollenszumutungen ohne
zureichenden Grund. Die Verbindlichkeitsfragen, warum man seine Seele unbedingt in jene
Harmonie bringen solle, und weshalb diese Seelenordnung auch das normative Fundament für
die Pflichten und Rechte der Menschen als Polisbürger sei, bleiben ohne Antwort. Ja, sie
werden nicht einmal gestellt.
Wenn ein Sollen allein aus natürlichen Gegebenheiten oder anderen Fakten abgeleitet wird –
also ohne Gründe für die einsehbare, aus freien Stücken anerkennungswürdige
Verbindlichkeit einer Orientierung an den hervorgehobenen Gegebenheiten, dann ist der
Schluß ungültig: ein naturalistischer oder faktizistischer Fehlschluß eben. Dasjenige, was sich
metaethisch, wenngleich ex negativo aus der „Politeia“ lernen läßt, und zwar insgesamt: aus
ihrem Eudaimonismus, ihrer Ideenlehre und ihrer (unbestimmten) Idee des Guten, worin
beide gipfeln, ist vor allem dreierlei.
(1) Keine Ethik kann das Verbindlichkeitsproblem umgehen, wenn anders sie dem
naturalistischen Fehlschluß ausgeliefert ist und im Diskurs ihre Glaubwürdigkeit einbüßt.
(2) Die Verbindlichkeit moralischer Normen setzt freie Anerkennung der Normadressaten
voraus, wie etwa Popper und Ilting betonen. Aber das Faktum einer freiwilligen
Anerkennung, die zu einer Übereinkunft bzw. einem vertrag führt, ist nur eine notwendige,
keine hinreichende Bedingung für dessen Verbindlichkeit.
(3) Wer annehmen wollte, die freie Anerkennung einer Norm sei hinreichend, deren
Verbindlichkeit
zu
begründen,
wie
es
der
Dezisionismus,
Liberalismus
und
Konventionalismus unterstellen, der beginge einen neuerlichen naturalistischen Fehlschluß
109
Vor allem: Politeia 507 a 7-519 c 7.
K.-H. Ilting, „Naturrecht“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze u. R.
Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 252.
110
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
95
und müßte sich selbst als Diskurspartner widersprechen.111 Denn diese, von jedem, der etwas
denkt und geltend macht, im vorhinein eingenommene kritische Rolle hängt zur Gänze davon
ab, daß ihre Grundunterscheidungen, nämlich ‚faktische Anerkennung versus hinreichend
begründete Anerkennung’ und ‚faktische, begrenzte Kommunikationsgemeinschaft versus
reine, unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft’ im Denken und Diskutieren berücksichtigt
werden. Daraus ergibt sich: Die bloße Tatsache, daß eine Norm von einer Gruppe anerkannt
worden ist, kann noch nicht der hinreichende Grund ihrer Verbindlichkeit sein; vielmehr ist
deren Anerkennungswürdigkeit aus universalisierbaren Gründen anzustreben. Praktisch
verlangt das einen argumentativen Diskursprozeß, der sich der regulativen Gültigkeitsidee
einer reinen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft unterstellt.
2.4
Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens.
Der Gemeinschafts- und Geltungsbezug der Rede als Basis einer dialogischen
Sinnkritik.
In dem sprachphilosophischen Dialog „Kratylos“ nimmt Platon expressis verbis die
Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis an und stellt das methodologische Postulat auf,
man solle die Dinge besser ohne Worte, nämlich durch verwandte Dinge, oder durch sie selbst
erkennen (438 e - 439 b). Was in dem, kurze Zeit darauf entstandenen, „Phaidon“ schon als
„abgedroschen“ gilt, die Erkennbarkeit der Ideen ohne Worte (100 b), wird in „Kratylos“
entwickelt. Hier sucht Platon nach einem „Paradigma“ für die richtige Benennung und
Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie
hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg
zur „Idee“ der Dinge, welcher vermittels Worten als den „Werkzeugen“ der Benennung zu
beschreiten sei. Dieser Weg führe von einem, in verschiedenen Sprachen durchaus
unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein und dieselbe „Idee des Wortes“, also den
(idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das Wesen der Dinge selbst als dem „bestimmten
Sinn“ der Wortidee und damit auf die sprachunabhängige Idee.112
Diese ideentheoretische Ausklammerung des sprachphilosophischen Bedeutungsproblems,
welche
die
Konstitution
der
Wortbedeutungen
von
dem
realen
geschichtlichen
Sprachgebrauch und deren Geltung von einem möglichen dialogischen Konsensus abtrennt,
111
Vgl. K.-O. Apels Auseinandersetzung mit K.-H. Ilting: „Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige
Anerkennung?“, in: Auseinandersetzungen, Ffm 1998, S. 221-280.
112
Platon, Kratylos, 389 a-390 a; vgl. 422 d-424 e, 428 c-428 d/e und 438 a-439 b. Dazu J. Derbolav, Platons
Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58f, 89 und 95ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
96
ist in Platons Werkzeugmodell der Wortbildung angelegt: Wie der Werkzeugmacher, etwa der
Tischler, beim Verfertigen eines Weberschiffchens auf das Musterbild seines Werkzeugs
(είδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ίδέα (idea) und gebe sie wieder (389 b
8 -390 a 7). So enthebt Platon eigentlich uns, die Wortbildner, eines Dialoges, einer
Verständigung über den Sinn und dessen Abgrenzung in einem sprachlichen Ausdruck. Dabei
setzt er zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung prinzipiell
einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß Sprachschöpfung
bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung nach dem akommunikativen Modell
des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht werden kann – also in einer
bloßen Subjekt-Objekt-Relation.
Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des
Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, einsam und für sich
allein, ein Objekt produziere, so schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus.
Es ist dieser ganz und gar subjekt-objekttheoretische und herstellungstechnische
Zusammenhang, in dem Platon „als erster das Wort ‚Idee’ als ein Schlüsselwort
philosophischen Denkens einführte“. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff
zum philosophischen Terminus erhob, der „ursprünglich im Herstellen erfahren war“.113
Ganz konsequent löst Platon im „Phaidon“ und „Phaidros“ auch den anamnetischen Weg des
Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen
wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung
eingeleitet114 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: die
Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen115, auf deren Erkenntnis der
Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne116. Daß die Sprache die
Sinnbasis auch für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat
Platon, wirkmächtig bis heute, verdrängt.
Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten
Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm
entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene
Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun: Zuallererst gilt natürlich, daß
Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens.
Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige
113
H. Arendt, Vita activa, S. 220, vgl. S. 129.
Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3ff.
115
A.a.O., 74 d 6-75.
116
Platon, Phaidros, 249 b 6-249 c 3 und 265 d 3-265 d 5.
114
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
97
Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen
Einsichten. Anderenfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit
einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits.
Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es
damit die Bewandtnis eines „Zwar – aber“: Auf der einen Seite steht die Dominanz der
kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur,
was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen?
Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im „Sophistes“ und im
„Theaitetos“, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise,
entstanden sein dürften. In dem späteren „Sophistes“ setzt der Fremde aus Elea zunächst
Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich
selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne.117 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe
sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines
kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der
Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Worten bediene: „Der Ausfluß von jenem
[dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).“118
Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοέισθαι, in dem wohl
nach 365 verfaßten „Theaitetos“ als „eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über
dasjenige durchführt, was sie erforschen will“, und zwar indem sie mit sich selbst rede
(διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und verneinend.119 An dieser
Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als
Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen.
Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, Dietrich Böhler, diese Erörterung
verfasse, ein Selbstgespräch in Platons Sinne? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem
Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Selbstgesprächs zu? ‚Ich’ frage doch
nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst, treffe nicht allein Ja- und NeinStellungnahmen, wenngleich das Etwas-Denken noch heute, und selbst von Habermas120,
meist so beschrieben wird.
117
Platon, Sophistes, 263 e 8f.
Platon, Sophistes, 263 c 3.
119
Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 – 190 a 2.
120
J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns, I (1981), S.65: „Die zulässigen Reaktionen [auf eine Äußerung
mit Geltungsanspruch] sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“ Mit dieser traditionellen Bestimmung
übergeht Habermas die vierte zulässige Reaktion, die Rückfrage nach der Bedeutung des Gemeinten oder die
Infragestellung der Verständlichkeit des Gesagten als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als eines
prüfbaren Diskursbeitrags, den andere Diskursteilnehmer als einen solchen annehmen, d.h. pragmatisch
verstehen können. (Zudem fragt er nicht nach, ob eine Enthaltung wirklich immer zulässig ist oder wann sie
118
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
98
Eine solche Beschreibung verkürzt die kommunikativen Dimensionen der Pragmatik, welche
der sachbezogene Sprecher zwar im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber
getragen wird: man berücksichtigt dann bloß die satz-semantischen und pragmatisch
semantischen Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den
(assertorischen) Satz als Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält,
„bipolar“ sind.121 Nur dann kann man in der Tat mit Tugendhat annehmen, die „Grundmodi“
des Sprachhandelns seien „wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen“.122
Erweitern wir hingegen den Blickwinkel, berücksichtigen wir den ursprünglichen Kontext, in
dem eine Aussage jeweils vorgebracht wird und als eine Ansprache an andere verständlich ist,
nämlich das Zwiegespräch bzw. den Diskurs, dann erkennen wir: Im Dialog können Sprecher
auch mit Urteilsenthaltung123 reagieren. Dann lassen sie die Wahrheit oder normative
Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein – als unentschieden oder moratorisch oder gar als
unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das Denken als argumentativem Dialog ist freilich
das sinnkritische Rückfragen. Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten
gehen kann, sondern als trans- und intersubjektives Erheben und Prüfen von
Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen Diskurs eröffnend oder fortsetzend, hat es
auch die eigentümlich reflexive und horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon
hat Sokrates schon einen gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: wenn ein Elenchos zur
Selbstaufhebung einer These führt bzw. vorführt, daß sich eine Position nicht als
Diskursbeitrag verstehen und durchhalten läßt, dann leistet er eine dialogische Sinnkritik.
Diese sokratische Option steht jedem Diskurspartner offen, sofern zweifelhaft ist, ob sich der
Aussagegehalt einer Behauptung oder die als gültig vorausgesetzte Präsupposition einer Frage
vereinbaren läßt mit den normativen Sinnbedingungen der Dialogpartnerrolle des Sprechers.
Da jeder, der über etwas nachdenkt, den dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur
durchführen kann, indem er sich an den Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen
Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit
einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken
gegenüber Anderen wie sich selbst hinsichtlich seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation
unzulässig wird. Ist das nicht immer dann der Fall, wenn sich dahinter die Weigerung verbirgt, auf das
Verhältnis von Geltungsanspruch und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren und
Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte überhaupt mit der eigenen Rolle als eines
Partners im argumentativen Dialog vereinbaren läßt?)
121
L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1960, S. 188.
122
E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 518, vgl. 76f, 242f, passim.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
99
nachdenkt, provoziert er Fragen zweiter Ordnung: diskurspragmatische Verstehensfragen, die
sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer dialogischen Handlung zur Einlösung der
charakteristischen Geltungsansprüche beziehen.
So kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage auslösen, wie das
Gesagte denn genau gemeint sei; und ‚mein’ Gegenüber kann ‚mir’ entgegnen: „diese
Aussage (n) habe ich nicht verstanden“. Und die eigentlichen Gültigkeitsansprüche auf
Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der implizierten Normen
können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: „diese deine Behauptung kann ich gar nicht
als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt bestimmten Geltungsansprüchen
zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann sie nicht als
Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen Dialog sinnlos
ist.“
Solche
typischen
Diskursakte
sind
weder
Ja-oder-Nein-Stellungnahmen
noch
Urteilsenthaltungen, sondern Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden Ansprüchen
seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung des
Opponenten über die Sache ins Spiel, sie erinnern den Proponenten vielmehr an seine
diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein
Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs
übernommen
hat.
Sie
setzen
den
sozialen
und
daher
normativ
geladenen
Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher als Diskurspartner in sein Recht. Uno
actu machen sie – durch dieses Recht der gemeinsamen Institution Diskurs legitimiert und
mandatiert – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher geltend.
Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und
normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-undNein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer
zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe
‚ich’ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z.B. der Autor D.B. auf Platon,
Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen Sie, meine
Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen, das meine
Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte.
Inwiefern und warum? ‚Ich’ kann, wenn ‚ich’ etwas denke (oder ‚du’ etwas denkst), mich gar
nicht anders verhalten als so, daß ‚ich’ (resp. ‚du’) sowohl die Verstehbarkeit als auch die
123
Vgl. K.E. Tranøy, Pragmatik der Forschung, in: D. Böhler u.a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), S. 3654, hier: S. 40f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
100
mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche –
gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ‚ich’ rede, aber auch allen
möglichen Anderen gegenüber.
Wenn wir uns auf einen sinnkritischen sokratischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der
das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur
eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose
Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als
Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer Relevanz
Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: ohne Verstehbarkeitsanspruch
bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne
Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere
Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu
kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche
könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst.
Wir wüßten nicht, worüber wir mit wem diskutieren könnten. Eine Diskussion könnte es nicht
geben.
Nun müßten wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die
‚wir’ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und
warum ‚wir’ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen – auf alle möglichen
Argumentationssubjekte und deren Argumente müssen beziehen sollen.
Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen
gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch
damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich
ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß
du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer
teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch
mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also
beziehst
du
dich
implizit
auf
eine
empirisch
kaum
begrenzbare
reale
Kommunikationsgemeinschaft, z.B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch
gesprochen haben.
Diesen realen Gemeinschaftsbezug habe ich bei anderen Gelegenheiten als die geschichtlich
pragmatische Dimension bezeichnet, die die Rede immer schon im Rücken hat – als
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
101
lebensweltlichen Hintergrund tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns.124
Mitglieder einer oder mehrerer umgangs- und bildungssprachlicher, real geschichtlicher
Kommunikationsgemeinschaft(en), schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das
die Sprecher ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit all diesen sind wir
unausdrücklich als mit unseren impliziten Mitsprechern verbunden, wenn wir laut oder leise
reden, in Gespräch oder Selbstgespräch.
So
ergibt
sich
schon
aus
diesem
Grund,
nämlich
aus
der
geschichtlichen
Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und Etwas-Denkens, auf die der
rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer,
Apel) aufmerksam machen, daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer
Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit
Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt:
Auch wenn unsere Gedanken überhaupt nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind
sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart
bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich
mit Apel als „das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“125 einer intersubjektiven
Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als
„das Prinzip der Wirkungsgeschichte“126.
Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem
„apriorischen Perfekt“ (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß
ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung
begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses
Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu
suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die
nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt
veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei
von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die
syntaktische und die umgreifende pragmatische, weiter differenziert.
124
D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S.360ff.
Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 338ff, 397-435, 178-219 und Transf. d. Philos., I (1973), S.
22-76.
126
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1965), S. 250-290, 324-395.
125
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006]
102
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
103
Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-Etwas-Redens bzw. Etwas Denkens
dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u.
Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“
S2, 3,
...
pragmatisch-semantische Dimension.:
Wortgebrauch
referentiell-semantische Dimension.:
Situations- bzw. Sachbezug
Z
Z
SxÆ∞
Z
Sit
Z
Syntaktische
Dim.∗
S1
Z
Sn, n 1, n 2,
...
geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlich-kulturellen
Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“
Erläuterungen:
Sit
Z
S1
S2, 3, ...
S xÆ ∞
∗
Situation bzw. Sache
Sprachzeichen
Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug darauf
handelndes) Subjekt
faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft, auf die sich S1
bezieht.
kontrafaktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft
als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ...
S1 ______________ Z
S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞
Z .............................. Sn, Sn1,
Sn, Sn1,
n2 ...
n2 ...
pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendung eines
Sprechers/Denkenden
dialogisch-pragmatische Dimension der Voraussetzung bzw.
Erhebung und Prüfung von Geltungsansprüchen im Diskurs
geschichtlich-pragmatische Dimension der Traditionsvermittlung
und Institutionalisierung von Sinn
lebensweltliche Sprach- und Kulturgemeinschaft, von der jeder
schon Sinn und Bedeutung übernommen hat
Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher
Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) verständlich ist.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
104
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
105
Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele ist die,
in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der „geschichtlich-pragmatischen Sinn-Dimension“ von
der „dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension“ von besonderer Bedeutung. Denn beide Begriffe
verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der
sich jedoch auf den anderen Aspekt intern bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende
bzw. als Diskursteilnehmer Geltung beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne
den Kontext einer realen Sprach- und Traditionsgemeinschaft, aus der sie erst den sprachlichen Sinn
und die Wortbedeutung beziehen. Umgekehrt müßte die sprachgemäße Wortverwendung,
Sinnübernahme und Sinnschöpfung in Sprechakten blind und rechtfertigungsunfähig, also bloß
willkürlich oder gänzlich heteronom bleiben, wären sie nicht verknüpft mit tragenden
Geltungsansprüchen, hinsichtlich derer die Behauptungen (und die als sinnvoll etc. behaupteten
Fragen), überprüft werden könnten.
Den von einer Rede nicht abzuziehenden Geltungssinn, der den Mitdenkenden, darunter dem
Sprecher selbst, erst das Mandat der Kritik vermittelt, hat Platon zweifellos gedacht – so im Begriff
des richtigen Logos (ορθός λόγος, orthos logos) und im Begriff der Idee. Nicht zuletzt damit hat er
dem europäischen Denken einen kritischen Impetus, ja eine kritische Gesinnung übermittelt. Doch
siedelt er diese, die Denkenden zur Kritik seines Etwas-Meinens und -Sagens anhaltenden Begriffe
einfach in der Beziehung des Denksubjekts auf den gedachten, und zwar intelligiblen Gegenstand an
– übertragen auf unser semiotisches Schema: in der metaphysisch überhöhten referenzsemantischen
Dimension der reinen Strukturen und Muster bzw. „Paradigmen“. Damit verdeckt er „das eigene
Wesen
der
Sprache“
(Gadamer)
gründlich.127
Wieso?
Er
ignoriert
den
zweifachen
Gemeinschaftsbezug der Sprache als Rede, genauer: das zwiefache soziale, dialogische, daher
mehrstellige Verhältnis zwischen einem Denk- bzw. Redesubjekt und anderen solchen Subjekten. Es
ist eingelagert in den Sachbezug des Denkens/Redens, und es trägt diesen, indem es sowohl
Bedeutung als auch Geltung ermöglicht.
Sein Modell ist nicht die Teilnahme an einer Gemeinschaft und deren Diskurs, es ist das je einsame
Schauen eines Bildes bzw. eines Musters oder der Gestalt eines herzustellenden Dinges, so wie er es
im X. Buch der „Politeia“ am Handwerkermodell erläutert.128 Geleitet und verführt vom Schein der
theoria-Metapher, die das Etwas-Denken nicht als Verständigung über Sinn und als Kooperation über
Geltung (Wahrheit und Richtigkeit) sondern als einsam mögliches Erschauen unterstellt, verharrt
Platon in einer Subjekt-Objekt-Relation, die als solche bloß zweistellig ist.
Infolgedessen überspringt Platon neben der Sinnbeziehung des Gesagten auf eine reale geschichtliche
Kommunikationsgemeinschaft auch die Geltungsansprüche eines Gedankens als Diskursbeitrag, also
127
128
So H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 385.
Platon, Politeia, 595 c 7 - 597.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
106
die Geltungsbeziehung einer Rede auf das ideale Diskursuniversum. Dieses ist freilich ein regulatives
Prinzip: Inbegriff eines Diskussionsforums, auf dem einzig sinnvolle Diskursbeiträge zählen würden
und wo alle, samt und sonders alle, sinnvollen Argumente zur Sache die gehörige Berücksichtigung
fänden. Wer an die ewigen Seins-Ideen glaubt und vermeintlich den Zugang zu ihnen besitzt, bedarf
einer solchen regulativen, daher zur Selbstkritik auffordernden Geltungsinstanz nicht. Er ist sich des
Wahrheitsbesitzes sicher.
Ebenso bedeutsam für sein Selbstverständnis wie für seine geistige Wirkung ist seine Unterscheidung
von νούς und διάνοια. Dort, wo er in weitem Sinne und unterminologisch von dianoia als
menschlichem Erkenntnisvermögen spricht, kann er dieses Vermögen in den Dienst der intuitiven
Vernunft als Kosmos- und Ideenschau stellen. Wo er hingegen die höhere Erkenntnisweise der
Vernunftschau abgrenzt von den unteren Erkenntnisweisen der reinen Wissenschaften, und zwar nach
dem Paradigma der Geometrie, spricht er terminologisch von dianoia (im engen Sinne). Damit meint
er eine Verstandeserkenntnis, welche durch lückenlose Schußfolgerungen, unterstützt von
anschaulichen Zeichnungen, „direkt zu einer Lösung, einem ‚quod erat demonstrandum’ der
vorgelegten Aufgabe“ führt.129 Diese Unterscheidung trifft und erläutert er im Liniengleichnis. Die
Geometrie gilt ihm deshalb als Muster der dianoia, weil ihr Verfahren Hilfsmittel der sinnlichen
Anschauung verwende, und auf unbewiesenen Hypothesen aufbaue. Obwohl es ihr um Ideen wie die
des Geraden und Ungeraden der geometrischen Formen und Winkel gehe, arbeite sie – zeichnend –
stets mit Abbildern als Hilfsmitteln der sinnlichen Anschauung. Hingegen sei die noesis eine rein
geistige Anschauung, die über einen großen Umweg nach einem unbedingten Grund suche, dem
Prinzip des Ganzen (αρχή του παντός, arche tou pantos).130
Platon versteht die dianoia nach dem Muster der Geometrie und diese wiederum allein hinsichtlich
ihres Bezugs auf ideale Gegenstände (Zahlen und Formen), geht aber nicht darauf ein, daß auch
dieser Gegenstandsbezug und die geometrischen Konstruktions- sowie Beweisverfahren der
Interpretation in einer Sprachgemeinschaft bedürfen. Aus diesem Grund, und zumal weil er deren
Verfahren zugleich im Blick auf die intellektuale Anschauung der noesis als deren defizienten Modus
erläutert, sperrt er das Selbstverständnis des Denkens ab von dessen intersubjektiver
Kommunikationsfunktion. Daher würdigt er den Logos nicht als ein Ergebnis eines argumentativen
Dialogs. Vielmehr gelangt er zu einer „radikalen Unterscheidung des Denkens von der Sprache als
bloß sekundärem Ausdruck oder Werkzeug (όργανον, organon) der Gedanken“, wie Apel zuspitzt.131
Platons Selbstverständnis zufolge liegt der Geltungsgrund der sokratischen Dialoge nicht in der
dialogischen Argumentation, sondern in der geschauten Idee. Die dialogische Kompetenz gilt ihm
daher bloß als maieutische. So muß er versuchen, seine Definition des Denkens in geltungslogischer
129
130
E.A. Wyller, Der späte Platon. Tübinger Vorlesungen 1965, Hamburg 1970, S. 20.
Platon, Politeia, 509 d - 511, bes. 510 b 4 - 512 d 6.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
107
Hinsicht durch den Mythos einer Präexistenz der Seele und die Annahme einer reinen Ideen-Intuition
zu retten. Wenn diese Prämissen jedoch als nicht tragfähig erkannt werden, bleibt nur der
transzendentalpragmatische Schritt zur Idee der Argumentationsgemeinschaft und damit zu der
transzendentalpragmatischen These: Geltung beanspruchen kann ein Denken allein im Bezug auf
mögliche Dialoge und auf einen Konsens, der selbst in einer unbegrenzten und noch dazu idealen,
weil nichts als sinnvolle Argumente zulassenden Gemeinschaft standhielte. Den sokratischen Weg
des Geistes in die Dialoggemeinschaft hat Platon nachhaltig blockiert, indem er den Logos (Rede und
Sprache) von der Erkenntnis und dem Denken als einem, im Grunde sprach- und
gemeinschaftsunabhängigen, intuitiven Selbstgespräch der Seele ablöste.
Nach Denkweise und Wirkung ist Platon der erste große Ambivalente im philosophischen Diskurs.
Sowohl seine Unterordnung der Kommunikation unter das (als einsame Erkenntnisfähigkeit durch
Ideenschau verstandene) Denken, andererseits seine dialogbezogene Kritik des vermeintlichen
Wissens
und
seine
Rekonstruktion
des
impliziten
Wissens
haben
die
abendländische
Philosophiegeschichte zutiefst geprägt. Durch beides hat Platon den philosophischen Diskurs in Stil,
Logik und in einem zwar erkenntniskritischen, aber akommunikativen Selbstverständnis vorgeformt.
Seine Amalgamierung von sokratischem Dialog und undialogischer theoria hat eine einzigartige
Wirkung entfaltet, so daß sich die abendländische Metaphysikgeschichte in der Tat, nach Alfred N.
Whiteheads Bonmot, als „eine Serie von Fußnoten zu Platon“ lesen läßt.132
Auf signifikanten Krisenschwellen der Philosophie ist jedoch auch Platons Sokrates, wenngleich in
ganz unterschiedlichen Formen, anverwandelt worden: Augustinus, Nikolaus von Kues, teilweise
auch
der
Humanismus
und
Galilei,
dann
Montaigne
und
Descartes,
Kants
kritisch-
transzendentalphilosophischer Ansatz bei der quaestio juris und Habermasens bzw. Apels
sprachpragmatische Reformulierung des Diskursbegriffs geben charakteristische Beispiele.
2.5
Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoria-Ontologie.
Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog?
Platons mit Abstand bedeutendster, doch eigenwillig kritischer Schüler und innerhalb der theoriaOntologie bald sein Widerpart, war der makedonische Arztsohn Aristoteles (384-347 v. Chr.). Mit
gefächertem Interesse für Phänomene, Strukturen und Logik macht er sich einerseits daran,
Phänomene zu beschreiben und zu klassifizieren – der erste interdisziplinäre Phänomenologe großen
Stils; andererseits richtet er, und darin Schüler Platons, einen theoria-Blick auf das „Sein“, der in der
131
K.-O. Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 335.
A. N. Whitehead, Process and Reality, New York 1929, S. 63. (Dt.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie,
Frankfurt a.M. 31987, S. 91.)
132
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
108
Vielfalt und im dynamischen Prozeß des „Seienden“ eine Einheit des „Wesens“ (ουσία, ousia,
Substanz) sucht. Mit besonderer Aufmerksamkeit für das Leben, die Lebewesen und ihre
Entwicklung, versucht er diese dynamische Vielfalt verstehend zu strukturieren: alles Seiende strebe
wie das Lebendige nach einer, in ihm keimhaft angelegten, Gestalt und Seinsform; diese sei der
jeweilige Endzweck (τέλος, telos) seiner Dynamik bzw. seiner naturgemäßen Entwicklung.
Es ist ein zweckgerichtetes, teleologisches Verstehen, mit dem Aristoteles an die Natur – freilich an
die gesamte, nicht nur die organische Natur – und zugleich an die menschliche Sozialwelt herangeht.
In dieser Perspektive entwickelt er sowohl den Kern seiner Seinslehre, der Ontologie, als auch seine
Lehre von den viererlei Ursprüngen eines Seienden. Die Wirklichkeit sieht er als einen
zielgerichteten Prozeß, in dem sich – ich folge der Zusammenfassung Günther Patzigs – drei
Momente unterscheiden ließen: ein Wesen bzw. „eine Substanz (ουσία), an der er sich vollzieht, eine
Form (ειδος), auf die er zustrebt, und die dieser entgegengesetzte ‚Beraubung’ (στέρησις), von der er
ausgeht. Das Seiende ist Stoff (υλη), sofern es (in der ‚Beraubung’) die Möglichkeit (δυναµις)
höherer Formung an sich hat; es ist Form, sofern es die Verwirklichung (ενεργεια, εντελεχεια) einer
Form ist. Form und Stoff, Möglichkeit und Wirklichkeit sind korrelative Begriffe: jeder Stoff hat
schon eine bestimmte Form, jede Form ist nur an ihrem bestimmten Stoff möglich. Die ungeformte
Urmaterie (πρώτη υλη) ist nur ein Grenzbegriff, dem keine Realität zukommt. Erste Annäherung an
die Urmaterie sind die Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde), geformt von den Gegensatzpaaren
Warm-Kalt, Trocken-Feucht. Stofflose Form hingegen existiert: der unbewegte Beweger, göttlicher
Ursprung und Gipfelpunkt zugleich jener Hierarchie, die sich im kontinuierlichen Aufstieg von
niederer zu höherer Form verwirklicht.
Neben die Lehre von den drei Momenten in allem Werden tritt die Theorie von den vier Ursachen:
causa materialis, efficiens, formalis und finalis. Wenn ein Haus entstehen soll, müssen Steine und
Holz bereitliegen (Materialursache), muß ein Baumeister mit Hilfe eines Bauplans die Materie
organisieren (Wirkursache), muß das Endprodukt das Wesen ‚Haus’ verkörpern (Formalursache); und
brauchte man nicht ‚schützende Hüllen für Menschen und deren Besitz’, baute man kein Haus
(Endursache). Entsprechend bei Lebewesen: der Vater teilt als Wirkursache der vom mütterlichen
Organismus vorgeformten Materie das ειδος mit; der embryonale Prozeß wird von dem Ziel (τέλος)
gesteuert, ein neues Exemplar der Spezies, dem Vater gleich, hervorzubringen. Wirk-, Formal- und
Endursache fallen im ειδος zusammen. Nur ‚ein Mensch kann einen Menschen zeugen’, das fertige
Bild des Hauses ‚in der Seele des Baumeisters’ bringt ein Haus hervor. Endursachen regieren die
Welt.
Die Welt im ganzen ist ewig, denn alles Werden setzt schon ein Substrat voraus. Die reine Form des
‚ersten Bewegers’ muß also der Welt eine ewige Bewegung mitteilen. Nun können in endlichem
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
109
Raum nur Kreisbewegungen unaufhörlich fortgehen: unmittelbare Wirkung des Göttlichen νους ist
daher das Kreisen des Fixsternhimmels. Gott ist stofflos und kann also nicht mechanisch wirken: er
bewegt, selbst ruhend, die Welt, so ‚wie das Geliebte’ (Met. Λ, 7), selbst unbewegt, den Liebenden
anzieht. Der Fixsternhimmel ahmt durch ewiges Kreisen die Ewigkeit Gottes auf seine Weise nach.
Dass A[ristoteles] das reine Wesen, die stofflose Form Gottes als ‚Denken’ bestimmt, entspricht
seiner Gleichsetzung des Begriffs mit dem Wesen, der Wahrheit mit dem Sein. Nicht, daß er Denken
und Sein identifizierte; er läßt sie in einer naiven, zugleich tiefsinnigen Weise undifferenziert.“133
Deutlich von Platon und dessen Kosmostheologie beeinflußt, umspannt die Metaphysik des
Aristoteles Ontologie, Physik und Theologie als eine Suche nach den allen Dingen innewohnenden
Zwecken und Formen, auf die sie gleichsam programmiert seien. Der in jedem Seienden angelegte
Endzustand ist für Aristoteles gleichbedeutend mit dessen Natur. Er hat einen strikt teleogischen
Begriff von „Natur“. Die Entwicklung sei auf dessen naturgemäßen Soll- bzw. Endzustand hin
programmiert. Dieser zeige sich in dem fertigen, wirklichen Einzelding als dem konkreten Wesen
(ουσία, Substanz); und zwar an dessen Form (ειδος) bzw. Gestalt (µορφή). Daher falle der Zweck
(das Worum Willen, το ου ένεκα) zusammen mit der einprogrammierten Form eines Dinges. So
bringt Aristoteles drei der unterschiedenen Ursprünge – seit der Scholastik auch causae, also
‚Ursachen’ genannt – in seiner Theorie der bewegten, dynamischen Wirklichkeit aufs engste
zusammen, den Zweckursprung (causa finalis) mit der Wirkursache (causa efficiens) und diese mit
dem Formursprung (causa formalis). Die Form, das Eidos, hebt er als das Wesen hervor, sie sei die
ουσία ανευ υλης,, das Wesen ohne Materie.
Diese spekulative Wirklichkeitstheorie und ihr ziel-verstehender Zugang zu den Phänomenen steht
völlig quer zur Empirie der neuzeitlichen analytischen und (mehr oder weniger) experimentellen
Naturwissenschaften, die auf eine Objektivierung der Naturphänomene aus sind: auf eine
gesetzmäßige Kausalerklärung physikalischer und chemischer Prozesse. Aus der spekulativen
Annahme vermeinter Natur-„Zwecke“, nach denen die Dinge streben, ergibt sich die Methode eines
teleologischen Naturverstehens, insbesondere die eines Verstehens organischer Prozesse – nach
Analogie intentionaler (Handlungs-)Abläufe und in Verwandtschaft zu dem Sinnverstehen dessen,
der ein Buch liest. So verband sich die Aristotelische Naturbetrachtung mit dem Topos vom ‚Buch
der Natur’ bzw. liber naturae, woran sich die Naturerkenntnis und die natürliche Theologie, die Lehre
von der Gotteserkenntnis aus der zweckvoll eingerichteten Natur, bis in die Neuzeit orientiert hat.134
133
G. Patzig, Artikel „Aristoteles“, in: RGG, 3. Auflage, Bd. 1, Tübingen 1957, S. 597-602, hier: S. 599 f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
110
Eine solche qualitative, sinn- und zweckverstehende Sichtweise ist unvereinbar mit der modernen
objektivierenden Außenansicht, die nach den kausalen Bedingungen fragt, welche ein bestimmtes
Naturereignis gesetzmäßig verursachen und einen bestimmten Prozeß ebenso gesetzmäßig auslösen.
In dieser Perspektive versucht man ein Naturereignis nicht etwa zweckbezüglich und gewissermaßen
von innen als Phänomen nachzuverstehen; vielmehr konstruiert man es mit Hilfe bestimmter
Gesetzesannahmen als Fall eines allgemeinen Natur-Gesetzes bzw. einer nomologischen Theorie. So
tritt an die Stelle eines teleologisch verstehbaren Phänomens, von dem angenommen wird, es zeige
sich von sich selbst her, das sinnleere bzw. stumme Objekt einer theoretischen Erklärung. Es bedurfte
einer Denk- und Methodenrevolution, damit es in der Neuzeit, eindeutig mit Galileo Galilei und Isaac
Newton, zur mathematisierten, konstruktiv kausalerklärenden Naturwissenschaft kommen konnte.135
Allerdings hatte dieser Paradigmenwechsel einen organismustheoretischen und ökologischen Preis,
weil er einen Objektivismus der Betrachtungsweise und Methode einschließt – ambivalent für die
Biologie und für den Umgang mit der Natur riskant. Biologisch blendet er ab, daß die Lebensprozesse
in der außermenschlichen wie in der menschlichen Natur ohne die objektiven Quasi-Zwecke der
Organismen wie Stoffwechsel, ‚Selbstentfaltung’ und ‚Selbsterhaltung’ nicht begreiflich sind.136
Ökologisch läßt er außer Acht, daß natürliche Lebensprozesse von einer zuträglichen Umwelt
abhängen. Nun ist aber die faktische Umwelt von Pflanzen, Tieren, Menschen gesellschaftlich –
durch menschliche Kultivierung, Industrie und Technologie – derart folgenschwer verändert worden,
daß es einer lebenssensiblen, ökologisch perspektivierten Technologie bedarf, deren
Selbstverständnis und Methode einer Umweltethik entgegenkommt. Es ist deshalb kein Zufall, daß
seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Hermeneutik, Pragmatik und Ökologie einander in
der Kritik des methodologischen Objektivismus begegneten, der aristotelische Verstehenszugang zur
Natur wissenschaftstheoretisch, naturphilosophisch und kritisch differenziert und ökologisch
aktualisiert werden konnte: nach Hans Jonas’ Pioniertat einer „philosophischen Biologie“ (1966)
zumal von Karl-Otto Apel mit transzendentalpragmatisch wissenschaftstheoretischer Fragestellung
(1979) und von Robert Spaemann sowie Reinhard Löw (1981) in ontologischer Sicht.137
134
Vgl. D. Böhler, Naturverstehen und Sinnverstehen, in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis (1981), S. 70-95; D. Böhler, In
dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 244-276.
135
Vgl. A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft, München 1977. K.-O. Apel,
Das Verstehen – eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. I , Bonn 1955, S.
142-199 (zit.: Das Verstehen (1955)). J. Mittelstraß, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs,
in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger
Kontext, München 1981 (zit.: Naturverständnis (1981)), S. 36-69. D. Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.),
Ethik für die Zukunft (1994), S. 244-276.
136
Dazu: H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973 (zit.:
Organismus und Freiheit (1973)), bes. S. 22ff, 34ff, 53ff, 103ff, 124f und 130ff. K.-O. Apel, Die Erklären : VerstehenKontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a.M. 1979, bes. S. 307ff.
137
Zu Jonas und Apel siehe Anm. 129; R. Spaemann, R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des
teleologischen Denkens, München/Zürich 1981; R. Löw, Zur Wiederbegründung der organischen Naturphilosophie, in: D.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
111
Kehren wir zu Aristoteles, dem Enkelschüler des Sokrates zurück, und fragen nach seinem
Philosophieverständnis, so fällt gleich auf, daß er in erster Linie gegenstandstheoretisch, nämlich
substanzontologisch, dachte, nicht etwa sokratisch dialogisch. Demgemäß begriff er die Philosophie
nicht als methodischen Dialog und als dessen Reflexion, sondern als theoria des Seins. Er suchte eine
durch Prinzipien gesicherte Erkenntnis des Seienden, insofern es ist.138 Unter Prinzipien (αρχαι)
verstand er Quellen bzw. Ursprünge des Seienden, die diesem Grundcharaktere verleihen wie
Selbigkeit der Form (ειδος) und Strebigkeit zum naturgemäßen Zustand, dem Telos – nicht primär
Erkenntnis- und Verfahrensgrundsätze bzw. Beweisaxiome. Solche, wie auch seinen ersten
Verfahrensgrundsatz, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, dachte er sich als verwoben mit
den Ursprüngen bzw. tragenden Charakteren des Seins, in diesem Fall mit der Selbigkeit eines
Wesens dank der Identität seiner einprogrammierten natürlichen Form. Auch darin folgt er seinem
Lehrer Platon, der die Ideen zugleich als Seinsstrukturen und Erkenntnisvoraussetzungen begriffen
hatte. So interpretiert er offenbar den logischen Satz vom Widerspruch in erster Linie als
ontologisches principium, als Formel für die der Selbstidentität der Substanzen. Denn davon geht er
im vierten Buch, in dem er den Satz vom Widerspruch als gültiges Axiom erweist, offenkundig aus:
sowohl im ersten wie im dritten Kapitel. Er bekräftigt diese substanzontologische Deutung139 im
Fortgang von Kapitel 4 mit gegenstandstheoretischen Argumenten, also undialogisch und gegen die
natürliche Sprachpragmatik denkend.
Jene Erkenntnisweise, die das Seiende so erkennt, wie es an sich selber ist, d.h. in seiner Identität und
damit in seinem aktuellen Was- und Eines-Sein, um es in der treffenden Sprache des Thomas zu
sagen – diese Seinserkenntnis nennt Aristoteles die erste Philosophie oder ‚erste Wissenschaft’.140
Sein Wissenschaftsverständnis erkennt der Metaphysiker, der Substanzontologe, den Vorrang vor
Logik und Erkenntnistheorie zu. Denn jene sei absolut wahrheitsfähig, weil sie von dem handele, was
so sei, wie es ist und nicht anders sein kann – im Unterschied zur Praktischen Philosophie, die es mit
den veränderlichen bzw. schwankenden Angelegenheiten der Handlungswelt zu tun habe.141 Was
andere Methoden anbelangt, kann er daher auch den Gegensatz zur Dialektik betonen, weil die es
bloß zum Wahrscheinlichen bringe und beim Erkenntnisversuch stehenbleibe. Erst recht setzt er die
Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994 (zit.: Ethik für die Zukunft (1994)), S. 6879.
138
Aristoteles, Metaphysik, 1003 a 21-32, vgl. 1005a 24 u.ö.
139
Die thomasische Auslegung, derzufolge Aristoteles den Satz vom Widerspruch „offenbar in Zusammenhang mit dem
Seinsmerkmal des Identischen (Selbigen), von dem er in Kapitel 3 sprach“, gesehen habe, trifft m.E. zu. So der
Kommentar Horst Seidls in der Meiner-Ausgabe der „Metaphysik“: Hamburg 1991, S. 349, vgl. 351ff.
140
op. cit., 1004a 3ff
141
Nikomachische Ethik, I, 1094 b12-27
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
112
ontologische Philosophie der Sophistik entgegen, da diese zwar Philosophie zu sein scheine, jedoch
keine sei.142
Für das Selbstverständnis aber auch für die Inhaltsbestimmung des philosophischen Diskurses war
Aristoteles von kaum zu überschätzender Wirkung: seit seiner Wiederentdeckung und theologischphilosophischen Aneignung durch Albertus Magnus und Thomas von Aquin hat er die Philosophie
erneut auf das Paradigma einer metaphysisch teleologischen Ontologie festgelegt. Noch in dem
neuzeitlichen, modernen Paradigma der Subjekt- bzw. Bewußtseinsphilosophie lebte es begrifflich
fort. Doch auch für ein Denken diesseits aller spekulativen Seinslehre, für die Selbstaufklärung des
Philosophierens als eines Denkens im Dialog und als eines Begründens aus dem Dialog ist Aristoteles
von
Bedeutung.
Das
zeigt
sich
heute:
bei
der
Entwicklung
eines
dritten,
nämlich
kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophie nehmen wir den Richtungsstoß wahr, den er
für ein sokratisch dialogisches Selbstverständnis des Denkens als kommunikativ reflexiven Diskurses
gegeben hat.
Paradoxerweise ist es der metaphysische Seinsdenker, der – auf der Suche nach den ersten Quellen
des Seins und den ersten Grundsätzen bzw. Beweisaxiomen der Seinslehre – den Sokratischen
Elenchos als genuin philosophische Begründungsweise erkennt und aufgreift. Denn anders könnte er
sein gesuchtes „sicherstes Prinzip von allen Dingen“, über das „kein Irrtum möglich ist“143, das
ontologische der Identität und damit das logische des Satzes vom (zu vermeidenden) Widerspruch
nicht als unhintergehbares, eben erstes, Prinzip erweisen. In seinen Vorlesungen über eine erste
Philosophie, die viel später, nach der Anordnung seiner Vorlesungen, den Namen „Metaphysik“ – die
nach der Physik – erhalten sollte, stellt er im vierten Buch die Philosophie als diejenige Wissenschaft
heraus, die einerseits vom ursprünglichen Wesen dessen, was ist, handelt und andererseits von den
„allergewissesten“ Axiomen bzw. ersten Grundsätzen.
In Fortführung einer Diskussion mit relativistischen Skeptikern – offenbar mit Herakliteern, die ihm
eine Deduktion des Satzes der Identität und des zu vermeidenden Widerspruchs abverlangt haben –,
entwirft der junge Aristoteles eine reflexiv sinnkritische Argumentation. Er deutet eine
dialogreflexive Letztbegründung des Satzes vom Widerspruch an, um sowohl die Gültigkeit dieses
elementarsten und sichersten aller Grundsätze144 als auch seine Verbindlichkeit für jeden zu erweisen,
der an einem Dialog teilnimmt. Denn jeder, der überhaupt etwas Bestimmtes zu verstehen gebe
(σηµαίνειν, semainein) und geltend mache, also jeder, der überhaupt etwas denkt und etwas zu sich
142
Metaphysik, 1004 b 16-26.
op.cit. 1005 b10-17
144
Ebd., 1005 b 17f und 1005 b 33f.
143
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
113
oder zu einem anderen sagt,145 der habe dieses Prinzip als gültig vorausgesetzt und es zugleich
implizit als eine Grundregel der Rede anerkannt.
‚Nun gut’, kann ein Skeptiker einwenden, ‚so mag es sein. Doch schließt du damit nicht von einem
bloßen Faktum auf die Verbindlichkeit einer Norm? Das wäre ein faktizistischer bzw. naturalistischer
Fehlschluß eigener Art.’
Dieser Einwand läßt sich nur entkräften, wenn man demonstrieren kann, daß jenes Voraussetzen des
Widerspruchssatzes als eines gültigen Prinzips logisch/dialogisch notwendig ist – durch kein
sinnvolles Argument hintergehbar. Dazu tut Aristoteles einen wichtigen Schritt. Denn er kann, wie
jeder von uns, hier eine Sinnbedingung des Etwas-Denkens ins Spiel bringen; mithin als etwas, das
nicht bloß faktisch von N.N. anerkannt worden ist – dann hätte das Anerkannte einen bloß zufälligen
Charakter, so daß ihm keine allgemeine Verbindlichkeit zukäme, vielmehr als etwas, das sich gar
nicht sinnvoll in Zweifel ziehen läßt.
So können wir mit Aristoteles reflexiv sinnkritisch argumentieren: Eine Person, die sich selbst bzw.
Anderen etwas verständlich macht, kann dieses Gesagte/Gedachte allein dadurch als Beitrag in einem
Diskurs zur Geltung bringen, indem sie eine verpflichtende Partnerrolle eingenommen hat: die Rolle
eines Partners in einem Dialog, worin allein diskutierbare Argumente zählen. Denn diese
Voraussetzung stellt, so läßt sich Aristoteles explizieren, eine unhintergehbare Sinnbedingung der
Rede bzw. des Logos dar. Das macht er schlagartig klar: Jeder, der sich nicht davonstehle oder sich
stumm wie eine Pflanze verhalte, sondern Rede und Antwort stehe, müsse – wenn er nur im Dialog
auf die Sinnbedingungen des Rede-und-Antwort-Stehens achte – zugeben, daß keineswegs alles „so“
und zugleich „nicht so“ sein könne; also sei der bezweifelte Grundsatz vom zu vermeidenden
Widerspruch als Prinzip wahr und als Diskursregel verbindlich.
Aristoteles konstatiert, daß diese kritische Argumentation den Satz vom Widerspruch durch
Widerlegung seiner Bezweiflung beweise.146 In der Tat: weder eine Rede insgesamt, also als Beitrag
in einem Diskurs, noch eine Aussage als Satz, die widersprüchlich ist, kann überhaupt eindeutig
identifiziert, intersubjektiv nachvollzogen und auf mögliche Wahrheit hin geprüft werden. Sie ist
sinnlos. Dasjenige aber, an dessen Gültigkeit sich nicht mit einer verständlichen, sinnvollen Rede
zweifeln läßt, das ist gültig. Und sofern dasjenige, an dessen Gültigkeit sich nicht mit einer
verständlichen, sinnvollen Rede zweifeln läßt, einen normativen, moralischen Gehalt besitzt, ist
insofern verbindlich.
Wir können das sinnkritische Aristotelische Argument sowohl satzsemantisch als auch
dialogpragmatisch entfalten.
145
146
Ebd., 1006 a 21-23; hiermit paraphrasiert er übrigens Sokrates nach Platon, Theätet 189 e4-190 a2. Vgl. 1006 b 7-9.
Ebd., 1006 a 15-18 und 1006 a 22-28.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
114
Satzsemantisch besagt es: eine Aussage, die in ein und derselben Hinsicht Verschiedenes besagt,
nämlich zugleich A und non-A geltend macht, ist nicht diskutierbar. Auch wenn man, wie Ernst
Tugendhat, die satzsemantische Lesart wählt,147 hat man mit dem Kriterium der Diskutierbarkeit
implizit
schon
einen
diskurspragmatischen
Standpunkt
bezogen:
man
argumentiert
als
Diskurspartner, der vom Sprecher des Satzes erwartet, daß dieser in einem unausgesprochenen
Behauptungsakt („Ich behaupte hiermit als verständlich und wahr: A ist zugleich A und non-A“)
bestimmte diskussionsermöglichende, weil prüfbare Geltungsansprüche erhoben hat. Also geht auch
der sprachanalytische Philosoph, der Satzsemantiker, von einer diskurspragmatischen Perspektive
aus: er kommt nicht umhin, den zu prüfenden Satz als den propositionalen Teil eines kompletten,
formal vollständigen Diskursbeitrages in einem Dialog zu verstehen – und selbst (virtuell) die Rolle
des Diskurspartners einzunehmen.
Das zeigt, daß eine bloß satzsemantische Analytik gewissermaßen dialogparasitär ist, lebt sie doch
von einem Geltungsinn, den sie als Analyse nicht einholen kann. Dieser Befund berechtigt uns umso
mehr dazu, die umfassende dialogbezogene Perspektive einzunehmen und Aristoteles’ negativen
Beweis auf die ganze Rede zu beziehen: Auch ein formal vollständiger Diskursbeitrag – ein
performativer Akt, der Geltungsansprüche erhebt, in Verbindung mit einer Proposition, für die
Geltung beansprucht wird – ist für Diskurspartner (und auch für den Sprecher als Diskursteilnehmer)
allein dann verständlich, wenn im Verhältnis beider Teile zueinander, also Geltungsanspruch und
Proposition, kein Widerspruchs besteht. Anders gewendet: in dialogreflexiver Einstellung läßt sich,
mit
Ausgang
von
Aristoteles,
demonstrieren,
daß
eine
pragmatisch
bzw.
performativ
widersprüchliche Rede sich überhaupt nicht als Diskussionsbeitrag aufnehmen läßt, weil man sie
weder als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen noch sie auf ihre Geltung hin prüfen kann. Man
kann sie nicht diskutieren. Wer derlei vorbringt, hat durch diesen Akt den argumentativen Dialog
verlassen. Er hat sich – mit dieser Rede – disqualifiziert, so daß sein Votum ausscheidet; es zählt
nicht.
Das wäre der dialogpragmatische Coup des jungen Aristoteles. Für einen Blitzschlag scheint er die
reflexive Einstellung und den ultimativen Status eines sokratischen Elenchos, dessen Rang als
dialogreflexive Gültigkeitserweis eines Prinzips, erspürt zu haben –die Möglichkeit einer
Prinzipienbegründung durch Reflexion im Dialog auf Sinnvoraussetzungen eines Dialogbeitrags
eröffnend. Freilich ist dieser geniale Coup weder von ihm selbst noch von der Philosophiegeschichte
in seiner reflexiven Methodik und seiner fundamentalphilosophischen Bedeutung erkannt,
geschweige denn ausgeschöpft worden. Umso mehr verlohnt es, bei ihm zu verweilen und ihn zu
explizieren – mit Bezug auf Wolfgang Kuhlmanns reflexiv pragmatische Rekonstruktion148.
147
148
Vgl. E. Tugendhat, U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, S. 50-59
W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 267-278.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
115
Aristoteles entdeckt eigentlich, sagten wir, daß eine Rede, die nicht dem Satz vom zu vermeidenden
Widerspruch folgt, nicht verständlich ist. Folge sie ihm nämlich nicht, dann könne niemand, weder
der Sprecher noch die Hörer, wissen, wovon eigentlich die Rede sei, was also diskutiert und auf seine
Gültigkeit hin geprüft werden solle. In solchem Falle bringe der Redende eine These (einen Zweifel
oder eine Bestreitung) vor, die sich nicht identifizieren und als Diskussionsbeitrag nicht verstehen
lasse. Das heißt: ein solcher Gegner diskutiert gar nicht. Zwar scheint er einen Diskurs zu eröffnen,
indem er die Rolle eines Diskurspartners einnimmt (oder prätendiert); doch hält er diese Rolle nicht
durch, vielmehr entzieht er sich durch seine widerspruchsvolle Rede dem Dialog der Argumente, weil
er etwas vorbringt, das Argumentationsteilnehmer nicht als Argument nachvollzieheb und prüfen
könne.
Diese, bei dem jungen Aristoteles zumindest angelegte, reflexive Sinnkritik kann, sofern sie
diskurspragmatisch expliziert und demgemäß durchgeführt wird, sechs Dinge demonstrieren: Jeder
Gedanke basiert auf dem dialogbezogenen Geltungsanspruch, als Diskursbeitrag verständlich zu sein
(1). Dieser Verständlichkeitsanspruch impliziert die Anerkennung, daß der Satz vom (zu
vermeidenden) Widerspruch logisch gültig (2) und für alle möglichen Diskursteilnehmer dialogisch
verbindlich ist (3) –, ein unhintergehbares Sinn- und Geltungsprinzip des Denkens als Diskurs.
Der gemachte Geltungsanspruch auf Verständlichkeit läßt sich nicht elementarsemantisch verengen
auf die Nachvollziehbarkeit eines sprachlichen Ausdrucks, sondern geht primär auf den direkten
Kontext einer Redehandlung als Diskursbeitrag, der sich auf seine Gültigkeit oder Ungültigkeit hin
diskutieren läßt. Der Verständlichkeitsanspruch ist also, weil er darauf zielt, daß man das Gesagte als
Diskursbeitrag ernstnehmen und hinsichtlich seiner Geltungswürdigkeit prüfen kann, verwoben mit
Ansprüchen der Gültigkeit, nämlich mit dem theoretisch-empirischen Geltungsanspruch auf Wahrheit
und dem praktischen auf Richtigkeit bzw. Legitimität (4).
Der dialogpragmatische Schluß auf die Sinnlosigkeit eines Zweifels an der Gültigkeit und
Verbindlichkeit des Satzes vom Widerspruch ist schlagend. Ein dialogreflexiver Schluß zeigt sich als
eigenständiger Beweis. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Beweisart zu tun, als es die
aussagenlogische Deduktion eines Satzes aus Obersätzen ist: hier liegt ein sinnkritisch reflexiver
Aufweis oder Elenchos vor (5).
Die sinnkritische Evidenz des dialogreflexiven Elenchos unterscheidet ihn scharf von einer
formallogischen Ableitung. Denn ein deduktiver Beweisgang führt in einen unendlichen Regreß auf
wiederum bezweifelbare, beweisbedürftige Axiome oder zur dogmatischen Festsetzung eines
„ersten“ Axioms, die den Begründungsdiskurs abbricht, oder aber zu einem logischen Zirkel, weil auf
begründungsbedürftige Aussagen zurückgegriffen wird. Das ist die Einsicht in das von Jakob
Friedrich Fries (1773-1843) und Hans Albert dargelegte Münchhausentrilemma (6a). Hingegen
eröffnet der reflexive Rückgang auf interne Sinnbedingungen des Diskurses einen abschließenden
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
116
Gültigkeits- oder Verbindlichkeitserweis, eine „reflexive Letztbegründung“ (W. Kuhlmann) bzw.
einen dialogreflexiven Erweis (6b)149. Denn wenn ein Dialogpartner dem anderen reflexiv aufzeigt,
daß dieser die logische Geltung und dialogische Verbindlichkeit eines als Prinzip behaupteten Satzes
nicht ohne pragmatischen bzw. performativen Selbstwiderspruch (zu der von ihm selbst in Anspruch
genommenen Rolle eines Diskurspartners) bezweifeln kann, so demonstriert er sinnkritisch, und zwar
unhintergehbar, daß eben dieser Satz gültig und sein normativer Gehalt verbindlich ist – ein absolutes
Prinzip des Denkens als Diskurs. Das ist die Pointe einer aktuellen, sokratisch sinnkritischen
Dialogreflexion. Karl-Otto Apel hat sie in der Auseinandersetzung mit Hans Albert angebahnt und
auf die Formel „Reflexion auf den Diskurs im Diskurs“ gebracht.150 Die Diskurspragmatik zeichnet
eine solche Dialogreflexion als den eigentlichen philosophischen Beweis aus.
Das, was der frühe Aristoteles in der Diskurssituation der Prinzipienbegründung entdeckt oder doch
gegenüber Prinzipienbezweiflern in Anspruch genommen hat, die Umstellung des Etwas-Denkens zu
einer aktuellen Reflexion auf dessen Sinnbedingungen in dem gerade geführten Dialog, kann er
jedoch weder als Ontologe, der theoretisch spekulativ denkt, noch später als Logiker, der bloß
theoretisch analytisch verfährt, in Besitz nehmen. Denn wer allein in theoretischer und analytischer
Einstellung über etwas nachdenkt, statt auf seine dialogische Praxis zu reflektieren, der vergißt
methodisch, was er dialogisch tut bzw. je schon getan hat, nämlich daß er selbst Geltungsansprüche
gegenüber Anderen erhoben hat.
So vergißt der spätere Aussagenlogiker Aristoteles das – für die Selbsteinholung des Diskurses und
damit für die Letztbegründung von Prinzipien ausschlaggebende – dialektische Zugleich von
theoretischer Einstellung und aktuell reflexiver Einstellung, wenn er den Elenchos nur als
analytisches Instrument entwickelt: als indirektes Verfahren eines Beweises durch Widerlegung einer
aufgestellten Behauptung.151 Der Elenchos habe „die Form der reductio ad absurdum, welche den
Schluß auf die Negation der widerlegten Aussage erlaubt“152. Doch behandelt ein solches
formallogisches Beweisverfahren die (in unserem Zusammenhang als unbezweifelbar gültig) zu
erweisende Präsupposition (hier: ‚der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist unhintergehbar’)
nur wie eine Prämisse in einem Syllogismus. Für den, der so verfährt – bloß analytisch technisch,
ohne sich und die Anderen als Diskussionspartner zu berücksichtigen –, gilt dann tatsächlich, was
Alfred Berlich irrtümlich gegen die transzendentalpragmatische Idee der reflexiven Letztbegründung
149
Vgl. W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). Vgl. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 296-308, 363-384, vgl.
335ff; H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: Burckhart und Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), bes. S. 34ff.
150
K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 179.
151
Aristoteles, Analytica priora I, 6, 28b, 21; I, 23, 41a, 23 ff. sowie II, 20, 66b, 11 u.ö.
152
A. Berlich, Elenktik des Diskurses, in: Kuhlmann und Böhler (Hg. 1982), S. 251-287, hier S. 279, vgl. D. Böhler,
Transzendentalpragmatik und kritische Moral, a.a.O., S. 83-123, bes. S. 85-92.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
117
vorgebracht hat: daß „das elenktische Argument vom transzendentalen Charakter des zu
Begründenden Gebrauch macht, nicht ihn begründet“153.
Das ist das Begründungsdefizit des Aristoteles. Er fällt damit hinter seinen eigenen Ansatz oder doch
Anstoß zurück, der auf einen reflexiven Gültigkeitserweis des transzendentalen Prinzips der Logik
abzielt. Indem er in seiner Ersten Analytik eine bloße Aussagenlogik entwickelt und nunmehr den
Sokratischen Elenchos bloß „aus der Perspektive der apodeiktischen Logik analysiert“154, hat er das
dialektische Zugleich des Elenchos, nämlich zugleich Rede über etwas und Reflexion auf die
Redehandlung zu sein, im vorhinein abgespannt. Als theoretisch eingestellter Analytiker von
Aussagen begibt er sich der sokratisch reflexiven Begründungsperspektive und damit auch ihres
Ertrags. Denn der besteht darin, daß die Gültigkeit des zu begründenden Prinzips im Dialog durch
Reflexion auf die von ‚mir’ in Anspruch genommenen Sinnbedingungen des Dialogs erwiesen wird:
als nicht hintergehbar von ‚mir’. Von ‚mir’? Wer ist dieses Ich? ‚Ich’ selbst bin es: ich, der ich in der
Rolle eines glaubwürdigen Diskurspartners eine These, z.B. einen bestimmten Zweifel, als
Diskursbeitrag vorbringe, indem ‚ich’ einen Gedanken verständlich und geltend zu machen versuche.
Der Aussagenlogiker Aristoteles verspielt diese dialogisch reflexive Begründungspointe des
Sokratikers. Damit beraubt er den Elenchos seiner Bedeutung als Selbstaufhebungsargument. Es kann
ein bezweifeltes Prinzip negativ begründen, indem es den dagegen vorgebrachten Geltungszweifel als
sinnlos vorführt – als Zerstörung des Geltungsbodens, auf dem der Zweifelnde als Sprecher, der in
einem Dialog etwas verständlich und geltend machen will, doch selber steht.
2.6 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung
den methodischen Solipsismus
für
Es ist kein Wunder, daß die theoretische Denkeinstellung in Aristoteles den Sieg über eine reflexiv
sokratische davonträgt. War diese doch ein ungesicherter Versuch, jene aber übermächtig etabliert in
der griechischen theoria-Tradition. So kann der Platonschüler – seiner Kritik an der Ideenlehre zum
Trotz und im Gegenzug zu seiner erfahrungsbezogenen Orientierung – das „theoria“-Konzept seines
Lehrers in wichtigen Stücken fortsetzen. Beispielsweise, indem er die theoretische Lebensform (βίος
θεωρητικός, bios theoretikos) des Philosophen, diese menschliche Annäherung an die vollkommen
autarke, nur sich selbst denkende Vernunft Gottes, als Inbegriff eines glückseligen Lebens
auszeichnet.
Sokratiker ist Aristoteles eher in seiner Dialektik. Diese konzipiert er als Methode zur Prüfung
schwacher Geltungsansprüche, wie sie für (bloß) wahrscheinliche Sätze erhoben werden. Nach der
dialektischen Methode sollen „wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen
153
A. Berlich, a.a.O., S. 261f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
118
(ένδοξα, éndoxa) Schlüsse ziehen können“, so daß wir, „wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine
Widersprüche geraten.“155 Im Gegensatz zu den Sophisten schlägt er diese Methode auch nicht der
Rhetorik156 zu, sondern sieht sie als kommunikative Hilfsdisziplin der Philosophie an: Als
Prüfungskunst habe sie „nicht denjenigen, der sicheres Wissen hat, im Blick, sondern denjenigen, der
dieses nicht hat, es aber zu wissen beansprucht. Wer nun das Allgemeine sachgemäß betrachtet, ist
ein Dialektiker, wer dies bloß vorgibt, ist ein Sophist.“157 Bei der dialektischen Prüfung
wahrscheinlicher Sätze müsse der Dialektiker kommunikativ verfahren, nämlich „seine Argumentationspartner ständig einbeziehen und sich auf diese einstellen“. Sei es doch darum zu tun, „daß
sowohl der Vorgang der Prüfung als auch deren Resultat an das Gespräch gebunden sind“, wie
Edmund Braun herausarbeitet.158
So weit, so gut. Insofern gebührt Aristoteles ein wichtiger Platz in der Geschichte des dialogischdiskursiven Denkens. Aber Aristoteles hat von seiner kommunikativen Dialektik keinen
fundamentalphilosophischen Gebrauch gemacht, hat sie nicht auf sich selbst als Ontologen oder
„ersten Philosophen“ angewandt, sondern blieb einem platonisch-theoretischen Selbstverständnis
verhaftet: „Erste Philosophie“ sei die geistige Schau der ersten Prinzipien als Ursprüngen des
Seienden. Bei aller Kritik an seinem Lehrer hat er den Kern der Philosophie nicht etwa in den
Prinzipien des Dialogs gesucht, so daß er auch der philosophieverführerischen Voraussetzung eines
methodischen Solipsismus den Boden entzogen hätte.
Die Philosophie-, die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte möchte ganz anders verlaufen sein, wenn
Aristoteles seine Philosophie aus der dialogisch reflexiven Einstellung entwickelt hätte, die er im
Begründungsstreit um den Satz des Widerspruchs hat aufblitzen lassen. Als Logiker, der den
Elenchos als Beweisfigur rekonstruiert, bleibt er der reflexionsvergessene Analytiker, und als
Fundamentalphilosoph ein „theoretischer“ Ontologe in der Schule Platons, der die Beziehung der
Aussagen auf Wahrheit gegenstandstheoretisch ontologisch interpretiert und sie daher als im Prinzip
kommunikationsunabhängig ansieht. So öffnet er dem methodischen Solipsismus in Sachen Geltung
die Tür.
Damit aber nicht genug. Auch die Ebene der Sinnkonstitution macht er von der Sprache, mithin von
der Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft, tendenziell unabhängig. Führt er doch die
Bedeutung
154
der
Gedanken
auf
innerseelische
Vorstellungen
zurück,
welche
eigentlich
K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 172.
Aristoteles, Topica I, 1, 100 a, 18 ff. Vgl. E. Braun, Zur Vorgeschichte der Transzendentalpragmatik. Isokrates, Cicero
und Aristoteles, in: A. Dorschel u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt a.M. 1993 (zit.: Vorgesch.
Transzendentalpragmatik (1993)), S. 23; H.-B. Gerl, Philosophie und Rhetorik bei Johannes von Salisbury, in: H.
Schanze, J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989 (zit.: Rhet. u. Phil. (1989)), S. 108-119, hier
109 f.
156
Aristoteles, Metaphysika I, 2, 104 b, 17 ff.
157
Aristoteles, Sophistici elenchi 11, 171 b 3 ff.
155
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
119
sprachunabhängig seien. Sprachliche Zeichen würden den Vorstellungen, die die Seele vor jeder
sprachlichen Kommunikation habe, dann bloß konventionell zugeordnet.159 Im Rahmen dieser
Sprachauffassung, die dem theoria-Modell der Erkenntnis als eines geistigen Sehens folgt, läßt sich
die Dialektik nicht als ein Verfahren verständlich machen, das prinzipiell auf öffentliche Rede und
kommunikativen Diskurs angewiesen ist. Daher führt von Aristoteles kein Weg zu einer Pragmatik,
die den kommunikativen Diskurs als Basis für intersubjektive Geltung auszeichnet160, weil es die
Diskurspragmatik tut.
158
E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 26; vgl. ders., Zur Einheit der aristotelischen Topik, Köln
1959, S. 36 f.
159
Aristoteles, De interpretatione I, 16 a I.
160
Anders E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 27 f.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
120
Auch Theophrast (322-287 v.Chr.), Aristoteles’ Nachfolger im Peripatos, ist in diesem
Zusammenhang nicht als Abweichler von einem vermeintlich kommunikativ dialektischen
Wege des Aristoteles, sondern als konsequenter Fortsetzer von dessen theoriabestimmter
Philosophie-, Erkenntnis- und Sprachauffassung zu beurteilen. Er ist es, der die
Auswirkungen dieser Sprachauffassung für die Beziehungen zwischen Gesprächsteilnehmern
augenfällig macht: die kommunikativ-„pragmatischen“ Dimensionen der Rede reduziert er
auf eine Vermittlung von Sinn- und Erkenntnisgehalten und daher auf die rhetorische
Beziehung des Redners zu seinem Auditorium. Im Einklang damit verkürzt er den
philosophischen Wahrheitsbezug, also die Gewinnung und In-Geltung-Setzung von
Information, auf eine referenzsemantische Satz-Ding-Beziehung, von welcher „der
Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will.“
161
Diese, im Peripatos
beheimatete, aber noch heute wirkungskräftige „common sense-Aufassung“ der Sprache im
Sinne der „konventionellen Bezeichnungsfunktion“ hat wohl niemand entschiedener kritisiert
als Karl-Otto Apel, der sie auch problemgeschichtlich auf Aristoteles zurückführen konnte.162
Da sie so suggestiv ist, daß es, wie Apel bemerkt, noch heute außerordentlich schwer fällt, sie
in Frage zu stellen, und weil sie in einer Diskurspragmatik entgegensteht, lohnt es, ihr
kritische Aufmerksamkeit zu schenken.
Schon Aristoteles hat die implizite, aber von vornherein mitverstandene Einbettung jeder
Aussage und jeder Wortverwendung in eine formal vollständige Äußerung (als Sprachhandlung)163 und in den reziproken Erwartung-Erwartungs-Zusammenhang eines Dialogs ist
verdrängt – und damit eine folgenschwere Weichenstellung der Philosophiegeschichte
vorgenommen. Diese doch sinnkonstitutive Einbettung des präpositionalen Gehalts in den
Zusammenhang einer Verständigung mit Anderen erklärt Theoprast in aristotelischer
Ausdrücklichkeit zu einer geltungsmäßig irrelevanten, bloß empirischen Angelegenheit.
Dieser kommunikative Kontext sei allein rhetorisch und poetisch von Belang. Die direkten
und indirekten Bezüge eines Sprechers auf andere Menschen werden so auf die direkte
Sprecher-Hörer Beziehung verkürzt. Diese beschränkt er noch dazu auf den empirischpsychologischen Vorgang einer Übermittlung von Effekten, die der Sprecher durch die
rhetorische Einkleidung des Aussagegehalts bei den Hörern erzielen kann bzw. will. Eine
solche rhetorische ‚Einkleidung’ gilt natürlich als in der Sache irrelevant. Dem Sinn des
Gesagten könne sie nur wenig, vernachlässigenswert wenig, seiner Gültigkeit aber nichts
hinzutun. Folglich gehe die – derart empirisch-psychologisch reduzierte – Pragmatik den
161
Ammonius, In Aristotelis De Interpretatione Commentarius. Hg. v. A. Busse, Berlin 1887, S. 65f.
K.-O. Apel, Transformation II, S. 334ff.
163
Dazu: A. Øfsti, 1994.
162
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
121
Philosophen nichts an. Denn der Philosoph habe es einzig mit der Geltung der Rede zu tun.
Die aber verstehen Aristoteles und Theophrast nach dem Muster der Wahrheit von Aussagen
über Dinge.
Im Sinne dieses aussagenlogischen Philosophieverständnisses und dieser Beschränkung der
„Logosfunktion“ der Sprache, ihres Geltungsbezugs, auf einen benennenden und einem Ding
Eigenschaften zusprechenden Aussagesatz hat Theophrast eine falsche und bis heute
nachwirkende Unterscheidung getroffen: er schneidet die semantische Bedeutungsrelation der
Rede als Ort der Wahrheit ab von der pragmatischen Beziehung auf Hörer als Medium von
Effekten (z.B. Überzeugungseffekten): "Da die Rede [λόγoς] eine zweifache Beziehung hat
[...] eine zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet, die andere zu den Dingen, von
welchen der Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will, so entstehen im
Hinblick auf die Beziehungen zu den Hörern die Poetik und die Rhetorik [...] im Hinblick
aber auf die Beziehung der Rede zu den Dingen wird der Philosoph vorzüglich dafür Sorge
tragen, das Falsche zu widerlegen und das Wahre zu beweisen."164
Damit verbannt Theophrast die Pragmatik aus der Philosophie. Die folgende Abbildung mag
diesen noch bis heute nachwirkenden Vorgang zu verdeutlichen:
Theophrasts Verbannung der Pragmatik
aus der Philosophie
Philosophie
Wahrheit bzw. logische
Geltung
Semantik
Dinge
Rede
Poetik und Rhetorik
164
psychische Effekte
Pragmatik
Hörer
Kritisch dazu: Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache. In: Ders., Transformation der
Philosophie, Bd. II, Frankfurt/M. 1973, bes. S. 336 ff.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
122
Teils verkürzt, teils verdrängt wurden damit die drei von uns unterschiedenen pragmatischen
Dimensionen, also jene Funktionen der Interpretation von Sprachzeichen, die konstitutiv sind
für den Verwendungssinn und Geltungssinn des inhaltlich Kommunizierten, des
propositionalen Gehaltes, mithin auch konstitutiv für jeden möglichen Dialog.
Was die sinnkritische Dialogreflexion anbelangt, derer sich Aristoteles ein einziges Mal
ansatzweise bedient hat, so ist sie philosophiegeschichtlich implizit und auf paradoxe Weise
wirksam geworden: als sokratisches Selbstaufhebungsargument, doch bloß in theoretischer
statt in kommunikativ dialogischer Form. So bei Augustinus, Descartes, Kant und Husserl.
Offenbar ist sowohl die drastische Verkürzung der kommunikativ pragmatischen
Dimensionen der Rede als auch die Assimilation eines aktuell reflexiven Elenchos an die
theoretische Einstellung in zwei Kernstücken der theoria-Tradition angelegt. Es ist das einmal
das instrumentalistisch bezeichnungstheoretische Verständnis von Sprache und Rede, in dem
selbst die Antipoden Heraklit und Platon übereinkommen, zum anderen die durch Platon
vorbereitete, vom Neuplatonismus etablierte Unterscheidung der vermeintlich intuitiven
Vernunfteinsicht (nous) von der bloß diskursiven Verstandeserkenntnis (dianoia), welche
nicht als kommunikativer Diskurs sondern als monologisches Schlußverfahren angesetzt
gedacht wird. Auf diesem Boden konnten dann die wirkungsträchtigen Neuplatoniker Philon,
Plotin, Syrian und Proklos die Erkenntnisdichotomie der Scholastik, intuitiv versus diskursiv,
denken. Sie stellen das vermeintlich intuitive Erschauen des nous als das eigentliche, der
Ewigkeit zugehörige Erkennen, dem alles gegenwärtig sei, gegen das endliche, diskursive
Überlegen und Reden (διεξοδικός λόγος, diexodikos logos), die intellektuelle Anschauung des
intelligiblen Seins in seiner Wesenheit gegen die syllogistischen Analysen und
Demonstrationen der Akzidentien. Dem diskursiven Denken überlassen sie bloß das
Unwesentliche.
Vor allem die, in der Platonischen und der Aristotelischen Version der theoria enthaltene und
seither machtvoll tradierte Unterstellung einer unabhängig von Sprache möglichen Erkenntnis
– Theorie und Diskurs ohne Kommunikation – hat das abendländische Denken zutiefst
geprägt, bis heute. Genaugenommen sind es vier Unterstellungen, eine verstehenstheoretische,
zwei geltungstheoretische und eine vergewisserungs- bzw. evidenztheoretische. Erstens wird
unterstellt, einer allein – solus ipse, daher „methodischer Solipsismus“ – könne für sich und
ohne Vermittlung durch virtuelle Kommunikation (Sprachgebrauch und Tradition) oder durch
aktuelle Kommunikation Sinn bzw. Bedeutung haben. Zweitens und drittens wird
vorausgesetzt, daß einer als prinzipiell Einsamer auch Gültigkeit gewinnen kann und daß er –
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
123
viertens – als solche Wahrheit von Tatsachenbehauptungen und ebenso die Richtigkeit /
Legitimität von Normsätzen erkennen könne, also auch die Gewißheit der Wahrheit bzw.
Richtigkeit.Das ist das Viergespann bzw. die Quadrupelthese des methodischen Solipsismus.
Die folgende Figur macht sie anschaulich.
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
124
Die Quadriga des methodischen Solipsismus, d.h. der Thesen,
daß Privatsprache (a), Privaterkenntnis (b) und private Evidenz (c) möglich sind
Fragestellung
These
Anwendungsbereich
Wie ist Sinn möglich?
(a) einer allein (und nur einmal) kann etwas als etwas von bestimmter
Bedeutung verstehen, mithin charakterisieren → einer Regel folgen
Sprachphilosophie und
Hermeneutik
Wie ist Gültigkeit
möglich?
(b1) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)],
sondern er kann auch
Erkenntnis- und
Wahrheitstheorie
→ Wahrheit
allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
erkennen
→ begründen, daß jene Charakterisierung zutrifft, also wahr ist
Wie ist Gültigkeit
möglich?
(b2) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)]
sondern er kann auch
→ Richtigkeit,
Verbindlichkeit
allein, d.h. ohne jeden sprachlich- kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
erkennen
→ begründen, daß die so charakterisierte Handlungsweise etc. richtig/legitim
und verbindlich ist
(c) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)],
sondern er kann auch
Wie ist Gewißheit
möglich?
→ Zweifelsfreiheit
allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und
zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft,
Zweifel an der Wahrheit seiner These oder an der Verbindlichkeit einer
Aufforderung bzw. Norm als gegenstandslos erkennen und erweisen
Ethik / Praktische Philosophie
Beweistheorie/Sinnkritik
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
125
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
3
Ethische Intuitionen versus moralische Kriterien seit der „Achsenzeit“ der
Hochkulturen. Jesu Liebesethik, das verantwortungsethische Defizit in der
europäischen Ethik und Max Weber
Teils zum universalisierbaren Erbe, in gewisser Weise aber auch zu den kaum bewältigten
Erblasten
des
alten
Europa
zählt
die
jesuanische
Liebesethik,
als
unbegrenzte
Brüderlichkeitsethik. Erwachsen aus der hebräisch biblischen Tradition und dem
zeitgenössisch jüdischen Kontext und von beiden geprägt, erschließt sie sich auch erst vor
diesem Sinnhintergrund. Daher ziehe ich eine kenntnisreiche jüdisch religionsgeschichtliche
Interpretation den christlichen Auslegungen vor und möchte ihre Aufmerksamkeit auf die
Zusammenschau lenken, die der Jerusalemer Gelehrte David Flusser in seinem vorzüglichen
Buche gibt, das einfach den Titel „Jesus“ trägt und 1999 in einer überarbeiteten Neuausgabe
erschienen ist. Dieses Buch, mit Verlaub, verdient einen Ehrenplatz in Ihrer Bibliothek –
neben der Bibel.
Flusser eröffnet seinen fünften Abschnitt mit dem Titel „Die Liebe“ folgendermaßen:
„Der – wenn man so will – revolutionäre Ansatz in der Verkündigung Jesu geht nicht von
einer Kritik am jüdischen Gesetz selbst aus, sondern zielt auf die Art des Umgangs mit
diesem Gesetz. Dabei konnte Jesus an schon vorhandene Kritik anknüpfen. Zu einem
Durchbruch kommt es im radikalisierten Liebesgebot, im Ruf nach einer neuen Gerechtigkeit
und in der Idee des Königreiches der Himmel.
Etwa 175 Jahre vor Jesu Geburt pflegte ein jüdischer Schriftgelehrter mit einem
griechischen Namen, Antigonos aus Socho, zu sagen: ‚Seid nicht wie Sklaven, die dem Herrn
dienen, um Belohnung zu empfangen, sondern seid wie Sklaven, die dem Herrn dienen, nicht
um Belohnung zu empfangen, und Himmelsfürchtigkeit sei über euch!’ Der Spruch ist
bezeichnend für die Änderung der geistigen und moralischen Atmosphäre im Judentum, das
eine wichtige Vorbedingung für die Botschaft Jesu gewesen ist. Gleichzeitig ist er Ausdruck
eines neuen tieferen Empfindens im Judentum, das eine wichtige Vorbedingung für die
Botschaft Jesu geworden ist.
Die Religion Israels verkündet den einen, gerechten Gott: seine bilderstürzende
Ausschließlichkeit ist mit seinem unbeugsamen moralischen Willen verbunden. Die
Gerechtigkeit, von der die kanonischen Schriften der hebräischen Bibel sprechen, will sich in
einem neuen Gesetz und in einer neuen, gerechten gesellschaftlichen Ordnung verwirklichen.
126
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Die Gerechtigkeit Gottes ist gleichzeitig sein Erbarmen: er nimmt sich besonders der Armen
und der Unterdrückten an, denn er sucht nicht die äußere Kraft und Macht der Menschen,
sondern die Furcht vor ihm. Die jüdische Religion ist eine moralische Religion, in der das
Prinzip der Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht. Von daher bekommt die Einteilung der
Menschen in Gerechte und Sünder ihr Gewicht. Die Auffassung, daß Gott die Gerechten
belohnt und die Bösen bestraft, ist für das Judentum die Bestätigung seiner Wahrheit. Wie
sollte denn anders in der Welt die Gerechtigkeit Gottes walten?“165
Hingegen habe sich den Juden zur Zeit Jesu und des Hellenismus die traditionskritische Frage
gestellt, ob die schlichte Einteilung der Menschen in Gerechte und Sünder haltbar sei. Habe
man doch erkannt, daß niemand ein vollkommener Gerechter oder ein vollkommener
Bösewicht sei, da der gute und der böse Trieb im Herzen eines jeden stritten. Auch habe man
schon gefragt, wo die Grenzen der Barmherzigkeit Gottes und seiner Liebe zum Menschen zu
ziehen sind. Und selbst wenn die Belohnung des Gerechten und die Bestrafung des Sünders
unproblematisch wären, so bliebe doch die Kritik an der instrumentalistisch-utilitaristischen
Auffassung von Gerechtigkeit: „wäre es eine wahrlich sittliche Handlungsweise, wenn der
Mensch gute Werke nur tun würde, weil er weiß, daß es sich für ihn lohnen wird? Schon
Antigonos aus Socho meinte, dies sei nur eine niedrige Sklavenmoral: der Mensch soll sittlich
handeln und gleichzeitig einen jeden Gedanken auf den Lohn, der ihm sicher zukommen wird,
ausschalten.
Da die antiken Juden erkannt hatten, daß man die Menschheit nicht mehr – wie in der
alten Zeit biblischer Religiosität – scharf in Gerechte und Sünder einteilen konnte, wurde es
praktisch auch unmöglich, die Guten zu lieben und die Frevler zu hassen. Und da es außerdem
noch schwer geworden war, zu wissen, bis wohin Gottes Liebe und Barmherzigkeit reicht,
folgerten viele, man solle gegenüber dem Nächsten Liebe und Barmherzigkeit üben, denn
dadurch ahme man Gott nach. Lukas (6,36) hat Jesus das Wort in den Munde gelegt: Seid
barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Dies ist ein alter rabbinischer Spruch. Lk. 6,36 ist
eine Parallele zu Mt 5,48: Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater
vollkommen ist! Der Spruch ist die Schlußfolgerung aus einer kurzen Lehrpredigt, in der Jesus
lehrt, daß Gottes Liebe allen Menschen gilt, unbeschadet ihrer Einstellung und ihres
Verhaltens. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gut und läßt regnen über
Gerechte und Ungerechte (Mt. 5,45).
165
D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt: rm 50632), S. 68f.
127
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Rabbi Abbahu, der glaubte, daß nur die Gerechten auferstehen, sagte: ‚Größer ist der
Tag, an dem es regnet, als der Tag der Auferstehung. Denn vom letzteren haben nur die
Frommen etwas, während ersterer Frommen und Sündern gleichermaßen zugute kommt.’
Rabbi Abbahu lebte ungefähr 300 n. Chr., aber es gibt auch einen ähnlichen Ausspruch aus
der Zeit Jesu.166
Der Gedanke, […] daß man sich zuerst mit seinem Bruder versöhnen soll, bevor man für sich
selbst betet167, ist bei ben Sira mit einer damals typischen Veränderung des Lohngedankens
verbunden.168 Die alte ausgleichende Gerechtigkeit, nach welcher der Gerechte nach dem
Maß seiner Gerechtigkeit belohnt und der Sünder nach dem Maß seiner Sünden bestraft
wird169, erfüllte damals manche mit Unbehagen, und darum meinte man jetzt: wenn du den
Nächsten liebst, wird dich Gott mit Gutem belohnen; wenn du aber den Nächsten haßt, wird
dir Gott Böses heimzahlen. Ähnliches sagte ja später auch Jesus: Richtet nicht, so werdet ihr
nicht gerichtet werden, und verurteilt nicht, so werdet ihr nicht verurteilt werden. Sprechet
los, so werdet ihr losgesprochen werden! (Lk. 6,37).“
Dieses Wort Jesu erinnere an einen Spruch des berühmten Hillel, der schon eine Generation
vor Jesus gesagt hatte: ‚Richte nicht deinen Nächsten, bis du nicht an seine Stelle gekommen
bist!‘. An diesem und zahlreichen anderen Beispielen zeigt Flusser, wie eng die Motive, in
denen sich das neue Empfinden im Judentum zur Zeit Jesu ausdrückte, miteinander
verflochten waren, so daß auch viele Worte Jesu sowohl untereinander als auch mit manchen
jüdischen Sprüchen verbunden gewesen seien und fährt fort: „So lesen wir im Herrnwort bei
Klemens: ‚Wie ihr tut, so wird euch getan werden‘, das heißt, wie ihr dem Nächsten tut, wird
euch Gott tun. Das ist eine auch von Jesus zitierte, sehr interessante Variante der sogenannten
Goldenen Regel: Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen; denn
dies ist das Gesetz und die Propheten (Mt. 7,12). Die ‚Goldene Regel‘ kommt als moralischer
Imperativ bei vielen Völkern vor, im Judentum wurde sie schon vor Jesus als die Summe des
Gesetzes betrachtet, das Moses auf dem Sinai von Gott für das Volk empfangen hatte. Schon
Hillel hat gesagt: ‚Was dir unlieb ist, tue dem Nächsten nicht; das ist das ganze Gesetz, das
166
A. a. O. , S. 69f.
Jesus hat diese Maxime entschieden in Abhebung von einer bloß ritualistischen Frömmigkeit vorgebracht und
gegen deren Tendenz zur Selbstgerechtigkeit oder zur Abblendung konkreter ethischer Aufgaben geltend
gemacht: Mt 5, 22-24 und Mk 12,25.
168
D. Flusser bezieht sich auf das um 185 vor Christus geschriebene Buch des Jesus Sirad, nämlich auf 28, 1-7.
169
Von der Gleichheits-Verrechnungsformel des ursprünglich nicht hebräisch-biblischen sondern
stadtkanaanäischen Sakralstrafrechts, dem sog. Talionsgesetz (2. Mose 21, 24), distanziert sich Jesus in der
Bergpredigt, Mt. 5, 38-42: „38. „Ihr habt gehört, daß gesagt ist ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’. 39 Ich aber
sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt,
dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß
auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem,
der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“
167
128
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
übrige ist nur Ausführung‘. Die Maxime war damals im Judentum wahrscheinlich auch so
verstanden: Gott mißt dir mit demselben Maß, mit dem du deinen Nächsten mißt. Daraus
folgt: ‚Wie ein Mensch seiner eigenen Seele von Gott erbittet, so soll er tun jeder lebendigen
Seele‘.
Sowohl Jesus als auch schon früher Hillel haben in der ‚Goldenen Regel‘ die
Zusammenfassung des Gesetzes des Moses gesehen. Das wird verständlich, wenn wir
bedenken, daß man das Bibelwort ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ (Lev. 19,18)
sowohl bei Jesus als auch sonst im Judentum für eine große Hauptregel im Gesetz gehalten
hat. In einer alten aramäischen Übersetzung lautet das Bibelwort so: ‚Liebe deinen Nächsten,
denn was dir unlieb ist, tue ihm nicht!‘ in dieser paraphrasierenden Übersetzung der Wendung
‚wie dich selbst‘ durch die negativ stilisierte ‚Goldene Regel‘ ersetzt; man hat also die Worte
‚Liebe deinen Nächsten‘ als ein positives Gebot verstanden und die Worte ‚wie dich selbst‘
als ein dazugehörendes, negatives Gebot: du sollst deinen Nächsten nicht mit Haß behandeln,
weil du auch nicht willst, daß er gegen dich selbst so handelt.“170
„Die Beziehung des Menschen zum Nächsten soll also durch die Tatsache bestimmt sein, daß
er mit ihm sowohl in seinen guten als auch in seinen schlechten Eigenschaften solidarisch ist.
Das ist nicht fern von dem Liebesgebot Jesu, aber Jesus ging noch weiter und zerbrach die
letzte Schranke des antiken jüdischen Gebots der Liebe zum Nächsten. Rabbi Hanina meinte,
man solle den Gerechten lieben und man dürfe den Sünder nicht hassen, aber Jesus hat gesagt:
Doch ich sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger (Mt. 5,44).“171
So weit mit David Flusser. Ziehen wir Lawrence Kohlbergs Entwicklungslogik der
moralischen Urteilsbildung zur Beurteilung heran, so werden wir wohl darin übereinkommen,
daß die gehörten Worte aus den synoptischen Evangelien und aus dem jüdischen Kontext
Jesu, zumal aus der Liebesfrömmigkeit zeitgenössischen Judentum, teils unserer Stufe 5 ½,
teils Kohlbergs Stufe 6 – Orientierung am Moralprinzip und am Gewissen – zuzuordnen sind.
Allerdings fehlt ein (im kantischen Sinne) formales Prinzip mit einem Kriterium für die
einsehbare Verbindlichkeit einer Handlungsweise und eines moralischen Urteils. Desgleichen
finden wir keinen eindeutigen Autonomiebegriff, der in Korrespondenz zu dem Urteilssubjekt
stünde, welches in der Lage sein müßte, gerade in moralischen Konfliktsituationen ein
170
D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt: rm 50632), S. 72f.
129
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
begründetes Urteil zu fällen: Aus Einsicht und Urteilsvermögen, also dank seiner autonomen
Urteilskraft.
Max Weber schält ein anderes Defizit heraus. Seiner Kritik liegt die Frage zugrunde: Ist
überhaupt eine Verbindung der Moralität einer grenzenlos zu übenden Liebe und
Barmherzigkeit, die weder aufrechnet noch richtet, so daß „ihre ethische Anforderung
irgendwie in der Richtung einer universalistischen Brüderlichkeit über alle Schranken der
sozialen
Verbände“,
auch
des
eigenen
Glaubensverbandes,
hinausreicht,
zur
Folgenverantwortung derer, die für Andere, für die sie in der realen Welt zu sorgen, die sie zu
schützen haben, – ist hier noch eine Verbindung denkbar? Er antwortet mit einem scharfen
„Nein“!172
Die
reale
Sozialwelt
sieht
Max
Weber
–
erstens
–
als
Überschneidungszusammenhang verschiedenartiger, selbständiger Wertsphären an, von denen
die ethische eine ist. Naturgemäß können sich aus einer Pluralität von Wertsphären
Kollisionen ergeben, Wertkollisionen. Und darauf bezieht sich die moralische Kernfrage, das
normativ ethische oder deontologische Prioritierungs- und Sollensproblem: >Was sollen wir
bei Wertkonflikten tun?< Und fundamentaler: >Gibt es ein Sollen, wozu wir (unabhängig von
einer materialen Orientierung, einem faktischen Wert), unbedingt verpflichtet sind?< Das ist
die pflichtethische Grundfrage, die erstmals der Ethik Kants als formale Prinzipienfrage
zugrunde liegt. Doch zunächst zurück zu den gesellschaftlich institutionalisierten
Wertsphären! Woran könnten wir im Anschluß an Weber denken?
Jedenfalls wenn wir, freilich in Spannung zu Weber, den Primat der (dialogförmigen)
Dimension der Geltungsansprüche berücksichtigen – und zumindest die Ansprüche der
Verstehbarkeit sowie der Wahrhaftigkeit liegen den Handlungs- und Ausdrucksformen aller
möglichen Wertbeziehungen zugrunde –, dann können wir die außerethischen Wertsphären
nach leitenden Einstellungen und Rationalisierungsmöglichkeiten differenzieren, ja skalieren.
Dazu bieten sich die von Habermas und Apel eingeführten Idealtypen kommunikativverständigungsorientierte versus strategisch (zweck-)rationale Handlungsorientierung an.173
171
A. a. O. , S. 74
M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, I, Tübingen 19726 (zit.: Religionssoziologie I)., S.
542ff. Ders., Gesammelte Politische Schriften, hrgs. v. J. Winckelmann, Tübingen 1958: „Politik als Beruf“ (zit.:
Ges. Polit. Schr.), S. [?]
173
J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. FaM (Suhrkamp) 1981, S. 367ff. Ders., Vorstudien und
Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, FaM (Suhrkamp) 1984, S- 441-472, vgl. 571ff.
172
130
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
1 – Musik
2 – Bildende Künste
Kreativ
expressiv
kommunikativ
oder
verständigungsrational (6)
eingestellt
3 – Literatur
Weber: (Formen der) Kunst - arational
4 – Darstellende Künste
5 – Tanz
6 – Geisteswissenschaften und durch sie angeleitete Traditionsvermittlung
7 – Sexualität, Erotik und geschlechtliche Liebe überhaupt
Weber: arational
8 – Spiel und Sport
9 – Produktion, Arbeit, Dienstleistung
10 – Tausch
11 – Handel, Wirtschaft, Geld
Kreativ
strategisch
bis zweck- und
formal rational
(13, 14)
eingestellt
Weber: preiskalkulatorische (strategische)
Zweckrationalität
12 – Verwaltung, Politik und Machtbildung
Weber: bürokratische u.
machtfunktionale Zweckrationalität und
Staatsräson
13 – Wirtschafts- und Politikwissenschaften
14 – Experimentelle Naturwissenschaften und Technologie
In diesen Wertbereichen ist ab 8 (ggf. bereits in der Sexualität) eine, sich bis zur Dominanz
ausprägende instrumentell strategische Einstellung bzw. eine Zweckrationalität relevant,
wenngleich diese Beziehungen auch – hintergründig oder durch den institutionellen Rahmen –
mit der kommunikativen Verständigungsorientierung vermittelt sind.
Man denke an die Rahmenordnungen von Wirtschaft und Markt, an die Fairneßregeln und
Spielregeln im Sport oder an die kollegiale und öffentliche Kommunikation der
experimentellen Naturwissenschaftler und Technologen. Insofern ist hier auch eine BinnenEthik wirksam. Vorwiegend handelt es sich bei 8 bis 12 freilich um strategische Interaktion
und bei 14 um eine Erkenntnis in der Subjekt-Objekt-Relation mit akommunikativem,
kausalerklärendem und prognostischem, daher virtuell technologischem Gegenstandsbezug,
während der Gegenstandsbezug der Wirtschafts- und Politikwissenschaften, eigentlich in der
Intersubjektivitätsrelation angesiedelt, primär strategisch-rational und systemfunktionalistisch
orientiert ist.
131
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Max Weber selbst unterscheidet in der berühmten „Zwischenbetrachtung“ seiner
religionssoziologischen historischen Abhandlung „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“
(1915-1919) die religiös ethische Wertsphäre der Erlösungsreligion, insbesondere der
christlichen Brüderlichkeitsethik einerseits von drei rationalen Wertsphären, andererseits von
zwei arationalen bzw. irrationalen der ästhetischen und der erotischen. Zu den rationalen zählt
er sowohl die beiden zweckrationalen Handlungsbereiche Wirtschaft und Politik samt
Verwaltung als auch den Erkenntnisbereich der Rationalität, die Wissenschaften.174 Denn die
Erlösungsreligion habe in der Entwicklung des Christentums eine gewisse Rationalisierung
mit liebesethischer Weltzuwendung durchgemacht: „Je rationaler und gesinnungsethisch
sublimierter die Idee der Erlösung gefaßt wurde, desto mehr steigerten sich [...] jene aus der
Reziprozitätsethik des Nachbarschaftsverbandes erwachsenen Gebote äußerlich und innerlich.
Äußerlich bis zum brüderlichen Liebeskommunismus, innerlich aber zur Gesinnung der
Caritas, der Liebe zum Leidenden als solchen, der Nächstenliebe, Menschenliebe und
schließlich: der Feindesliebe. […] Stets aber lag ihre ethische Anforderung irgendwie in der
Richtung einer universalistischen Brüderlichkeit über alle Schranken der sozialen Verbände,
oft einschließlich des eigenen Glaubensverbandes, hinweg. Immer stieß diese religiöse
Brüderlichkeit, je mehr sie in ihren Konsequenzen durchgeführt wurde, desto härter mit den
Ordnungen und Werten der Welt zusammen.“175
„Wenn die religiöse Brüderlichkeitsethik mit den Eigengesetzlichkeiten des zweckrationalen
Handelns in der Welt in Spannung lebt, so nicht minder mit jenen innerweltlichen Mächten
des Lebens, deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist. Vor
allem mit der ästhetischen und erotischen Sphäre.“176
Was
die
zweckrationalen
Sphären
angehe,
so
sei
die
ethische
Spannung
der
brüderlichkeitsethisch sublimierten Erlösungsreligion am tiefgreifendsten gegenüber der
Wirtschaft und der Politik. Je mehr die rationalisierte Wirtschaft es ihren „immanenten
Eigengesetzlichkeiten“ mit der Orientierung „an Geldpreisen, die im Interessenkampf der
Menschen untereinander auf dem Markt entstehen“, folge, desto unzugänglicher sei sie
„jeglicher denkbarer Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“.177 Die „politischen
Ordnungen“ können direkt in Widerspruch zu den Gewaltlosigkeits- und Liebesforderungen
der Brüderlichkeitsethik treten, weil jene nach innen eine „legitime Gewaltsamkeit“ in
174
M. Weber, Religionssoziologie I, S. 543 und 544f.
A. a. O. , S. 543.
176
A. a. O. , S. 554.
175
132
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Anspruch nehmen178 und eine solche auch nach außen wenden: als die realisierte
Gewaltandrohung des Krieges, die zur „Verklärung des Brudermordes“ und zur Weihe einer
Kriegsbrüderlichkeit führe.179
Auf der anderen Seite sei die Spannung der brüderlichkeitsethischen Erlösungsreligion zu den
arationalen Wertsphären, denen der Kunst und der Erotik, nicht minder ausgeprägt, wenn
auch von anderer Art.
Die Kunst konkurriere mit der ethisch sublimierten Erlösungsreligion, als „ein Kosmos immer
bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte. Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie
gedeuteten, Erlösung vom Alltag und, vor allem auch, von dem zunehmenden Druck des
theoretischen und praktischen Rationalismus.“180 Mit diesem Anspruch trete sie in direkte
Konkurrenz zur Erlösungsreligion, aus deren Sicht die Kunst als „ein Reich des
verantwortungslosen Genießens und: geheimer Lieblosigkeit“ erscheine.181
Die geschlechtliche Liebe sei im Prozeß der Zivilisierung bzw. Kultivierung des anfänglich
bäuerlichen Daseins „eine Pforte zum irrationalen und dabei reellsten Lebenskern gegenüber
den Mechanismen der Rationalisierung“ geworden.182 Deren Spannungsverhältnis zu der
Erlösungsethik sei „um so schroffer, je sublimierter die Geschlechtlichkeit einerseits, je
rücksichtsloser konsequent die Erlösungsethik der Brüderlichkeit andererseits entwickelt
wird.183 Denn in deren konsequenter Perspektive erscheine jegliche Raffinierung des
Sexuellen bzw. der Zeugung zu einer Erotik als „Kreaturvergötterung schlimmster Art“ und
„alle ›Leidenschafts‹-Bestandteile […] gelten dann als Residuen des Sündenfalls, bei denen,
nach Luther, Gott ›durch die Finger sieht‹, um Schlimmeres zu verhüten.“184
Für Webers idealtypische Kontrastierung einer „Gesinnungsethik“, die aus der brüderlichen
Erlösungsreligion erwachse, und der „Verantwortungsethik“, die in dem politischen Anspruch
auf Folgenverantwortung mit legitimer Gewaltsamkeit impliziert sei, ist zumal seine
nüchterne Sicht auf den alltäglichen Egoismus der Menschen mit ihren „durchschnittlichen
Defekten“,
sprich:
sittlichen
Defekten,
von
Belang.
Mit
diesen
rechne
der
177
A. a. O. , S. 544.
A. a. O. , S. 547.
179
A. a. O. , S. 548f.
180
A. a. O. , S. 555.
181
Ebd.
182
A. a. O. , S. 558.
183
A. a. O. , S. 556.
184
A. a. O. , S. 563.
178
133
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Verantwortungsethiker von vornherein. Ja, er habe, „wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein
Recht, ihre [nämlich der Nebenmenschen] Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt
sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere
abzuwälzen. Er wird sagen: Diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet.“185 Neben der
Konkurrenz von selbstständigen Wertsphären sei die reale Sozialwelt – zweitens –
gekennzeichnet durch egoistische Einstellungen und antagonistische Verhältnisse, die Böses
befördern können. Eben das wisse der Verantwortungsträger und darauf stelle er sich
handelnd ein, insbesondere bei der Wahl seiner Mittel.
Vor dem Hintergrund dieser realistischen Einsicht, welche auch die Erfahrungsgehalte hinter
dem Pessimismus eines Machiavelli und eines Hobbes zu berücksichtigen erlaubt, erschließt
sich folgendes Moraldilemma: ein Mensch, der für Andere und die Wahrnehmung ihrer, wir
unterstellen: berechtigten, Interessen Verantwortung trägt, will das allein mit moralischen,
vielleicht gar brüderlichkeitsethischen, Mitteln bewerkstelligen; doch sieht er sich auf Seiten
Dritter, die u. U. als rechtlich orientierte Partner auftreten, aber Gegenspieler sind,
unmoralischen Strategien, etwa der willkürlichen Selbstdurchsetzung ausgesetzt. Das wäre
das Dilemma des erfolgsverantwortlichen Moralfreundes: Jemand steht vor der Aufgabe einer
erfolgsmoralischen Strategiebildung, um ein drohendes, moralisch gesehen, größeres Übel
abzuwehren – etwa so, wie einer, der sich in einer Notwehrsituation befindet, in der es ihm
aufgetragen ist, Andere, ihm Anvertraute, zu schützen. Das dilemmatische Problem, das sich
hier stellt, lautet etwa: ‚Ist in dieser nonmoralanalogen Fürsorge-Situation eine (i. S. der
Fürsorge) erfolgreiche und noch moralisch legitime (d. h. mit dem Kernbestand von Moral,
also mit dem Prinzip der Moral!), obzwar selbst strategische (und insoweit ‚schmutzige‘,
jedenfalls nicht unmittelbar dialogische oder liebesethische) Handlungsweise möglich?’
Nun hat Max Weber das verantwortungsethische Problem so scharf nicht gestellt, vor allem
nicht mit Blick auf das Prinzip der Moral, sondern hinsichtlich supererogatorischer, d.h.
verdienstlicher bzw. heiligmäßiger, Maximen der Liebe und des Opfers, deren Verträglichkeit
mit dem Moralprinzip allererst zu prüfen wäre – in einem moralphilosophischen
Begründungsdiskurs. Darauf, also auf die durchgeführte praktische Vernunft, läßt sich Weber
nicht ein. Ja, als postlutherischer Existentialist bzw. Dezisionist scheint ihm praktische
Vernunft unmöglich zu sein. Und zwar definitiv; sah er doch in der „Komplementarität von
wertneutraler Rationalität und irrationaler Wahl letzter Wertungsaxiome“ (Apel) das
unüberholbare Resultat des ‚okzidentalen Rationalisierungsprozesses’“.186 Freilich hat er,
185
Max Weber, Ges. Polit. Schr.: „Politik als Beruf“, S. 552.
K.-O. Apel, Diskurs (1988), S. 56, vgl. S. 23-33, S. 55-63. Ders., Zur geschichtlichen Entfaltung der
ethischen Vernunft in der Philosophie (II), in: Apel u. a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte, 1984, Bd. 1, S. 130ff.
186
134
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
auch dank der Vorarbeit Max Schelers – „Der Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik“ 1913/1916 – das dilemmatische Moralbewußtsein maßgeblich geschärft:
Wer in der realen Welt Verantwortung für Andere trage, könne und dürfe sich nicht auf eine
absolute Moral der Bruderliebe zurückziehen, weil er das lediglich für sein Eigenleben
verantworten könne. Das sei sehr ernsthaft und radikal – aber allein mit der Lebensführung
eines Heiligen vereinbar; und man müßte m. E. hinzufügen: eines einsam lebenden Heiligen,
der sich von den Institutionen, Fürsorgeforderungen und Rücksichten der sozialen Lebenswelt
mehr oder weniger distanziert oder abgelöst hat. Im Blick auf diese heiligmäßige Lebensform,
die Weber in der Bergpredigt und in den Gestalten von Jesus und Franziskus erblickt, kann er
sagen:
„Mit der Bergpredigt – gemeint ist: die absolute Ethik des Evangeliums – ist es eine ernstere
Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von
ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den
man beliebig halten lassen kann, um nach Belieben ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder
gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll.
Also, z. B. der reiche Jüngling: ›Er aber ging traurig davon, denn er hatte viele Güter.‹ Das
evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles, schlechthin. Der
Politiker wird sagen: eine sozial sinnlose Zumutung, solange es nicht für alle durchgesetzt
wird. Also: Besteuerung, Wegsteuerung, Konfiskation, – mit einem Wort: Zwang und
Ordnung gegen alle. Das ethische Gebot aber fragt danach gar nicht, das ist sein Wesen.
Oder: ›Halte den anderen Backen hin!‹. Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem anderen
zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer für einen Heiligen. Das ist es:
man muß wie ein Heiliger sein in allem, zum mindesten dem Wollen nach, muß leben wie
JESUS, die Apostel, der heilige FRANZ und seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und
Ausdruck einer Würde. Sonst nicht. Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen
Liebesethik heißt: ›dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt‹, – so gilt für den Politiker
umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine
Überhandnahme verantwortlich.“
[...]
„Aber nach ›Folgen‹ fragt eben die absolute Ethik nicht. Da liegt der entscheidende Punkt.
Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander
grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann
›gesinnungsethisch‹ oder ›verantwortungsethisch‹ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik
mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch
135
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
wäre. (...) Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen
Maxime handelt – religiös geredet: ›Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹ –,
oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines
Handelns aufzukommen hat.“187
Max Webers fruchtbare Denkform ist die der Idealtypen; fruchtbar, weil sie zur
Konsequenzenreflexion anhält und zur logisch begrifflichen Klarheit.
Ob jedoch der Idealtyp einer strikten Ethik der absoluten Güte und uneingeschränkten
Brüderlichkeit auf Jesus ohne weiteres und gänzlich angewandt werden kann, ist zweifelhaft.
Warum?
Ein vorsichtiger, umsichtiger Hermeneutiker kann hier geltend machen, daß Jesus ein
gewisses Problembewußtsein für das schwierige, aber lebensnotwendige Nebeneinander
selbständiger Wertsphären in der Gesellschaft nicht allein gekannt sondern, offenbar auch in
gewisser Weise anerkannt hat. Zudem kann er mindestens die Spur eines
verantwortungsethischen Dilemmabewußtseins aufweisen.
Jesus hat jenes Nebeneinander anerkannt: z. B. hinsichtlich der Wertbereiche 9 bis 12: die von
Geld bestimmten Sphären 9 und 10 und der damit verbundenen Gebiete 11 und 12. Das
belegen die Schriftabschnitte Mk. 12, 13-17 bzw. Mt. 21, 15-22 und Lk. 20, 20-25: „Gebet
dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Es ist me. E. eine sehr
gezwungene, von einem radikal akosmischen und apokalyptischen Jesusbild beherrschte
Interpretation zu sein, wenn Weber dieses Schriftwort als Ausdruck eines „absoluten
Indifferenzstandpunkts“ charakterisiert – „denn: was kommt auf diese Dinge für das Heil
an?“188
Zudem hat Jesus das Dilemma des Moralfreundes, der den Willen Gottes in einer
selbstgenügsamen und selbstbehauptenden Sozialwelt, die als solche auch zum
Unmoralischen tendiert und für das Böse offen ist, offenbar durchaus gekannt. Allerdings hat
er es, jedenfalls teilweise, rigoristisch zu hintergehen versucht, indem er sich wie ein Heiliger
auf die Seite der absoluten Moralgesinnung schlug – so in der von Weber herangezogenen
Begegnung mit dem reichen Jüngling Mk. 10, 17-24a. Das Entsetzen der Jünger, mit dem
dieser Schriftabschnitt schließt, hat gute Gründe für sich. Warum? Jesus bietet keinen
verantwortungsethischen Ansatz, um das Dilemma im Sinne einer moralischen
Strategiebildung aufzulösen. Er beharrt rigoristisch auf dem Entweder – Oder. Darauf
antwortet Max Weber mit einer Kritik der Gesinnungsethik als Rigorismus in einer Welt von
187
A. a. O. , S. 550ff.
136
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
konkurrierenden Wertsphären. In diesem Fall kollidieren der Wert eines heiligmäßigen
Lebens und der Wert eines Lebens im Reichtum, in dem der Betreffende aufgewachsen ist.
Au taut, tertium non datur.
Was Webers idealtypische Interpretation und Kritik jedoch übersieht, ist die berühmte
Doppelmaxime Jesu, Mt. 10, 16: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.
(→ Situation) Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“
Jesus verbindet hier offenbar die gesinnungsethische, halbtheonome, halbautonome Maxime
›Handle recht vor Gott gemäß seiner gerechten (und von dir anerkannten) Gebote‹ mit der
erfolgsstrategischen Maxime ›Sucht und praktiziert die klügste Erfolgsstrategie als
Konterstrategie gegen jeweilige unmoralische Strategien‹. Und was ist das Kriterium dafür,
daß die Erfolgsstrategie nicht allein erfolgreich, sondern auch moralisch ist? Genauer, daß sie
zugleich und zumal moralisch ist? Jesu Antwort scheint zu lauten: ›Ihr müßtet eure
Erfolgsstrategie daran messen lassen, ob ihr sie „ohne Falsch“, ohne Täuschung, als
wahrhaftige Dialogpartner rechtfertigen könnt; das heißt letztlich und geltungsmäßig erstlich
im Dialog mit Gott.‹
Die von Jesus und schon von den klassischen Propheten vorausgesetzte Gültigkeitsinstanz,
die der idealen Prinzipienebene des moralischen Urteils verglichen werden könnte, aber hier
nicht als solche bestimmt wird, ist das verständige Wandelnkönnen mit Gott bzw. vor Gott,
gemäß Micha 6,8. Einzig das, was auch vor Gott gelten kann, gilt, so können wir
moralphilosophisch erläutern, als verbindlich und moralisch richtig. An eine solche
Interpretation dieses Jesuswortes im prophetisch-jüdischen Kontext läßt sich Max Webers
Postulat einer Verantwortungsethik also anschließen. Doch wie steht es mit der historischen
Richtigkeit dieser Deutung? Setzt sie etwas Wesentliches voraus, das in der Logik von Jesu
Tradition und seiner Verkündigung nicht eingeschlossen ist?
In der Tat macht eine solche Interpretation zwei anachronistische geltungslogische
Voraussetzungen für die einsehbare Verbindlichkeit moralischer Normen. Es ist das – erstens
– die Anerkennung eines autonomen argumentativen Diskurses als Geltungsbasis moralischer
Normen und – zweitens – die Voraussetzung, daß es verschiedene Ebenen eines solchen
Diskurses gibt, vor allem: einerseits die ideale Prinzipienebene als Erkenntnis von
Moralprinzip und Gültigkeitsinstanz und andererseits die situationsbezogene
188
Weber, Religionssoziologie, I, S. 550.
137
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Verantwortungsebene i. S. eines Verantwortungsdiskurses über die Anwendung des
Moralprinzips auf nicht moralanaloge Situationen.
Die erste Voraussetzung ist bei Jesus und in seiner Tradition allenfalls implizit und teilweise
gegeben: in Aussagen über die Einsehbarkeit von Gottes Gesetz und der Freude an der Tora.
Denn das, was sich einsehen läßt, läßt sich auch mit Argumenten anderen gegenüber
rechtfertigen, oder es ist nicht eingesehen. Insofern machen z. B. der Gottesrechtspsalm 119
und der prophetische Katechismus, dessen Kern in Micha 6, 8 zitiert ist, implizit die
Voraussetzung eines argumentativen Diskurses. Allerdings nähert sich die mosaische und
prophetische Thoratradition eigentlichen Prinzipien nur mit der Formel von Micha 6,8 und
mit der Tendenz zur Goldenen Regel bzw. mit dem Prinzip Nächstenliebe an: „Du sollst
deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18; vgl. 33 f). Ansonsten gibt sie keine
Prinzipienformulierungen sondern allein konkrete Normen, eben Gebote. Die aber können
unter bestimmten (non-moralanalogen) Handlungsbedingungen der realen Sozialwelt
untereinander kollidieren. Und dann bedarf es eines übergeordneten Prinzips mit
Kriterienfunktion.
Bei Jesus begegnet implizit auch die zweite von uns gemachte Voraussetzung, die
Inanspruchnahme eines moralstrategischen Anwendungsdiskurses, wenn auch nur am Rande,
und zwar im Blick auf die Erfolgschancen, die die ausgesandten Jünger unter
nonmoralanalogen Handlungsbedingungen haben können.
Summa summarum steht wohl doch ein massiv gesinnungsethisches Verständnis der
Gottesbeziehung und des Wandels mit Gott bzw. vor Gott im Zentrum von Jesu Lehre. Die
Forderung einer heiligen Gesinnung und eines heiligen Lebenswandels ist offenbar der Preis,
den der Nazarener zahlen muß: sowohl für die Überwindung der bloß instrumentellen
Gegenseitigkeit einer do ut des Gerechtigkeit des >Schaden gegen Schaden, Zahn um Zahn<
(im Sinne der Kohlbergschen Vormoralstufe 2) als auch für die Entgrenzung des absoluten
Liebesgebotes und dessen Ausdehnung auf alle Menschen, mithin für den Sprung von einer
tugendbezogenen Gruppenorientierung der Stufe 3 zu einem brüderlichkeitsethischen
Universalismus im Sinne der Stufe 6.
So kann Jesus sowohl biblische Worte als auch neue, gesinnungsethische Orientierungen aus
seiner jüdischen Lebenswelt – man denke an die Fraktion der Liebespharisäer, an Rabbi Hillel
138
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
und an den bereits 175 Jahre vor Christus wirkenden Schriftgelehrten Antigonos aus Ssocho –
kühn in die Anweisung fassen: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen
ist.“ Damit beschließt Matthäus jenen Hauptteil der „Bergpredigt“, in dem sich Jesus sowohl
mit der do ut des Gerechtigkeit auseinandersetzt, die freilich nicht für die gesamte jüdische
oder gar alttestamentliche Tradition steht, als auch Kritik an der binnenmoralischen
Begrenzung des Liebesgebots auf die Angehörigen der eigenen Gruppe übt: Mt. 5, 38-48. Als
Kritik an einem Ethos, welches Gerechtigkeit erstens auf ein Vergelten mit Gleichem
zurückführt, auf ein Verrechnen gleicher Anteile, und welches – zweitens – die Nächstenliebe
bzw. die Achtung sowie Unterstützung des Anderen ‚binnenethisch‘ eingrenzt auf die je
eigene Gruppe, sind diese Jesusworte in ihrer moralischen Substanz einleuchtend – bis auf
das letzte. Hier in Vers 48 ist der Bogen m. E. gesinnungsethisch überspannt und wohl ebenso
in dem priesterschriftlichen Wort 3. Mose 19,2, auf das sich Matthäus hier bezieht: „Ihr sollt
heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“
Eine andere Beurteilung ergäbe sich allerdings, wenn man jenes Heiligsein- bzw.
Vollkommenseinsollen diskurs-prinzipienethisch erläuterte und präzisierte. Dann bezöge es
sich auf die Bereitschaft, die eigenen Handlungen und Bestrebungen stets einem idealen
Rechtfertigungsdiskurs zu unterziehen, in dem die moralische Prinzipienfrage gefragt und
coram deo zu beantworten gesucht würde. Ich meine die Frage: ‚Was ist es, das wir prinzipiell
sollen und was wir, die wir uns in einem reinen Dialog als Argumentationspartner befragen
und uns wahrhaftig sowie gegenseitig achtungsvoll verhalten, auch eigentlich wollen?“ Denn
die Bereitschaft zu einem Verhalten, das dem Moralprinzip gerecht werde, also eine
prinzipienethische Gesinnung und deren selbstkritische Bemühung, die sich am Ideal mißt, ist
allerdings zu fordern.
Doch von einem solchen Diskursbezug mit der eingeschränkten Forderung eines idealen
Verhaltens in einer Begründungs- und Prüfungsargumentation ist hier keine Rede. Vielmehr
wird diese (ohnedies nicht als solche erwähnte) Begründungs- und Rechtfertigungsebene
sogleich vermengt mit der allgemeinen Lebenshaltung und Lebenspraxis. Das heißt: Matthäus
– und vermutlich auch Jesus selbst, da die weiteren Quellen, zumal Markus und Lukas keine
anderen Anhaltspunkte bieten – springt von der Prinzipienfrage sogleich zu einem
Handlungsgebot, vom formalen Prinzip als Geltungskriterium zu einem materialen Gebot des
Lebenswandels.
139
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Ich möchte diesen Ebenensprung den gesinnungsethischen Fehlschluß der Begründung
nennen oder das gesinnungsethische Dogma einer undifferenzierten, rigorosen Orientierung
am Prinzip. Das Prinzip wird nicht als ein, erst situationsgemäß anzuwendendes, Prinzip in
den Diskurs gezogen, sondern – erstens – mißverstanden, als sei es bereits eine konkrete
Situationsorientierung und Norm; und es wird – zweitens – stur festgehalten, statt daß sein
normativer Orientierungsgehalt situativ differenziert und konkretisiert würde – etwa um eine
moralische Strategie zur Bewältigung einer amoralischen oder unmoralischen Situation zu
erarbeiten. D.h.: der Diskurs wird vermieden.
Es ist dieser Preis, den Jesu radikal liebesethische und gesinnungsethische Traditionskritik
entrichtet. Nun mag einem wohlwollenden, historisch hermeneutisch feinsinnigen Interpreten
dieser Preis gleichwohl im geschichtlichen Kontext der biblisch jüdischen Tradition so
verständlich sein und immanent plausibel erscheinen wie David Flusser. Ein
geltungslogisches Problem ist es jedoch, daß in Jesu Worten – gleichsam auf der idealen
Begründungsebene – die Differenz zwischen regulativem Prinzip als Moralkriterium und
Grundnorm versus Maxime als Handlungsanleitung fehlt; welche Differenzierung allerdings
selbst Kant noch unterlaufen kann, wiewohl er sie selbst mit Einführung des Kategorischen
Imperativs getroffen hat. Spätestens beim Durchdenken der Dilemmasituationen, denen sich
Verantwortung tragende Moralfreunde in einer nicht moralischen Situation ausgesetzt sehen,
zeigt sich, daß die mangelnde Unterscheidung zwischen regulativem Moralprinzip und
situativer Handlungsorientierung desaströs ist, nämlich verantwortungszerstörend. Das ist es,
was Max Weber 1917 und 1919, in und nach dem furchtbaren europäischen Krieg und vor
einer drohenden deutschen Bürgerkriegssituation, zumindest gespürt hat.
Auch wenn Webers Idealtyp der absoluten Gesinnungsethik, der das abgelöste Leben eines
Heiligen fordert und nur in der mönchischen bzw. klösterlichen Form des Lebens Gestalt
annehmen, also eine Institution werden kann, – auch wenn dieser Idealtyp nicht die gesamte
Verkündigung und Lebensführung Jesu abdeckt, so schärft Weber damit doch in befreiender
Klarheit, in dilemmatischer Kontur, das verantwortungsethische Problembewußtsein.
Die großen Traditionen der alteuropäischen Ethik, die aristotelische, die augustinischlutherische und die thomasische, entfalten dieses dilemmatische Verantwortungsbewußtsein
nicht. Nicht die aristotelische Ethiktradition, weil sie kein Moralprinzip mit kontrafaktischen
Kriterien für das Richtige und Gerechte hat, die uns in Dilemmata hineinstellen würden. Dazu
140
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
fehlt es ihr sowohl an der gesinnungsethischen Substanz, an jener Substanz der Moralität, die
wir mit Weber „akosmistische Liebesethik“ nennen können, als auch an der kontrafaktischen
Spannung zwischen unserer lebensweltlichen Vorteils- bzw. Nutzenperspektive, wie sie unser
Streben nach Glück durchzieht, auf der einen Seite und dem Inbegriff von Gerechtigkeit und
Liebe, wie sie in dem barmherzigen Bundesgott erfahrbar ist, auf der anderen Seite.189
Auch die (neuplatonisch-) augustinische und lutherisch reformatorische Ethiktradition ist
keine hinlängliche Ressource für ein dilemmatisches Verantwortungsbewußtsein, wiewohl sie
jene beiden Elemente aufweist, die dem Aristotelismus fehlen: normative moralische
Substanz und jene Spannung zwischen vormoralischem Ego-Wollen versus moralische Idee
bzw. Einsicht in deren moralischen Sollensgehalt. Dieses Spannungsfeld entfaltet sie in der
Lehre vom Reich Gottes, insofern dieses dem Reich der Welt kritisch gegenübersteht. So
macht Luther, wenngleich nirgendwo systematisch sondern meist bei Gelegenheit von
Auseinandersetzungen oder Bibelauslegungen, den Ansatz zu einer Dialektik von zwei
komplementären Verhältnissen, in denen der Christ sich stets befinde: coram deo und coram
mundo. Der Christ, zugleich in der Welt und im Angesicht Gottes existierend, befinde sich
zugleich in Relation zu Gott – er wandelt vor Gott, und in Beziehung zur Welt – er handelt als
Person vor den Augen der Menschen in der Welt.
Lutherische Theologen wie Gerhard Ebeling, Dietrich Braun und Wolfgang Huber haben
diesen Ansatz Luthers als dialektischen rekonstruiert, der eine weltkritische Urteilsbildung
fordere. „Das Sein vor Gott und das Sein vor der Welt gelten nicht etwa als wahlweise
Möglichkeiten oder als getrennte Wirklichkeiten, sondern im strengen Zugleich einer
Wechselbeziehung. Wer sein Sein vor Gott hat, hört damit nicht auf, vor der Welt zu
existieren. Und wer sein Sein vor der Welt hat, ist damit nicht das Sein vor Gott los. Aber das
Sein im einen Forum wird zum Gegensatz des Seins im andern Forum, da in der Strittigkeit
beider Fora strittig ist, woher der Mensch sich empfängt, von welchem Urteil, welchem Wort
er lebt, aus welchem Forum er sich versteht, welches Angesicht ihn letztlich in Anspruch
nimmt und wohin letztlich sein Gesicht gerichtet und wem sein Rücken zugekehrt ist, was
also seine Gegenwart ausmacht, und bestimmt. Steht er im Bann der Welt, so ist er vor Gott
nichts, gerade, weil er meint, auch vor Gott etwas zu sein, sei es in seiner Frömmigkeit, sei es
im offenen Aufruhr gegen Gott, sei es in Gottvergessenheit. Hört er dagegen auf das Wort
189
Vgl. D. Böhler, „Kosmos-Vernunft und Lebensklugheit“, in: K.-O. Apel, D. Böhler u- K. H. Rebel (Hg),
Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, 3 Bände, Weinheim u. Basel (Beltz) 1984, zit.:
Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, bes. S. 356 ff., 385 ff.
141
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Gottes und gibt er ihm als dem in Gericht und Gnade tötenden und lebendig machenden Werk
Gottes recht, so erfährt er im Forum der Welt den Widerspruch, der gerade denen zuteil wird,
die um Gottes willen der Welt als Kreatur Gottes gerecht zu werden versuchen.“190
Diese Interpretation ist freilich bereits durch die theologiekritischen Erfahrungen der
„Bekennenden Kirche“, der „Dialektischen Theologie“ Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers
politisch ethischer Kritik am nachlutherischen Denken in zwei Räumen, dem geistlichen und
dem weltlichen, hindurchgegangen und hat einen neuen Luther entdeckt. Hingegen setzte sich
im deutschen Luthertum ein fatales „Trennungsmodell“ (Huber) der Zwei-Reiche-Lehre
durch, welches im kulturprotestantischen Luthertum zum Anfang des 20. Jahrhunderts den
Zeitgeist bestimmte. Max Weber griff es insofern auf, als er die Entwicklung der modernen
Welt zu den „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ sowohl der „kapitalistischen Wirtschaft“ als
auch des modernen Staatsapparates mit „Rechtspflege und Verwaltung“ nicht allein
rekonstruierte, sondern auch die tiefe „Fremdheit“ dieser zweckrationalen Sphären gegen die
ethisch religiöse Sphäre als rational unaufhebbares Schicksal affirmierte.191 In diesen
kulturprotestantischen Zusammenhang gehört m. E. auch Webers Behauptung, daß zwischen
dem politischen Verantwortungsprinzip und dem religiös ethischen Gesinnungsprinzip „ein
abgrundtiefer Gegensatz“ klaffe. Ein Entweder-Oder, eine Wahl zwischen zwei unvereinbaren
Lebensformen und Wertorientierungen: ein „unüberbrückbarer tödlicher Kampf, so wie
zwischen ‚Gott’ und ‚Teufel’!“192
Zurück zum kirchlichen und theologischen Trennungsmodell der lutherischen Zwei-ReicheLehre! Dem gläubigen Christen suggerierte die undialektische Interpretation der beiden
Reiche, „als gäbe es Gebiete unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern
Herren außer ihm gehören, nicht seinem, sondern einem von ihm unabhängigen Gesetz
verantwortlich wären.“193 Dagegen wandte sich in aller Schärfe die zweite These der Barmer
Bekenntnissynode von 1934. Angesichts dieser Wirkungsgeschichte der lutherischen ZweiReiche-Lehre, vor allem aber angesichts Luthers Bestreitung der Willensfreiheit des
190
G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken. Tübingen (Mohr) 41981, S. 229
M. Weber, Religionssoziologie I, Tübingen (Mohr) 1972, S. 544, 547 und 548.
192
M. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Ges.
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1968, S. 507, vgl. 505.
193
Zit. nach: Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Neukirchen-Vluyn, 1983, S. 38. Zur Kritik jenes
Trennungsmodells und seiner nicht allein folgenschweren theologischen sondern auch soziologischen und
politiktheoretischen Wirkung (so bei Friedrich Naumann, Max Weber, Arnold Gehlen und Niklas Luhmann),
vgl. Huber, a. a. O., S. 36-70.
191
142
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Menschen und seiner eigentümlichen Ethik der Buße194 gibt es gute Gründe für eine
insgesamt kritische Beurteilung. Denn in Luthers Theologie ist es um die Anerkennung der
Autonomie des Urteilssubjekts nicht gut bestellt.
Besagte Diskurs-Autonomie liegt aber in zweifacher Hinsicht jeder moralischen
Urteilsbildung und Orientierung zugrunde. Einmal ist sie die Geltungsbasis eines
moralischen, also eines verpflichtenden Urteils. Darauf zielt Kant: Zu Recht, nämlich
zureichend begründet, kann ‚mich’ allein dasjenige verpflichten, was ‚ich’, sofern ich nämlich
nur sinnvolle Argumente suche, mich mithin als Diskurspartner verhalte, letztlich aus freien
Stücken einsehen und daher autonom als verbindlich anerkennen kann. So nämlich, daß ‚ich’
mein eigener sittlicher Gesetzgeber sein kann. Moralische Autonomie ist „das Prinzip, nach
keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum
Gegenstande haben kann. Dies ist aber die Formel des kategorischen Imperativs und das
Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen
einerlei.“195
Zudem ist die Zuerkennung eines Anspruchs auf autonome Urteilsfähigkeit auch die
Motivationsbasis einer moralischen Person. Allein jemand, der bzw. die sich anerkannt weiß
als in praktischen Fragen urteilsfähig, ist auch motiviert bzw. motivierbar, sich an moralisch
praktischen Diskursen zu beteiligen und hier selbständig mitzudenken. Damit verwoben ist
sein bzw. ihr argumentativ-dialogbezogenes Selbstverhältnis zu einer moralischen Forderung
und Aufgabe: Allein wenn 'ich' mir selbst sagen kann, >diese moralische Anforderung ist aus
diesem Grunde/ diesen Gründen zustimmungswürdig und mir daher einsichtig<, allein dann
kann 'ich' mich frei dazu verpflichten − und habe mich dadurch selbst motiviert.
Damit sind wir wieder bei Kant, insofern er das Vermögen der praktischen Vernunft als den
freien Willen bestimmt.196 So zeigt er, daß bei moralischen Urteilen der Geltungsgrund mit
194
Zur Kritik von Luthers Ethik der Buße: D. Böhler, Reformation und praktische Vernunft. Zu Luthers geistiger
und politisch-ethischer Wirkung. In: Universität des Saarlandes (Hg.): Martin Luther, 1483 bis 1983.
Ringvorlesung der philosophischen Fakultät (Sommersemester 1983). Saarbrücken 1983, S. 173-201.
195
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (GMS), Akad. Ausg., S. 447 (Meiner, 1999, S. 75)
196
GMS, S. 412. Von daher läßt sich auch das einleitende "Donnerwort" (H. Jonas) und sein Kontext ohne
problematische gesinnungsethische Vorleistungen des Lesers als vernunftethischer (antiaristotelischer,
nonempirischer) Ausgangspunkt verstehen: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.
Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit,
Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und
wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen
Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut
ist. Mit den Glücksgaben ist es ebenso bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze
Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Mut und
143
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
dem Beweggrund (Motiv) unauflöslich verbunden sind: in der Autonomie. Denn hier kann
eine Aufforderung bzw. Norm nur dann gelten, wenn 'ich' als Argumentationspartner/in
(Kant: als "vernünftiges Wesen" in "einem Reich der Zwecke")197 sie selbst einsehen kann.
Umgekehrt kann ein Vernunftwesen, besser: ein(e) Diskurspartner/in, allein dadurch zu einer
Pflichtübernahme bewegt werden, wenn und indem er/sie diese Pflicht als wohlbegründet
anerkennen und als sein/ihr eigenes Engagement198 übernehmen kann. Diese Motivation ist
um so wichtiger in allen Fällen einer moralischen Strategiebildung, die unseren ethischen
Intuitionen und den davon bestärkten Gewissensskrupeln zuwiderlaufen dürfte. Eben, weil sie
uns vor die Aufgabe stellt, unsere Unschuld hintanzusetzen, an unserer persönlichen Identität
zu arbeiten und sich zu moralischen Strategien bereit finden, mit denen wir uns, radikal
gesinnungsethisch betrachtet, die Hände schmutzig zu machen.
Eben das scheint Dietrich Bonhoeffers Kritik des kulturprotestantischen Luthertums und sein
Plädoyer für die freie verantwortliche Tat im Auge gehabt zu haben. Denn erst auf der Basis
der Urteilsautonomie kann jemand zu der Kühnheit motiviert werden, in einem moralischen
Normen- oder Maximenkonflikt moralische Strategien zu suchen und sich durch die
Anwendung einer solchen Strategie die Hände bzw. das eigene Gewissen zu beschmutzen,
also die ethische Reinheit einzubüßen. Denn eine solche moralstrategische Urteilsbildung
müßte auch gegen die Unmittelbarkeit der eigenen Gewissensskrupel und gegen das eine oder
andere der göttlichen Gebote erfolgen.
Von Augustin bis Luther wird die gedoppelte Basis eines moralischen Urteils, die Autonomie
als Geltungsgrund und Beweggrund, nicht anerkannt noch gar entfaltet. Daher bleiben das
freie moralische Urteil und der Mut zur freien moralischen Tat auch gegen eines der Gebote
und erst recht gegen eine Norm der Obrigkeit, der die Herrschaft im Reich der Welt von Gott
gegeben sei, schlichtweg ohne Basis. Anders gesagt: der Lutheraner ist nicht der Mann, die
Lutheranerin nicht die Frau der freien verantwortlichen Tat. Niemand hat das schmerzlicher
hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt, und
hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln, berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen,
daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar im Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines
Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so
der gute Wille die unerläßliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszumachen scheint."
(GMS, S. 393: Beginn des "Ersten Abschnitts").
197
GMS, S. 433, auch S. 434.
198
Dieses Wort, das umgangssprachlich soviel wie Verpflichtung, -bindlichkeit, -schreibung und Bindung
bedeutet, ist in dem frz. Existentialismus zum Begriff und Terminus geworden, der auch die Bedeutung von
Risiko, Wagnis und Sich Einlassen auf eine Situation umfaßt. Sartre bezog ihn auf die Urwahl des Menschen, in
der dieser sich zugleich auf die Menschheit (und insofern auf den Kategorischen Imperativ) beziehe:
144
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
gespürt als Dietrich Bonhoeffer, der sich den Mut zur dilemmatischen Verantwortlichkeit,
zum Widerstand gegen Obrigkeit und zur Zivilcourage, allererst erarbeitet hat. Politisch hat er
dies so ausgedrückt: Den Deutschen fehle – durchaus in der Nachfolge Luthers –„eine
entscheidende Grunderkenntnis: die von der Notwendigkeit der freien verantwortlichen Tat
auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose
Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte.“199
Auch die dritte große Ethiktradition des alten Europa, entfaltet das dilemmatische
Verantwortungsbewußtsein nicht. Ich meine die aristotelisch-thomasisch-naturrechtliche
Ethik und Soziallehre des Katholizismus, dessen glaubwürdiger Sohn Papst Johannes Paul II.
gewesen ist. Warum auch sie nicht?
Amalgamiert mit der Kosmos- bzw. Naturmetaphysik des Aristoteles, neutralisiert der
Katholizismus die Differenz von moralischem Sollen und faktischem, natürlichem sowie
gesellschaftlich kulturellem Sein, die in Jesu Liebesethik und Reich Gottes-Verkündigung
verankert war. Folgenschwer harmonisiert Thomas, der Gesetzgeber des Katholizismus, das
von ihm bereits spekulativ gedeutete natürliche Sein mit dem moralischen Sollen. Und dieses
begreift er überhaupt nicht exklusiv als solches, sondern vermittelt es – wir müßten sagen:
vermengt es - sogleich mit der lebensweltlichen
und individuellen Wert- und
Interessensphäre, indem er es wie Aristoteles als das naturgemäß Gute, das Gut-Leben i. S.
natürlicher Seinsbestimmung also, versteht.
Folgenschwer entwickelt Thomas den spekulativ-teleologischen Begriff des natürlichen Seins
und die Gleichsetzung des Guten mit dem vollendeten Natursein in Anlehnung an Aristoteles:
„ens et bonum convertuntur“ (das [vollendete] Sein ist das [wahrhaft] Gute, nach dem alles
naturgemäß strebt).200 Die naturgemäße Vollendung des Seins sei zugleich der normative
Gehalt des Sollens.201
„Darin liegen die Begründungsaporie und die Geltungsaporie allen Naturrechts. Denn nicht
das Naturgemäße kann das Gute als moralisches Sollen bestimmen; vielmehr kann man nur,
"L'existentialisme est une humanisme, Paris 1946 und 1965 (Coll. Pensées, Ed. Nagel), bes. S. 69ff, 74f, vgl. 85,
126
199
D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. V. E. Bethge,
München 1962, S. 145. Dazu: D. Böhler, in: Funkkolleg Studientexte, Bd 3., S. 880ff.
200
Thomas von Aquin: Summa theologica. I. Quaestio Iva, 3; Quaestio Va, 2-5.
201
Vgl. D. Böhler, „Instrumentelle und praktische Vernunft – das ethische Dilemma der Neuzeit“, in: Funkkolleg
Studientexte, Bd. 2, S. 412.
145
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
wenn man einen normativen Begriff des Guten schon hat, von daher bestimmen, was das
wahrhaft Naturgemäße und das eigentliche, gute Sein ist: ‚So kommt es zu der typisch
naturrechtlichen petitio principii: Was man zuvor als gut empfunden hat, wird als das
Naturgemäße hingestellt und dann als Erkenntnisgrund des Guten verwandt. So wird auch bei
Thomas die schon vorher feststehende christliche Wertwelt als das Naturgemäße
herausgestellt und dann aus diesem ‚Natur‘-Begriff die christliche Wertwelt scheinbar
abgeleitet.“202
„Zwar konkretisiert Thomas das allgemeine Naturrecht durch die Zehn Gebote, die er
ebenfalls als natürliche Gesetze versteht, weil man sie aus obersten Prinzipien ableiten könne.
Das hindert ihn aber nicht, die Sklavenlehre des Aristoteles zu übernehmen. Es gibt, sagt
Thomas, Menschen, die wegen der Schwäche ihres Verstandes von Natur nur zum Dienen
bestimmt und daher beseelte Werkzeuge in der Hand ihres Eigentümers sind.203 So sieht er
vor allem die Naturvölker, die ohne Schrift, ohne geschriebenes Recht und in tierischen Sitten
dahinleben, als Sklaven von Natur an.“204
Für
uns
ist
wichtig,
daß
der
Thomismus
das
Problem
einer
autonomen
verantwortungsethischen und moralstrategischen Urteilsbildung eher verstellt, als daß er es
begründen und angemessen entfalten könnte. Da er den Standpunkt der moralischen
Urteilsautonomie nicht konsequent einnimmt, sondern bei dem vermeintlichen Telos des
menschlichen Lebens ansetzt, ist sein Bewußtsein für die Weltverantwortung eingeschränkt:
wo eine Teleologie herrscht, ist der Mensch – auf der Ebene des Denkens der Ethiker – nur
begrenzt für Handlungsfolgen verantwortlich. Ist es doch Gott, der Schöpfer, dem ist es ja, der
die Verantwortung für die Teleologie zufällt. Insofern reicht es in der Tat aus, wenn der Christ
recht handelt und die Folgen dem Schöpfer, dem Herrn der von ihm so eingerichteten Welt,
anheimstellt …
Hinzu kommt wie bei Aristoteles, daß die, de facto doch an das Verständnis der eigenen
Lebenswelt anknüpfende teleologische Welt- und Seinsdeutung auch den lebensweltlichen,
traditionalen und anderen Vor-Urteilen zuneigt. Aus diesen Gründen ist der Thomismus vom
Ansatz her unfähig, das verantwortungsethische Dilemma zu erkennen und es strikt
argumentativ, mit dem Anspruch intersubjektiver Gültigkeit, schließlich zu lösen.
202
D. Böhler, a. a. O. , S. 414.
Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles, III 81.
204
D. Böhler, ebenda. Thomas von Aquin: Kommentar zu Aristoteles’ Politik I, lect. I.
203
146
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
3.1
Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen
Komplementarität offenen Begründungsfragen
Es ist das freilich eine Aufgabe, deren Lösbarkeit selbst derjenige Gesellschaftsdenker, dem
wir ihre Stellung verdanken, Max Weber, als unlösbar angesehen hat, und zwar dank zweier
begründungsskeptischer Voraussetzungen. Einmal ist er im vorhinein wertrelativistisch und
avant la lettre existentialistisch eingestellt, so daß er eine rationale Begründung, den
Gültigkeitserweis eines Moralprinzips mit normativem Wertgehalt als unmöglich ansieht.
Außerdem verneint er die verantwortungsethische Legitimationsfrage, ob sich Kriterien für
eine legitime Inkaufnahme sittlich bedenklicher Strategien, wie etwa gewaltsamer Mittel, im
strengen, wissenschaftlichen Sinne rational begründen lassen.
Selbst als Verantwortungsethiker bezieht Weber ausdrücklich eine agnostische und
existentialistische bzw. dezisionistische Position: Erkenntnis des Richtigen sei hier nicht
möglich. „Schon so einfache Fragen […], wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen
Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in den
Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in
concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und
gar Sache der Wahl oder des Kompromisses∗. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches)
wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben
könnte.“205
Bezüglich seiner Kritik der Gesinnungsethik und seines, ja von ihm selbst eingeführten,
Typus einer Verantwortungsethik, vor allem als Ethik des Staatsmanns, bringt Weber sich
damit in eine Aporie: Einerseits fordert er eine verantwortungsethische, moralisch strategische
Maximenbildung, die als solche nicht etwa gesinnungslos sondern wertrational sein und eine
Maxime „von streng ›formalem‹ Charakter“ sein solle.206 Andererseits beläßt er sowohl den
Zugang zu diesem ethischen Prinzip, nämlich um willen der Verantwortung für Dritte auch
„sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die
Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf“ zu nehmen,207 als auch dessen
situationsbezogene Konkretion, nämlich „inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in den
∗
Hervorhebung von mir (D.B.)
M. Weber, „Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der …“, in: Ders., Wissenschaftslehre, S. 508. Vgl. ders., „Politik als
Beruf“, s. Anm. 17, S. 552, 3. Abs.
206
Ebenda, S. 505.
205
147
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Kauf genommen werden sollen“,208 in der Irrationalität „der eigenen letzten Entscheidung“209,
mithin ohne ein wissenschaftliches Verfahren.
Was würde daraus für die Ethik folgen? Auf die Diskursethik bezogen, hieße das zunächst,
daß
Karl-Otto
Apels
Idee
eines
eigenständigen,
intersubjektiv
geltungsfähigen
Verantwortungsebene „B“ der Ethik zur Anwendung des rational andemonstrierbaren,
insofern letzthinnig begründbaren, Moralprinzips nichtig sei – eine Illusion.
Zweitens unterstellt Weber offenbar auch, ein Gültigkeitserweis des Moralprinzips als
Kriterium der Verallgemeinerbarkeit und ein Erweis seiner Verbindlichkeit als Grundnorm
der Achtung und Solidarität, sei nicht möglich. Auch hier, also gegenüber der Frage, warum
man eigentlich moralisch sein solle, sei einzig die existentielle aber arationale Haltung der
Wahl möglich und angezeigt. Diese dezisionistische Konsequenz – Entscheidung in allen
normativen bzw. Wertungsfragen – hat der „Kritische Rationalismus“ Karl Raimund Poppers
und seiner Schüler, an der Spitze Hans Albert, ausdrücklich bezogen,210 was dann zu einer
teils
intensiven,
teils
mißverständnisgesättigt
polemischen
Kritik
an
dem
transzendentalpragmatischen Programm einer Begründungsreflexion des Moralprinzips
geführt hat.211 Deren Vertreter, voran Karl-Otto Apel und Wolfgang Kuhlmann, sind die
Metakritik nicht schuldig geblieben.212 Und die weitere Entwicklung der ursprünglich
transzendentalphilosophisch rekonstruktiven Transzendentalpragmatik hin zu einer, jedenfalls
im entscheidenden Begründungszug, sokratisch dialogreflexiven Diskurspragmatik ist
ebenfalls von dieser Debatte mitangestoßen worden.213
207
M. Weber, „Politik als Beruf“, a. a. O., S. 552.
M. Weber, „Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der …, a. a. O., S. 508. (Hervorhebung von mir, D.B.)
209
Ebenda, S. 507.
210
So vertritt Karl R. Popper die Auffassung, daß das Begründungsdenken in Philosophie und Wissenschaft
überhaupt abgelöst werden müsse durch das neue Konzept von Philosophie und Wissenschaft als „Vermutungen
und Überlegungen“ bzw. als „Konstruktion und Kritik“ (Hans Albert). K. R. Popper, Conjectures and
Refutations, London, 1963, deutsch: Vermutungen und Widerlegungen I + II. Mohr: Tübingen. 1994.
H. Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg 1975. Ders., Traktate über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr
1968. Ders., Traktat über rationale Praxis, Tübingen (Mohr) 1978.
211
H. Albert, Transzendentale Träumereien. K.-O. Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg
(Hoffmann und Campe) 1975.
H. Keuth, „Fallibilismus vs. transzendentale Letztbegründung“, in: Ztschr. f. Allg. Wissenschaftstheorie, XIV/2
(1983).
212
H. Albert und K.-O. Apel, „Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?“ in: Apel,
Böhler u. a. (Hrsg.) Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 2, Frankfurt a. Main (Fischer Tb) 1984, S. 82122.
K.-O. Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M.
(Suhrkamp) 1998, Essay 1, S. 33-80 und Essay 2, S 81-194.
W. Kuhlmann, „Reflexive Letztbegründung vs. radikaler Fallibilismus. Eine Replik.“ In: Ztschr. f. Allg.
Wissenschaftstheorie, XVI/2 (1985), S. 357-374.
213
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, S. 94ff., 149ff und 356ff.
Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, in: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hrsg.) Strategien contra
Moral. Wirtschaft und Ethik. EWD-Band 12, Münster (Lit) 2004, S. 105ff.
208
148
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Als kulturprotestantischer Lutheraner, der das Trennungsmodell der Lehre von den beiden
Reichen mitbrachte, und als Begründer der empirischen Sozialwissenschaften, der einer
wertfreien Rationalität die Bahn brach, war es Max Weber, der nicht nur die Begründung des
Moralprinzips sondern auch die Aufklärung des verantwortungsethischen Dilemmas aus dem
Aufgabengebiet rationaler Erkenntnis verbannt hat: Er erklärte sie offenbar „zur Sache der
Wahl oder des Kompromisses“. Insofern ist er Vater jener Struktur des modernen westlichen
Geistes, die Apel als „Komplementaritätssystem“ analysiert hat. Damit ist er es, welcher,
sechsundachtzig Jahre nach seinem Tode, eine Vorlesung, die sich weder mit seinem
existenzialistischen
bzw.
dezisionistischen
Moralverständnis
noch
mit
seinem
instrumentalistischen Verständnis des Rationalen abfinden kann, vor diese beiden
Begründungsfragen stellt:
a) Ist der politisch ethische Gegensatz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik
auf der Prinzipienebene des Moralischen unüberbrückbar? Oder ist eine rationale,
argumentativ zustimmungswürdige moralische Strategiebildung möglich?
b) Läßt sich das Moralprinzip aber als ein rationales Prinzip erweisen, oder erschließt
(bzw. verschließt) es sich einzig durch arationale Entscheidung dafür (bzw. dagegen)?
Ist praktische, einen verbindlichen Richtungssinn angebende, Vernunft überhaupt
möglich?
Ad a): Die zweite Frage klammern wir zunächst aus und entwickeln fürs erste ein
Vorverständnis, in dessen Perspektive wir später das verantwortungsethische Dilemma, wie
ich hoffe, werden lösen können.
Worum geht es? Was Max Weber für rational unlösbar hält und was auch die
moralphilosophisch sonst äußerst elaborierte thomistische Tradition nicht angemessen zu
denken vermag, ist dieses:
Beim verantwortungsethischen Dilemma geht es um eine Kollision von solchen moralischen
Maximen, die sich aus einer idealisierenden moralischen Überlegung auf der Prinzipienebene
ergeben, und jenen Verpflichtungen, die ein Verantwortungsträger in der realen Welt anderen
gegenüber (Klienten, Schutzbefohlenen, Kindern) institutionell übernommen hat.
Betrachten wir zuerst jene idealisierenden moralischen Sollensperspektiven, eigentlich z.B.
gelte unbedingt: ‚Du sollst nicht töten.’ Für solche moralischen Gebote ist vorauszusetzen
(und jeweils zu gewährleisten), daß jede(r) ihren normativen Gehalt einsehen kann, wenn
149
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
sie/er mit anderen in einem idealisierenden, von Realitätszwängen entlasteten Dialog die
Überlegung anstellte: „Distanzieren wir uns einmal sowohl von den lebensweltlichen Werten
und Konventionen als auch von unseren persönlichen Interessen distanzieren, indem wir
deren Legitimität einklammern und sie dahingestellt sein lassen, um nach allgemein
geltungswürdigen Prinzipien zu suchen. Wie? So, daß wir uns auf das besinnen, was wir jetzt
in der Rolle leibhafter Partner im strikt argumentativen, auf Achtung der Gleichberechtigung
beruhenden Dialog in Anspruch nehmen und anerkennen müssen, was ist es, was wir als
solche, vernünftige, Dialogpartner wollen und sollen?“
Die sich in einer solchen ursprünglichen Dialogreflexion ergebenden Werte bzw.
Wollensgehalte (wie ‚meine‘ Freiheit zu argumentieren, ‚mein‘ Anspruch auf Achtung und
kommunikative Freiheit etc.) und die dadurch eingesehenen Normen bzw. Sollensgehalte (wie
Anerkennung der kommunikativen Freiheit der Anderen, Achtung ihrer Würde als
gleichberechtigter Dialogpartner etc.) würden zugleich den Wertgehalt des Prinzips der Moral
und dessen normativen Verpflichtungssinn bilden. Dieser ließe sich als regulative Norm fürs
erste so zusammenfassen: >Bemüht euch um solche Argumente und Handlungsweisen, denen
bei einem idealen Situations- bzw. Rollentausch auch alle anderen als Argumentationspartner
(nach zureichender Prüfung aller Gründe) zustimmen würden.<
Mit diesem Dialog- Moralprinzip („D“) sind m. E. die Gebote bzw. Wegweisungen Jesu‘
Liebesethik
prima
facie
vereinbar.
D.h.
aber
sie
erhalten
nur
dann
situative
Befolgungsgültigkeit, wenn zugleich die realen Fürsorgerollen (Eltern für Kinder, Politiker
für Bürger, Unternehmer für Stakeholder) und gewisse harte Realitätsbedingungen
berücksichtigt werden, insofern sie die (verantwortbaren) moralischen Handlungsoptionen
einschränken, also Moralrestriktionen darstellen. Solche können sich ergeben: aus den
faktischen Ego-Verhaltensweisen einzelner, aus den gesellschaftlichen Konventionen bzw.
Institutionen, aus der Konkurrenz kultureller Wertsphären, aus der Eigensinnigkeit’ sozialer
Systeme usw. All das darf bei der Urteilsbildung nicht idealisierend ausgeblendet werden.
Berücksichtigen wir jene Restriktionen einer idealisierenden Prinzipienüberlegung und beratung, so stehen wir als Beratende in einer dilemmatischen Problemsituation. Deren
Ausgangspunkt und moralischen Bezugspunkt bilden: die volle Autonomie der Urteilsfindung,
die Reflexivität und Formalität der Prinzipienerkenntnis und die kompromißlose
Geltungseinklammerung aller lebensweltlichen Urteilsinstanzen (unter Einschluß sowohl der
liebesethischen Maximen als auch der strategischen Klugheitsregeln und ihrer strategischen
Oberregel, daß am Ende nur der Erfolg zähle und daß auch bedenkliche Mittel durch den
150
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zweck geheiligt würden). Ihr Gegenstand, ihr besonderes Thema ist die eingesehene
Notwendigkeit, einer Fürsorgeverpflichtung unter mehr oder weniger nonmoralischen
Handlungsbedingungen auf möglichst moralische Weise nachzukommen – m. E. so nah wie
möglich an den Forderungen der Bergpredigt, verstanden als letzthinnige Zielsetzung, nicht
als konkrete Situationsnormen, die hier und jetzt und buchstäblich zu befolgen wären.
Denn alle konkreten – Kant würde sagen: alle ‚materialen‘ – Gebote und Maximen sind
anhand des Moralprinzips als Gültigkeitskriterium und im Blick auf die je gegebene, vielleicht
sehr harte und gar nicht moralanaloge, Handlungssituation doppelt zu prüfen: >Lassen sie
sich konkretisieren oder wie müssen wir sie verändern, um eine moralprinzipverträgliche und
situationstaugliche Orientierung zu gewinnen?<
Dabei behält die Moralverträglichkeit den geltungsmäßigen Primat. Daher soll die Prüfung,
ob eine ersonnene und diskursiv erhärtete Konterstrategie mit dem Moralprinzip „D“
verträglich ist, unbedingt das letzte Wort behalten. Alles andere wäre ein Abrutschen von der
moralischen Urteilsbildung in zweckrationale Klugheit, eine Kapitulation vor jenem
Relativismus, der sich als weltkluger „Pragmatismus“, als Rationalität der „Sachzwänge“ oder
als „Einsicht in die Notwendigkeit“ empfiehlt und hinter diesen Selbstempfehlungen seine
tendenzielle oder gänzliche Prinzipienlosigkeit verbirgt.
4
Kants metaphysisch dualistische und methodisch inkommunikative
(solipsistische) Vernunftethik – Moralität als Pflichterkenntnis und guter Wille.
Gegen die Tradition denkend, und zwar sowohl gegen die naturteleologische und poliskonventionalistische
Perspektive
von
Aristoteles
als
auch
gegen
die
strategisch
zweckrationalistische und autoritär-dezisionistische Perspektive von Thomas Hobbes sucht
Kant eine „reine“ und „formale“ Vernunftethik, die das allgemeingültige, weil autonom
einsehbare (und einen zureichenden „Grund der Verbindlichkeit“ an die Hand gebende)
Sollens-„Prinzip der Moral“ aus dem intuitiven sittlichen Menschenverstande/Gewissen
rekonstruiert.214
214
GMS, Erster Abschnitt, bes. 393-396 und 411-413, 439.
Zu Hobbes bzw. Kant: Karl-Otto Apel in: Funkkolleg Studientexte Bd. 1 S. 110-120 und
D. Böhler, a. a. O, Bd. 2, S. 421-429.
151
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Kant bestimmt den Sinn von „moralisch“ kriterial, nämlich als Inbegriff jener
Handlungsweise, die „als Grund einer Verbindlichkeit“ gelten können.215 Im Blick auf diese
formale bzw. kriteriale Bestimmung des Moralischen sagt Kant, dass sein Ansatz dem
Aufklärungszeitalter als „Paradoxon der Methode“ erscheinen müsse. In der Tat waren seine
Zeitgenossen an
der materialen Naturethik des Guten des Aristoteles orientiert.
Demgegenüber erklärt Kant in der Kritik der Praktischen Vernunft: „daß nämlich der Begriff
des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar
zum Grunde gelegt werden müßte) sondern nur […] nach demselben und durch dasselbe
bestimmt werden müsse.“∗
Warum? Der Ansatz bei dem formalen-moralischen Gesetz sei entscheidend, weil „nur ein
formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer
allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bestimmung ihrer Maximen vorschreibt, kann a
priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.“∗, er einen allgemein
einsehbaren „Probierstein des Guten oder Bösen“ ermögliche.
Dieser Ansatz „erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verirrungen der
Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral. Denn sie suchten einen
Gegenstand des Willens auf, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen,
(welches alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder
Unlust gebrachten Gegenstandes, der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte), anstatt daß
sie zuerst nach einem Gesetze hätten forschen sollen, das a priori und unmittelbar den Willen,
und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte. Nun mochten sie diesen Gegenstand
der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der
Vollkommenheit, im moralischen Gefühle, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr
Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu
einem moralischen Gesetze stoßen; weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren
Bestimmungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl,
welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten. Nur ein formales Gesetz, d.i. ein
solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur
obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der
praktischen Vernunft sein. Die Alten verrieten indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen,
daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom
215
GMS 398.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausg., S. 110; vgl. auch: S. 112ff.
∗∗
Ebd., S. 113.
∗
152
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
höchsten
Gut,
mithin
eines
Gegenstandes
setzten,
welchen
sie
nachher
zum
Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten[…]“ ∗
Vgl. W. Kuhlmann „Warum Normenethik?“ In: Funkkolleg Studientexte Bd. 2, bes. S. 509514.
Im
„Ersten
Abschnitt“
der
GMS
rekonstruiert
Kant
„die
gemeine
sittliche
Vernunfterkenntnis“, den ethischen Gemeinsinn, den er auf den guten Willen als das
autonome bzw. autonomiefähige Vermögen zu praktischer Vernunft und auf dessen
Gewissens-Tendenz zum Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Maxime (GMS, 404)
zurückführt. Dieser stehe aber die faktische Neigungs-Willenstendenz zur je eigenen
Glückseligkeit entgegen, bei der Aristoteles’ natürliche Teleologie ansetzt. Die gemeine
Gewissenstendenz zum Verallgemeinerbarkeitskriterium setzt Kant kriteriologisch, also
geltungsmäßig, über die faktischen – vielfach instrumentalisierbaren – Tugenden, von denen
Aristoteles’ Ethik, die ‚naturgemäß’ und daher material bzw. empiriebezogen ansetzt,
ausgeht.
Vgl. zur normativen autonomiebezogenen Rekonstruktion:
W. Kuhlmann, ebenda, S. 504 unten bis 509, 520 letzter Abs. – 521, 2. Abs.
Überdies ist Kants Ansatz ein charakteristisch moderner Versuch, der neuen formellen
(mathematisierten und kausal erklärenden) Rationalität der Naturwissenschaften gerecht zu
werden, aber dennoch Freiheit des Willens und sittliche Freiheit, also Autonomie, wie auch
sittlich verbindliche Orientierung zu denken: „reine praktische Vernunft“. Die Kosten dieses
großangelegten Versuchs sind nicht unbeträchtlich.
Kant entrichtet dafür zwei hohe Preise, die den Begründungswert bzw. die rationale
Geltungsfähigkeit aber auch die Orientierungskraft bzw. die Anwendbarkeit seines Ansatzes
in Frage stellen: zwei metaphysische Konstruktionen, die sich als solche nicht rational
einholen und die sich ohne Glaubenssetzungen nicht einmal als Diskursbeitrag verstehen und
diskutieren lassen.
Metaphysische Vermutung der Freiheit als Voraus-Setzung des Vernunftsubjekts
Um überhaupt für Freiheit angesichts einer restlos kausalmechanisch objektivierten Welt (der
Naturwissenschaften) einen logischen Ort zu finden, postuliert Kant eine intelligible Welt des
153
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
denkenden, urteilenden Subjekts, des denk- und urteilseinsamen Bewußtseins und
Selbstbewußtseins überhaupt, das sich selbst als frei und selbstbestimmend „setze“ (Fichte) –
oder das sich als solches „wähle“ (Existentialismus). Zwar will Kant zeigen, daß in dieser
angenommenen Subjekt-Welt die Rationalität, die logische Form des Allgemeinen, herrsche
und hier demgemäß Allgemeingültigkeit möglich sei, mithin auch praktische Verbindlichkeit.
Aber er macht deutlich, daß diese freie und vernunftfähige Sphäre eben nicht erkennbar und
in ihrem Ursprung nicht erklärbar sei: sie gehöre nicht in den Bereich möglicher Erfahrung –
Kant hat bloß den frühmodernen Begriff einer kausalistischen Theorie- und ExperimentBeobachtungserfahrung, nicht auch den einer kommunikativen Verstehens-Erfahrung im
Medium der Sprache – und könne daher nur metaphysisch vermutet werden.
Kant ringt mit der scheinbaren Unmöglichkeit, in der Welt als Natur bzw. dem Objekt der
experimentellen Kausalerklärung einen Anhaltspunkt für
-
Urteilsautonomie (und sittliche Freiheit) und
-
für die intersubjektive Sphäre der autonomen Erkenntnis als einer Verbindung oder
Gemeinschaft der Erkenntnissubjekte zu finden.
Problem: Wie können wir das, was wir als Vernunftsubjekte doch für uns in Anspruch
nehmen, nämlich Urteilsautonomie und allgemeingültige Erkenntnis bzw. Vernunft als
Möglichkeit zu denken?
Nicht als etwas, das zu der realen Welt gehört, deren Erscheinungen sich (natur-)
wissenschaftlich kausal erklären lassen; sondern nur als etwas, das menschliche Vernunft
überhaupt nicht zu „erklären“ imstande ist, das sie daher nur „postulieren“ kann. Aus dieser
Erkenntnisaporie hilft sich Kant mit einer neuen Metaphysik, die er kritische nennt, weil sie
zweierlei leisten soll: Endgültige Diskreditierung der bis dato endlosen Spekulationen über
das Wesen, die Bestimmung etc. der Welt, und Ermöglichung einer autonomen
allgemeingültigen Erkenntnisweise, einer kritischen Vernunft sowohl in theoretischer
Hinsicht als auch in praktischer.
Kant stellt also der kausal erklärbaren Welt des gesetzmäßigen Zusammenhangs der
Erscheinungen, der Welt der objektivierenden wissenschaftlichen Erfahrung, eine
metaphysisch angenommene – allein von Gott, als intuitiv alles erschauendem intellectus
archetypus, erkannte – Welt der (für uns) unerkennbaren freien Wesenheiten, der „Dinge an
sich“, gegenüber. Auch deshalb heißt seine Grundlegung der Ethik, könnten wir heute sagen,
mit Recht eine „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.“
154
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zieht man aus dieser Nichterkennbarkeit der moralischen Sphäre und aus ihrem ‚Gesetztsein’
skeptische Konsequenzen, dann befindet man sich bereits in der, von Apel als geistigem
Signum der westlichen Moderne rekonstruierten, Komplementarität von formeller,
nonethischer Rationalität versus ethisch normierender, aber nonrationaler Wertentscheidung.
Es ist Max Weber, der diese Konsequenz gezogen und damit die Komplementaritätsstruktur
des westlichen Geistes etabliert hat.216
Metaphysische Setzung eines „Faktums der Vernunft“ statt Verbindlichkeitserweis
Hinzu kommt, daß der ebenso intellektuell redliche wie scharfsinnige Kant zugesteht, daß
sein Gültigkeitsanspruch für den Kategorischen Imperativ rational nicht einlösbar sei.
Genauer gesagt, ist es der Gültigkeitsanspruch für das – eben bloß in der postulierten
metaphysischen Sphäre eines „Reichs der Zwecke“ angesiedelte und dort einsehbare –
Moralprinzip und damit für die Verbindung der Freiheit des Willens mit der Verpflichtung zur
Moralität. Denn eine „transzendentale Deduktion“ aus der Bedingung der Möglichkeit der
Erfahrung sei hier undenkbar, weil Freiheit eben in der realen (kausaldeterminierten) Welt der
Erscheinungen nicht vorkomme, also auch nicht erfahren werden könne.
Den Mangel eines Verbindlichkeitserweises des Moralprinzips glaubt er jedoch durch eine
Art „metaphysische Deduktion“ (Hans Jonas) ausgleichen zu können: er meint, daß es einfach
ein „Faktum der Vernunft“ sei, das „sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a
priori.“217 Wenn es sich aber bloß „aufdringt“ und wenn dessen normativer Gehalt nicht als
allgemeingültig erweisbar ist, was anderes ist es dann – so dürfte ein argumentationswilliger
Skeptiker mit Recht sagen – als eine philosophische Glaubensannahme: sympathisch, aber
unverbindlich?
Kant beschwört hier mehr oder plausibilisiert in seinem metaphysischen Rahmen, als daß er
hart begründete und so auch Zweifler überzeugen könnte.. Er fährt an der zentralen Stelle fort:
Jener synthetische Satz a priori sei „auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung
gegründet […], ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens
voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert
werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. [Scil.: Denn diese käme nur Gott zu,
216
Dazu hier: Skript, S. 21
155
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
der als archetypus intellectus alles intuitiv – schauend – so erkenne, wie es in seinem Wesen
ist [D.B.]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl
bemerken, daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die
sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt.“218
Allerdings läßt sich, mit Karl-Heinz Ilting, dagegen einwenden, daß Kant hiermit selbst,
gegen seine natur-metaphysikkritische Absicht, aus einem Faktum die logische Geltung und
praktische Verbindlichkeit einer Norm herzuleiten versuche.219 Andererseits kann man mit
Apel, in gewisser Weise auch mit dem Briefwechsel zwischen Jonas und Gadamer, fragen, ob
Kant hier nicht dann einen Verbindlichkeitserweis nahelegt, wenn man – erstens – die freie,
vernünftige Sphäre unmetaphysisch denkt: als kommunikative Erfahrung und als Geltung
Beanspruchen zwischen Argumentationspartnern ( → doppeltes Apriori der Kommunikation)
und so daß man – zweitens – das Äquivalent einer „Anschauung“, das wechselseitige
Einander Verstehen sowie Anerkennen als freie und zugleich moralverpflichtete
Diskurspartner, gar nicht sinnvoll bezweifeln könne. Und daß hieran kein Zweifel bestehen
kann, läßt sich demonstrieren, wenn man – drittens – die Begründung bzw. Deduktion
sokratisch dialogreflexiv ansetzt …220
Das aber liefe darauf hinaus, im Gespräch mit dem Geltungsskeptiker zu demonstrieren, daß
auch er, wie jeder, in einer realen Kommunikationsgemeinschaft das ideale Moralprinzip
bereits dadurch als gültig vorausgesetzt hat, daß er selbst – mit Anspruch auf Geltung –
gegenüber Anderen für etwas argumentiert. Das bedeutet zunächst: er hat, wie jeder, insofern
er denkt, in doppelter Hinsicht Autonomie sowohl für sich beansprucht wie auch den Anderen
zuerkannt – als Argumentationspartner. Das bedeutet zugleich: er hat für sich und die
Anderen als Argumentationspartner vorausgesetzt, daß eine interne Verbindung besteht
zwischen den Geltungsansprüchen des Diskurspartners und der Selbstmotivation, das
Moralprinzip zu befolgen. Warum? Weil er andernfalls weder vor sich selbst noch vor
Anderen als das gelten und realiter erscheinen kann, was er sein will bzw. zu sein in
Anspruch genommen hat: ein glaubwürdiger Diskurspartner. So ließe sich, diesseits von
Kants Zwei-Welten-Metaphysik, rational einholen, was Kant für die intelligible Subjektwelt
217
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Ak. Ausg., S. 56
Ebenda
219
K.-H. Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: Ders., Grundfragen der praktischen Philosophie,
Ffm (Suhrkamp) 1994, S. 277ff.
220
Dazu: D. Böhler, Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung (I), in: Ders. u. J. P. Brune (Hg.),
Orientierung und Verantwortung, 2004, S. 123-127 und: H.-G. Gadamer u. H. Jonas: Briefe über die
Zukunftsethik, in: ebda., S. 471-482.
218
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Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
postuliert – Autonomie und deren interne Verbindung zwischen Geltungsgrund und
Beweggrund (Motiv).
Kritische Summe: Ungelöste Probleme und Aporien (Ausweglosigkeiten) in der
Anwendung des Moralprinzips
a)
Unklare Doppelfunktion des Moralprinzips: als Kriterium (kriteriologische „Regel“
(Singer) versus Grundnorm (verpflichtende Rahmenorientierung für das Handeln)).
Das Kriterium hat den Geltungsprimat, der Orientierung kommt das lebensweltliche
bzw. praktische Prius zu: Interesse an Orientierung.
b)
Da Kant die kriteriale Funktion des Moralprinzips nicht als solche streng festhält,
kann er das Moralprinzip als Grundnorm verwechseln mit einer konkreten
Situationsnorm (Singer, S. 264 ff., Böhler, Studientexte Bd. 2, S. 431f).
Erläuterung zu b)
Ein eindrückliches, wenngleich in gewisser Hinsicht implizites bzw. halb verdecktes, Beispiel
ist Kants Auseinandersetzung mit dem französischen Schriftsteller Benjamin Constant. Hier
gibt sich Kant als bloßer Rechtsphilosoph und verbirgt so, freilich ein Stück weit veranlaßt
von Constants gleichsam juridischer Ausdrucksweise, das eigentliche moralphilosophische
Problem: Wozu führt eine Anwendung des Moralprinzips in Form des kategorischen
Imperativs auf diese dilemmatische Situation: >Soll ‚ich’ lügen oder die Wahrheit sagen,
wenn mich ein Mörder fragte, ob mein von ihm verfolgter Freund sich in mein Haus
geflüchtet?<
Kant versucht, diese moralphilosophische Fragestellung durch eine rechtsphilosophische,
zudem z. T. rabulistisch spitzfindige Erörterung zu umgehen. Wenn der Leser dieses Manöver
aber nicht mitmacht, sondern Kants Antwort an Benjamin Constant als Lösung dieser
moralphilosophischen Problems versteht, kommt er zu den kritischen Thesen (a) und (b) –
oder sogar zu der verblüffenden Erkenntnis, daß sich Kant hier rechtsphilosophisch dreht und
windet, um nur ja den Kategorischen Imperativ nicht auf diese Dilemmasituation anwenden
zu müssen. D.h.: Kant weicht einer moralstrategischen Lösung des Dilemmas durch
Anwendung des Kategorischen Imperativs mit allen Mitteln aus, um eine gesinnungsethische
157
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Reinheit des Willens zu bewahren. Einen solchen gesinnungsethischen Rigorismus schreibt
ihm sein Ansatz bei einem guten Willen jedoch nicht vor. Denn dieser Ansatz bezieht sich
notwendigerweise allein auf einen moralisch guten Willen im Sinne praktischer Vernunft–
just so, wie er diesen im „Ersten Abschnitt“ der GMS einführt: als die Bereitschaft, aus
Einsicht in moralische Pflicht zu urteilen und zu handeln, mithin aus Achtung für das
Sittengesetz als Inbegriff der widerspruchsfreien, mithin einsichtigen, Verallgemeinerbarkeit
einer Handlungsmaxime.221 Und in dem „Zweiten Abschnitt“ der GMS definiert er den
Willen ausdrücklich als „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach
Prinzipien zu handeln“, und damit „als praktische Vernunft“.222
Doch betrachten wir Kants Hauptargument in seiner kleinen Schrift „Über ein vermeintes
Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797. Den Grundirrtum B. Constants sieht Kant in
der gewissermaßen rechtsphilosophisch formulierten, jedoch durchaus moralphilosophisch
verständlichen und diskutierbaren These: „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur
gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat.“ Das sei ein sinnloser Ausdruck,
weil es sich ja nur um die Wahrhaftigkeit einer Person handeln könne, nicht aber um die
Wahrheit der Aussage selbst. Was aber jene subjektive Wahrhaftigkeit bzw. Ehrlichkeit „in
Aussagen“ anbelange, so handele es sich dabei um eine Grundpflicht gegenüber der
Menschheit. Wer wollte dem widersprechen – auch Constant gewiß nicht. Kant argumentiert
nun in drei Schritten gegen ein Recht, zu lügen:
1)
Lügen heiße, die Rechtsquelle unbrauchbar machen; diese bestehe nämlich in
Wahrhaftigkeit als der Bereitschaft, einen Vertrag ernsthaft zu schließen und also einzuhalten;
dies sei die Basis – freilich, wie dem Rechtsphilosophen nicht entgangen sein dürfte – die
moralische Basis, aller Verträge und allen Zusammenlebens.
2)
Daher füge eine Lüge der Menschheit Unrecht zu, indem sie den Verträgen etc. die
Glaubwürdigkeit entziehe.223
3)
Also: Wahrhaftigkeit „in allen Erklärungen“ ist „ein heiliges, unbedingt gebietendes,
durch keine Konvenienzen224 einzuschränkendes Vernunftgebot“.225
Könnte man jedenfalls mit Kant sagen, daß es kein Recht, aus Menschenliebe zu lügen, geben
kann? Das hieße, daß es in dem Katalog der Menschenrechte kein solches >Recht< geben
221
GMS, Akad.-A., S. 393f, 402f, vgl. 404.
Ebd., S. 412
223
Kant, Werke in zwölf Bänden, ed. Weischedel (Suhrkamp (Insel)), Bd. VIII, S. 638f.
224
Harmonie-, Wohlanständigkeits-, Angemessenheits-Regel
225
Zit. nach: Kant, Werke, hg. von W. Weischedel, sechs Bände, Frankfurt a. M. (Insel) 1956 resp. In zwölf
Bänden (Suhrkamp) 1968: Bd. VIII, S. 639. [Konvenienz: Regel der Harmonie, der Angemessenheit oder der
Wohlanständigkeit]
222
158
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
dürfe, weil das einem Prinzip des Rechts, und zwar einem tragenden moralischen
Rechtsprinzip, zuwiderliefe, also die Kohärenz der Rechtsbegründung zerstörte.
Insoweit wird Kant als Rechtsphilosoph gegen B. Constant recht haben. Aber hat Constant
vielleicht als Moralphilosoph sachlich recht? Auch wenn er sich unangemessen ausgedrückt
hat, indem er von dem „Recht auf eine Wahrheit“ des Fragenden ausging, statt von einem
moralischen Recht bzw. moralischen Anspruch des Fragenden und von der moralischen
Pflicht des Antwortenden als eines Vernunftsubjekts im „Reich der Zwecke“, oder richtiger
als eines Diskurspartners in der (letztlich idealen) Argumentationsgemeinschaft. Diese
moralische Pflicht müßte der Antwortende gegenüber dem Frager (also in einer realen
Kommunikationsgemeinschaft) so wahrnehmen, daß er seine Handlungsweise vor der idealen
Argumentationsgemeinschaft würde rechtfertigen können.
Hätte Benjamin Constant derart moralphilosophisch angesetzt und hätte Kant ihn in diesem
Sinne als Partner eines moralischen Diskurses ernst genommen, dann hätte ihm Kant in seinen
Begriffen (resp. in terms of discourse) folgendermaßen antworten müssen.
Erstens: Ein moralisches Recht auf die Wahrhaftigkeit des Anderen (A) habe ‚ich’ nur
insoweit, als dessen wahre Antwort auch hinsichtlich ihrer von A in Kauf genommenen
Schadensfolgen in dem „Reich der Zwecke“ bzw. vor dem Forum einer idealen
Argumentationsgemeinschaft verallgemeinerbar bzw. zustimmungswürdig wäre.
Zweitens: Für ‚mich’ als Antwortenden besteht die moralische Pflicht zur wahrhaftig
gegebenen Antwort genau insoweit, als in dem „Reich der Zwecke“ bzw. vor dem Forum der
idealen Argumentationsgemeinschaft die gegebene Antwort im Kontext ‚meiner’ Situation
und damit im Blick auf die von ‚mir’ wissentlich in Kauf genommenen Schadensfolgen
sowohl in wahrhaftiger Einstellung als auch mit zutreffenden Gründen gerechtfertigt werden
kann.226
c)
In der Auseinandersetzung mit Benjamin Constant verrät sich der Gesinnungsethiker
Kant daran, daß er sogar die Anwendung des Kategorischen Imperativs, zumal die
seines kriterialen Sinns als Verallgemeinerbarkeitsprinzip, umschifft, und sich dadurch
eine verantwortungsethische Urteilsbildung erspart. Dort, wo er jedoch eine
Anwendung dieses Prinzips eigens thematisiert, kann er wiederum als
Gesinnungsethiker argumentieren, weil er eine kommunikativ diskursive Ermittlung
der Handlungsfolgen für alle Betroffenen von vornherein abschneidet. Wodurch? Er
versteht die Anwendung des Kategorischen Imperativs als Aktualisierung der formal
159
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
gesetzmäßigen Gesinnung, über die der „gemeine Mann“ nicht nur in seinem
„Gewissen“ je schon verfügte, sondern die er auch je für sich – methodisch einsam –
bewerkstelligen könne.
Im „Zweiten Abschnitt“ der Grundlegungsschrift und auch sonst versteht der
Vernunftethiker die Anwendung des Kategorischen Imperativs als ein
Gedankenexperiment, d. h. als einsam vollziehbar. Er denkt methodisch solipsistisch,
als sei Vernunft ein solitäres Vermögen. Sein Verfahrensmuster ist der einsam
handhabbare „Probierstein“: das Gedankenexperiment, das ein Vernunftsubjekt für
sich allein vornimmt. Damit überspringt er, wie später in gewisser Weise sogar Jonas,
die – auch für die, von Jonas gegenüber Kant geltend gemachte, asymmetrische
Zukunftsverantwortung – unentbehrliche Idee der möglichst zu erzielenden
Verständigungs-Gegenseitigkeit zwischen Akteur und möglichen Betroffenen, deren
Interessen und Bedürfnisse dieser ja verstehend erschließen und berücksichtigen
müßte… Denn nur so ließen sich die Geltungsansprüche, die HandlungsfolgenSituation zutreffend zu interpretieren und eine gerechte Handlungsmaxime zu finden,
überhaupt einlösen.227
d) Mit c) verwoben: die Gültigkeitsinstanz (G-I) sowohl für das Moralprinzip selbst als
auch für dessen Anwendung kann nur eine freie, kontrafaktisch offene und
kontrafaktisch rein argumentative Kommunikationsgemeinschaft ernsthafter
Argumentationspartner sein. Eine solche Vernunftgemeinschaft postuliert Kant in
gewisser Weise tatsächlich, nämlich metaphysisch als ein freies und vernünftiges
„Reich der Zwecke“, konterkariert dieses Postulat aber durch sein solipsistisches
Verfahren. Zudem kann er in seiner Zwei-Welten-Theorie keine realen
Anknüpfungspunkte für diese Gemeinschaft finden: Wo zeigen sich, wo erscheinen
Entsprechungen zu dieser G-I? Inwiefern setzt man sie im realen Denken bereits
voraus? Freie Handlungen und kommunikative Freiheit fallen für Kant nicht unter die
erkennbaren Phänomene bzw. Erscheinungen der Welt; Welt setzt er mit der kausal
determinierten Natur gleich, so daß er alles, was nicht zum vernunftfähigen Subjekt,
226
Systematisch dazu: D. Böhler, „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“ in: Th. Bausch u.a. (Hg.): Wirtschaft
und Ethik. EWD-12, 2004, S. 105ff.
227
Dazu die Einführung der regulativen Idee einer Verständigungsgegenseitigkeit von Böhler, in: K.-O. Apel, D.
Böhler u- K. H. Rebel (Hg), Funkkolleg Studientexte Bd. 1, S. 276 vgl. 271f, 274ff, Bd. 2, S. 432 und Bd. 3, S.
858ff.
160
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
dem „intelligiblen Ich“ gehört, nur als kausal determinierte Natur denken kann. Damit
aber lösen sich der Handlungsbegriff und der Freiheitsbegriff eigentlich logisch auf.228
Darauf antwortete in gewisser Weise bereits Apels Ansatz einer Dialektik von idealer
Argumentationsgemeinschaft und realer Kommunikationsgemeinschaft: Innerhalb der
jeweiligen realen Kommunikationsgemeinschaft setzen die Etwas-Behauptenden
kontrafaktisch die Instanz einer idealen Argumentationsgemeinschaft voraus.229
e) Das in der realen Welt unhintergehbare Problem eines dilemmatischen
Verantwortungsbewußtseins überspielt Kant, indem er – erstens – das Moralprinzip
als Kriterium und als Grundnorm vermengt mit einem konkreten situativen
Handlungsgebot (s. o.) und – zweitens – keinen Ansatz zu einer moralischstrategischen Urteilsbildung, also zu verantwortungsethischen Diskursen, macht.
Vielmehr verweigert er solche Diskurse, ja stellt sie implizit als moralisch verwerflich
hin (so wie später Albert Schweitzer, der alle verantwortungsethischen Überlegungen
zur Differenzierung seines absoluten Prinzips der „Ehrfurcht vor allem Willen zum
Leben“ als – verwerflichen – Kompromiß abwehrt). Das ist der gesinnungsethische
Rigorismus.
4.1
Kants Gleichsetzung des „moralischen Werts“ mit einem, „von keiner Neigung
mehr angereizten, lediglich aus Pflicht“ erfolgenden Handeln (GMS, S. 398) und
Schillers Ironisierung dieses Motivrigorismus – eine reductio ad absurdum?
Lit.:
Kant, GMS, Akad.-Ausg.,
- S. 397,2-399, 3. Z. (Beispiel des Kaufmanns und Beispiel einer Wohltätigkeit „mit
innerem Vergnügen“: auch der Maxime dieser Handlungsweise „fehlt der sittliche
Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun“;
denn allererst [dann haben sie] ihren echten moralischen Wert“ (398, 2)),
228
Vgl. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, S. 56 ff. u. A. Øfsti,
Abwandlungen, Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, Würzburg (Königshausen & Neumann)
S. 93 ff., 112 ff.
229
K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt 1976, (zit.: Transformation), S. 423 ff.
161
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
- S. 406, 1-408,1 (Verbindung des Motivrigorismus mit der kontrafaktischen
Prinzipienebene, nämlich der Geltungs-„Idee einer den Willen durch Gründe a priori
bestimmenden Vernunft“, S. 408),
- S. 414, 2f: „Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als
für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv notwendig
vorstellte.“
„Wird die Handlung als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich
der Vernunft gemäßen Willen als Prinzip derselben, so ist er [der in irgendeiner Art
gute Wille der] kategorisch“. (Klare, wenngleich nicht intersubjektiv – also vom
Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit her – sondern in der Subjekt-ObjektPerspektive des Vernunftsubjekts gedachte, Definition einer moralischen Maxime: als
moralisch könne eine Maxime gelten, wenn sie sich am Moralprinzip, verstanden als
Geltungskriterium und Prüfungsinstanz, orientiere).
Vgl. KpV, Akad.-Ausg., S. 150,2-153f; S. 211,2-214 und S. 269,2-273.
F. Schiller, Xenien (von Schiller und Goethe), „Philosophen“, in: Sämtliche Werke,
Bd. I, hg. v. A. Meier, München (dtv) 2004, S. 298-300:
Philosophen
Gut, daß ich euch, ihr Herren, in pleno zusammen hier finde,
Denn das Eine, was not, treibt mich herunter zu euch.
Aristoteles
Gleich zur Sache, mein Freund. Wir halten die Jenaer Zeitung
Hier in der Hölle und sind längst schon von allem belehrt.
Dringend
Desto besser! So gebt mir, ich geh' euch nicht eher vom Leibe,
Einen allgültigen Satz, und der auch allgemein gilt.
[…]
Ein achter
Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden,
Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!
Ich
Dacht' ich's doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu erwidern,
Schieben sie's einem geschwind in das Gewissen hinein.
David Hume
Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret,
Mich frag, ich bin mir selbst auch in der Hölle noch gleich.
[…]
162
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Gewissensskrupel
Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Decisum
Da ist kein andrer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut.
Schlagend, soweit. Unterschlagen wird freilich die Geltungs- und Prinzipienfrage der
Pflichtethik: Gibt es etwas, das uns – unabhängig von Interessen/Neigungen – unbedingt
verpflichtet?
Was könnte das sein? Und: Wie könnte es das erreichen? Das müßte etwas sein, was – erstens
– uns als Denkenden resp. Dialogteilnehmern, die nach dem suchen, was allein kraft
sinnvoller Argumente gültig sein kann, einsichtig ist, so daß wir es – zweitens – autonom
anerkennen und uns davon frei motivieren lassen können; und was – drittens – so beschaffen
ist, daß wir mit seiner Hilfe in der praktischen Überlegung erkennen können, wozu wir
praktisch verpflichtet sind. Das heißt, es müßte ein praktisches Kriterium (Kant: Probierstein,
Singer: eine Regel) sein.
Mit dem Verallgemeinerungsprinzip und dessen Formulierung als „Kategorischer Imperativ“
beantwortet Kant diese Fragen und gibt beides: Autonomie oder Vernunftmotivation aus
Achtung vor dem einsichtigen „moralischen Gesetz“ bzw. Moralprinzip und Kriterium als
orientierungsfähige Handhabe. Darin zeigt sich Kants neuartiger Ansatz einer Vernunftethik,
den Schillers Xenien nicht als solchen würdigt: interne Verbindung von (1) Geltungsfrage, (2)
autonomer Motivation und (3) praktischem Beurteilungskriterium, und zwar in Form eines
Sollens.
Zwischen diesen drei Elementen muß eine zwanglose interne Verbindung bestehen. Das
erkannt und z.T. geleistet zu haben, ist das Verdienst von Kant, womit er eine
Revolutionierung des ethischen Denkens herbeigeführt hat.
Erstmals und epochemachend, ja prinzipiell vorbildlich für alle künftige normative Ethik, hat
Kant die drei Grunderfordernisse einer Moralbegründung bezeichnet – und annäherungsweise
auch schon erfüllt, teilweise aber auch verfehlt. Wie hier die Bilanz genau zu ziehen ist, zeigt
unsere „kritische Summe“, die wir in Kapitel II 1 abschließen werden.
(1)
Geltungsfrage der praktischen Vernunft
Was kann als moralisch verbindlich gelten? Gibt es etwas, das uns unbedingt
verpflichtet, so daß wir, als Vernunftwesen, es einsehen müssen?
163
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
(2)
Moralische oder autonome Motivationsfrage:
Führt ‚mich’ das moralische Autonomie-Motiv zu der Handlungsweise H? Entspricht
es ‚meinem’ moralischen Autonomieanspruch (als Vernunftwesen in dem intelligiblen
Reich der Zwecke mit Kausalität der Freiheit), daß ‚ich’ H tun will?
Von (1) zu (2):
Es besteht ein interner Übergang von dieser zur Selbstmotivation der Vernunft:
>Du kannst, denn du sollst.< (KpV 283, KpV 54 und GMS 455)
zugleich: Autonomie vorausgesetzt und moralisches Sollen anerkannt
(3)
Welche Form muß das gesuchte X haben, damit es praktisches Kriterium
funktionieren, d.h. Handlungen normieren kann? Kants Antwort: Die Form eines
Sollenssatzes, eines Imperativs.
Warum? Ein Handlungskriterium muß aus zwei Gründen, einem handlungslogischen
und einem anthropologischen eine Norm sein. Und zwar einmal weil der Akteur
anhand
dessen
Alternativen
230
(handlungslogischer Grund)
muß
gewichten
und
entscheiden
können
,
zweitens, weil die Akteure realiter so beschaffen sind, daß sie mehr dem „Prinzip des
Glücks“, mithin „der Selbstliebe“, als einem Moralprinzip nachzukommen geneigt
sind (anthropologischer Grund): GMS, 407, 2. Abs. und S. 412,3-413,1.
„Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen
eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv
notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die
Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.
Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser
noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer
mit den objektiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig
der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die
objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines
solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäß, ist Nötigung, d. i. das Verhältnis der
objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die
Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft,
denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist.
230
Kuhlmann, Warum Normenethik? In: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 495-522.
164
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist,
heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“231
Kant läßt keinen Zweifel daran, daß der anthropologische Motivstreit zwischen „Selbstliebe“
und „Achtung für das moralische Gesetz“ jeweils durch eine Auseinandersetzung mit sich
selbst entschieden werden müsse, ja durch einen inneren Kampf: „Die sittlich Stufe, worauf
der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung
fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus
Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener von selbst gern
unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein
kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten
Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens.“232
Aber ist die Befehlsform mit der beanspruchten Autonomie vereinbar?
Dadurch, daß ‚ich’, das Vernunftsubjekt, den Gehalt und die Form des moralischen „Du
sollst“, nämlich die gebotene Allgemeinheit, als das vernünftig Gewollte erkenne – und
insofern als mein „Ich will das Moralische eigentlich“.
Das moralische Sollen ist des Menschen „eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer
intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein
Glied der Sinnenwelt betrachtet“ GMS 455, vgl. 453, 1.
Die interne Verbindung von Wollen und Sollen hat Kant in der (je nach Zählweise) dritten
(oder vierten) Formel des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebracht: Die moralische
Gesetzgebung müsse „in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus
seinem Willen entspringen können, dessen Prinzip also ist: keine Handlung nach einer
anderen Maxime zu tun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines
Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als
allgemein gesetzgebend betrachten könne.“233
231
Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 412f.
Kant, KpV, Ak.-Ausg . S. 150f.
233
Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 434.
232
165
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Das von Kant vermachte Motivationsproblem
Kann einzig ein Handeln „aus Pflicht“ und nur aus Pflicht als moralisch gelten?
Kritische Analyse – nach Schiller, jedoch im Ausgang von ‚uns’, die wir hierüber im Diskurs
sind, als leibhaften Diskurspartnern:
Da
Kant
die
moralische
Geltungs-
bzw.
Kriterienfrage
der
moralischen
Motivationsfrage nicht eindeutig überordnet und da er den moralischen Akteur als einsames
Vernunftsubjekt in einem intelligiblen Vernunftreich der freien Zweckfindung ansetzt, statt
als leibhaft realen Teilnehmer von Diskursen mit Interessen, Neigungen, Leidenschaften etc.
und
in
wechselseitiger
kommunikativer
Freiheit,
gelangt
er
nicht
zu
einer
diskursglaubwürdigen und lebensdienlichen Vermittlung der sozialen und Ego-Interessen mit
der Idee einer ausschließlichen Pflichtmotivation bzw. einem reinen Handeln „aus Pflicht“.
Problemlösungsfrage bzw. Kohärenzhypothese
Lassen sich Kants Spannungen zwischen der kriterialen Geltung, der kontrafaktischen
Moral- und Vernunftmotivation und den faktischen Motiven bzw. Eigeninteressen in
eine moralische Kohärenz bringen, die von realen Diskurspartnern glaubwürdig im
Diskurs vertreten werden können?
Ist folgende Kohärenz von Motiven angemessen: „Heteronome“ (Kant) Vorteilsinteressen
wären so lange moralisch neutral, als das autonome Moralmotiv bzw. Gewissen leitend bleibt,
so daß der Akteur das Geltungskriterium des Moralprinzips – kritisch gegenüber Kant
gesprochen: die „verallgemeinerbare Gegenseitigkeit“ (Apel) resp. die „universale
Zustimmungswürdigkeit“ (Berliner Diskursethik) – ohne Widerstand aktualisieren kann?
Eine solche Aktualisierung wäre immer dann nötig, wenn die von Kant befürchtete
„Dialektik“ der „praktischen gemeinen Vernunft“ eintritt und die Handlungsorientierung de
facto dem Moralkriterium zuwiderläuft.
Das wäre eine prinzipiengemäße, mithin nach Gehalt und Kriterium moralisch zu
nennende, Kohärenz von faktischen (Kohlberg: vorkonventionellen samt konventionellen)
und innermoralischen Motiven.
166
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
5
Probleme der normativen Ethik: Begründung und Bedeutung von »Moral«,
»Verantwortung« und »Zukunftsverantwortung«
5.1
Nach Kant: Das Problem eines logisch universalen Prinzips der Moral und seiner
Orientierungsfähigkeit
5. 1.1 Wie begründen? Rekonstruktion und Reflexion.
-
Kants und Habermas’ Rekonstruktion des faktischen ethischen Bewußtseins (guter
Wille)
bzw.
des
bereits
gewollten
praktischen
Diskurses
versus
diskurspragmatische Rekonstruktion von Diskursen überhaupt, die auch den
Moralskeptiker einbeziehen.
-
Das Erfordernis einer Validierung der Rekonstruktionsresultate: sinnkritische
Reflexion als Konfrontation der Sinnbedingungen des Bezweifelns als
Diskursbeitrag mit dem Gehalt der Zweifelsthese. Oder: Dasjenige, dessen
Gültigkeit bzw. Verbindlichkeit du nicht mit einem sinnvollen Diskursbeitrag in
Zweifel ziehen kannst, gilt absolut bzw. verpflichtet dich grundsätzlich. (Hier nur
als Problemanzeige und als Vorgriff auf II 2.2 und 2.3)
Vergleichen wir Kant mit der diskursbezogenen Kanttransformation (einerseits von Apel bzw.
seinen Schülern Kuhlmann und Böhler und andererseits von Jürgen Habermas), dann
bemerken wir zwei verschiedenartige Rekonstruktionsansätze. Beide verfolgen eine
moralische Absicht, und beide sind begrifflicher Art – interne Rekonstruktionen moralisch
gehaltvoller Ansprüche und Voraussetzungen. Gleichwohl differieren sie erheblich, nämlich
nach Gegenstand und Geltungsbereich. Während Kant und Habermas Voraussetzungen des
ethischen Urteilens bzw. des lebensweltlichen ethischen Bewußtseins oder des praktischen
Diskurses rekonstruieren, fragen die Transzendentalpragmatiker bzw. Diskurspragmatiker
ganz allgemein, ob es moralisch gehaltvolle Sinnbedingungen jedweden Diskurses gibt.
Die Fragen dieser Rekonstruktionsweisen lauten: Was nehmen wir notwendigerweise für uns
in Anspruch und was erkennen wir implizit notwendigerweise als gültig sowie verpflichtend
an, wenn wir – so Kant – ohne Einschränkung gut handeln und urteilen wollen bzw. wenn wir
„praktische Diskurse“, in denen „moralische Normen begründet werden können“, führen
167
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
(Habermas)234 – und was, wenn wir – so die Diskurspragmatik – überhaupt etwas als etwas
verständlich und geltend machen wollen resp. etwas mit Wahrheitsanspruch erkennen oder es
praktisch mit Richtigkeits- bzw. Gerechtigkeitsanspruch angehen wollen?
Unterschiede der beiden Rekonstruktionsfragen
Kant fragt sogleich nach der „sittlichen“ Vernunfterkenntnis. In der Diskursethik tut das heute
Habermas, dem es um die Sinnbedingungen („Präsuppositionen“) des praktischen Diskurses
geht.235 Hingegen fragt die Diskurspragmatik, um eine Vorentscheidung für das Moralische
zu vermeiden und gar nicht erst in die Nähe einer petitio principii, der Erschleichung des
allererst als verbindlich zu erweisenden Moralprinzips zu gelangen, ganz allgemein: Gibt es
etwas, das uns alle, insofern wir überhaupt etwas geltend machen wollen, im vorhinein
verpflichtet? Anders: Ist jeder, auch wenn er sich nicht dazu entschieden hat, einen
praktischen bzw. moralischen Diskurs zu führen, also nach dem zu suchen, was ohne
Einschränkung für „gut“ oder „gerecht“ gelten kann, zur Moralität verpflichtet? Läßt sich eine
schlechthin allgemeinverbindliche Pflicht zur Moralität erweisen?
Der Adressatenkreis beider Fragestellungen ist unterschiedlich groß: Im Fall der ethischen
Rekonstruktionsfragen von Kant und Habermas wird nur der Kreis jener Menschen erfaßt, die
bereits moralisch sein wollen, also den guten Willen zur „sittlichen Vernunfterkenntnis“ oder
zum „praktischen Diskurs“ bereits mitbringen und die moralische Motivation nicht in Frage
stellen. Was jedoch sagt man denen, die auch hier nachfragen, auch hier das ›Warum?‹ und
einen
„Grund
der
Verbindlichkeit“
wissen
wollen?
Die
Angabe
eines
solchen
Verpflichtungsgrundes hielt ja auch Kant selbst für ausschlaggebend… Diejenigen aber, die
skeptisch und radikal genug sind, so zu fragen, fallen sowohl bei Kants als auch bei
Habermas’ Rekonstruktion aus dem Adressatenkreis heraus, wohingegen sie von der
diskurspragmatischen Rekonstruktion einbezogen werden. Ihre ganz allgemein angesetzte
Fragestellung berücksichtigt alle nur möglichen Subjekte von Geltungsansprüchen, und zwar
in jeder Argumentations- bzw. Denkform, gleichviel auf welches Thema sie gerichtet ist.
Was freilich die Methode der verschiedenen Rekonstruktionen anbelangt, so läßt sich für alle
– sieht man einmal über Kants solipsistisch vermögenspsychologischen Ansatz bei einem, im
Singular gedachten Willen als dem Vermögen praktischer Vernunft hinweg – durchaus eine
gemeinsame Verfahrenslogik auffinden: eine gleichsam grammatische Analyse der
234
J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Ffm. (Suhrkamp) 1992, S. 133, vgl. 134ff, 153ff.
J. Habermas, ebenda; vgl. ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 2. Aufl. Ffm. (Suhrkamp)
1984, S. 93ff.
235
168
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
konstitutiven Regeln und der internen Voraussetzungen (Sinnbedingungen, konstitutive
Regeln) des moralischen Urteilens oder des Argumentierens überhaupt.
Resultate und deren Status:
Die ganz elementar ansetzende diskurspragmatische Rekonstruktion erschließt die internen
normativen Gehalte, die jeder, der überhaupt etwas als etwas denkt und (implizit) geltend
macht, durch seine Diskursrolle als gültig und verbindlich bereits vorausgesetzt hat.
Eine Rekonstruktion des ethischen Urteilens erschließt, wie mir scheint, dieselben normativen
Gehalte,
kann
deren
Verpflichtungssinn
jedoch
nur
für
diejenigen
möglichen
Argumentationsteilnehmer behaupten, die sich schon entschieden haben, moralisch urteilen
und handeln zu wollen.
Was den Geltungsstatus anbetrifft, so ist zweierlei zu bedenken. Erstens können beide
Rekonstruktionen zu fehlerhaften oder ergänzungsbedürftigen Ergebnissen führen, weil sie
von Vorverständnissen ausgehen und eine systematisierende Interpretation darstellen, die als
solche kritisierbar ist. Infolgedessen kann hier Revisionsbedarf bestehen. Das aber ist mißlich,
weil Skeptiker dann einwenden können, daß die Rekonstruktionsmethode als solche nicht
dazu taugt, die gesuchten Normen für alle Argumentationsteilnehmer oder für alle Teilnehmer
an moralischen Überlegungen ausfindig zu machen und das Resultat mit dem
Gewißheitsanspruch der Verbindlichkeit geltend zu machen. Denn etwas, das fehlerhaft sein
kann, kann nicht als allgemeinverbindlich gelten.
Also erlegt uns der Skeptiker eine neue Beweislast auf. Wir stehen vor der Frage, ob ein
Beweisverfahren möglich ist, das die Zweifel des Skeptikers ausräumen kann. Das bleibt also
zu besorgen.
Zweitens: Es ist aber selbst dann ein Zweifel an der Sollgeltung der Rekonstruktionsresultate
möglich, wenn deren faktische Richtigkeit außer Frage steht. Wie das? Nun, unser Skeptiker
dürfte mit dem Argument des naturalistischen Fehlschlusses kommen. Er wird darauf
beharren, daß es einem faktizistischen oder naturalistischen Fehlschluß gleichkomme, wenn
man – bloß auf die Rekonstruktion einer faktischen Urteilspraxis gestützt – von deren
faktischen normativen Bedingungen schließt auf deren allgemeine Sollgeltung. Das aber sei
das Ziel; sollten doch die aufgewiesenen normativen Gehalte in einem Prinzip der Moral
zusammengefaßt und als verbindlich präsentiert werden.
In der Tat, darum geht es. Dann aber, so würde der Skeptiker entgegnen, sei das Ziel verfehlt.
Denn bloß aus Tatsachen kann nicht auf die Legitimität von Normen geschlossen werden.
Das, was alle tun, muß allein deshalb, weil alle es faktisch tun, noch nicht richtig sein. Daher
169
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
bedarf es einer Richtigkeitsprüfung der faktischen Regeln und vor allem des Aufweises eines
Grundes der Verbindlichkeit für die Entscheidung zur Moralität. Zu beantworten bleibt die
Frage: ›Warum sollen wir moralisch sein wollen?‹236 Kantisch (und somit allerdings
verkürzend) gefragt: ›Warum ist die Anerkennung des Verallgemeinerungsprinzips i. S. des
Kategorischen Imperativs eine allgemein einsichtige Pflicht?‹
Zu
fragen
bleibt
also
–
und
das
ist
die
radikale
moralphilosophische
Prinzipienbegründungsfrage bzw. die Frage nach dem Verbindlichkeitserweis des
Moralprinzips, ob es etwas gibt, das uns, insofern wir überhaupt ernsthaft nach etwas fragen
und etwas wirklich erkennen wollen, also Ansprüche auf Geltung erheben, einsichtig und
unbedingt auf eine bestimmte Orientierung verpflichtet. Das Erfragte müßte demnach so
umfassend gültig und verbindlich sein, daß es auch den Skeptiker überzeugt und bindet, der
den Einwand des naturalistischen Fehlschlusses vorbringt. Wo kann ein solcher – nicht mehr
durch ein sinnvolles Argument hintergehbarer – Grund der Verpflichtung liegen? Offenbar
müßte er im Rücken der sinnvollen Zweifel und alles sinnvoll Bezweifelbaren gesucht
werden. D.h., wir müßten eine solche Verpflichtung angeben, die auch der Skeptiker
anerkennen muß, sofern er als Diskurspartner glaubwürdig bleiben und mithin die
Kommunikationsgemeinschaft der Wahrheitssuchenden nicht verlassen und düpieren will.
Erst eine solche, gleichsam anerkennungsnotwendige, Ur-Pflicht, die daher zugleich UrEinsicht wäre, kann dem Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses entgehen – wie immer
sie verbunden sein mag mit einer faktischen Praxis des Urteilens bzw. des Diskurses, nicht
aber in ihr aufgehen kann, sondern sie stets normativ transzendiert, weil sie den Maßstab zu
ihrer Kritik enthält. Das ist die Begründungsidee der Diskurspragmatik als Pragmatik im
Rücken der faktischen Kommunikation, als Pragmatik der Geltungsansprüche und
Geltungsrechtfertigung, von der anfangs, im Unterabschnitt I.1.5, schon die Rede war.237
Lassen
Sie
uns,
ehe
wir
nun
weiterdenken,
sowohl
die
unterschiedenen
Rekonstruktionsansätze zusammenfassend einander gegenüberstellen als auch den Schritt von
der fehlerhaft, teilweise sogar faktizistisch bleibenden, mithin eine allgemeine Sollgeltung
verstellenden, Rekonstruktion hin zu einer sokratischen Reflexion veranschaulichen, die einen
reflexiven Dialog mit dem Moralskeptiker bzw. Geltungsskeptiker führt und dadurch eine
Verbindlichkeitsprüfung der Rekonstruktionsresultate ermöglicht. Dazu die folgende Tabelle:
236
Dazu meine Antwort: D. Böhler, „Warum moralisch sein?“ In: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip
Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, 2001, S. 15-68.
237
Vgl. unser Schema „Die semiotischen Dimensionen von Handlungsperspektiven versus Sinn- und
Geltungspragmatik im Rücken“, zu § I.1.5.
170
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien:
I Normative Rekonstruktion
nach Kant
Frage:
Was kann ohne
Worauf soll die Einschränkung
Rekonstruktion
für gut
antworten?
gehalten
werden?
Gegenstand:
Was wird
rekonstruiert?
ethisches Urteil
und seine
Voraussetzung
en
nach
Habermas
nach der
Diskurspragmati
k
Was nehmen
wir in
Anspruch,
wenn wir
praktische
Diskurse
führen?
Gibt es etwas, das
uns alle, insofern
wir überhaupt
etwas geltend
machen wollen, im
vorhinein
verpflichtet?
moralischDiskurs (Denken,
etwas geltend
praktischer
Diskurs und machen) und seine
seine
Sinnvoraussetzung
Voraussetzung
en überhaupt
en
Adressatenkrei
alle Menschen, die
moralisch sein wollen und die
s:
An wen richten
eine faktische Urteilspraxis
sich die
gemein haben
Resultate der
Rekonstruktion?
Status der
Resultate:
- können fehlerhaft sein,
- keine allgemeine
Sollgeltung, weil
naturalistischer Fehlschluß
alle möglichen
Diskurspartner
(Dpt)
- können
fehlerhaft
sein,
- transzendiere
n die bloße
Faktizität
einer
Urteilspraxis
als regulative
Ideen
171
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
„Methode“ der
Vergewisserun
g absoluter
Verbindlichkeit der
Resultate:
–
aktuelle
Dialogreflexion,
demonstriert,
warum wir
moralisch sein
wollen und sollen
Gibt es jenes X? Und wenn, wie verhält es sich zu den Resultaten der ethischen Rekonstruktion? In
gewisser Weise sucht Kant, wie wir gesehen haben, selbst nach jenem X. Macht er doch, gegen alle
Ethiktradition, die Begriffe der einsehbaren „Verbindlichkeit“ und der „objektiven Notwendigkeit“
zum Angelpunkt seiner „Metaphysik der Sitten“ als einer Moralphilosophie aus bloßer Vernunft.238
Gleichwohl beläßt es Kant in den beiden ersten Abschnitten der Grundlegungsschrift bei einer
Rekonstruktion239 und im dritten Abschnitt bei einer vernunftmetaphysischen Affirmation des
rekonstruierten „Faktums der reinen praktischen Vernunft“240, wie er sein Rekonstrukt kurze Zeit
darauf, in der „Kritik der praktischen Vernunft“ charakterisieren wird. Damit bestätigt er, daß er
über die „Aufsuchung“, „Zergliederung“ und „Festsetzung“, also die Rekonstruktion einer
Vernunftfaktizität nicht hinausgelangt.
Was aber die Art und Weise anbelangt und den begrifflichen Rahmen, in dem er seine
Rekonstruktion durchführt, so bezieht er sich damit gar nicht auf ein „Wir“ oder auf ein „Ich“,
insofern es zugleich denkt und kommuniziert oder etwas will und diesen Willen zugleich anderen
gegenüber geltend macht, sondern völlig inkommunikativ auf das einsame „Verhältnis eines
Willens zu sich selbst, sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt“.241 Sein Ausgangs- und
Angelpunkt ist ein im Singular gedachtes Vernunftsubjekt, der „Begriff eines jeden vernünftigen
Wesens, das sich […] als allgemein gesetzgebend betrachten muß“.242 Und in scholastisch
begriffsanalytischer, nämlich wesensontologischer oder essentialistischer Manier behauptet Kant
dann, daß diesem methodisch solipsistischen Begriff der Begriff einer „systematischen
Verknüpfung“ aller Zwecke, d. i. eines „Reichs der Zwecke“ anhafte. Weiter behauptet er, daß „ein
238
GMS, Akad.Ausg., S. 389, 412, 416, 426 u.ö.
Kant spricht von der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS, S. 392), welche
durch „bloße Zergliederung“ der in dem „Willen jedes vernünftigen Wesens“ vorkommenden „Begriffe der Sittlichkeit“
erfolge (GMS, S. 440).
240
KpV, Akad.Ausg., S. 56f.
241
GMS, Akad.Ausg., S. 427.
242
GMS, Akad.Ausg., S. 433.
172
239
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
vernünftiges Wesen“, einfach aufgrund seiner Wesenheit, zu diesem Reich der Zwecke gehöre,
entweder als Glied oder als Oberhaupt.243
Mit keinem Wort erläutert Kant, daß und wie diese Wesen untereinander eine Gemeinschaft bilden,
daß sie miteinander kommunizieren und einander als Glieder jenes Reichs anerkennen. Er
unterstellt, sie seien von sich aus beziehungslose Vernunftwesen, gleichsam fensterlose Monaden,
deren Verbindung einfach aus ihrer Wesenheit „entspringt“: „Denn vernünftige Wesen stehen alle
unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern
jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“244
Dieses „denn“ ist erschlichen: Kant springt hier einfach von der theoretischen Perspektive einer
inkommunikativen Wesensspekulation zu der kommunikativen Teilnehmerperspektive eines
Verstehens von Gemeinschaftsverhalten, ohne diese irgend einführen und in seinem Denkrahmen
durchhalten zu können. Denn für eine Gemeinschaft kann charakteristisch sein, was für eine
Gemeinschaft von Argumentationspartnern geradezu konstitutiv ist, daß sich die Teilnehmer als
gleichberechtigte, niemals bloß zu instrumentalisierende Partner anerkennen und also in ihrer
unverfügbaren Würde als autonome Subjekte von Geltungsansprüchen achten. Von diesem
intersubjektiven, und zwar moralisch aufgeladenen, Verhältnis zwischen Kommunikationspartnern,
die a priori als Plural zu denken sind, ist freilich bei dem Ontologen des Vernunftsubjekts nicht die
Rede.
Warum ist die wechselseitige Anerkennung als eines gleichberechtigten Partners und die
wechselseitige Achtung als eines autonomen Gegenübers sowohl schlechthin konstitutiv für die
Argumentationsgemeinschaft wie für die einzelne Argumentationshandlung? Sie ist es deshalb, weil
jede Argumentationshandlung, jeder Diskussionsbeitrag, dann zusammenbräche, wenn er sich nicht
vereinbaren ließe mit der Überzeugung der Teilnehmer, daß sie alle, die mit diesem Beitrag
angesprochen werden, durch ihn auch als gleichberechtigte Diskussionspartner anerkannt werden,
so daß sie Fragen stellen, Gründe fordern, Einwände vorbringen können etc. Und diese
Überzeugung, durch einen Beitrag als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden, kommt nicht
etwa von außen zu den Diskussionsvoten hinzu; nein, sie muß mit diesen verwoben sein. Woran
muß sich dieses Verwobensein zeigen können?
Es muß sich für alle Diskussionsteilnehmer daran ablesen lassen, daß ein Diskussionsbeitrag
prinzipiell jetzt und hier sinnvoll diskutierbar ist (und z.B. nicht in eine mögliche andere Welt
Zuflucht nimmt, über die wir nicht begründet und kontrolliert argumentieren können). Außerdem
muß sich jene Anerkennung daran zeigen, daß das jeweilige Diskussionsvotum keine
Ausschließungsfolgen für Dritte enthält, die sich selbst mit sinnvollen Argumenten an der
243
Ebenda.
173
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Diskussion beteiligen könnten oder die von den Anwesenden, mit sinnvollen Argumenten vertreten
werden können. Die konkrete Diskutierbarkeit eines Votums und die Glaubwürdigkeit eines
Diskussionspartners hängen an dem moralischen Gemeinschaftsverhalten der wechselseitigen
Anerkennung der Teilnehmer bzw. möglichen Teilnehmer als gleichberechtigter Partner.
Eine solche, hier nur angedeutete, Begründungsreflexion ist freilich nur möglich, wenn man die
theoretische Außenperspektive bzw. Beobachterperspektive einklammert und selbst die
Teilnehmerperspektive eines Kommunikations- und Argumentationspartners einnimmt, der sich
fragt oder von anderen gefragt wird, wozu er als Argumentationspartner unbedingt verpflichtet sei.
Kant stellt die Verpflichtungs- bzw. Verbindlichkeitsfrage nur in theoretischer Perspektive und im
Außenblick auf das Wesen eines jeden Vernunftsubjekts. Eben deshalb kann er weder eine
konsistente Form des Imperativs der Menschenwürde bzw. der Achtung anderer als „Zweck an sich
selbst“ noch gar eine unwiderlegliche Begründung für die Gültigkeit dieses Imperativs geben.
Kant führt den Menschenwürde-Imperativ zwar als Selbstzweckformel ein und bringt damit seine
kommunikative Gesinnung, seine moralisch-dialogische Absicht, glaubhaft zum Ausdruck. Aber
seine Einführungsformel des kategorischen Imperativs als des „praktischen Imperativs“, welche er
dann (an der eben zitierten Stelle) stillschweigend in kommunikativem Sinne erweitert hat, fällt
weder kommunikationsbezogen aus, noch enthält ihr Kontext eine Begründung für die darin geltend
gemachte, eigentlich dialogisch-moralische Pflicht, alle Personen als Selbstzweck anzuerkennen
und zu achten. Die Formel lautet ja: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als
in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst.“245
Hier fehlt gänzlich die Dimension der Gemeinschaftlichkeit und der Intersubjektivität. Denn in
diesem „praktischen Imperativ“ ist, wie Horst Gronke argumentiert, „gar nicht davon die Rede, daß
die anderen Subjekte (Personen) als Zwecke an sich zu achten sind“, vielmehr sei der Zweck an
sich selbst hier eben „die Menschheit“. Der Ausdruck ‚Menschheit’ stehe aber nicht für „‚die
Gattung Mensch’, sondern [für] die vernünftige Natur des Menschen (also den Menschen als
Vernunftwesen).“246 Für eine solche wesensontologische, nicht etwa kommunikationsbezogene
Interpretation spricht auch Kants Begründung dieser – meist kommunikationsbezogen verstandenen
und in der Tat von dieser Konnotation zehrenden – Selbstzweckformel, die Kant als Begründung
seines „obersten praktischen Prinzips“ anbietet: „Der Grund dieses Prinzips ist: Die vernünftige
Natur existiert als Zweck an sich selbst.“247
244
Ebenda.
GMS, Akad. Ausg., S. 429.
246
H. Gronke, „Erläuterungen zu Kants Beispieldiskussion in der ‚GMS’“, Typoskript zum PS Böhler/Gronke: Kants
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (WS 91/92), FU Berlin.
247
Kant, GMS, Akad. Ausg., S. 429.
174
245
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Kant argumentiert also substanzmetaphysisch, er leitet aus der Existenzform des Vernunftwesens
bzw. der vernünftigen Natur des Menschen eine normative Bestimmung ab, die er dann als
moralisches Sollen, als praktischen Imperativ, geltend macht. Das ist ein naturalistischer
Fehlschluß, wie wir ihn ähnlich aus der objektivistisch zweckorientierten Substanzmetaphysik des
Aristoteles aus seiner Teleologie der Vernunftnatur des Menschen kennen. Nur daß Aristoteles
nicht ausdrücklich Sollensbestimmungen, Imperative formuliert hat, wohl aber sein wirkmächtiger
christlicher Kommentator und Spätschüler, Thomas von Aquin.
5.2
Abschluß der „Kritischen Summe“ aus Kant. Wolfgang Kuhlmann, Karl-Otto
Apel und Hegels Formalismuskritik. Oder: Die Selbstaufhebung des
Kategorischen Imperativs in ein „Prinzip der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit" und der solipsistischen Vernunftethik in eine kommunikative
Diskurs- und folgenbezogene Verantwortungsethik
Der Gehalt der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs und auch der unausdrücklich
kommunikative Sinn eines „Reichs der Zwecke“, das Kant als Bezugsrahmen und Geltungsinstanz
der moralischen Urteilsbildung einführt, sind ohne Inanspruchnahme genuin kommunikativer
Begriffe (wie Anerkennung und Gemeinschaft) gar nicht zu verstehen. Sowohl die Selbstzweckoder Menschenwürdeformel als auch jene Instanz der Vernunftwesen gewinnt erst dadurch Sinn
und Bedeutung und einen normativen Gehalt.
Dieses solipsismuskritische Argument ist, soweit ich weiß, erstmals 1980/1981 in dem
kontroversenreichen „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ von Karl-Otto Apel und mir
vorgebracht248, dann von Wolfgang Kuhlmann und mir weiter verfolgt worden.249 Hier will ich
zunächst Kuhlmann mit seiner vorzüglichen Studie über die ersten beiden Abschnitte der
Grundlegungsschrift „Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik“ von 1990
zu Wort kommen lassen.250
Ich setze mit der Beobachtung ein, daß Kant erst in der Hälfte des „Zweiten Abschnitts“ überhaupt
auf die inhaltliche Seite, auf die Zweckorientierung des Wollens und Handelns zu sprechen kommt,
was an sich schon verwunderlich ist.
248
Vgl. Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, bes. S. 429ff. und 618ff.
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Ffm 1985, S. 56-65 und S. 342-353.
250
Hier zitiert nach der Wiederveröffentlichung in: W. Kuhlmann, Kant und die Transzendentalpragmatik. Würzburg
(Königshausen & Neumann) 1992, S. 100-130.
175
249
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
„Nun ist das, was dem Wollen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck
und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich
gelten.’251
Kuhlmann referiert und kommentiert diesen entscheidenden Gedankengang folgendermaßen: „Er
unterscheidet zwischen relativen Zwecken und Zwecken an sich selbst (GMS, Akad. Ausg. IV, S.
427f.). Er behauptet: ‚Die vernünftige Natur (und also auch der Mensch) existiert als Zweck an sich
selbst’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 429). Ohne sie könnte ‚überall gar nichts von absolutem Werte
[…] angetroffen werden, wenn aber aller Wert bedingt […] wäre, so könnte für die Vernunft überall
kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 428f.). Und er
formuliert als dritte Fassung des kategorischen Imperativs: ‚Handle so, daß du die Menschheit
sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel brauchst’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 429). Aus dieser ‚Selbstzweckformel’ ergibt
sich auf unproblematische Weise – über den Gedanken, daß, was als Selbstzweck gelte, in den
Zweck der jeweiligen Handlung einstimmen müsse – die sogenannte Autonomieformel.252 Diese
lautet: „Handle so, daß dein Wille durch seine Maximen sich selbst zugleich als allgemein
gesetzgebend betrachten könne“.253 Allererst durch den Blick auf diesen inhaltlichen und geradezu
konstitutiven Handlungs- und Willensaspekt, die Zweckorientierung, tritt auch die Beziehung des,
zuvor als rein formal angesehenen, Moralprinzips auf andere Menschen als vernünftige „Personen“
in den Gesichtskreis. Erst jetzt wird – wir nehmen Kuhlmanns Kommentar wieder auf – „explizit
davon geredet, daß schon das rein formale Sittengesetz den Bezug auf andere Vernunftwesen als
Personen enthält, daß es in dem Moralprinzip wesentlich um so etwas wie die Achtung fremder
Ansprüche als den meinen prinzipiell gleichberechtigter geht. Damit wird eine sehr wesentliche
Implikation des bis dahin in dieser Hinsicht nicht sehr klaren Begriffs Gesetzmäßigkeit (des
Moralprinzips) entfaltet. Die ethische Substanz des Moralprinzips tritt deutlicher hervor.
An den Zweckbegriff schließt sich zwanglos und unproblematisch die Einführung des
Autonomiebegriffs an und an beide die Idee des Reiches der Zwecke, in der die gerade eingeführte
interne Beziehung zwischen dem Begriff der Gesetzmäßigkeit und dem einer Kommunität, einer
Vielheit von koexistierenden Vernunftwesen weiter ausgearbeitet wird. Damit hat das vorher sehr
blasse, extrem formale und leere Moralprinzip nunmehr eindeutig Inhalt bekommen.
Der letzte Schritt besteht in der Ausarbeitung der Beziehung zwischen apriorischer praktischer
Vernunft und Freiheit. Da er unser Problem [ob nämlich Kant in seiner Ethik solipsistisch
251
Kant, GMS, Akad. Ausg., S. 427.
W. Kuhlmann, a. a. O. , S. 104f.
253
Kant, GMS, Akad. Ausg. IV, S. 434.
252
176
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
argumentiert, so daß der zugrundegelegte Vernunftbegriff kommunikationsbezogen reformuliert
werden müsse – D. B.] allenfalls ganz am Rande betrifft, können wir ihn hier auf sich beruhen
lassen.
Der für uns entscheidende Schritt ist der Übergang von der These, daß Sittlichkeit wegen der zu
fordernden Intersubjektivität ihren Ursprung in reiner, formaler, apriorischer Vernunft haben müsse,
zur Behauptung, daß darum das Moralprinzip den in den verschiedenen Fassungen des
kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebrachten Inhalt habe müsse.254
Worin kann jener Inhalt bestehen, wenn nicht darin, daß Vernunft unabhängig von empirischen
Bedingungen, mithin als reine Vernunft, von vornherein etwas soziales wolle: Gerechtigkeit als
Transzendierung der Egoität zugunsten von Unparteilichkeit, und überdies Achtung als
Anerkennung der Geltungsansprüche anderer? Offenbar besteht er eben darin, es ist eindeutig ein
kommunikationsethischer bzw. ein dialogmoralischer Gehalt. Aber wie kommt Kant in seinem
akommunikativen Begriffsrahmen und seinem Ansatz bei einem Vernunftsubjekt im Singular,
welchem ein Gedankenexperiment, ein monologischer Text, angenommen wird, zu diesem
gemeinschaftsbezogenen Inhalt? Kuhlmann argumentiert: „Derartiges wie Gerechtigkeit,
Unparteilichkeit, Achtung der Ansprüche anderer [ist] nur möglich und sinnvoll […], wenn das
relevante Universum bevölkert ist mit mehreren, am besten vielen, Wesen, unter denen
Gerechtigkeit, Fairneß etc. herrschen soll. Die zur Gerechtigkeit konstitutiv hinzugehörige Idee der
Überwindung des blanken Egoismus ist offenbar nur sinnvoll, wenn es neben dem potentiellen
Egoisten noch andere Wesen gibt, zu deren Gunsten der Egoismus transzendiert wird. Wo sind
diese anderen, wo kommen sie her, wie werden sie bei Kant eingeführt? – Wir behaupten nun, daß
die erforderliche Pluralität von Wesen bei Kant nicht legitim eingeführt wird, auch nicht ohne
weiteres eingeführt werden kann, und daß deshalb eine wesentliche Bedingung für den Sinn des
Kantischen Moralprinzips und insbesondere seine Konzeption von praktischer Vernunft fehlt. Der
Solipsismus in der praktischen Philosophie Kants besteht darin – so unsere These -, daß Kant in
Wirklichkeit nur mit so etwas wie einer reinen Vernunft im Singular rechnet und rechnen kann und
daß daher der Gehalt des Moralprinzips, der es allererst zum Moralprinzip und die Idee praktischer
Vernunft allererst zur Idee praktischer Vernunft macht, in Wahrheit nicht plausibel gemacht werden
kann.“255
„Die beiden Argumente – oder besser Argumentationsskizzen – die Kant tatsächlich bemüht (neben
dem für unser gegenwärtiges Problem irrelevanten Nachweis, daß der Kategorische Imperativ mit
unseren vortheoretischen Moralintuitionen übereinstimmt [GMS, Akad. Ausg. VI, S. 428f.]), um
254
Kuhlmann, a. a. O. , S. 107.
177
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
plausibel zu machen, daß Vernunft selbst Gerechtigkeit will, sind erstens: das Argument zugunsten
der Zweck-an-sich-Formel (Wenn es nichts von absolutem Wert gäbe, keinen Zweck an sich, dann
könnte es kein oberstes praktisches Prinzip für die Vernunft geben. Nun ist aber der Mensch Zweck
an sich selbst.) und zweitens: – und das ist wohl das Hauptargument – daß die reine Vernunft sich
in Widersprüche verwickeln würde, wenn sie nicht den Kategorischen Imperativ, daß heißt
Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, wollen würde (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 424).
Beide Argumente können nicht überzeugen. Das erste Argument setzt voraus, daß Vernunft bzw.
ein Vernunftwesen sich kognitiv angemessen zu anderen Vernunftwesen als solchen verhalten kann,
was bei Kant nirgendwo vorgesehen ist. Das zweite Argument führt unmittelbar in ein für die
Kantische Konzeption sehr bezeichnendes Dilemma: Die leitende Idee dieses Arguments ist
offenbar: Vernunft muß ihre eigene Effektivität wollen, daher kann sie sich nicht selbst
widersprechen und so ihre Kraft neutralisieren, zerstören wollen. Vernunft muß sich selbst achten
und ihre Freiheit – wo immer sie sie antrifft – wollen. Dieser Gedanke, der Kant vorgeschwebt
haben muß, ist attraktiv, aber gefährlich. Denn er überzeugt nur, wenn einseitig auf die Identität der
Vernunft (in ihren vielen Instantiierungen, Realisierungen) gesetzt wird und die Verschiedenheit der
Vernunftwesen heruntergespielt wird. Nur wenn die wollende Vernunftinstanz nicht das einzelne
Vernunftwesen in Opposition zu den anderen, sondern die Vernunft überhaupt ist, ist das Argument
als teleologisches Argument verständlich. Dann aber gibt es in Wahrheit die relevante
Verschiedenheit der Vernunftwesen nicht, und das zu lösende Problem entfällt.“256
„Es ist wichtig, sich […] klar zu machen, was genau durch diese Kritik betroffen ist. Zunächst,
nicht berührt wird durch das Vorgetragene die Kantische Formulierung des Moralprinzips selbst,
der Kategorische Imperativ in seinen verschiedenen Fassungen als Ausdruck des moral point of
view, der ja – wie wir sahen – in den Beispielanalysen jeweils relativ unabhängig vom theoretischen
Kontext direkt an vortheoretischen Intuitionen getestet und durch sie bestätigt wird, ebenso wie die
wichtige Unterscheidung Kants zwischen Moral und Klugheit.
Betroffen ist allerdings dasjenige, was Kant zur Erläuterung seines Rekonstruktionsversuchs
aufbietet, was er als theoretischen Hintergrund, in den er seine Fassung des moral point of view
einbettet, heranzieht, und was durch die Konfrontation mit vortheoretischen Intuitionen ohne
weiteres nicht zu stützen ist. Betroffen ist also erstens die These, daß reine Vernunft der Sitz der
Moralität ist. Daß reine Vernunft in der Kantischen Version etwas will, das zu Recht und
plausiblerweise den Namen des moralisch Guten verdient, ist nicht mehr einleuchtend. Betroffen ist
zweitens der Kern der Idee einer Vernunft, die auch ‚praktisch sein kann’, die Kantische Idee einer
praktischen Vernunft.
255
A. a. O. , S. 112.
178
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Diese Idee ist nun eine der wichtigsten Alternativen zur – ungeheuer einflußreich gewordenen –
Max Weberschen szientifischen Konzeption von Rationalität, einer Konzeption, in der Vernunft
letztlich zusammenschrumpft auf wertneutrale, theoretische Vernunft, auf Zweckrationalität. Es
geht hier darum, daß einer der Kronzeugen – vielleicht der wichtigste und heute am meisten noch
ernstzunehmende der älteren Kronzeugen – für den emphatischen Begriff einer umfassenden
Vernunft diesen Begriff in Wahrheit nicht verteidigen kann. Es geht für die Philosophie, die sich
wesentlich als ‚Explikation der Erfahrungen der Vernunft im Umgang mit sich selbst’, als
Rekonstruktion der Vernunft(-kompetenz) versteht, auch um das absolut zentrale Problem, ob
legitim mit dergleichen wie einer praktischen, d.h. auch für die (letzten) Zwecke selbst
verantwortlichen Vernunft gerechnet werden kann und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen,
oder ob das nicht möglich ist.“257
Daß jenes möglich ist, daß wir – eben in dem konstitutiven Plural von Diskursteilnehmern – eine
praktische, für unserer Zwecke bzw. Zwecksetzungen verantwortliche Vernunft bewähren können
und daher auch müssen denken können, wollte Apels „Kanttransformation“ von Anbeginn
vorführen. Dieses Ziel sei erreichbar, wenn das Moralprinzip als Prinzip der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit gefaßt und durch reflexiven Rückgang auf die Sinnbedingungen der
Kommunikation bzw. des Denkens als Kommunizierens begründet werde. Eine Deutung des
Moralprinzips im Sinne der universalisierbaren Gegenseitigkeit entwickelt Apel in einem
erhellenden Diskurs mit Hegel und Kant. Dieser führt zu der Einsicht, daß der Kategorische
Imperativ, unbeschadet jener geltungslogischen Formalität, die er als kriteriales Prinzip, als
Maßstab für die allgemeine Vernunft- und Geltungsfähigkeit einer Handlungsmaxime hat und
haben muß, sei er doch nicht bloß formal, wie es eine technische oder formallogische Regel ist. Im
Unterschied zu einer Kalkülregel setze der Kategorische Imperativ den kommunikativ moralischen
Gehalt der Gegenseitigkeit voraus, eines Gemeinschafts- und Anerkennungsverhältnisses also; und
er erhebe diesen Gehalt, wenngleich stillschweigend, begrifflich verdeckt und pragmatisch
inkonsistent, de facto zur Formalität eines Geltungskriteriums.
Darin sehe ich die fruchtbare Pointe von Apels Auseinandersetzung mit Hegels, gegen Kant
vorgebrachten Formalismuseinwand. Fruchtbar auch deshalb, weil Apel dabei die Kontroverse um
den (stillschweigenden) methodischen Solipsismus von Kantianern und Personalisten im Auge hat,
die 1980/81 unversehens zwischen Ottfried Höffe und Manfred Riedel einerseits, Apel und Böhler
andererseits in „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ aufgebrochen war.
256
A. a. O. , S. 120f.
179
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Beim Wiederlesen nach bald fünfundzwanzig Jahren erschien mir Apels Abhandlung so stupende,
frisch und erhellend, daß ich sie auch den Hörern und Lesern dieser Vorlesung sehr empfehlen
möchte. Hier ist ein Auszug daraus, in dem Apel "die radikale Kantkritik Hegels" dadurch
einschränkt, daß er den Kategorischen Imperativ im Lichte einer transzendentalpragmatischen
"Kommunikationsethik" umdeutet.258
„Der Anwendungssinn der Grundnorm einer Ethik konsensualer Kommunikation liegt in der
Normierung eines zweistufigen Verfahrens konsensualer Normenbegründung, in dem die
Interessen aller Betroffenen im praktischen Diskurs argumentativ vermittelt werden sollen. Wie
verhält sich diese zweistufige Ethik der konsensualen Normenbegründung (die sich ja selbst als
Umbildung der Kantischen Ethik versteht) zu dem Vorwurf des ,Formalismus‘ bzw. der damit
verbundenen Inhaltslosigkeit, der gegen KANTS Prinzip des kategorischen Imperativs erhoben
wurde?
Zur Verdeutlichung dieser Frage wollen wir im folgenden zunächst die Kantkritik HEGELS aus dem
Naturrechtsaufsatz von 1802259 kurz darstellen. Sodann wollen wir die ,Aufhebung‘ dieser Kritik
versuchen, indem wir das formale Prinzip der Ethik KANTS auf der Grundlage der
transzendentalpragmatischen Kommunikationsethik umdeuten und ergänzen.
Bei KANT heißt es: ‚Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als
die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a
priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.’260 Dieser Zwang zur Fernhaltung aller
inhaltlichen Bestimmungen vom Sittengesetz ist es, den HEGEL zum Ausgangspunkt seiner Kritik
an KANT macht. Denn indem reine praktische Vernunft nur diese Form zum Gegenstand haben
kann, muß sie jeden bestimmten Inhalt (etwa den jeweiligen Zweck oder das Interesse des Handelns)
aus diesem Gesetz ausschließen und zugleich für alle solchen Inhalte die verbindliche Vorschrift
ihrer ethischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit vorgeben. Demnach muß also das Sittengesetz
KANTS alle inhaltliche Bestimmtheit möglicher Maximen, sofern sie nur mit ihm vereinbar sein sollen,
257
A. a. O. S. 121f.
K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“ In:
Apel, Böhler, Rebel (Hg.): Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 606ff, hier S. 613f und 616-621.
258
259
G. W. F. HEGEL: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen
Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. - Hier zitiert nach dem gekürzten Abdruck
in: R. BITTNER / K. CRAMER: Materialien zu Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Frankfurt 1975, S. 327ff.
(Vollständiger Text in: G. W. F. H EGEL : Werke in 20 Bänden. Bd. 2. Hrsg. Von E. MOLDENHAUER und K. M.
MICHEL. Frankfurt 1974, S. 434 ff.)
260
I. KANT: Kritik der praktischen Vernunft, A 113. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. V,
180
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
nach HEGELS Worten ‚in die Form der reinen Einheit’ erheben261 – das heißt: Die Gleichheit mit
sich, die Identität von Form und Inhalt, die die praktische Vernunft im Sittengesetz (als der Form
jeden praktisch-verbindlichen Gesetzes) erreicht hat, muß auch an allen möglichen Inhalten von
Handlungsmaximen aufgewiesen werden können. Denn nur dann können sie auch zugleich als
allgemeingültig vorgestellt werden. Nur wenn dies im Gedankenexperiment gelingt, das heißt, nur
wenn bei diesem Versuch der Inhalt des Gesetzes nicht mit seiner Form (der Allgemeingültigkeit) in
Widerspruch gerät und damit sich selbst als konkreten Inhalt aufhebt, ist das Handeln nach dieser
bestimmten Maxime gerechtfertigt.262
HEGEL geht nun von der logisch schärfsten Bestimmung der formalen Einheit der praktischen
Vernunft mit sich selbst aus, die KANT gegeben hat. Ihr zufolge läßt sich eine Maxime, die dieser
Einheit entgegensteht, ohne Selbstwiderspruch als allgemeines Gesetz nicht einmal denken. Dies
ist bei KANT der Fall bei der Vorstellung einer Verneinung der „vollkommenen" oder „unerläßlichen
Pflichten", für die er in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" zwei Beispiele gibt: Selbstmord
und lügnerische Versprechen. HEGEL setzt jedoch an einem anderen Beispiel an, das KANT in der
„Kritik der praktischen Vernunft" gibt. Dort geht es um die Maxime, mein Vermögen mit allen Mitteln
zu vergrößern, also auch durch Aneignung fremden Eigentums, etwa durch Aneignung eines
Verwahrguts, eines Depositums, das in meinen Händen ist und ‚dessen Eigentümer verstorben ist
und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat’. Von einer solchen Maxime sagt KANT: ‚Ich
werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es
machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.’263
HEGEL versteht nun den hier von KANT gemeinten Selbstwiderspruch des Gesetzes bzw. des
gesetzgebenden Willens als formallogischen Widerspruch zwischen Sätzen – was durch KANTS Text
zumindest nicht ausgeschlossen wird. Demnach bestünde der Selbstwiderspruch, der die Maxime der
Selbstbereicherung durch Diebstahl als mögliches Gesetz undenkbar macht, darin, daß in diesem
Falle ein Gesetz von der Art entsteht: Eigentum soll sein und zugleich nicht sein. Dagegen wendet
nun HEGEL ein, daß durch Aufzeigen dieses logischen Widerspruchs die entscheidende Frage, ob
denn Eigentum sein soll, gar nicht beantwortet werde; denn nähme man an, daß Eigentum nicht sein
soll, so würde die Maxime, auf dem eigenen Recht auf Eigentum zu bestehen, ja ebenfalls zu einem
sich selbst aufhebenden Gesetz führen. [...]
S. 64.
G. W. F. HEGEL: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, a. a. O., S. 327.
262
vgl. hierzu auch Höffe: Der Standpunkt der Moral: Utilitarismus oder Universalisierbarkeit?, in: Apel, Böhler,
Rebel, Funkkolleg Bd. 2.
263
I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 27 (A 49).
261
181
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
In der 4. Studieneinheit des Funkkollegs haben wir die These aufgestellt, daß KANTS Ethik der reinen
gesetzgebenden Vernunft im Sinne einer Ethik der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft
umgedeutet werden kann.264 In diesem Zusammenhang haben wir das von KANT zugrunde gelegte
,Faktum der Vernunft‘ als immer schon notwendigerweise anerkannte Grundnorm dechiffriert und
damit das bei ihm noch bestehende Hindernis einer Letztbegründung der normativen Ethik ohne
,naturalistischen Fehlschluß‘ (der Herleitung der Grundnorm als einem Faktum) beseitigt. Wenn dieser
Anspruch zu Recht besteht, dann müßte es im Lichte der transzendentalpragmatischen
Letztbegründung der Kommunikationsethik auch möglich sein, den kategorischen Imperativ so zu
verstehen, daß er von HEGELS Kritik nicht betroffen wird. Die immer schon anerkannte
Grundnorm, die sich hinter dem 'Faktum der Vernunft‘ KANTS und damit auch hinter dem
kategorischen Imperativ verbirgt, muß – trotz ihrer Unabhängigkeit von empirischen Inhalten, die
von bestimmten Neigungen oder Bedürfnissen bestimmt sind – als Vernunftnorm schon einen Inhalt
besitzen, der nicht auf die ,Tautologie‘ der formallogischen Identität bzw. Widerspruchsfreiheit
zurückgeführt werden kann. Dies soll im nächsten Schritt näher verdeutlicht werden.
HEGEL hätte meines Erachtens die Pointe seiner Kantkritik nicht herausbringen können, wenn er,
statt am Beispiel des ,Depositums‘, an dem von KANT in der „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten“ gegebenen Beispiel des lügenhaften Versprechens (bzw. der Unwahrhaftigkeit
schlechthin) angesetzt hätte. Und weswegen nicht? Worin besteht der Unterschied der Beispiele, die
nach KANT beide eine Maxime illustrieren sollten, die sich als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes
nicht ohne Selbstwiderspruch denken läßt?
• Im Falle der Aneignung des Depositums wird die Frage, ob persönliches Eigentum als
Gesetz gelten soll, durch die probeweise Anwendung des kategorischen Imperativs auf die
Maxime der Aneignung fremden Eigentums nicht mitentschieden; ihre (positive) Beantwortung
wird vielmehr stillschweigend vorausgesetzt. Im Falle der Unwahrhaftigkeit dagegen läßt die
Anwendung des kategorischen Imperativs keine unbeantwortete Frage nach dem Seinsollen einer
konkret geschichtlichen Institution übrig. Man kann hier nicht sagen, daß die Frage nach der
inhaltlichen Bestimmtheit der Wahrhaftigkeitsnorm – die Frage, ob Wahrhaftigkeit als Gesetz sein
soll oder nicht – durch die Anwendung des kategorischen Imperativs nicht mitbeantwortet würde.
Woran liegt das?
• Im Falle der Wahrhaftigkeit ist nicht, wie im Falle der Respektierung persönlichen Eigentums,
die inhaltliche Bestimmtheit der Maxime auf ein Gesetz bezogen, zu dem sich eine geschichtlich264
Apel, "Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II)", in: Funkkolleg Bd. 1, bes.
127ff, vgl. 124ff.
182
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
konkrete Alternative (etwa: Verbot jeden Privateigentums) vorstellen läßt. Will man - analog zur
Institution des Privateigentums - die Institution namhaft machen, auf die die Maxime der
Wahrhaftigkeit als mögliches Gesetz bezogen ist, so muß man auf die sprachliche
Kommunikation verweisen. Aber diese ist keine Institution unter anderen – möglicherweise
alternativen – Institutionen; sie ist vielmehr, wie wir früher gezeigt haben, die Metainstitution
aller
menschlichen
Institutionen.265
Anders
ausgedrückt:
Sprachliche Kommunikation enthält die normativen Bedingungen der Möglichkeit aller Begründung
und Rechtfertigung von Institutionen – des Privateigentums so gut wie des Gemeineigentums usw. Im
Falle der Wahrhaftigkeitsmaxime verhält sich daher tatsächlich alles so, wie K ANT es im Falle
der vollkommenen oder unerläßlichen Pflichten unterstellt: die Möglichkeit eines Gesetzes, das
auf ihrer Verneinung beruhen würde, ist nicht ohne Selbstwiderspruch denkbar. Ein Gesetz im
Sinne der verallgemeinerten Maxime der Unwahrhaftigkeit würde nämlich die sprachliche
Kommunikation, und damit das Denken bzw. die Vernunft, aufheben.
Doch was haben wir mit diesem Argument gezeigt? Wird durch das Beispiel der
Wahrhaftigkeitspflicht der Formalismus der Kantischen Vernunftethik gegen HEGEL wieder ins
Recht gesetzt? - Ja und nein!
Ja – insofern als mit Bezug auf die Wahrhaftigkeitspflicht gezeigt werden konnte, daß zumindest in
diesem Falle die Anwendung des kategorischen Imperativs auf ein Gesetz verweist, das im Sinne
KANTS unabhängig von allen empirischen Inhalten möglicher Zwecksetzungen – insofern auch
unabhängig von den konkret-geschichtlichen Institutionsnormen im Sinne der ,substantiellen
Sittlichkeit‘ HEGELS – intersubjektiv gültig ist.
Nein – aus zwei Gründen:
• HEGELS Einsicht, daß Institutionsnormen wie die des Privateigentums sich nicht aus dem
kategorischen Imperativ ableiten lassen, wurde nicht widerlegt. Dieser ist also insofern als Prinzip der
Normenbegründung unzureichend.
• Der kategorische Imperativ wurde im Falle der Wahrhaftigkeitspflicht dadurch als zureichende
Begründung erwiesen, daß wir das in ihm enthaltene formale Prinzip der Verallgemeinerbarkeit bereits
ansatzweise im Sinne der transzendentalpragmatischen Kommunikationsethik umgedeutet haben.
Wir konnten zwischen KANT und HEGEL nur dadurch vermitteln, daß wir zwischen zwei Typen
von Gesetzen bzw. Institutionsnormen unterschieden haben: den geschichtlich-konkreten
265
Vgl. dazu Apel, "Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft", in: Funkkolleg Bd. 1, S. 52.
183
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Institutionsnormen, auf die HEGEL seinen Begriff der ‚substantiellen Sittlichkeit’ des ,objektiven
Geistes‘ gründet, und der Metainstitutionsnorm der wahrhaftigen Kommunikation.
Nur mit Bezug auf die letztere – und nicht mit Bezug auf jedes ohne Selbstwiderspruch denkbare
Gesetz – konnten wir zeigen, daß sie unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet
werden kann.
Inwiefern aber liegt darin eine Umdeutung des kategorischen Imperativs? Liegt nicht in der
Auszeichnung der Metainstitutionsnorm der wahrhaftigen Kommunikation gegenüber allen konkreten
Institutionsnormen gerade eine Bestätigung des Kantischen Formalismus: der Gebundenheit der
intersubjektiven Gültigkeit des Sittengesetzes an die Abstraktion von allen empirischen Inhalten?
Ja und nein, denn:
• einerseits ist das allgemeine Gesetz, das durch die Maxime der Unwahrhaftigkeit sich selbst
aufheben würde, gewiß formal im Vergleich zu allen konkreten Institutionsnormen; es bezieht
sich auf die formalen Bedingungen aller normativen Gesetzmäßigkeit im Bereich menschlicher
Angelegenheiten;
• andererseits aber hat es dennoch einen (nichtempirischen) Inhalt, der über die formallogische
Norm des zu vermeidenden Widerspruchs zwischen Sätzen (A und Nicht-A) hinausgeht. Denn der
ethische Sinn des Verbots der Unwahrhaftigkeit kann (im Unterschied zum formallogischen
Widerspruch zwischen Sätzen) nur in bezug auf die verallgemeinerte Gegenseitigkeit als Gesetz einer
idealen Kommunikationsgemeinschaft erläutert und ausgeführt werden.
Zwar würde derjenige, der die Maxime des Lügens zum allgemeinen Gesetz erheben wollte, sich selbst
im Akte der Gesetzgebung widersprechen – ähnlich wie derjenige, der mit Wahrheitsanspruch
behaupten wollte: ,Ich lüge immer‘. Aber dieser – pragmatische – Selbstwiderspruch zeigt nur,
daß die Wahrhaftigkeitsnorm als moralische Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation
zugleich eine formale Bedingung der Möglichkeit widerspruchsfreier Selbstverständigung im
einsamen Denken ist. (Tatsächlich können wir nicht nur – mit WITTGENSTEIN – sagen, daß ein Kind
die Sprache – und damit das Denken – nicht erlernen könnte, wüchse es in einer Lebensform auf, in
der in der Regel Lüge und Wahrheit nicht zu unterscheiden wären. Wir wissen auch aus der
empirischen Psychopathologie, daß ein Mensch unter solchen Bedingungen seine Identität als
Vernunftwesen verlieren muß.
Von hier aus scheint mir nun der eigentliche Sinn des Kantischen „Formalismus" (d.h. der von ihm
geforderten Besinnung auf die Form eines sich nicht selbst aufhebenden moralischen Gesetzes bzw.
gesetzgebenden Willens) deutlich zu werden. Es handelt sich hier nicht – wie von HEGEL und vielen
184
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Kant-Interpreten aus naheliegenden Gründen unterstellt wurde – um einen Rückgang der
Moralbegründung auf das vormoralische Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs der formalen
Logik. Es handelt sich vielmehr um einen Rückgang auf das ,Faktum der Vernunft‘ (KANT) im Sinne
des immer schon notwendigerweise von uns anerkannten Prinzips der verallgemeinerten
Gegenseitigkeit der konsensualen Kommunikation. Dieses Prinzip – und nicht einfach ein logisch
begründbares Prinzip der Verallgemeinerung – bestimmt für den Bereich der normativen Gesetze
der Menschenwelt die Form der (moralischen und rechtlichen) Gesetzmäßigkeit überhaupt. Es verhält
sich daher nicht so, wie man, wiederum aus naheliegenden (d. h. auch von KANT selbst nahegelegten)
Gründen, meinen könnte: daß nämlich die Gegenseitigkeit der menschlichen Interaktion erst auf der
Ebene des Rechts – der wechselseitigen Einschränkung der Willkür im Sinne erzwingbarer
Freiheitsgesetze – zu berücksichtigen sei, während im angeblich ,vorkommunikativen‘ Bereich der
Moralität ein prinzipiell einsamer und insofern autonomer Vernunftwille sich das formale Gesetz des
kategorischen Imperativs gäbe.
Der kategorische Imperativ ist vielmehr selbst schon die Verinnerlichung (Internalisierung) des
Prinzips der verallgemeinerten Gegenseitigkeit, und nur als solche hat er einen – weder bloß
empirischen noch bloß formallogischen – normativen Inhalt, den jeder Einzelne, der denkt (und
insofern Mitglied der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft ist) notwendigerweise immer schon
anerkannt hat.
Daß der Gedanke der verallgemeinerten Gegenseitigkeit (Reziprozität) den nichtempirischen Inhalt
des kategorischen Imperativs bilden kann, das wird von KANT selbst im Falle der sogenannten
„unvollkommenen" Pflichten gegen andere – wie zum Beispiel der Pflicht, anderen in der Not zu
helfen – hinreichend deutlich gemacht. Denn er sagt hier von der entgegengesetzten Maxime:
‚[...] obgleich es möglich ist, daß nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen
könnte: so ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Prinzip als Naturgesetz allenthalben gelte.
Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch
manche eräugnen [ereignen] können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf.‘266
Angelsächsische Interpreten – so etwa Marcus SINGER und auch Lawrence KOHLBERG – haben
sich stets mit Vorliebe an diese Illustration des kategorischen Imperativs gehalten und sie, im Lichte
des verallgemeinerten Gegenseitigkeitsprinzips, mit der "Goldenen Regel" des Neuen Testaments
266
KANT: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademie Textausgabe. Bd. IV, S. 423.
185
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
zusammengebracht. Dies scheint mir – trotz der Vorbehalte KANTS gegen die ,Goldene Regel‘267 –
berechtigt zu sein; sofern man nur berücksichtigt, daß der Wille zur verallgemeinerten Gegenseitigkeit
nicht von der Sorge um das eigene Wohlergehen abhängig gemacht werden darf, wie dies im
vorkonventionellen Gegenseitigkeitsdenken (KOHLBERGS Stufe 2) und auch im populären
Verständnis der ,Goldenen Regel‘ geschieht. Ein solches Verständnis, das den Sinn der Kantischen
Prinzipienethik völlig verfehlen würde, wird aber erst dann völlig überwunden, wenn man auch schon
die Rede KANTS von der Denkbarkeit oder Nichtdenkbarkeit eines allgemeinen Gesetzes auf ein
Gesetz der verallgemeinerten Gegenseitigkeit bezieht. Zumindest an einer Stelle hat KANT dies
selbst klar zum Ausdruck gebracht:
‚Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst sich in Ansehung
aller Gesetze [...] zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können [...], im gleichen, daß
diese seine Würde (Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen
jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als
gesetzgebenden Wesens [...] nehmen zu müssen.‘268
Im Sinne unserer kommunikationsbezogenen (transzendentalpragmatischen) Umdeutung des
Kantischen Ansatzes ist aber nun Folgendes zu ergänzen: Die im kategorischen Imperativ
ausgesprochene Forderung, daß man seine Maximen ,jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst,
zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als gesetzgebenden Wesens‘ nehmen müsse – dieses
Gesetz der verallgemeinerten Gegenseitigkeit aller Vernunftwesen ist nichts anderes als die formalabstrakte Verinnerlichung einer konsensual-kommunikativen Verfahrensnorm. Sie besagt, daß in
jedem Fall der Normenbegründung bzw. -rechtfertigung (Legitimation) die Gesichtspunkte aller
Betroffenen auf dem Wege zwangloser Argumentation (durch ,praktischen Diskurs‘) zum Konsens
zu bringen sind.
Von
dieser
Verfahrensnorm
haben
wir
im
transzendentalpragmatischen
Letztbe-
gründungsargument269 gezeigt, daß sie immer schon von jedem, der ernsthaft argumentiert, anerkannt
(und insofern autonom gewollt!) sein muß. Die Verfahrensnorm der Normenbegründung durch
konsensuale Kommunikation bezeichnet also die vollständige und grundlegende Form jenes Gesetzes
der Menschenwelt (des Kantischen ,Reichs der Zwecke‘), dessen intersubjektive Gültigkeit niemand
ohne pragmatischen Selbstwiderspruch durch eine entgegenstehende Willensmaxime verneinen kann.
Für den Einzelnen bedeutet dies, daß er sich nach Möglichkeit an der Konsensbildung über
267
A. a. O. , S. 430, Anmerkung.
A. a. O. , S. 438.
269
Vgl. Kuhlmann, Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?, in: Apel, Böhler, Rebel,
Funkkolleg Bd. 2, S. 572-604.
186
268
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
problematische Gegenseitigkeitsansprüche – und insofern über situationsbezogene Normen –
beteiligen soll. Und selbst wo dies nicht möglich ist, soll er nach Möglichkeit seine einsame
Handlungsentscheidung an einer konsensfähigen Norm orientieren.
Man könnte meinen, im letzteren Falle liefe doch alles wieder auf das im kategorischen
Imperativ empfohlene Gedankenexperiment hinaus. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Das vom
kategorischen Imperativ anbefohlene Gedankenexperiment für die Gewissensorientierung des
Einzelnen kann nämlich das ideale Konsensbildungsverfahren, an dem sich der Einzelne nach
Möglichkeit beteiligen soll, immer nur unzureichend ersetzen. Denn es kann die Interessen (die
„Gesichtspunkte" der möglichen Gesetzgebung) aller Anderen bestenfalls im Sinne eines
konventionellen Vorverständnisses vorwegnehmen, nicht aber zur argumentativen Ermittlung
(Explikation) und Vermittlung dieser Interessen beitragen. Selbst die internalisierte Verpflichtung,
die
mögliche
Konsensfähigkeit
einer
konkreten
Gesetzesnorm
im
Gedankenexperiment
vorwegzunehmen, beinhaltet daher strenggenommen bereits mehr als der Kantische Sinn des
kategorischen Imperativs; denn sie erkennt im Unterschied zu diesem ihre Abhängigkeit von der
ethischen Grundnorm der Normenbegründung durch konsensuale Kommunikation an. Insofern
ist in ihr der methodische Solipsismus – in diesem Fall: die Unterstellung der Selbstgenügsamkeit des
vernünftigen Willens in seiner vorkommunikativen Vereinzelung – überwunden. […]
In der Studieneinheit 17 behauptet Herr HÖFFE, daß die Orientierung an der Grundnorm der
konsensualen Kommunikation in einen logischen Zirkel führt. Dabei hat er meines Erachtens
die von mir unterschiedenen Stufen der Begründung bzw. der Anwendung der Grundnorm nicht
klar auseinandergehalten.270
Er stellt zu Recht Folgendes fest: ‚Nicht ein Diskurs unter gewissen idealen Bedingungen,
sondern der Maßstab zur Begründung eben dieser Bedingungen als der Idealitätsbedingungen
stellt die erste Aufgabe einer philosophischen Moralbegründung dar.‘ Insoweit besteht –
entgegen der Annahme von Herrn HÖFFE – völlige Übereinstimmung zwischen ihm und der
„Diskurstheorie"
der
Ethik.
Eben
deshalb
wurde
von
uns
zunächst
die
transzendentalpragmatische Letztbegründung der Grundnorm konsensualer Kommunikation
vorgeführt,271 weil der Diskurs nur unter bestimmten normativen Bedingungen als höchstes
Moralkriterium gelten kann (H ÖFFE , a. a. O.).
270
Höffe, "Der Standpunkt der Moral: Utilitarismus oder Universalisierbarkeit?", in: Apel, Böhler, Rebel, Funkkolleg
Bd. 2.
271
Kuhlmann: "Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?", in: Apel, Böhler, Rebel,
Funkkolleg Bd. 2.
187
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Allerdings wird in der von uns vorgeführten Letztbegründung eine Grundnorm aufgewiesen, die
– im Unterschied zum „kategorischen Imperativ“ – von vornherein den idealen Diskurs als
höchstes Kriterium der Begründung situationsbezogener Normen beinhaltet. Darin liegt ein
erster Punkt, an dem sich die Vertreter des klassischen Kantianismus von uns unterscheiden.
Ein zweiter Punkt liegt jedoch in folgendem:
Aus dem Umstand, daß der praktische Diskurs der konsensual-kommunikativen Begründung
situationsbezogener Normen bereits normative Idealitätsbedingungen voraussetzt, folgt für uns
keineswegs, daß die eigentliche Letztbegründung dieser Idealitätsbedingungen vor-kommunikativ
sein muß bzw. kann. Es bedarf hier vielmehr nur der Unterscheidung zwischen dem inhaltlich
orientierten praktischen Diskurs und dem argumentationsreflexiven Diskurs.272 Die zentrale
These der transzendentalpragmatischen Weiterführung und Umbildung des Kantischen
Ansatzes besagt allerdings, daß die Struktur der sprachgebundenen Argumentation (und damit die
immer
schon
anerkannte
Struktur
einer
idealen
Kommunikationsgemeinschaft
der
argumentativen Konsensbildung) für das Denken nicht hintergehbar ist. Deshalb ist für uns
allerdings auch der reflexive Aufweis der Grundnorm, die als Metanorm den Maßstab der
Idealitätsbedingungen des praktischen Diskurses abgeben muß, in zweifacher Weise:
hinsichtlich der Sinnkonstitution der Grundnorm und hinsichtlich der Überprüfung ihrer
Geltung, dem Apriori der konsensualen Kommunikation unterworfen. Die Letztbegründung des
Maßstabs beruht eben auf der Selbstreflexion des argumentativen Diskurses273 – mag diese
auch faktisch im einsamen Denken vollzogen werden. Sie beruht also nicht auf einem prinzipiell
einsamen Denken, das hinter die Norm der Konsensbedürftigkeit des Argumentierens
zurückgehen könnte. Darin liegt unsere Zurückweisung des methodischen Solipsismus.274“
Soweit Karl-Otto Apel.275
272
Für eine Einführung dieser Unterscheidung: D. Böhler, „Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und
Praxis“, Funkkolleg Studientexte, Band 2, S. 331ff. Differenziert inzwischen von: D. Böhler u. H. Gronke, „Diskurs“,
in: Hist. Wörterbuch d. Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, bes. S. 811ff.
273
Vgl. K.-O. Apel, in: Ders. (Hg): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt 1976, S. 123. Vgl. auch Ders.:
„Warum transzendentale Sprachpragmatik?“ In: H. M. Baumgartner (Hg): Prinzip Freiheit. Freiburg/München 1079, S.
13-43.
274
Vgl. K.-O. Apel: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1976, Bd. 2, Teil II.
275
K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“, in:
Funkkolleg Studientexte Bd. 2, S. 616-622, 1. Abs.
188
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
5.3 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit
Kritisch ergänze ich, daß es bei der Überwindung des methodischen Solipsismus in der Ethik wie in
der Politik darauf ankommt, die verschiedenen Ebenen der Konsensbedürftigkeit des
Argumentierens auch hinsichtlich der konkreten Situationsdiskurse genau zu unterscheiden.
Konsensbedürftig ist hier zweierlei: zunächst ist es die eigentliche Situationsermittlung als
Interpretation und Beschreibung der Lage mit besonderer Berücksichtigung der Ansprüche der
Betroffenen; sodann wäre zu prüfen, ob das Resultat des, auf dieser Verständigungsbasis geführten,
Normenbegründungsdiskurses ebenfalls zustimmungswürdig ist, ob es einen strikt argumentativen
Konsens ermöglicht und verdient. Bei der situationsgezogenen Konkretion oder Anwendung des
Moralprinzips stehen prima facie zwei verschiedene Verfahrensschritte an: Situationsinterpretation
und situative Normenbegründung. Beide müssen einen argumentativen Konsens verdienen. Im Falle
der Situationsinterpretation hat diese Konsenswürdigkeit primär die Form einer
Verständigungsgegenseitigkeit, wohingegen der konkrete Normenbegründungsdiskurs einer
Geltungsgegenseitigkeit bedarf.
Wie anders sollte man die normativ ethische Gretchenfrage, wann eine Handlungsweise als
moralisch richtig gelten dürfe, und wann eine Norm als moralisch verbindlich anzuerkennen, mithin
prinzipiell zu befolgen sei, differenziert beantworten können?
5.3.1 Die Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft
Wenn du zurückgehst auf dich als Denkenden/Sprechenden > Diskurspartner, erkennst du geschichtliche
Bedingtheiten (a) und unbedingt Gültiges/Verbindliches (b).
K.-O. Apels Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft,
diskurspragmatisch expliziert (i. S. von Böhlers aktueller Dialogreflexion)
1. Reale Kommunikationsgemeinschaft
Sinnkonstitution oder Welt-Erschlossenheit (W. v. Humboldt: „Weltansicht“) durch Sprache als
geschichtlich bildsamer Sinnhorizont (a) und als kommunikativer Metainstitution, die
Verständigung, mithin auch Prüfung, ermöglicht (b):
(a) Geschichtliche Situierung in einer „Lebenswelt“ (Husserl) und „Geworfenheit“ (Heidegger) in
vorgegebene Ausgangsbedingungen des Daseins mit dem basalen Interesse an Daseins- bzw.
Selbsterhaltung (Heidegger: „Sorge“) und begrenzender Perspektivität bzw. Subjektivität
(b) Tendenz zur kritischen Transzendierung von (a):
Sinnverständigung (auch als Konkretion des Sinnhorizonts einer Sprache) schließt Ansprüche
auf virtuell universale Geltung ein: auf Verständlichkeit der Rede, Wahrhaftigkeit der Absicht,
Wahrheit der Beschreibung und Richtigkeit der Aufforderung/Norm (Apel: „Logosauszeichnung
des Menschen“).
Kraft dieser Geltungsansprüche sind Menschen zugleich Mitglieder einer
189
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
2. Idealen Kommunikationsgemeinschaft
Einlösbar sind Geltungsansprüche durch oder in Bezug auf Argumente in einem kognitiven Kontext
(wie z.B. Erfahrung, Beobachtung); und zwar bei Erfüllung einer Reihe von vorgängigen
Dialogversprechen, die man bereits durch Übernahme der Rolle eines Diskurspartners implizit
abgegeben hat; z.B. die Versprechen der
- gegenseitigen Anerkennung als gleichberechtigter Argumentationspartner = als
Geltungsansprucherheber oder –prüfer -> mit Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde;
- Achtung/Anerkennung der Instanz einer unbegrenzten, strikten Argumentationsgemeinschaft als
Geltungsinstanz aller faktischen Kommunikationsbeiträge.
Aus (1) und (2) lassen sich zwei grundlegende regulative Prinzipien für eine langfristige moralische
Handlungsstrategie jedes Menschen ableiten: In allem Tun und Lassen soll es darum gehen,
1. das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen
und
2. in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft gleichsam zu verwirklichen.
Die Rede von Verwirklichung ist hier jedoch mißverständlich, weil sie aus der Geltungslogik in die Utopie
springt (als könne der utopische Zustand einer idealen Kommunikationsgemeinschaft ein Handlungsziel
sein) und unvereinbar mit dem Sinn einer „regulativen Idee“ als einer Diskursperspektive und eines
Metakriteriums der Gültigkeit von Diskursbeiträgen.
Wir „verwirklichen“ jedoch die Idee der idealen Argumentationsgemeinschaft im Diskurs insoweit, als wir
die Rolle des Diskurspartners ausfüllen und als es uns einzig um sinnvolle, geltungsfähige Argumente zur
Sache geht.
Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist eine regulative Idee, die als Geltungsidee eine indirekte
Orientierung für das Handeln, nämlich als letzthinnige Richtungsbestimmung gibt. Das, was zu ihrer
Befolgung unabdingbar nötig ist, erschließt sich durch eine aktuelle Reflexion im Diskurs auf den Diskurs,
nämlich die Einlösung der vier Geltungsansprüche und der (zumindest) sechs Dialogversprechen.
190
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags /
Normen der Diskurspartnerrolle
Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h.
verständlich als Beitrag zu einem
argumentativen Dialog ist eine Rede, ein
Gedanke als Einlösungsversuch von:
vier Geltungsansprüchen (a)
einlösbar durch:
Selbstverantwortung
Selbst- und
Mitverantwortung
erfüllbar
durch:
Selbstverantwortung
Selbstund
Mitverantwortung
a1) Anspruch auf eine bestimmte, intersubjektiv
nachvollziehbare Bedeutung des sprachlichen
Ausdrucks im Kontext → Widerspruchsfreiheit es
Ausgesagten
a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention
samt Glaubwürdigkeit der Interaktions-Bereitschaft
(Voraussetzung für Andere, sich auf Kommunikation
mit N.N. einzulassen)
a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit der
Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: 2)
vorgebracht und geprüft werden kann.
a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Gerechtigkeit von
Handlungsweisen oder Normen, woraufhin sie im
Diskurs geprüft werden können (Gerechtigkeitsidee);
konstitutive
Bedingung für
Kommunikation
überhaupt
teils konstitutive
Bedingung, teils
regulative Idee
mit konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b)
Sinngeltung
b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als
Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also sich
um widerspruchsfreie und sachkundige
Dialogbeiträge zu bemühen
b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen
Anspruchssubjekte, mithin das Universum der
sinnvollen Argumente und betroffenen
Lebensansprüche als letzte Sinn- und
Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) im
Auge zu behalten und nach möglichen besseren
Argumenten zu suchen,
b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher
Dialogpartner zuzuerkennen und ihre Würde zu
achten: Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und
Menschenwürde,
b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als
Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft,
also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu
ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen,
sozialen und kulturellen Realisierungsbedingungen
öffentlicher Diskurse,
b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und
situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen,
also deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und
keine irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen,
deren Folgen mit (b1) bis (b4) unverträglich sein
können,
b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein
für die Umsetzung der Diskursergebnisse in die
alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder.
diskursbezogene
regulative Ideen
mit konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
191
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
5.3.2 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit als Verbindlichkeitsbedingungen von
Normen und Geltungsbedingungen von Handlungen bzw. Beschlüssen
In einer thematisch ganz anders angesetzten Teamdiskussion des „Funkkolleg Praktische
Philosophie/Ethik“, der ›live‹ veranstalteten „10. Kollegstunde“, ergab sich zu meiner
Überraschung eine Kontroverse zwischen den Philosophen Manfred Riedel und Otfried Höffe
auf der einen sowie Karl-Otto Apel und mir auf der anderen Seite über den zureichenden
Ausgangspunkt des Denkens im allgemeinen (Philosophieren) und das Nachdenken über
Handeln und Richtighandeln (Handlungstheorie und normative Ethik) im besonderen: Ist dieser
grundsätzlich
in
der
kommunikativen
Gegenseitigkeit
von
Verstehens-
und
Argumentationssubjekten, also im Diskurs als argumentativem Dialog, zu suchen? Oder
ist es richtig, bei einer Person bzw. bei dem einsamen Denker anzusetzen? Kann einer alleine
eine zutreffende Situationserkenntnis sowie eine richtige Handlungsnormierung erbringen, ohne
daß er dabei auf Kommunikation mit anderen angewiesen wäre und ohne daß er unbedingt die
Verständigung mit Betroffenen suchen sollte? Letzteres unterstellen etwa Kant, der
Kantianismus und der Personalismus.276
In der Diskussion wurde den Beteiligten mehr oder weniger klar, daß nicht allein ihre
Verständigungsschwierigkeiten und ihre sachlichen Dissense mit dieser Frage zusammenhingen,
sondern auch das moralphilosophische Geltungsproblem. Ich meine das Problem: „Wann kann
eine Handlungsweise als moralisch richtig bzw. eine Norm als moralisch verbindlich gelten?“
Dieses moralische Geltungsproblem ist zugleich ein elementares Legitimationsproblem
moderner Gesellschaften, zumal moderner Rechtsstaaten. Es strahlt aus auf rechtlich-politische
Entscheidungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren. Denn in seinem Lichte stellt sich die
politisch ethische und rechtsethische Frage, welche Form diese Verfahren haben sollten: Sollen
sie die monologische Form einer reinen Expertise oder die tendenziell dialogische einer
öffentlich partizipatorischen Urteilsfindung haben? Sind hier die Gutachten, Analysen und
Interpretationen von Experten zureichend – oder bedarf es einer möglichst kommunikativen
Einbeziehung der Betroffenen usw.?
Zur Verdeutlichung der Kontroverse, vor allem aber, um das moralphilosophische
Geltungsproblem lösen zu können, machte ich seinerzeit – in der Philosophie herrschte noch der
methodische Solipsismus vor, und in der Politik bzw. Politikberatung die Expertenherrschaft
276
Nachdruck der Diskussion in: Apel, Böhler, Kadelbach (Hg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, Frankf.
a. M. (Fischer Tb) 1984, Bd.1, S. 247-270. Zusammenfassung und Kommentar in: Funkkolleg Studientexte Bd. 1, S.
269-277.
192
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
bzw. eine Technokratie – den Vorschlag, moralische Verbindlichkeit als eine letztlich
dialogische Gegenseitigkeit zu begreifen. Und ich pointierte diesen kommunikationsethischen
Ansatz durch die These, daß die Basis der Gegenseitigkeit eine „Verständigungsgegenseitigkeit“
sein müsse, die den Akteur kommunikativ an den Betroffenen binde: durch ernsthaftes Bemühen
um Verständnis von dessen Situation, und zwar auf dem Wege der Verständigung mit den
Betroffenen. Erst zuhören, dann – und zwar möglichst gemeinsam – die Situation deuten! In
einer solchen zuhörenden Verständigung, in einem aktiv hermeneutischen Verfahren liege die
notwendige, wenngleich nicht schon hinreichende Bedingung für die Geltungsfähigkeit und
einsehbare Verbindlichkeit einer moralischen Norm: Keine Geltungsgegenseitigkeit ohne
Verständigungsgegenseitigkeit.277
Die Konkretion des Richtungssinns der moralischen Grundnorm „Zu verallgemeinernde
Gegenseitigkeit“ oder genauer: „Zustimmungswürdigkeit für alle möglichen Diskurspartner“
verlangt demnach bereits auf der idealisierenden Legitimationsebene – Apel spricht hier von
dem Begründungsteil „A“ der Diskursethik – ein zumindest vierstufiges, nicht wie Apel
annimmt, zweistufiges, Verfahren der Normenbegründung. Und dieses Verfahren kann erst die
prinzipielle Richtungs- und Orientierungsfrage beantworten. Denn fürs Erste geht es um die
Grundsatzfrage, die sich unter Absehung von möglichen Realisierungsschwierigkeiten, von
möglichen Erkenntnis- bzw. Wissensgrenzen oder auch amoralischer und U. U. antimoralischer
Widerstände, folgendermaßen stellt: ›Was wollen und sollen wir, die wir als Diskurspartner
fragen und suchen, (angesichts der Situation X, zumal der moralischen Konfliktsituation X)
eigentlich? Und was sollen wir daher möglichst anstreben?‹
Diese Richtungsfrage auf der Begründungsebene A läßt sich angemessen, so meine These, allein
vierstufig beantworten und nicht etwa schon mit einem zweistufigen Begründungsverfahren;
sondern in dieser Aufstufung:
A 1. und A 2.
Die Grundstufen von A bestünden in der Begründung des moralischen
Prinzipiengehalts und dessen kriteriologischer Formulierung als Moralprinzip.
A 1.
Hier stünde zuerst eine diskurspragmatische bzw. –grammatische Rekonstruktion
derjenigen normativen Gehalte an, welche Sinnbedingungen des Diskurses sind,
277
Vgl. meine Erwägungen zur Überwindung des methodischen Solipsismus bzw. zu Struktur und Gehalt des
Moralprinzips: einsehbare Verpflichtung auf Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit. In: Funkkolleg
Studientexte, Bd. 1, S. 269-277, bes. 270-272; 274, 275.
op. cit., Bd. 2, S. 429f. und zumal op. cit., Bd. 3, S. 858 – 870.
193
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
so daß sie die Rolle von Diskurspartnern tragen und die Metainstitution des
argumentativen Diskurses selbst (als Geltungsinstanz) bestimmen. Die
Zusammenfassung dieser normativen Gehalte zu einem Prinzip führt zu dem
Dialogmoralprinzip ‚D’.
A 2.
Da sich eine solche Diskursgrammatik bloß in theoretischer Einstellung, geleitet
von Interpretations- und Bewertungsperspektiven, erarbeiten läßt, kann sie
fehlerhaft sein. Daher bleibt die einsichtige Verbindlichkeit ihrer normativen
Ergebnisse zweifelhaft. Um einen solchen Zweifel – vorausgesetzt er wird als
konkrete Zweifelsthese gegenüber einer bestimmten normativen Sinnbedingung
vorgebracht, so daß eine rationale Prüfung möglich ist – ausräumen und dadurch
die Verbindlichkeit erweisen zu können, bietet sich das sokratisch sinnkritische
Verfahren einer aktuellen Dialogreflexion an: Im Dialog mit dem Skeptiker
prüfen die Beteiligten, ob sich die Bezweiflung der allgemeinen Verbindlichkeit
der rekonstruierten Dialognorm X mit der Diskurspartnerrolle des Skeptikers und
der Diskutierbarkeit seiner These im Rahmen eines argumentativen Diskurses
vereinbaren läßt oder nicht. Wenn nicht, dann ist der Zweifel ein sinnloser
Diskursbeitrag; d.h. aber, daß sich die Verbindlichkeit von X nicht sinnvoll
bezweifeln läßt, daß also X verbindlich ist. Darauf kommen wir zurück.
Einstweilen geben wir Rechenschaft über das Erreichte, indem wir unser Schema
zur normativen Rekonstruktion in Erinnerung rufen und es hinsichtlich der
Verbindlichkeitsprüfung durch ein neues Schema ergänzen, und zwar
gemäß der Berliner Diskurspragmatik, da Kant und Habermas hierzu keinen
Verbindlichkeitserweis erbringen.
194
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien: I Normative Rekonstruktion
nach Kant
nach Habermas
nach der
Diskurspragmatik
Frage:
Worauf soll die Rekonstruktion antworten?
Was kann ohne Einschränkung
für gut gehalten werden?
Was nehmen wir in
Anspruch, wenn wir
praktische Diskurse führen?
Gibt es etwas, das uns alle,
insofern wir überhaupt etwas
geltend machen wollen, im
vorhinein verpflichtet?
Gegenstand:
Was wird rekonstruiert?
ethisches Urteil und seine
Voraussetzungen
moralisch-praktischer
Diskurs und seine
Voraussetzungen
Diskurs (Denken, etwas geltend
machen) und seine
Sinnvoraussetzungen überhaupt
Adressatenkreis:
An wen richten sich die
Resultate der Rekonstruktion?
Status der Resultate:
„Methode“ der
Vergewisserung absoluter
Verbindlichkeit der
Resultate:
alle Menschen, die
moralisch sein wollen und die eine faktische Urteilspraxis
gemein haben
alle möglichen Diskurspartner
(Dp)
- können fehlerhaft sein,
- können fehlerhaft sein,
- keine allgemeine Sollgeltung, weil naturalistischer
Fehlschluß
- transzendieren die bloße
Faktizität einer
Urteilspraxis als regulative
Ideen
–
aktuelle Dialogreflexion,
demonstriert, warum wir
moralisch sein wollen und sollen
195
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien:
II Verbindlichkeitsprüfung bzw. –erweis
Frage:
Ist absolute
Verbindlichkeit der
Resultate möglich?
Status der Resultate
nach Kant
nach Habermas
nach der Diskurspragmatik
–
–
aktuelle Dialogreflexion,
fragt, warum wir (als Dp) moralisch
sein wollen und sollen
–
–
– ihr normativer Gehalt ist
argumentativ unhintergehbar:
absolut verbindlich als Prinzip
– i. S. einer regulativen Idee
– Kohärenzkritik und Erweiterung
möglich
Methode
–
–
Reflexion in dem je geführten
Dialog auf interne
Diskursbedingungen
Gegenstand
–
–
Verpflichtungen, die wir als Dp
nicht sinnvoll in Zweifel ziehen
können
196
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
197
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Damit wäre die Begründung des Moralprinzips vollzogen. Was bliebe, wäre die situative
Konkretion: Was sollen wir, die wir das Moralprinzip wollen, in der Situation ‚S’ anstreben?
Welche Bemühungsrichtung sollen wir hier einschlagen?
A 3.
Die Situationsorientierung setzt ein mit einer Verständigung über die
Situationsbedingungen, welche die möglichen Betroffenen anhört und so einbezieht, daß
ihnen eine gewisse, wenngleich unter Diskursvorbehalt zu stellende – die
Betroffenenaussagen müssen sinnvoll und zutreffend (wahr) sein – Priorität eingeräumt
wird. Im Blick auf die, eine Verständigungsgegenseitigkeit gewährleistende,
Situationsinterpretation ist dann der idealisierende „praktische Diskurs“ (Habermas) zu
führen.
A 4.
Im praktischen Diskurs geht es um die verallgemeinerbare bzw. logisch universale
Geltungsgegenseitigkeit einer bestimmten Handlungsweise oder Norm als Antwort auf
die idealisierend gestellte, weil durchgängig konsensual-kommunikative
Verhaltensweisen voraussetzende, Frage: „Was sollen wir eigentlich, bei angenommenen
Verhaltensweisen guten Willens (s.o.) aller Beteiligten, tun, wenn in der Situation
folgende Interessen/Werte und Realisierungsbedingungen (z.B. Knappheit von
gewünschtem X) zu berücksichtigen sind?“ Diese Gerechtigkeitsfrage kann aber, weil sie
von idealen Verhältnissen zwischen Menschen, die sich an die Diskurspartnerrolle halten,
ausgeht, lediglich die moralische Richtung des Handelns erschließen, um deren
Einhaltung wir uns auch unter non-idealen Verhältnissen – etwa im Sinne egoistischer
und systemfunktionalistischer Selbstbehauptung – bemühen sollen. Offen läßt sie die
andersartige, nämlich moralstrategische oder verantwortungsethische, Frage, wie diese
Bemühung unter non-dialogischen Bedingungen werden kann und darf.278
Diese vier Schritte sind unabdingbar, um die moralische Primärfrage zu beantworten, wann wir
für eine Handlungsweise bzw. eine Situationsnorm hinsichtlich ihrer Absicht, ihrer Intention und
damit hinsichtlich des Willens der Akteure die beanspruchte und zu fordernde
Geltungsgegenseitigkeit erreicht haben. Vor dem Hintergrund Kants gesagt: Erst wenn diese vier
Schritte zurückgelegt bzw. diese Verfahrensstufen überschritten sind, erst dann dürfen wir,
strenggenommen, behaupten, daß in einer bestimmten Maxime moralisch guter, weil universal
zustimmungswürdiger, Wille verkörpert ist.
198
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Das, was wir bis hierher diskursethisch geleistet hätten, wäre also nicht mehr und nicht weniger
als eine Diskurs-Gesinnungsethik. Wir hätten uns einer idealisierenden, insofern durchaus
kontrafaktischen Geltungsgegenseitigkeit A für eine Situation vergewissert. Doch wovon wir
dabei abgesehen haben, das sind die Folgen-Verantwortungsprobleme unter den nicht idealen,
sondern mehr oder weniger nonmoralischen Handlungsbedingungen in realen Gesellschaften
und unter den mehr oder weniger eingeschränkten Erkenntnisbedingungen; d.h. in realen,
endlichen, mehr oder weniger argumentativ geführten Diskursen sowie im Blick auf die
unprognostizierbare ökologisch soziale Welt. Abstrahiert haben wir damit von den
Herausforderungen, die Max Weber, Karl-Otto Apel und Hans Jonas als Desiderata benannt
haben.
5. Hier tut sich eine neue Urteilsebene auf, die Herausforderung einer moralstrategischen bzw.
verantwortungsethischen Urteilsbildung. Dafür hat Apel die Idee einer realistisch
geschichtsbezogenen Begründungsebene „B“ der Diskursethik ins Spiel gebracht. Wie
verdinglichend Apels Redeweise von „Teilen“ der Ethik auch ist; es kommt darauf an, die
spezifische Fragestellung zu erkennen, der sich die moralisch Urteilenden und Suchenden hier
aussetzen müssen. Denn, provisorisch und roh ausgedrückt, steht in moralischen
Konfliktsituationen nicht bloß die Validierung und Gewichtung von Maximen auf dem Spiel,
sondern die Frage: „Welche Strategien sowohl zur situativen Kompensation als auch zur
langfristigen Veränderung moralrestriktiver Handlungsbedingungen oder kognitiv restriktiver
Diskursprobleme sind noch mit dem Dialogmoralprinzip verträglich, so daß sie die Zustimmung
aller als Diskurspartner verdienen?“
Wer so fragt, der sucht nach der verantwortungsethischen Geltungsgegenseitigkeit B. Er denkt
realitätsbezogen verantwortungsethisch. Erst mit dieser Fragestellung kann eine
situationsbezogene Handlungs-, Maximen- und Normenbegründung ihren Abschluß finden.
Eine Zwischenbilanz zieht das folgende Schema. Es setzt die allgemeine Prinzipienebene (Stufe
1 und 2) voraus und führt die Aufgaben der situationsbezogenen Handlungsorientierung und
Normenbegründung vor Augen:
278
Zur quasidialogischen Bestimmung von Handlungsweisen als Antworten auf Situationen: D. Böhler,
Rekonstruktive Pragmatik, Ffm 1985, bes. S. 247ff., 285ff. und 149ff.
199
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Wann kann eine Handlungsweise als moralisch richtig und eine situationsbezogene Norm als
moralisch verbindlich gelten?
Situationsermittlung (Sit. E)
Notwendige Bedingungen:
Verständigungsgegenseitigkeit
Struktur und
Medium
Kommunikative
Erfahrung
Sinnkriterium
Geltungskriterium
Dialogpragmatische bzw.
performative
Widerspruchsfreiheit
(der Beiträge zur
Zustimmungswürdigkeit der SitInterpretation mit
gewisser Priorität
der Betroffenen
Sit. E)
Andere anhören,
ihre Ansprüche
und Situationen
intern verstehen
„Das Votum X ist
ein sinnvoller,
prüfbarer
Diskursbeitrag.“
„Für die Sit-Int. X
sprechen – auch
aus Betroffenensicht –
die meisten
Indikatoren“
Handlungsnormierung
Hinreichende Bedingungen: Geltungsgegenseitigkeit A und B
A: für Diskursteilnehmer als Partner im Diskurs
B: für D.partner als Beurteiler
einer Strategie (Str) in Lebensund Systemwelt.
Struktur und Medium
Verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit durch
Komm. Erfahrung i. S.
idealer Situationsübernahme
Prinzipienbezogenes (Pb)
Geltungskriterium
Zustimmungswürdigkeit (Zw.)
bei
idealer Diskurspartnerschaft
mit Bezug auf unbegrenzte
Argumentationsgemeinschaft
Dialogmoralprinzip („D“):
„Bemüht euch um die Argumente und die
Handlungsweise/Norm, die bei vorausgesetztem guten Willen
der Beteiligten aufgrund der Prüfung aller Argumente zur
Situation die Zustimmung aller als D.partner verdienen.“
Pb. und moralitäts-folgenbezogene
Geltungskriterien
1) zwe. Sit.- und Folgeneinschätzung
2) zwe. Erfolgsfähigkeit der
Kandidaten für eine Sit-Str
3) zwe. Moralverträglichkeit der
vorgeschlagenen Sit-Str:
3.1) als konterstrategische
Abhilfe/Notmaßnahme unter
Vorbehalten oder aus Sicht des
regulativen Ideengehalts von „D“
3.2) als möglichst revisions-fähiges
Moment einer moral.Langzeitstr. (zur
Verbesserung der Handlungsbedingungen u. Überwindung der
moral. Vorbehalte)
Dialogmor. Verantwortungsprinzip
(„V“): „Bemüht euch um die SitStr
und Langzeitstr., die aufgrund der
Prüfung aller Argumente zur Situation
die Zustimmung aller als D.partner
verdienen.“
200
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
6
Was heißt moralische Mitverantwortung für die Zukunft in der
hochtechnologischen Zivilisation?
Als im Jahre 1972 Europa und darüber hinaus die Industriegesellschaften der nördlichen
Halbkugel vom Club of Rome die erste drastische Warnung vor den ökologischen
Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen
Wachstums
und
den
kumulativen
Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils staatssozialistischen) technologischen
Zivilisation erhielten, waren die Philosophen, die die Ethik hatten verkümmern lassen, auf die
neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social
Research in New York jedoch und an der Universität des Saarlandes waren zwei, durchaus
komplementäre,
Denker
bereits
dabei,
eine
Prinzipienethik
der
solidarischen
Menschheitsverantwortung zu entwerfen: Karl-Otto Apel und Hans Jonas, ein rationaler
Postkantianer und ein metaphysischer Postaristoteliker, beide auch Postheideggerianer.
Vielleicht darf ich hier eine persönliche Bemerkung einflechten. Da mich in meiner Schulzeit
seit Mitte der fünfziger Jahre die Gefahren der Atomversuche und die des atomaren Wettrüstens
zwischen Ost und West umgetrieben hatten, suchte ich im Studium nach einer Ethik der
Menschheitsverantwortung. Diese Suche führte mich von Albert Schweitzer und der „Ethik“
Dietrich Bonhoeffers samt seinen Briefen aus der Haft, über Paul Tillichs „Frühe Schriften zum
Religiösen Sozialismus“ schließlich zur Hoffnungsmetaphysik Ernst Blochs und zum
revisionistischen Marxismus um Sartre, Benjamin und die alte Frankfurter Schule. Doch konnte
ich auf keiner dieser Stationen meinen Durst nach Prinzipieneinsicht und nach einer
orientierungskräftigen „Theorie-Praxis-Vermittlung“, wie ich damals noch linkshegelianisch und
ohne
diskurspragmatische
Sinnkritik
sagte, wirklich
stillen.
Auch
die
bedeutenden
Marxismusrevisionen und Rekonstruktionen des Historischen Materialismus, die zwischen
Existentialismus
und
„Frankfurt“
erblühten
und
durch
Jürgen
Habermas
ein
kommunikationstheoretisches sowie hermeneutisches Profil erhielten, erschienen mir je länger
desto mehr faszinierende Halbheiten zu sein, Aporien und Reflexionszerstörungen des
Marxismus überdeckend. Die Kritik am marxistischen Dogmatismus und das zunehmende
Gespür für den latent antiemanzipatorischen, ja latent totalitären Charakter des „Historischen“
sowie des „Dialektischen Materialismus“ brachte mich einerseits in die Nähe Kants, andererseits
in die der Hermeneutik Gadamers.
So war es eine befreiende und konsequente Horizonterweiterung, als ich in den späten sechziger
Jahren dem hermeneutisch-pragmatischen Postkantianer Karl-Otto Apel begegnete. Nach
201
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Fertigstellung meiner radikal marxkritischen Dissertation279 hatte ich das Glück, an seinem
Saarbrücker Lehrstuhl als Assistent zu arbeiten. Später, als er schon in Frankfurt und ich in
Berlin lehrte, konnte ich ihn dann zur Mitarbeit in der Teamleitung des „Funkkollegs Praktische
Philosophie/ Ethik“280, 1980/81, gewinnen. In Kooperation und Auseinandersetzung mit
zahlreichen Fachkollegen wie Hans Albert, Hermann Lübbe und etwa Robert Spaemann, dessen
Ethik der von Schweitzer und Jonas benachbart war, sowie mit Rechts-, Sozial- und
Geisteswissenschaftlern wie Erhard Denninger, Iring Fetscher und Hans Paul Schmidt,
entwarfen wir eine kommunikative Prinzipienethik: eine zugleich erkenntnistheoretische und
moralphilosophische Antwort nicht allein auf die materiale Herausforderung der ‚ökologischen
Krise’,
sondern
auch
auf
die
geistige
Herausforderung
des
herrschenden
Rationalitätsverständnisses. Ich meine die Vorherrschaft eines zweckrationalen bzw.
formaltheoretischen Rationalitätsbegriffs und die damit vermachte Prinzipienunfähigkeit der
westlichen Moderne. Vor diesem Hintergrund differenzierten wir, zusammen mit Wolfgang
Kuhlmann, die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik, zu der Apel schon
1967 den entscheidenden Schritt getan hatte.
In seinem Göteborger Vortrag „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die
Grundlagen der Ethik“281 hatte Apel eine „Paradoxie der Problemsituation“ konstatiert, die in der
„modernen, erdumspannenden Industriegesellschaft“ den Geist der Zeit durchherrsche. Denn
einerseits bedürfe es angesichts der ökologischen Gefahren und der Möglichkeit eines atomaren
Krieges offenbar „einer universalen, das heißt für die menschliche Gesellschaft insgesamt
verbindlichen Ethik“. Andererseits sei jedoch die „philosophische Aufgabe einer rationalen
Begründung allgemeiner Ethik noch nie so schwierig, ja aussichtslos gewesen [...] wie im
Zeitalter der Wissenschaft“, weil die Idee intersubjektiver Geltung durch das szientistische
Konzept einer „normativ neutralen oder wertfreien ‚Objektivität‘“ blockiert werde.282
Der andere Prinzipiendenker, der andere weiße Rabe unter den Philosophen, Hans Jonas –
persönlich lernte ich ihn erst 1990 auf der von Apel initiierten und von Audun Ofsti
organisierten, norwegischen Konferenz „Ecology and Ethics“ kennen – hatte 1966 eine
Naturphilosophie veröffentlicht, die ihn zum Postulat einer Ethik der Natur und deren
ontologisch-metaphysischer Begründung führte, ohne daß er dabei schon ein Problembewußtsein
279
D. Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und
‚Theorie-Praxis-Vermittlung’, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1. Aufl. 1971, 2. korr. Aufl. 1972.
280
K.-O. Apel, D. Böhler, K. Rebel (Hg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/ Ethik: Studientexte, 3 Bde.
Neuauflage: Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1984.
281
Ausgearbeitet und publiziert in: Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1973, S. 358-435.
202
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
der möglichen ökologischen Zerstörung oder Gefährdung der Menschenwürde durch
Biotechnologie entwickelt hätte. Doch dieses Bewußtsein erwuchs ihm, als ihn 1967 die
American Academy of Arts and Sciences in Boston um „philosophische Reflexionen über
Experimente mit menschlichen Subjekten“ bat und er eine Kritik der Harvard-Definition des
Todes als Gehirntod vorbrachte. Hier vertrat er die Maxime, daß es „kein absoluteres Recht gebe
als das eines Menschen auf seinen Körper und daß niemand das Recht auf ein Organ eines
anderen Menschen besitze“.283
Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“ der
technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der
Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch
Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“284 unermeßlich sind, führte Jonas zu der
Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen Umwelt
... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles möglich
scheint“285. Daran schloß sich ihm die Einsicht an, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht
auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für
die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Das war der Keim seines
bescheiden betitelten aber groß angelegten „Versuchs einer Ethik für die technologische
Zivilisation“, des 1978 erschienenen Werkes „Das Prinzip Verantwortung“.286
Hans
Jonas‘
ontologisch-wertphänomenologische
Ethik
und
Karl-Otto
Apels
kommunikationsbezogene „Transformation der Philosophie“, sind nicht allein von einer
situationserhellenden Geistesgegenwart, sondern provozieren den relativistischen Zeitgeist und
die prinzipienresignative Philosophie auch zu erneuter Begründungsanstrengung.
Wozu? Meine diskurspragmatische Antwort lautet: Wir können und sollten demonstrieren, daß
Vernunft – nunmehr begriffen als die kommunikative Tätigkeit des Erhebens und Prüfens von
Geltungsansprüchen – an sich selber praktisch ist: fähig zu moralischer Orientierung und
Verbindlichkeit. In diesem Sinne gilt ein Gutteil der Arbeit an meinem Lehrstuhl und am
Berliner Hans Jonas-Zentrum der Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen,
metaphysischen
Denken
von
Jonas
einerseits
und
der
kommunikationsbezogenen
282
Ebd., S. 359.
Hans Jonas, Erinnerungen, hrsg. v. Ch. Wiese, Frankfurt a.M.: Insel, 2003, S. 317. Der Vortrag erschien als
„Philosophical Reflections on Experiments with Human Subjects“ in: Daedalus 98 (1969), S. 219-247.
284
So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler/ Brune 2004 (s. oben Fußnote 1), S. 451:
„Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen
Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S. 450)
285
Ebd., S. 452 f.
286
Erschienen in Frankfurt am Main, Insel Verlag.
283
203
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Transzendentalphilosophie Apels andererseits. Der Berliner Ansatz einer sokratischen
Diskurspragmatik und dialogbezogenen Verantwortungsethik nimmt Grundgedanken der beiden
komplementären Ansätze auf, um sie (nach kritischer Prüfung) zu präzisieren und
weiterzuentwickeln.
Im Folgenden wenden wir uns zunächst den Antworten zu, die Jonas und Apel auf die
hochtechnologische Gefahrenlage gegeben haben (6.1), skizzieren ihre Begründungsansätze
(6.2) und gehen dann zu der dramatischen Verantwortungsfrage über, vor die sich Politik und
Ethik heute – aber wohl auch in alle Zukunft – gestellt sehen, die Frage der „Risiko“Verantwortung (6.3).
Wer die Situationsanalyse von Jonas’ Verantwortungsbuch durchdenkt, kommt, wie mir scheint,
unabweislich zu der Einsicht, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit,
Wissenschaft und Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagiert haben,
beschönigend und verfälschend sind. Man denke nur an den Begriff „ökologische Krise“. In
Wahrheit leben wir aber nicht in einer bloßen „ökologischen Krise“; denn der dramatische
Zustand einer Krise hat ein Ende und ist dann vorüber. Wir befinden uns vielmehr in einer
hochtechnologischen Zivilisation, die ein neues Entwicklungsniveau der Menschheit darstellt,
hinter das sie vermutlich nicht mehr zurück kann. Dieses neue Zeitalter ist permanent gefährlich:
Von nun an können die wissenschaftlichen Innovationen mehr zerstören, als sich im Einzelnen
prognostizieren und sowohl gegenüber künftigen Generationen als auch gegenüber der Idee der
Menschheit und dem Prinzip der Menschenwürde verantworten läßt.
Kurzum: Wir befinden uns in einer Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft.
Das Ausmaß ihrer Gefahrendramatik wird ‚Normalität’. Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß
sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Fortdauer „echten
menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. So wies Jonas auf die kumulativen Effekte
hin, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und
Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend verschlechtern oder gar
zerstören. Die Diskussionen des Hans Jonas-Zentrums gehen deshalb davon aus, daß wir weder
in einer bloßen „ökologischen Krise“ noch in einer „Risikogesellschaft“ leben, sondern in der
kapitalistisch-dynamischen
technologischen
Gefahrenzivilisation,
deren
weitreichende
Zerstörungen und Zerstörungspotentiale neue, stets zu erneuernde Verantwortungs-Engagements
und Verantwortungs-Institutionen erfordern.
204
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
6.1
Jonas versus Diskursethik – zwei Antworten auf die wissenschaftlichtechnologischen Herausforderungen der praktischen Vernunft
Begleitet von moralischer Furcht um den Menschen, machte sich Hans Jonas auf, die neuartige
kollektive Verantwortung für die Möglichkeit oder aber die Vernichtung einer Zukunft zu
denken: einer Zukunft, welche nicht allein schieren Gattungserhalt gewährleiste, sondern
genügend Raum lasse für die Verantwortungsfähigkeit der Menschen und die daran haftende
menschliche Würde. In der Verantwortungsfähigkeit für die unmittelbaren Folgen und die
Zukunftsfolgen sieht Jonas offenbar – so liest es sich mehr zwischen den Zeilen und aus dem
Kontext als in der Explikation – das moralische Kriterium für die Würde des Menschen, den
Anspruch auf seine Ebenbildlichkeit Gottes. Diesen zugleich moralischen und theologischen
Bezug setzt der Verantwortungsdenker, charakteristisch für seine metaphysische Ethik und
Seinslehre verknüpfende Denkweise, an den Schluß seines Werkes „Das Prinzips
Verantwortung“. Er pointiert dabei, daß seine Ethik eine „nichtutopische Ethik der
Verantwortung“ sei: die Grundlegung der Alternative sowohl zu der faktisch utopischen
Dynamik, die unsere hochtechnologische Zivilisation antreibe, als auch zu dem marxistischen
Utopismus, der in seinem engen Bund mit der Technik eine ›eschatologisch‹ radikalisierte
Version dessen darstelle, wohin ganz uneschatologisch der weltweite technologische Impuls im
Zeicehn des Fortschritts ohnehin unterwegs ist.“ 287
Jonas‘ leitendes und ihr innerstes Motiv ist „die Hütung des ›Ebenbildes‹“: „das Gedeihen des
Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit.“288
Diese Moralperspektive entnimmt er der biblischen Schöpfungstheologie. Diese Beerbung
motiviert auch seine evolutionäre Metaphysik des Geistes und der Freiheit.289 Verschiedentlich
treffen wir in seinem Werk auf Spuren einer spekulativen Theologie.290 Gleichwohl habe ich
seinen moralphilosophischen Ansatz – und ich hoffe zu Recht – stets im Sinne einer autonomen
säkularen Ethik der Mitverantwortung für das Schicksal der Menschengattung und für die
Möglichkeit der Verantwortung interpretiert291. Ich verstehe sie als Prinzipienethik, deren
normativer Gehalt Kriterien und Orientierung für das Moralische insgesamt teils enthält, teils
unterstellt. Nur dann nämlich, wenn Jonas’ Idee eines Prinzips der Zukunfts-Verantwortung sich
287
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 390.
A.a.O., S. 392, 393.
289
Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische
Vermutungen, Frankf. a. M.: Insel, 1992, S. 209-255.
290
Ebenda und z.B.: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, in: a.a.O., S. 190 ff.
288
205
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
hinsichtlich allgemeiner moralischer Kriterien erläutern und als integrales Moment eines logisch
universalen, rational einsehbaren Prinzips der Moral begründen läßt, nur dann ließe sich mit ihrer
Hilfe auch die moralische Diskussion in der technologischen Zivilisation zulänglich orientieren.
Ist eine solche, zugestandenermaßen kritische, Beerbung angemessen? Und welche
Argumentationen müßte sie entwickeln, wenn sie Jonas’ moralisches Ansinnen unwiderleglich
gültig und dessen normativen Gehalt als intersubjektiv verbindlich, erweisen will? Darum geht
es in der Berliner Auseinandersetzung mit Hans Jonas zuallererst.
Allerdings hat Jonas sein Werk „Das Prinzip Verantwortung“ manchmal in Richtung einer
bloßen Ergänzungsethik oder Notstandsethik umschrieben292. Häufig wird er sogar
ausschließlich in diesem Sinne interpretiert, wiewohl eine solche Auslegung weder Jonas’
Verbindung von Ethik und Ontologie293 gerecht werden dürfte, noch gar seiner Berufung auf den
Menschenwürdegrundsatz in „Technik, Medizin und Ethik“. Jedenfalls teilen er und die
diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik die Auffassung, daß der Ethik infolge der
(hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrschen,
nunmehr eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle Menschen seien selbst – irgendwie –
mitverantwortlich dafür, daß und wie in Zukunft eine Menschheit möglich ist. Und die
Philosophie stehe nunmehr vor der Aufgabe, diese – verglichen mit aller traditionellen Ethik –
ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden
Ungefähren, jenem „Irgendwie“, zu befreien.
Das heißt aber: Die Philosophie ist einmal zu der Begründungsaufgabe herausgefordert, die
Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen, und zwar kollektiven Verantwortung zu erweisen.
Zum anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben, nämlich sowohl die situative
Konkretion des Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen neu zu denken
als auch Strategien für deren Realisierung und Durchsetzung in der Gesellschaft zu entwickeln
und auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen.
Für Kant stand die Konkretion des Moralprinzips, also dessen, was idealiter als moralisch bzw.
gerecht zu gelten hat, im Mittelpunkt; so aber, daß er sie vorkommunikativ und
bewußtseinsidealistisch
als
Test
von
Willens-Maximen
leisten
wollte:
als
gedankenexperimentelle Anwendung des Kategorischen Imperativs durch das einsame Subjekt.
291
In diesem Sinne: D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung: Hans Jonas und die
Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist“, in: EWD-3, S. 34ff, bes. S. 45ff.
292
Vgl. H. Jonas: Prinzip Verantwortung, S. 26f.
293
Dazu V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: Böhler (Hg.), E.Z., S. 105ff.
206
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Ohne an dem darin enthaltenen methodischen Solipsismus Anstoß zu nehmen, hat Max Weber
den Ansatz einer bloß innermoralischen und insofern idealistischen Orientierung des „reinen
Willens“ als unzureichend kritisiert: als Perspektive einer „Gesinnungsethik“, die sich blind
mache für die möglichen unverantwortlichen Folgen eines unmittelbar moralgetreuen Verhaltens
inmitten einer „ethischen Irrationalität der Welt.“294 In der Tat sehen sich der realistische Ethiker
und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, da die reale Welt Dilemmata
der „schmutzigen Hände“ (Sartre) und der möglichen „Schuldübernahme“ (Weber und
Bonhoeffer) bereithält. In diesem Sinne hat Karl-Otto Apel den Anstoß Max Webers als
eigenständiges, geschichtsbezogenes Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Umkreis
des Berliner Jonas-Zentrums wird es sowohl kontrovers diskutiert295 als auch wirtschaftsethisch
präzisiert.296
Meines Erachtens sind mindestens zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen
Realisierungsfragen vom Typ
B
zu
unterscheiden: einerseits die moralstrategische
Durchsetzungsfrage, welche Barrieren und Widerstände gegen eine moralische (das
Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm mit welcher Strategie überwunden werden
müssen bzw. sollen, und andererseits die moralkonservative Bewahrungsfrage, welche ethischen
Traditionen,
Institutionen
und
lebensweltlichen
Intuitionen
dem
Dialog-Moralprinzip
entsprechen, so daß sie nach Möglichkeit bewahrt bzw. entwickelt werden sollten.
Es ist nützlich von dieser verantwortungsethischen Perspektive einen Blick auf die Diskursethik
zu werfen. Auch sie geht von der gleichsam intrinsisch moralischen Konkretionsaufgabe aus.
Auch sie will, insofern wie Kant, vom abstrakt Prinzipiellen zu Leitlinien möglichen Handelns
kommen,
die
eine
moralisch
verbindliche
Orientierung
für
konfliktträchtige
Handlungssituationen geben. Heute bedarf es hierzu zuallererst eines begrifflichen und
methodischen Rahmens für die moralische Konkretion der neuen Zukunfts-Verantwortlichkeit.
Apel spricht von der Anwendung des Moralprinzips vermittels idealisierender Diskurse. Das
294
Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Ges. Polit. Schr., bes. S. 549ff.
Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff und K.-O. Apel, „Diskursethik
als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung.
Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, bes. S. 74ff. Andererseits M.
Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, bes. S. 199ff, 237ff.
296
So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in:
Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des
interkulturellen Managements, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998, S. 322-347.
Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-4, Münster: LIT, 2002, (zit. EWD-4),
S. 58ff und Teil III. Weiterführend: Falk Schmidt, „Eine EWD-Perspektive der Wirtschaftsethik angesichts der
Schulpositionen von Karl Homann und Peter Ulrich“, in: Bausch, Böhler, Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik.
Strategien contra Moral. EWD Bd. 12, Münster (LIT) 2004, S. 85-101.
295
207
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
wäre – nach einem geleisteten Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips als dem
Begründungsschritt A 1 – der Konkretionsschritt A 2 der Diskursethik. Und wenn Habermas von
‚praktischen Diskursen‘ spricht, denkt er, bei realistischem Lichte besehen, an nichts anderes;
denn er hat dabei stets die kontrafaktische Unterstellung gemacht, alle würden sich als
Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet und
mit dem guten Willen, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher
konnte
er
durchgängig
auf
„allgemeine
(sic!)
Normenbefolgung“297
und
reine
Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte von ‚D‘ für die
reale Handlungsorientierung differenziert hätte. Das aber hatte Apel mit seinem, allerdings
unglücklich so genannten „Ergänzungsprinzip“ im Sinn. Denn als universalistisches
Moralprinzip verlangt das Prinzip ‚D‘, welches zur Bemühung um zustimmungswürdige
Argumente und Vorschläge verpflichtet, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und
jene Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen
entgegenstehen.298
In der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß moralische und bereits rechtliche
Normen gerade nicht allgemein befolgt, sondern auch egoistisch bzw. partikular interessiert
unterlaufen oder aber aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z. B. angesichts einer
Notlage) dispensiert oder uminterpretiert werden. In der gesellschaftlichen Systemwelt kommt
hinzu, daß sie umgebogen oder neutralisiert bzw. konterkariert werden können durch die
Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ‚Sachzwang-Macht‘ gesellschaftlicher
Subsysteme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Jedenfalls kanalisieren und modifizieren zahlreiche
Institutionen die normativen Gehalte durch ihre Routinen und Mechanismen. Auf der anderen
Seite hat die geistige und institutionelle Entwicklung der neuzeitlichen, zumal der modernen
Gesellschaften rechtsstaatliche Institutionen der Beratung und des öffentlichen Rechts
hervorgebracht, die m.E. geradezu als Realisierungsbedingungen kollektiver Verantwortung
gelten dürfen. Jedenfalls müßten verantwortungsethische Strategien auch gesellschaftspolitisch
verantwortbar sein, so nämlich, daß sie an solche Institutionen schonsam anknüpfen, statt sie
etwa revolutionär zu gefährden. Daraus ergeben sich verschiedene moralpraktische Aufgaben,
die bei Jonas zwar z.T. anklingen, aber weder als eigenständige Aufgaben differenziert noch
begründungslogisch geklärt und aus dem Moralprinzip abgeleitet werden.
297
Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 53-126, bes.
S. 103.
208
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Gemäß der eben getroffenen Unterscheidungen wäre zunächst, im Blick auf Lebenswelt und
Gesellschaft, zu fragen: Welche faktischen ethischen Orientierungen – man denke an religiös
ethische Intuitionen und Traditionen aber auch an Konventionen, rechtsstaatliche Institutionen –
werden dem Moralprinzip gerecht, so daß sie bewahrt und entfaltet werden sollten? Das wäre der
moralkonservative Schritt B 1 des Verantwortungsdiskurses.
Angesichts der „ethischen Irrationalität“ und auch der Nonmoral, die in Gesellschaften bestehen
kann, stellt sich freilich die kritische Aufgabe, moralischen Perspektiven gegen allerlei
Widerstände zum Erfolg zu verhelfen. Zunächst ginge es darum, in situationsklärenden
Diskursen und in zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition spricht hier, seit
Aristoteles, fälschlicherweise bloß von „Klugheit“ – moralische Durchsetzungsstrategien zu
suchen, die dreierlei leisten müssen: Sie sollen zunächst genau und daher hermeneutisch
kommunikativ die besondere Situation berücksichtigen (Situationsdifferenz!),299 außerdem
sollen sie erfolgsfähig sein. Das wäre die Fragestellung einer moralstrategischen Diskursstufe B
2. Hinzu kommen sogleich die strategiekritischen Aufgaben, in moralischen Diskursen zu
prüfen, ob die entwickelten Strategien wirklich mit dem Moralprinzip vereinbar, also moralisch
verantwortbar sind: dienen sie in der Tat dem Erfolg des Moralischen? Und konkret: Lassen sie
sich
einbetten
in
eine
langfristige
moralische
Strategie
zur
Verbesserung
der
Handlungsbedingungen? Das wären die beiden prinzipienbezogenen und darum eigentlich
verantwortungsethischen Fragestellungen, die ich als die Diskursstufen B 3 und B4 einzuführen
vorschlage.
Die
verantwortungsethischen
Diskursstufen
klären
die
Fragen,
dessen
sich
eine
zukunftsverantwortliche Prüfung und Entscheidung stellen muß:
B1
Welche Institutionen, Traditionen, Motivationen sind zu hüten?
B2
Welche Strategien können gegebene Widerstände gegen Zukunftsverantwortlichkeit
überwinden?
B3
Welche dieser Strategien sind zumutbar, verantwortbar und moralverträglich?
B4
Kann
die
vorgeschlagene
Strategie
Teil
einer
langfristigen
moralischen
Verbesserungsstrategie sein?
298
Dazu die Klärung von: H. Gronke, „Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik“, in: A.
Dorschel, M. Kettner u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 273ff, bes. S.
232ff.
209
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Auch für die verantwortungsethischen Fragen spielt, wie wir sahen, das Moralprinzip die
letztlich entscheidende, kriteriale Rolle. Nichts geht ohne ein Moralprinzip mit Kriterien zur
rationalen
Abwägung
jener
Folgelasten,
welche
eine
Strategie
für
die
durchaus
verschiedenartigen „Betroffenheitslagen“ und die recht „komplexen Entwicklungspfade“ der
Gesellschaften (M. Werner)300 und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter
einer Gesellschaft nach sich ziehen kann. Daher wäre die Fassung des Moralprinzips als eine
Norm, welche bloß geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden, ganz unzureichend.
Es bedarf, wie Apel und Werner betont haben, mehr als eines puren Bewahrungsprinzips und
mehr als einer bloßen Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu nicht gewisse Ansätze? Leistet er
nicht für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des Moralprinzips einen wichtigen Beitrag
durch
seinen
phänomenologischen
Umgang
mit
ethischen
Intuitionen?
Hätte
die
Transzendentalpragmatik davon nicht zu lernen?
Jonas antwortet zunächst auf die äußeren Herausforderungen der praktischen Vernunft, die mit
den von der technologisch-kapitalistischen Zivilisation verursachten Gefährdungen der
Menschheit und der Natur gegeben sind. Die transzendentalpragmatischen Diskursethiker geben
eine verwandte Gefahrenanalyse, wenngleich sie das demokratische Erfordernis einer –
möglichst auf öffentlicher Verständigung mit den Beteiligten und Betroffenen beruhenden –
differenzierten
Situationsanalyse
Herausforderungen
eine
betonen.
zeitgeist-
und
Außerdem
sehen
sie
zivilisationstypische
mit
den
innere,
äußeren
nämlich
rationalitätstheoretische und fundamentalphilosophische Herausforderung, verbunden: eine
„Selbstparalyse der Vernunft“ (Apel) bzw. der universalistischen Verantwortung. Paralysiert
wodurch? Durch die moderne Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch analytischer und
zweckrational kalkulierender Rationalität. Daraus ergeben sich unterschiedliche Ansätze, deren
wichtigste Pointen ich hier zunächst vorstelle.
Jonas’ Analyse der äußeren Herausforderung der praktischen Vernunft führt ihn zunächst zu
einer Erweiterung ihres traditionellen Horizonts, die sich gut mit den von Karl-Otto Apel seit
1967 bzw. 1973 verwendeten Termini für die drei Auswirkungsdimensionen menschlichen
299
Dazu meine Hermeneutik der Differenzen in: Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, (zit.:
Rekonstruktive Pragmatik), bes. S. 143-163; 247-268, 309-347.
300
Werner, Micha H. (2003b): Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie? In: W. E.
Müller (Hrsg.): Hans Jonas: Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik. Stuttgart (W. Kohlhammer) 2003,
S. 227-243, hier S. 233f. Ders., Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung. In: M. Düwell, K. Steigleder (Hrsg.): Bioethik –
eine Einführung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003, S. 41-56, hier S. 43f.
210
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Verhaltens in der technologischen Zivilisation301 – Mikro-, Meso- und Makrodimension –
erläutern läßt.
1. In der traditionellen Ethik ist die Dimension der ethischen Probleme räumlich und zeitlich
eingeschränkt gewesen, nämlich auf das Verhalten in Gemeinschaften und zwischen Personen,
also auf eine soziale Mikro-Dimension konzentriert gewesen – eine Nächstenethik. Zudem gab
es das stets prekäre Verhältnis zwischen Staaten und Völkern, die politische Meso-Dimension.
Allerdings hat man die internationalen Beziehungen lange Zeit entweder als moralisch neutralen
oder doch am Rande der Moral gelegenen Ausnahmetatbestand der (als quasi natürlich
angesehenen) Selbstbehauptung von Stämmen und Völkern betrachtet und so aus der Ethik
ausgeklammert. Im Dreißigjährigen Kriege, angesichts des Blutterrors der konfessionellen
Bürgerkriege, wurden sie eigens zum Thema der Ethik und des Völkerrechts gemacht – vor
allem dank Hugo Grotius.302 Dennoch galten sie auch seither in erster Linie als Sache der
Staatsräson,303 also der Klugheit der Staatsmacht.
Im 20. Jahrhundert hat jedoch sowohl die technologische Kriegsführung – zumal durch
Massenvernichtungsmittel vom Gas bis zu modernsten ABC-„Waffen“ – als auch die
massenhafte friedliche Verwendung von Hochtechnologien in Lebenswelt und Gesellschaft
völlig neue Faktoren „in die moralische Gleichung“ eingeführt, um mit Jonas zu sprechen. Als
erstes dieser neuartigen Faktoren gibt „Das Prinzip Verantwortung“ die hochtechnologische
„Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“ an.304 Daraus, daß
die Wirkungen des hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens kaum noch
räumlich und zeitlich eingrenzbar sind, ergebe sich eine neue Verantwortungsdimension, die
zumal ökologische Makro-Dimension.
In der Tat können heute und inskünftig zahlreiche Wirkungen menschlichen Verhaltens die
ganze Erde, ja die Öko- und Biosphäre, betreffen. Erstmals auch können sie dermaßen
gravierend sein, daß sie die Existenz der Gattung Mensch nicht allein in Mitleidenschaft ziehen
sondern diese selbst gefährden. Jetzt steht die Menschheit vor der bis dato unbekannten
Herausforderung Zukunftsverantwortung.305 Das Unheimliche dieser Herausforderung rührt
auch daher, daß zahlreiche Nebenwirkungen des technisch zivilisatorischen Kollektivverhaltens
einen „kumulativen Charakter“ haben, wie Jonas betont: „gewisse Wirkungen addieren sich, so
301
Karl-Otto Apel, Transformation , S. 359-361.
Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: Ders., Böhler, Kadelbach
(Hg.), Funk-Kolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer-TB), 1984, hier: S. 49-69.
302
H. Grotius, De iure belli ac pacis, ed. W. Schätzel, Tübingen 1950.
303
Vgl. F. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München/ Berlin (Oldenbourg) 1929.
304
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 27.
305
Vgl. D. Böhler u. R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, 2.Aufl.
Münster (LIT) 1993.
211
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich
Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was
schon getan ward.“ Demgegenüber rechnete „alle herkömmliche Ethik [...] nur mit nichtkumulativem Verhalten“.306
In diesem Sinne hat auch Apel 1980 in dem erwähnten Funkkolleg sowohl die noch nie
dagewesene Makrodimension menschlicher Handlungsfolgen als auch das Ineinandergreifen der
drei Auswirkungsdimensionen des Handelns in der High-Tech-Zivilisation zu Bewußtsein
gebracht: „Es zeigt sich […], daß ethische Probleme in der Gegenwart in drei verschiedenen
Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auftreten:
-
in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im
sog. Privatleben;
-
in einem Mittel oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, die
etwa Gruppeninteressen oder Nationalinteressen vertreten, und
-
in einem Groß- oder Makrobereich der solidarischen Verantwortung für das einheitliche
Lebensinteresse der menschlichen Gattung in der Gegenwart und in der Zukunft. Darüber
hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und
Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu
ethischen Problemen des Makrobereichs, also der weltweiten Dimension menschlicher
Verantwortung, zu werden. So wird zum Beispiel das scheinbar private IntimsphärenProblem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen […] über
die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde. Und die klassischen Probleme der
politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung,
die früher vielfach als außermoralisch angesehen wurden – nehmen auf den
Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an: eine Dimension, die
schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das
Überleben der Menschheit davon abhängen kann.“307
2. Die Einsicht, daß ethische Probleme nunmehr in drei Wirkungsbereichen zu suchen sind,
bedeutete einen ethikumwälzenden Schritt bei dem Versuch, den Gegenstand menschlicher
Verantwortung zu vermessen. Doch war dieser Schritt kaum getan, als Hans Jonas ihn bereits
überholte. Denn schon bei Erwerb jener Einsicht spürte der philosophische Biologe und
306
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 27.
Apel, „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: Ders. u . a. (Hg), FunkKolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Ff. a. M. (Fischer Tb) 1984, S. 50 und: ders. in: Funkkolleg:
Studientexte, Bd. 1, S. 18.
307
212
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Medizinethiker Jonas, daß sich auch eine neue Tiefendimension der moralischen Verantwortung
auftut: eine Verantwortung für grundlegende Moralideen und insgesamt für das Menschenbild.
Der gewaltige Technologiefortschritt gefährde nämlich das Menschenbild und substantielle
Moralbegriffe wie ›Menschenwürde‹ und ›Autonomie‹, weil er bereits die menschliche Natur
und deren Zukunft manipulieren und sie durch allerlei genetische Manipulation, z. B. durch
Klonierung, tiefgreifend verändern könne.
„Ob wir dazu das Recht haben, ob wir für diese schöpferische Rolle qualifiziert sind, ist
die ernsteste Frage, die dem plötzlich im Besitz solch schicksalhafter Macht sich findenden
Menschen gestellt sein kann. Wer werden die >Bild<-Macher sein, nach welchen Vorbildern,
und auf Grund welchen Wissens? Auch die Frage nach dem moralischen Recht, mit künftigen
menschlichen Wesen zu experimentieren, stellt sich hier. Diese und ähnliche Fragen, die eine
Antwort verlangen, bevor wir uns auf eine Fahrt ins Unbekannt einlassen, zeigen aufs
eindringlichste, wie weit unsere Macht des Handelns uns über die Begriffe aller früheren Ethik
hinaustreiben.“308
Achtundzwanzig Jahre nachdem Hans Jonas seine Mahnungen „mit Furcht und Zittern“309
vorgebracht hat, dramatisiert sich einerseits die ökologisch-klimatische Verfassung: zahlreiche
Probleme der Makrodimension sind gefährlicher denn je – die Ausdünnung der Ozonschicht, die
zunehmende Erwärmung und das Abschmelzen der Pole, der Wassermangel und die
Verschlechterung der Wasserqualität, die Zunahme der Weltbevölkerung und des Welthungers –
und manche Zivilisationsfolgelasten – wie die Belastung durch Feinstaub – sind noch
hinzugekommen. Andererseits spitzt sich auch jene „ernsteste Frage“ zu; denn die von Jonas
skizzierte Tiefendimension einer Verantwortung für den begrifflichen Rahmen der
Verantwortung, mithin für die kognitive Realisierbarkeit der Moral, ist mittlerweile
gesellschaftlich virulent. Werden doch heute grundlegende Moralbegriffe wie Menschenwürde
und verbreitete religiöse Moralintuitionen wie Ehrfurcht vor dem Leben – ganz im Einklang mit
einem utilitaristischen und liberalistischen Zeitgeist – faktisch zurückgestellt, relativiert und
partikularen
Interessen
(wie
Kinderwunsch
kinderloser
Paare)
oder
individuellen
Heilungswünschen bei bislang unheilbaren Krankheiten untergeordnet. Es ist dies eine
Relativierung allgemeiner Güter erster Ordnung, nämlich von moralischen Diskursgütern, die
wir zur Selbstverständigung und zur Realisierung praktischer Vernunft benötigen, wie unser
Organismus sauberer Luft zum Atmen bedarf.
308
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 52f.
309
Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, in: ders.: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Stuttgart Reclam
2004, S. 26, vgl. S. 24ff.
213
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Heute wird das allgemeine Diskursgut „Achtung der Menschenwürde“ dadurch eingeschränkt
oder faktisch umdefiniert, daß es entweder gegen besondere Güter, wie es die Lebensinteressen
einzelner sind, oder gegen grundsätzlich partikulare Güter wie das Gesamtinteresse der
pharmazeutisch-technologischen Industrie abgewogen wird, oder daß es solchen Nahinteressen
faktisch untergeordnet wird. Abwägen läßt sich nur prinzipiell Gleichwertiges, nicht aber ein
Gut erster Ordnung gegen eines der zweiten Ordnung. Andernfalls es überhaupt keine erste
Ordnung, keine Prinzipien- und Kriterienebene gäbe; also auch keinen Bezugspunkt für
begründete Abwägungen. (Am Beispiel der Menschenwürde müssen wir auf das Verhältnis
Diskursgüter versus Interessengüter zurückkommen, weil die Reichweite des Diskursgutes
„Menschenwürde“ umstritten ist.)
Überlegungen dieser Art zeigen an, wie die neuartigen äußeren Herausforderungen der
technologischen Zivilisation, die wir landläufig und verharmlosend, ja fälschlich „ökologische
Krise“ genannt haben, unversehens in innere Herausforderungen der praktischen Vernunft
übergehen. Karl-Otto Apel war es, der diese Unterscheidung getroffen und einen begrifflichen
Rahmen zur Diagnose dieser geistigen Herausforderungen vorgelegt hat; eine Strukturanalyse
des Zeitgeistes der modernen westlichen Zivilisation. Darauf werden wir noch eingehen.
3. Zunächst blicken wir mit Hans Jonas auf den Erkenntnisbezug des moralischen Urteils, wie
ihn die ethische Tradition des Abendlandes angesetzt hatte. Hier herrschte eine ausgesprochene
Naivität vor. Sowohl die Aristotelisch-Thomasische Tradition der Wertethik des guten Lebens
als auch die normative Ethik seit Kant gingen ganz selbstverständlich von folgender
Voraussetzung aus: da die sittlichen Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis des
Handelns“ entspringen, kann ‚ich’ auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen
Erfahrungswissens und ‚meines‘ common sense hinreichend erkennen, was moralisch richtig
oder praktisch gut ist; eines Wissenserwerbs und einer Beteiligung an Diskursen zur Erkenntnis
der Handlungssituation bzw. der Handlungsfolgen bedarf es weiter nicht.310 Demgegenüber
pointiert Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose
Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien, woraus er die
Konsequenz zieht: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht [...],
und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.“311 Wir sehen
uns also dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, uns bestmögliches Folgenwissen zu
beschaffen.
310
311
Ebd., S. 23 ff.
Ebd., S. 28.
214
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Freilich
gelangt
Jonas
sogleich
zu
einem
ernüchternden
Resultat,
dessen
wissenschaftstheoretischer Gehalt auch zu den Einsichten Karl R. Poppers gehört312: ein
Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, mithin auch das Folgenwissen für die
geschichtliche Welt und für die Biosphäre der Erde, könne nie das der exakten bedingten
Prognose sein, weshalb es stets unzulänglich bleibe. Aus dieser Nichtprognostizierbarkeit der
ökosozialen Technologiefolgen ergibt sich ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem der
Verantwortungsethik, das Jonas herausgearbeitet hat. Eine Ethik der Zukunftsverantwortung
müsse zweifellos als Wissensethik angelegt sein; so aber, daß sie von vornherein die
Wissensgrenzen berücksichtigt, um Verantwortungsrichtlinien für die unvermeidlichen RisikoEntscheidungen bei Unsicherheit begründen zukönnen. „Daß das vorhersagende Wissen hinter
dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst
ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns
erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite
der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“313.
Vor diesem Hintergrund entwickelt Jonas seinen Imperativ der Zukunftsverantwortung – als ein
Prinzip der Vorsicht – aus Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche gegenüber „der zukünftigen
Menschen und im Blick auf die Idee der Menschheit“ als Geltungsinstanz. Freilich meint Jonas,
daß diese Geltungsinstanz eigentlich im Sein selber liege. Über diese heikle Ineinssetzung von
Sein und Sollen, Gegenstand der Verantwortung und Instanz der Verantwortung müssen wir
noch nachdenken …
Doch gehen wir zunächst auf die, schon für sich genommen ungewöhnliche, Pflicht des Wissens
zurück, die Jonas gleichzeitig mit der Diskursethik in die Moralphilosophie einführt.
Herauszuarbeiten, was das bedeutet, war eines der Anliegen, denen sich der Name und die Idee
„Diskursethik“ verdankt – hier als genitivus subiectivus: Ethik für Diskurse bzw. für das
Verhalten von uns als Denkenden, als Teilnehmern an Diskursen. Zugrunde liegt die
Überlegung, daß eine Ethik für die moderne Zivilisation das naturwissenschaftliche und
technologische aber auch das sozio-ökologische Wissen sogleich einbeziehen müsse, wenn sie
denn zu einer situationsbezogenen moralischen Urteilsbildung anleiten will.
312
Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität,
Tübingen: Siebeck/Mohr, 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln: Kiepenheuer, 4.
Aufl. 1967.
313
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 28.
215
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Auf besagter konkreten Ebene ist eine ebensowohl interdisziplinäre wissenschaftliche wie
betroffenenbezogene
unabdingbar,
die
sich
an
der
regulativen
Idee
der
Verständigungsgegenseitigkeit bemißt. Mit dieser Situationsermittlung muß die Gewinnung
konkreter situativer Normen verknüpft werden, und zwar als interdisziplinärer Diskurs aufgrund
von Argumenten und Informationen. Erforderlich ist hier eine Verbindung von theoretisch
empirischen Diskursen, die auch wissenschaftlich distanzierend bzw. objektivierend, aber primär
verständigungsorientiert klären, wie eine jeweilige Situation zu interpretieren sei, mit praktisch
moralischen Diskursen, welche zunächst der Prinzipien- oder Richtungsfrage nachgehen, was
wir tun sollen, d.h. wozu wir eigentlich verpflichtet sind, wenn die Situation X als gegeben
angenommen werden kann.
4. Die „Frankfurter Schule“ hat seit Max Horkheimer pointiert, daß die innere bzw. geistige
Herausforderung der technologischen Zivilisation zu einem Gutteil aus ihrer formalistischen und
zweckrationalistischen Verkürzung des Vernunftbegriffs erwächst: Aus der einst umgreifenden,
das Dasein im Sein orientierenden Vernunft sei eine bloß instrumentelle Rationalität
geworden.314
Darauf antwortet die Transzendentalpragmatik gänzlich unmetaphysisch, indem sie die implizite
Moral der Wissenschaften aufdeckt. Ist es doch moralisch hoch bedeutsam, daß der
Rationalitätskern der wissenschaftlich-technologischen Zivilisation, das theoretisch-empirische
Wissen als wahrheitsfähiges Wissen, nur in der zugleich universalistischen und dialogischen,
daher moralisch geladenen, Form eines argumentativen Diskurses geltend gemacht werden kann.
Moralisch gehaltvoll ist die Diskursform, weil sie die Logik der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit aufgrund einer zwiefachen Anerkennung hat: vorausgesetzt ist sowohl die
intersubjektive Anerkennung aller möglichen Diskursteilnehmer als gleichberechtigter
Argumentationspartner wie auch die meta-institutionelle Achtung des argumentativen Diskurses
als letzthinniger Instanz für Gültigkeit.
Insofern setzt auch ein Naturwissenschaftler voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch
gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte
Diskurspartner mit gleichen Diskursrechten anerkennen soll und von vornherein auch will. Denn
er selbst ist es ja, der mit dem wissenschaftstragenden Geltungsanspruch denkt und forscht, seine
Ergebnisse seien wahr und verdienten daher die freie begründete Anerkennung jedes kompetent
verfahrenden Prüfers bzw. Kritikers. Dieser Anerkennungsanspruch setzt umgekehrt den guten
216
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Willen voraus, jeden möglichen kompetenten Kritiker als gleichberechtigten Diskurspartner zu
achten. Der kognitive Geltungsanspruch enthält eine Gerechtigkeitsverpflichtung.
Schon diese Gerechtigkeitspräsupposition, nämlich die vorausgesetzte Anerkennung der Pflicht
zur Diskursgerechtigkeit, zeigt an, daß die Herausarbeitung der Diskussionsform des Wissens
moralisch von Belang ist. Darauf läuft Apels Königsargument (von 1967/1973) hinaus, das eine
Kommunikationsethik der Logik bzw. der Wissenschaft gegen die szientistische und
zweckrationalistische Entmoralisierung der Vernunft geltend macht: eine Kommunikationsethik
im Rücken des empirisch-theoretischen Gegenstandsbezugs der Naturwissenschaften.
Durch Reflexion auf die, im Rücken der empirischen und theoretischen Wissenschaftsarbeit
wirksame Pragmatik der Geltungsansprüche kommt eine Diskursethik ins Spiel. Denn aus der
diskurspragmatischen Dimension der wissenschaftlichen Forschung als Geltendmachen von
Hypothesen und Theorien, als Kritisieren und Diskutieren dieser, ergibt sich eine implizite Ethik
für Diskurspartner. So konnte Apels Idee einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des
zwiefachen Kommunikationsaprioris315 und das Programm einer Rekonstruktiven Pragmatik316
sokratisch-kantisch an Karl R. Popper anschließen, ohne dessen Existentialismus bzw.
Dezisionismus teilen zu müssen.
Popper vertritt in normativen Fragen, in Sachen der Normenbegründung bzw. der Gültigkeit
moralischer Normen, einen konsequenten Dezisionismus – womöglich noch konsequenter als
Max Weber, dessen Position er gewissermaßen aktualisiert und zuschärft: Der Geltungsstatus
von Normen sei der einer „moralischen Entscheidung“; und diese bestimmt Popper im Kontext
des zweiten Bandes seiner Offenen Gesellschaft als eine letztlich irrationale Wahl oder als
Ausdruck eines „Glaubens“.317 Dort erörtert er die Entscheidung für die Moral der Wissenschaft
oder des, seinerseits undogmatisch bzw. kritisch verstandenen Rationalismus – also etwa dafür,
„auf kritische Argumente zu hören und von der Erfahrung zu lernen“ sowie „durch Argument
und durch sorgfältiges Beobachten zu einer Art Übereinstimmung zu gelangen“.318 Es ist diese
Einstellung – immerhin die der Rationalität oder, wie er auch emphatisch sagen kann, die der
Vernunft – von der Popper sagt, daß sie „auf einem irrationalen Entschluß oder auf dem Glauben
314
Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, FfaM (Fischer 1967).
K.-O. Apel, „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, in: ders. Transformation II, S.
311ff, bes. 327ff. Ders., „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Grundlagen der Ethik“, ebd., S. 358ff.
316
Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Kap. II und VI.
317
K. R. Popper, Falsche Propheten. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Bern (Francke) 1958, S. 284ff.
Vgl. derselbe, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I; Der Zauber Platons, Bern (Francke) 1957, bes. S.
96ff.
318
Popper, op. cit., Bd. II, S. 276.
315
217
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
an die Vernunft beruht.“319 Deshalb kann er „die rationalistische Einstellung“ geradewegs „einen
irrationalen Glauben an die Vernunft“ nennen.320
So ist der „kritische Rationalist“ davon überzeugt, daß man „an die Stelle einer transzendentalen
Begründung seines normativen Wissenschaftsprinzips einen ›act of faith‹ des einzelnen
Wissenschaftlers setzen müsse: Der Wissenschaftler müsse sich als einzelner im Sinne einer –
logisch gesehen – arationalen Wahl für die Regeln der kritischen und moralgeladenen Institution
Wissenschaft allererst entscheiden. Nun ist zweifellos eine >willentliche Bekräftigung< (Apel)
der Norm kritischer Prüfung erforderlich, wenn man sich wirklich wissenschaftlich verhalten
will321. Aber das ist eine Sache der persönlichen Motivation und Selbstkontrolle; sie betrifft nicht
die Geltung und Rechtfertigung, sondern die konkrete Realisierung des kritischen Prinzips.
Popper meint mehr und anderes: Er kann den Grund für die Verbindlichkeit der Norm kritischer
Prüfung nur in der freien Entscheidung der einzelnen sehen. Er vertritt also in geltungslogischer
Hinsicht gleichsam einen Wissenschafts-Existentialismus. Dieser stimmt mit der Hauptthese des
spätliberalistischen, nämlich bloß kontraktualistischen, Demokratieverständnisses überein, daß
bereits das Faktum der freiwilligen Anerkennung der demokratischen Spielregeln der
zureichende Grund für deren Verbindlichkeit sei. Hier wie dort tritt an die Stelle praktischer
Vernunft die ihrerseits nicht begründbare und hinsichtlich ihres Status nicht vernünftige
Entscheidung für etwas, das doch als das Vernünftige in Anspruch genommen wird.“322
Hier liegt der analoge Selbstwiderspruch in der szientistischen Wissenschaftsbegründung und
einer bloß vertragstheoretischen Demokratiebegründung. Beide können nicht argumentativ
einholen, was sie in Anspruch nehmen: einsichtige Verbindlichkeit.323
Fassen wir das Argument zusammen: Die Zurückführung des rationalen Diskursverhaltens auf
eine arationale Entscheidung ist unzutreffend. Zwar bedarf es immer wieder einer
Willensanstrengung, einer Art Entscheidung für die Praktizierung der wissenschaftlichen
Selbstkritik, Achtung der Kritiker usw. Doch haftet dieser Quasientscheidung nichts bloß
Arationales, gar Irrationales an, wie Popper annimmt. Denn sie ist allein „eine willentliche
Bekräftigung“ jener Anerkennungsnormen und Rationalitätsmaßstäbe, die den argumentativen
Diskurs tragen und die jeder Diskursteilnehmer durch seine Teilnahme daran, z.B. jeder
319
A. a. O., S. 285.
A. a. O., S. 284 u. 285.
321
So K.-O. Apel, Transformation, Bd. 2, S. 411f.
322
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 358.
323
Zur Pointierung dieser Verbindlichkeitsaporie der bloßen Vertragstheorien seit Hobbes, die Apel, Böhler und
Habermas herausgestellt haben, vg. Böhler u. Rähme, „Konsens“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4,
1998, S. 1275ff.
320
218
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Wissenschaftler durch sein Forschen implizit bereits als verbindlich vorausgesetzt hat.324 Mithin
läßt sich der moralische Kern des „Kritischen Rationalismus“, Poppers Ethos des selbstkritischen
Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur intersubjektivdialogischen Form des Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis aufweisen. Das
Erheben von Geltungsansprüchen schließt Moralität ein, einmal in Form der Anerkennung
substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Diskurspartnern, zudem
in Gestalt der Selbstverpflichtung auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz.
5. Wenn an der Basis der wissenschaftlichen Rationalität und in den Präsuppositionen des
Argumentierens schlechthin moralische Verbindlichkeiten aufgewiesen werden können, dann ist
Vernunft nicht bloß theoretischer, technischer und ökonomischer Natur, nicht ein bloßes
Vermögen des Analysierens und Rechnens, sondern zugleich moralisch orientierend und apriori
verpflichtend. Dann ist eine Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne
Selbstinfragestellung der Vernunft als praktischer, moralischer Instanz zurückzuweisen erlaubt.
Vor dem Hintergrund dieser Einsicht konnte Apel das moderne westliche Vernunftverständnis
als Komplementarität analysieren: Einerseits werde die wissenschaftlich-theoretische Ratio und
das formale Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert;
andererseits würden Wert- und Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem
existenziellen und eben irrationalen Entscheidungsakt subjektiviert. Diese, auch von Jonas
berührte, Komplementaritätsstruktur325, von Apel geradezu als „Komplementaritätssystem“ des
modernen westlichen Geistes entfaltet, erklärt die Idee einer praktischen Vernunft für obsolet
und illusorisch326. Ihr zufolge ist es unmöglich, moralische Ansprüche auf der objektiven oder
intersubjektiven Ebene der Vernunft, also des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ
darüber befinden zu wollen.
Es sei sinnlos, praktische Fragen wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber
anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren.“327 Vernunft wird auf formale Logik plus
Zweckrationalität und theoretisch-empirischen Wissenserwerb verkürzt, sie schrumpft zur
„subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer). Infolgedessen fällt der
324
Dazu K.-O. Apels, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S.??#
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 57.
326
„Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem
Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der moderne
philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Lebensbereich,
der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“, in: Apel, ebd., S. 370, vgl.
361-378. Weiterentwickelt: Ders., „Die Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel,
Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S. 130-137. Vgl. Ders., Diskurs (1988), S. 26-36, 58ff.
325
219
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Anspruch der Vernunft, praktisch sein zu können, in sich zusammen. Übrig bliebe die
Komplementarität von nurmehr plausibilisierbaren Moralentscheidungen versus nonmoralischen
Forschungsresultaten. Denn Popper zufolge könnten auch in einer philosophischen
Grundlagendiskussion „allenfalls pragmatische Zweckmäßigkeitsargumente zugunsten des
Prinzips der kritischen Rationalität vorgebracht werden.“328 Zudem lasse sich „eine rationale
Analyse der Konsequenzen einer Entscheidung“ durchführen, was freilich diese selbst auch
„nicht rational macht“, wie Popper betont.329
327
M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt a.M.: Fischer, 1967, S.
17.
328
So K.-O. Apel, a. a. O., Bd. 2, S. 412.
329
K. R. Popper, a. a. O., Bd. 2, S. 286.
220
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Abb. 1:
Apels Analyse der technologischen und liberalen Zivilisation als Komplementaritätssystem
Auf der einen Seite ...
steht die (von Max Weber an Hand des neuzeitlichen
Säkularisierungs- / Rationalisierungsprozesses
beschriebene) Entwicklung von zweckrationalen
Standards
im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen Habermas
untersuchten) Sub- und Nebenformen
– der wissenschaftlich-technischen Rationalität einer
am Erfolg kontrollierten Naturbeherrschung,
– der ökonomischen Rationalität des effizienten
Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken,
– der strategischen Rationalität wechselseitiger
Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken,
– der pragmatischen Verfahrensrationalität der
öffentlichen Willensfeststellung per
Mehrheitsbeschluß usw.
Auf der anderen Seite ...
steht eine Verdrängung aller
moralischen Wert- und
Normgesichtspunkte
in den Bereich des rational nicht Fassbaren, des
Irrationalen,
eine Entwicklung, die sich gesellschaftspolitisch
in der
Privatisierung der moralischen
Urteilsbildung
und philosophisch in der Strömung des
Existentialismus niedergeschlagen hat.
komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich des
Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des Irrationalen
Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wert- und Normfragen aus dem
Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist, der sich in der außergewöhnlichen
Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn
herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“ anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist.
Mit jener kritischen Analyse des Geistes der liberalen technologischen Zivilisation kann Apel die
Frage beantworten, die Jonas offen läßt. Es ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen
moralische Ansprüche möglicher Betroffener, etwa zukünftiger Generationen, prinzipiell
mißachtet werden können – eben bei Voraussetzung der bloß instrumentellen Vernunft und ihrer
Komplementarität zur Moral als bloßer Entscheidungssache der Individuen.
6. Von jener Subjektivierungsgefahr, letztlich Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas
durchdrungen. Das motiviert ihn zu einem metaphysischen Ansatz, der nochmals eine
substanzielle, nämlich objektive Vernunft im emphatischen Sinne einer quasi-aristotelischen
theoria denken will, die den Wert des Seins aus diesem selbst „vernehmen“ will. Dieser
vormoderne „Übergang vom Sein zum Sollen“330 will das „Prinzip der Ethik“ aus der „Natur des
Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben begründen, – und insofern aus dem,
330
Jonas, Erinnerungen, 2003, S. 322. Ders., Prinzip Verantwortung, S. 92ff und 153ff.
221
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
„was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte.“331 So formulierte Jonas
programmatisch im Epilog zu seiner evolutionären Ontologie des Lebendigen: „Organismus und
Freiheit“.
Zuvor hatte er jedoch unmißverständlich klargemacht, daß er nach Nietzsches Proklamation des
Todes Gottes und nach Heideggers „Sein und Zeit“ denkt. Denn er vertritt nicht etwa
objektivistisch eine Ontotheologie, derzufolge Gott das Sein selbst bzw. der Grund des Seins sei
und auch als dieses principium des Seins objektiv erkennbar sei, sondern er nimmt die Immanenz
der Welt, die Endlichkeit des Lebens und die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins ernst. Darin
ist er so konsequent, daß er in seinem spekulativen Mythos eines möglichen Schöpfergottes die
Idee dieses Gottes selbst jenen Bestimmungen und insofern das Transzendente der Immanenz
unterwirft.332 Auf diese Weise entsubstantialisiert Jonas seinen metaphysischen Ansatz und
verbindet ihn mit dem methodischen Atheismus, der den modernen Wissenschaften
zugrundeliegt und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus, am schärfsten von Sartre,
ausgesprochen wird.333 Dazu stimmt es, daß er auch Heideggers mystisch-ontotheologische
„Kehre“ als Flucht vor der Kritisierbarkeit des Gedachten und vor der Rechtfertigungsaufgabe
des Denkens verwirft.334
7. Es ist zunächst dieser ontologisch-teleologische Ansatz – Jonas selbst nennt ihn mit Vorliebe
„metaphysisch“ und „ontologisch“ –, der seine Philosophie von Anbeginn in die
Prinzipiendimension bringt und die ihn auch moralische Probleme von daher denken läßt.
Dementsprechend hat er die Verantwortung für die Fortexistenz der Menschheit ausdrücklich
auch als innermoralische Verantwortung für die Möglichkeit von Verantwortung und Moral
bestimmt.335 Genau dazu paßt sein Rückgriff auf die biblisch priesterschriftliche Lehre von der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f), aus der er die moralische Substanz
des Menschenwürdegrundsatzes bezieht, die er auch in „Das Prinzip Verantwortung“ geltend
macht. Dort schreibt er nämlich, es sei um die „Hütung des Ebenbildes“ zu tun. Kurzum, Jonas
331
Jonas, „Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus“ (zuerst als „Gnosis und Nihilismus“ in:
Kerygma und Dogma) 1960, S. 165-171.
332
Jonas, Philosophische Untersuchungen, bes. S. 190-197, 243-247.
333
Jonas, Erinnerungen, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.), Jüdische Portraits, Frankfurt am
Main, (Fischer TB) 1998, S. 170, Sp. 2.
334
Jonas, „Heidegger und die Theologie“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 39 – 58, bes. S. 54f.
335
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 215, 186. Ders., „Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension
hinzugefügt werden“, in: Fatalismus wäre Todsünde, Münster (LIT) 2005, hier S. 96.
222
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
vertritt keineswegs nur die Perspektive einer Bewahrung der Gattung, auf die Apels in diesem
Punkt ganz unpräzise Kritik ihn hat einschränken wollen.336
Allerdings
fragt
sich,
was
Jonas
zum
Begründungsproblem,
d.h.
zu
einem
Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik beiträgt. Auch kann man fragen, ob überhaupt ein
Verantwortungsprinzip der aussichtsreiche Kandidat für die Bestimmung des grundlegenden
Moralprinzips sein kann, und wenn ja, wo ein solches Prinzip gleichsam zu lokalisieren ist –
primär im Sein oder primär im Dialog? Jonaskritisch stellt sich schließlich die Frage, welche
differenzierenden Kriterien bzw. moralischen Gehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und
Kommunikationsfreiheit?) intern mit dem Verantwortungsprinzip verbunden sind – besser: als
mit ihm verwoben aufgewiesen werden können.
Jenen Fragen könnte sich auch ein ‚Ergänzungsethiker‘ nicht entziehen, um so weniger dann,
wenn er den Jonasschen Anspruch hat, für das Ganze bzw. für die Menschheit und ihre Umwelt
wie auch zu der Menschheit als einem kollektiv betroffenen und kollektiv agierenden Subjekt zu
sprechen. Wenn er sich wirklich diese Fragen stellt, so wird er die „doppelte Vereinfachung“
zurücknehmen müssen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der jetzt
lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen Menschheit
steckt. Micha Werner hat darauf mit Recht hingewiesen337. Die hier nötigen Differenzierungen
sind Diskursdifferenzierungen und ergeben sich als solche mit innerer Logik, wenn man das
Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt durch Rückgang auf das Sich im
Diskurs Verantworten. Eben das ist der komplementäre nicht-metaphysische Prinzipienansatz
der Berliner Diskurs- und Dialogpragmatik: eine sokratische Ethikbegründung durch rationale
Beweisführung und sinnkritische Tests, von deren Stichhaltigkeit sich jeder – auch der ex
professo Ungläubige, der skeptische Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen
Glaubensannahme kommen können – reflexiv überzeugen kann.
Von jener Härte, von jener intersubjektiven Gültigkeit und Verbindlichkeit sind Jonas’
Antworten ersichtlich nicht. Eine spekulativ theologische Antwort, die er auch versucht hat,338
336
Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs (1988), S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit Apel in: Apel und
Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 97ff. Demgegenüber: Jonas, Prinzip Verantwortung,
S. 89, 94, 97 und 392f.
337
M. Werner, 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240.
338
Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische
Vermutungen, Frankf. a. M.: Insel, 1992, S. 209-255.
223
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
kann es, wie er als nachkantischer Denker in aller Schärfe einräumt, ohnehin nicht sein – auf
diesem Felde sind in der Tat einzig sinnvolle Vermutungen möglich339.
6.2
Jonas’ metaphysischer Begründungsversuch, Kants „Faktum der Vernunft“ und
das dialogische Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit
In seiner letzten Begründungsstudie bringt Jonas seinen „Versuch einer ‚metaphysischen
Deduktion‘ der Verantwortungsethik“ ins Spiel340. Er geht hier seinen schon vor dem „Prinzip
Verantwortung“ eingeschlagenen metaphysisch ontologischen Begründungsweg weiter – so
aber, daß er dabei einerseits die Geltungsskepsis gegenüber dieser metaphysischen Begründung
selbst artikuliert, während er andererseits eine sokratisch kantische Lesart ermöglicht und
dadurch einen nicht metaphysischen Begründungsweg öffnet: einen strikt argumentations- bzw.
diskursreflexiven Verbindlichkeitserweis, der sich als ein solcher durch kein sinnvolles
Argument mehr hintergehen ließe, also letztgültig wäre. Inwiefern? Nun, Jonas geht offenbar auf
den Seinsboden und Geltungsboden zurück, auf dem auch jeder Skeptiker als etwas denkender
und etwas wollender Mensch selbst schon steht. In einer, wenngleich implizit gelassenen,
sokratisch transzendentalen Denkfigur, die Kant herausgestellt hat und sich auch auf die EpochéArgumentation Edmund Husserls abbilden läßt, geht Jonas nämlich zurück auf das, was alle
Denkenden und Wollenden bereits als Fähigkeit mitbringen und was sie als Verpflichtung nicht
(mit sinnvollen Argumenten) in Zweifel ziehen können: Es ist dies die ethische Befähigung zur
Verantwortung, welche die kognitive und moralische Fähigkeit in Anspruch nimmt, Gründe zu
erkennen und in Bezug darauf – also in Freiheit – eine bestimmte Verantwortlichkeit zu
übernehmen, anstatt sich anderen Dingen zuzuwenden und ein Eigeninteresse zu verfolgen. Das
Verantwortung-Haben-Können setzt die kommunikative Freiheit des Prüfens von Gründen
voraus und damit ein mögliches Sollen, die Erkenntnis nach Anerkenntnis einer Pflicht.
Zwar unvorsichtig und in einer unscharfen Begrifflichkeit aus traditioneller Ontologie und
existentialer Ontologie, die z.B. kein Konzept der kommunikativen Freiheit hat entwickeln
können, denkt der Metaphysiker Jonas in diese nichtmetaphysische Richtung. So hat ihn auch
Hans-Georg Gadamer interpretiert, als dieser ihm seine „Metaphysische Deduktion“ mit der
Bitte um Beurteilung vorlegte. Dazu gleich.
339
Jonas, Philosophische Untersuchungen, bes. S. 190f u.ö. Dazu Böhler, Laudatio, in: Böhler und Neuberth (Hg.),
HZV, S. 28ff.
340
Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
224
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
In dem, ursprünglich 1984 für einen Vortrag verfaßten Manuskript „Zur ontologischen
Grundlegung einer Zukunftsethik“ entwickelt Jonas ein Argument, das Überzeugungskraft
gewinnt, wenn man es reflexiv wendet: als Reflexion mit dem Skeptiker darauf, daß er selbst wie
alle Menschen eine Moralfähigkeit mitbringt, deren Verpflichtungssinn man als Denkender, als
Diskurspartner, nicht sinnvoll in Zweifel ziehen kann. Allerdings versteht Jonas das Argument
weniger sokratisch reflexiv denn ontologisch metaphysisch. Es hat folgenden, intuitiv
ansprechenden Grundgedanken:
„Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie
haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter
ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung –
eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen
Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also
komplementär zu Freiheit. Sie ist die Bürde der Freiheit eines Tatsubjekts: Ich bin
verantwortlich mit meiner Tat als solcher (ebenso wie mit ihrer Unterlassung), und das
gleichviel, ob jemand da ist, der mich – jetzt oder später – zur Verantwortung zieht.
Verantwortung besteht also mit oder ohne Gott, und natürlich erst recht mit oder ohne einen
irdischen Gerichtshof.“341
An diesem Punkt beende ich das Zitat, weil bis hierhin eine sokratische Rekonstruktion des
Arguments aussichtsreich sein dürfte, wohingegen die anschließende ontologische Ableitung der
Instanz, des >Wovor< der Verantwortung, aus deren Gegenstand, einem werthaften Sein, sich
dagegen sperrt, ja letztlich sinnwidrig ist. Denn sie macht die sokratische Beurteilungsinstanz,
den argumentativen Dialog, in dem man sich zu verantworten hat, abhängig von der doch
allererst zu beurteilenden (bzw. hinsichtlich des Grades ihrer Verantwortungswürdigkeit zu
bewertenden) Sache. Damit ignoriert sie den Geltungsprimat des argumentativen Dialogs, den
Sokrates entdeckt hat und durch dessen Berücksichtigung die Philosophie zum Anwalt der
Vernunft und Kritik geworden ist. Und damit läuft sie Gefahr, einen logischen Zirkelschluß
(petitio principii) zu begehen, indem sie allein aus (interpretierten) Tatsachen des Seins den
normativen Gehalt eines moralischen Sollens ableiten will.
Eine ontologische Begründung läßt außer Acht, daß der Ontologe (durch die ontologische
Interpretation) eben das in die Seinstatsachen hineingelegt haben mag oder hat, was allererst zu
begründen wäre: den normativen Anspruch einer unbedingten Verantwortungspflicht
hinsichtlich des menschlichen Seins. Allein, wenn jenes Begründungsmanöver unbemerkt und
der Skeptiker daher stumm bliebe, könnte eine solche ontologisch metaphysische Begründung
225
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Erfolg haben. Richtig wäre sie auch dann nicht. Sie mag zwar faktischen Konsens erzielen, aber
keinen
rein
argumentativen
Kommunikationsgemeinschaft
Konsens.
Akzeptanz
Sie
finden;
könnte
in
einer
bloßen
realen
aber
in
einer
solchen
realen
Kommunikationsgemeinschaft, in der einzig sinnvolle Argumente zählen, so daß in ihr die ideale
Argumentationsgemeinschaft ein Stück weit verwirklicht ist, wäre jene Begründung chancenlos,
weil sie als Erschleichung des zu Erweisenden durchschaut würde.
Wir stoßen damit auf die Unterscheidung von bloßem faktischem und rein argumentativen
Konsens oder von Überredung versus Überzeugung. Diese Unterscheidung ist, wie zuletzt
Alberto Damiani demonstriert hat, untrennbar verwoben mit der transzendentalpragmatischen
Grunddifferenz
von
idealer
Kommunikationsgemeinschaft.342
Argumentationsgemeinschaft
Apel
hatte
sie
1973
mit
seiner
und
realer
Dialektik
des
Geltungbeanspruchens eingeführt: Mit jedem Anspruch auf (mögliche) Wahrheit einer
Behauptung oder auf (mögliche) Legitimität einer Aufforderung haben wir uns in unserer realen
Kommunikationsgemeinschaft
von
vornherein
an
die
Geltungsinstanz
einer
idealen
Argumentationsgemeinschaft adressiert.
Nun zurück zu Jonas. In einer gewissen selbstkritischen Distanz zu seinem ontologisch
metaphysischen Begründungsversuch, an dem er gleichwohl hing, sandte er das besagte
Vortragsmanuskript mit der Bitte um Rat an Hans-Georg Gadamer. Denn bei ihm könne er,
obzwar nicht auf Zustimmung zu diesem metaphysischen Versuch, so doch auf „Verständnis für
dieses Wagestück“343 rechnen. In seiner Antwort344 geht Gadamer nicht auf die Verlagerung
bzw. Einbeziehung der Geltungsinstanz der Verantwortungspflicht in deren Gegenstand, des
„Wovor“ in das „Wofür“ der Verantwortung ein. Diplomatisch umschifft er damit den (zu
vermutenden) Dissenspunkt, ob sich ein moralisches Sollen allein aus einem interpretierten Sein
herleiten lasse. Statt dessen legt er dem Metaphysiker ein kantisches Selbstverständnis nahe:
Kommt Jonas’ „metaphysische Deduktion“345 einer Pflicht zur (Mit-)Verantwortung für „die
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ nicht überein mit Kants quasi-sokratischem
Rückgang auf ein moralisches Grundfaktum der Vernunft?
341
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f.
A. Damiani, „Die Verbindlichkeit des argumentativen Dialogs. Zur transzendentalpragmatischen Differenz
zwischen ‚Überzeugen’ und ‚Überreden’“, in: Böhler/Kettner/Skirbekk (Hrsg.), Reflexion und Verantwortung.
Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. FfM: Suhrkamp 2003. ; vgl. ders., „Die Idee der letzten Meinung in der
sinnkritischen Argumentationstheorie“, in: Burckhart/Gronke (Hrsg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2002, S. 163 – 178.
343
H. Jonas, Brief an H. G. Gadamer vom 9. Nov. 1986. In: Böhler/Brune (Hrsg.), 2004, S. 480.
344
???#
342
226
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
„Im Grunde folgen ja auch Sie Kant, wenn Sie von der Gegebenheit der Verantwortung reden:
das ist das Vernunftfaktum der Freiheit.“346 Gadamer stellt Jonas also in die Wirkungsgeschichte
Kants, insofern dieser das Verallgemeinerungsprinzip durch die Annahme begründet, die
moralische Autonomie sei mit der Einsicht in das Sittengesetz verwoben und daß diese
Gleichursprünglichkeit das unhintergehbare „Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch
als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt“.347
Freilich führt, was Gadamer übergeht, der bloße Rückgang auf die Verantwortungsfähigkeit
schon bei Kant in einen naturalistischen Fehlschluß348. Das ist jedenfalls der Fall, wenn man
diese Fähigkeit wie Jonas als „ursprüngliches Erfahrungsdatum“ ansetzt.349 Vielmehr müßte man
zeigen, daß wir nicht allein die Erfahrungstatsache >Menschen haben die Fähigkeit zur
Verantwortung< voraussetzen müssen, sondern daß wir auch die Verbindlichkeit eines
Moralprinzips als einer Grundnorm voraussetzen dürfen. Erst wenn sich deren Verbindlichkeit
erweisen läßt, kann uns zwanglos die Einsicht zuteil werden, daß wir zur Verantwortung für die
Gewährleistung moralfähigen menschlichen Seins unbedingt verpflichtet sind.
Bloß aus Tatsachen kann nicht die Gültigkeit einer moralischen Verpflichtung folgen. Eben das
hatte Karl Popper gewissermaßen zum Neuanfang der Praktischen Philosophie in seinem großen
Emigrationswerk in Erinnerung gerufen.350 Eine Generation später hat Karl-Otto Apel diese
begründungstheoretische Einsicht differenziert und im Blick auf Jonas’ neue Problemstellung
weitergeführt. Er pointiert, daß und warum eine Begründung der Verantwortungspflicht (für das
bedrohte menschliche Sein) allein aus der bewertenden Interpretation dieses Seins nicht sticht:
„Das moderne Prinzip, daß ein moralisches Sollen nicht (allein!) aus einem Sein hergeleitet
werden kann, hat niemals besagt, daß die Tatsachen des Seins der Welt und des Menschen für
die inhaltliche Bestimmung von moralischen Normen ohne Bedeutung wären. Es besagt
vielmehr: Die Tatsachen des Seins können dann, und nur dann, für die Begründung
situationsbezogener Einzelnormen bedeutsam werden, wenn wir schon auf eine moralische
Grundnorm zurückgehen können, in deren Licht die Tatsachen des Seins (und in diesem
Zusammenhang auch die möglichen Zwecke, Folgen und Nebenfolgen unserer Handlungen)
345
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 138, ebenso im Brief an Gadamer v. 9. November 1985, a. a. O. , S.
480.
346
H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a. a. O. , S. 481.
347
I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff.
348
So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der
praktischen Philosophie, Freiburg i.B., 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen der
praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 277-295.
349
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139.
350
Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 96ff.
227
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
beurteilt werden können. Ohne diese Grundnorm wäre keine verbindliche Bewertung der
Tatsachen möglich. An dieser Grundsituation hat nun, wie mir scheint, auch die ökologische
Krise – oder, allgemeiner gesagt, die Herausforderung der ethischen Verantwortung durch die
technisch erweiterte Wirkungsmacht des menschlichen Handelns in der Gegenwart – nichts
geändert.
Es ist richtig, daß das Wissen um die Situationsbedingungen und die möglichen Folgen von
Handlungen heute eine qualitativ neue Bedeutung für die Ethik gewonnen hat. Das liefert ein
zusätzliches Argument zugunsten der Verantwortungsethik überhaupt gegenüber einer
Gesinnungsethik, welche die Frage ‚Was soll ich tun?’ ohne Berücksichtigung der
voraussehbaren Handlungsfolgen, rein aufgrund eines Wissens um die Form des gesetzmäßigen
Willens, glaubt beantworten zu können. Doch daraus folgt keineswegs, daß es nun möglich oder
nötig sein könnte, die Normen oder Pflichten des Handelns selbst allein aus dem Wissen um die
Tatsachen des Seins herzuleiten.
Es ist gewiß einleuchtend, daß dem Menschen heute angesichts seiner gesteigerten technischen
Macht (des Bewirken-Könnens) eine entsprechend erweiterte moralische Verantwortung für
seinesgleichen – insbesondere für die nächsten Generationen – und sogar für die Natur (als
natürliche Umwelt) zufällt. Aber es ist ebenso klar, daß diese neue Sollenspflicht nicht ohne
logischen Zirkel allein aus den Tatsachen des Seins herzuleiten ist. Wollte man sie – mit
Aristoteles und der Stoa – auf die teleologische Bestimmung des Seins der Natur zurückführen,
dann setzte man sie im metaphysischen Verständnis des Seins der Natur schon voraus. Denn aus
der unterstellten Tatsache: daß etwa alles Lebendige nach Selbsterhaltung, alle Tiere nach Lust
und alle Menschen nach Glück streben, folgt keineswegs, daß ich für die Erfüllung dieses
Strebens irgendwie verantwortlich bin. Man könnte insofern angesichts der ökologischen Krise
genausogut die Konsequenz ziehen: ‚Nach mir die Sintflut!’ oder ‚Rette sich, wer kann!’.
Erst wenn ich, neben den Tatsachen der Natur, noch ein deontologisches Prinzip, eine
Grundnorm im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit der Ansprüche aller Menschen als
Vernunftwesen, voraussetzen kann, ergibt sich die Verantwortungspflicht im Sinne von
Jonas.“351
Die Gefahr eines logischen Zirkels, und zwar einer petitio principii nach Art des ontologischen
Gottesbeweises, der aus der Essenz des Gottesbegriffs (wozu das notwendige Sein Gottes gehört)
auf die tatsächliche Existenz Gottes schließt, hat Jonas selbst diskutiert. Diesem „logischen
351
K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung auf die reale Praxis anwendbar?“ In: Ders. u.a. (Hg.),
Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 628.
228
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Zirkeltrug“ will er entgehen, indem er die begriffliche ‚Essenz‘ des „ursprünglichen
Erfahrungsdatums“ expliziert, daß Menschen die Fähigkeit zur Verantwortung besitzen:
„Eben diese zugrundeliegende Erfahrungstatsache rettet unser Argument vor dem logischen
Zirkeltrug des berühmten „ontologischen Beweises“ für das Dasein Gottes: daß aus dem bloßen
Gottesbegriff, worin notwendige (nichtkontingente) Existenz wesentlich einbegriffen ist – aus
der begrifflichen ‚Essenz’ also –, die tatsächliche Existenz sich notwendig ergibt. Im Gegensatz
dazu ist die Verantwortungsfähigkeit, auf der unser Argument sich aufbaut, zuerst einmal als
Tatsache in der Erfahrung gegeben; und wenn aus deren Essenz dann Weiteres abgeleitet wird,
darunter auch die Pflicht zur Perpetuierung ihrer eigenen Existenz, so ist dies zwar ein Schluß
von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz.
Also ist unser Argument kein leeres.
Aber es ist auch kein Beweis. Denn es ist an gewisse unbewiesene, axiomatische
Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein Gut ist, also
etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt ‚Werte an
sich’ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.“352
Jonas ist allemal ein Philosoph, dem die, von Kant als Selbstverpflichtung der Vernunft
ausgezeichnete, Tugend der Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist. So zieht er aus seinem
Selbsteinwand folgende Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht mehr tun, als
vernünftig eine Option begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu bieten.“353 In seinem
Brief an Gadamer schließt er damit, daß er allerdings glaube, über dieses „Wagestück“ nicht
mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“354
Einerseits räumt Jonas damit ein, die Komplementarität des modernen westlichen Geistes nicht
überwunden zu haben – eine bloße Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der
Komplementarität – und mithin sein Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und
Normenfragen aufzuheben, verfehlt zu haben. Andererseits weist jedoch – darauf macht
Gadamer aufmerksam – die Richtung seines Gedankens über die ontologisch metaphysische
Denkweise und eine bloße metaphysische Option hinaus. Inwiefern?
Sowohl ohne Gefahr der petitio als auch ohne naturalistischen Fehlschluß läßt sich Jonas’
Intuition aufnehmen und – in zwei Schritten – zwingend neu denken: zuerst durch eine
Rekonstruktion von Voraussetzungen des argumentativen Dialogs, sodann durch eine aktuelle
352
353
Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139.
Ebd., S. 140.
229
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Dialogreflexion. Darunter verstehe ich einen strikt dialogreflexiven, im Diskurs mit einem
Skeptiker geführten, Erweis einer ursprünglichen und unhintergehbaren Anerkennung von
Verantwortungspflichten. ›Ursprünglich‹ kann man diese Anerkennung nennen, weil sie zugleich
mit dem Ins-Spiel-Bringen der eigenen Freiheit verwoben ist; und als argumentativ
unhintergehbar muß sie gelten, weil sie bereits dem etwas Denken und etwas Geltendmachen
zugrunde liegt: eine Sinnbedingung des Denkens als Selbstgespräch und Gespräch.
Doch zunächst zu dem ersten, validierungsbedürftigen Begründungszug, der Rekonstruktion:
Kommunikative Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, indem wir etwas Eigenes ins Spiel
bringen (etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und responsorische Verantwortung, die
wir anerkennen, indem wir Anderen gegenüber etwas zur Geltung bringen, sind von vornherein
an dem logischen und ontologischen Ort verwoben, an dem wir von beiden immer schon
Gebrauch gemacht und die Anerkennung beider immer schon mitvollzogen haben. Dieser Ort ist
der Dialog.
Im Dialog machen wir von unserer Freiheit unvermeidlich Gebrauch, indem wir Ansprüche auf
Geltung für das, was wir vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch
nur in dem Maße ins Spiel bringen, als wir zur Verantwortung, nämlich zunächst für die
Einlösung unserer eigenen Geltungsansprüche, bereit sind, und zwar gegenüber den Anderen,
die am Dialog teilnehmen, ferner gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche
es gehen mag, und schließlich vor dem argumentativen Diskurs bzw. einer unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft als der Instanz für die Gültigkeit aller Diskursbeiträge. Gleich
ursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen
mit sinnvollen Argumenten Rede und Antwort stehen können muß. So ist in der Dialogsituation
die eigene Freiheit gleich ursprünglich mit der eigenen Bereitschaft, sich für das zu
verantworten, was man frei äußert; bringt man es doch aus freien Stücken anderen gegenüber zur
Geltung.
Zu der vorweg anerkannten Bereitschaft, sich selbst für das Gesagte durch das Geben von
Gründen zu verantworten, tritt die ebenfalls im vorhinein anerkannte Bereitschaft,
mitverantwortlich zu sein für die Problemlösung im gemeinsamen Diskurs für ein
geltungsfähiges Diskursergebnis, also für das beste Argument, und schließlich – nunmehr
lebenspraktisch und diskursextern – auch darüber hinaus für die Realisierungsbedingungen des
Diskurses, von denen später die Rede sein wird.
354
Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480.
230
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Der erste Begründungsschritt bestünde also darin, zu rekonstruieren, daß mit der
kommunikativen Freiheit zugleich eine faktische Verantwortungsfähigkeit und die (von ‚mir’ als
Diskurspartner
vorausgesetzte
wie
auch
seitens
der
Anderen
von
mir
erwartete)
Verantwortungsbereitschaft verwoben ist. Und zwar deshalb, weil jeder diese Bereitschaft
bereits implizit anerkannt hat, in dem er überhaupt etwas zu verstehen gibt und etwas geltend
macht.
In
einem
zweiten
Begründungsschritt
würde
dann
die
so
rekonstruierte
Kommunikationsvoraussetzung zunächst hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit bezweifelt, damit
nun – im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die Möglichkeit dieses Bezweifelns geprüft
werden kann. Wenn sich in der Prüfung herausstellt, daß der angemeldete Geltungszweifel für
die konkreten Dialogpartner des Skeptikers nicht als diskutierbarer Dialogbeitrag verstehbar ist,
dann kann er nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel nicht das Sein des Zweifelgegenstandes.
D.h.: dann gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs, es ist also ein Stück des Geltungsbodens
und des Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als Denkender und Kommunizierender selber
steht.
In einem reflexiv sokratischen Dialog mit dem Skeptiker zeigt sich: Eine Bezweiflung der
Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Verantwortung und damit ‚meiner’ Verpflichtung zur
Verantwortung für den Dialog wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch. Einen solchen
Zweifel kann ‚ich‘ meinen Dialogpartnern gegenüber nicht ernsthaft vertreten. Denn ‚meine‘
Diskurspartner können nur einen solchen Zweifler verstehen und hinsichtlich seiner
Dialogbeiträge ernstnehmen, der zugleich seine kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt
diese Zweifelsthese zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische
Verhältnis sowohl einbringt als auch aufrechterhält. So muß er im Dialog dafür verantwortlich
sein, daß er den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt; Beiträge, für die er
glaubwürdig, ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut er nicht,
wenn er dasjenige in Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst) als
gemeinsame Sinnbasis beanspruchen und voraussetzen muß.
Vielleicht hätte Jonas diese dialogische (mithin geltungslogische) und zugleich ontologische (auf
das Sein des Zweiflers und seiner Gemeinschaft zurückgehende) Argumentation überzeugt.
Leider war ich selbst zu seinen Lebzeiten noch nicht weit genug im reflexiven Denken
gekommen, um sie pointiert vorzubringen. Jedenfalls läßt sich die Kantische, Hans Jonas durch
Gadamer offerierte, Lehre eines moralischen „Faktums der Vernunft“ auf diese Weise
231
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
dialogpragmatisch dechiffrieren, indem man sie überführt in eine Lehre des einsehbaren
Anerkannthabens von Verantwortlichkeit und des einholbaren Realisierthabens von Freiheit auf
dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs. Den entscheidenden
Anstoß zu dieser dialogischen Aufhebung von Kants nochmals vernunftmetaphysischem
Versuch hat Apel 1967/1973 gegeben, als er dessen Rede vom „Faktum der Vernunft“
transzendentalpragmatisch „dechiffrieren“ wollte, indem er sie als ein, wenn auch begrifflich
verunglücktes, „Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung“ rekonstruierte.355
Die
von
Jonas
metaphysisch,
von
Apel
transzendentalpragmatisch
angenommene
Unhintergehbarkeit von Freiheit und Verantwortlichkeit läßt sich also in der Tat erweisen: in
einem realen Dialog mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘‚meinem‘
Partner demonstrieren, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte, weil er dann von
‚mir‘ (und anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt
werden könnte, wenn er das Verwobensein seiner Freiheit mit seinem VerantwortlichseinWollen und Verantwortlichsein-Sollen in Zweifel zieht. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für
den Zweifler negativ aus, dann ist dialogevident, daß der von dem Rekonstrukteur geltend
gemachte normative Gehalt in der Tat eine Sinnbedingung argumentativer Diskurse ist – also
eine wahrhaft verbindliche Grundnorm.
Auf diese Weise bringt eine reflexiv sokratische Dialog- und Diskurspragmatik zwei
nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit Jonas ein. Erstens bietet sie einen
Gültigkeitstest der ethischen Intuitionen, die wir aus der Lebenswelt mitbringen. Mit Recht legt
Jonas auf deren Erschließung großen Wert. Es ist der Rückgang auf allgemein einsichtsfähige
Moralintuitionen, der seinem wertphänomenologischen Ansatz, durchaus im Unterschied zu dem
transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’ verfahrensförmigem
Diskursansatz, eine attraktive Konkretheit und starke Motivationskraft verleiht. Beides kann eine
Vernunftethik wie die Diskursethik nur gewinnen, wenn sie – im Anschluß an Jonas –
transformiert wird zu einer sokratischen Ethikbegründung durch Rekonstruktion und reflexive
Prüfung jener ethischen Intuitionen, die wir als leibhafte Diskursteilnehmer a priori mitbringen
und deren normative Verbindlichkeit wir als reflektierende Dialogpartner nicht ernsthaft
bezweifeln können. Das wäre eine Intuitionen erschließende und prüfende Ethik des Sich-imDialog-Verantwortens. Ihr Ausgangspunkt wäre ein sinnkritischer Verbindlichkeitsdiskurs:
>Welche normativen Gehalte lebensweltlicher ethischer Intuitionen mußt du – der du ein
355
Apel, Transformation II, S. 418.
232
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
glaubwürdiger Diskurspartner sein willst – als verbindlich anerkennen, um dich nicht in einen
performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln und dadurch die von ‚dir’ beanspruchte
Glaubwürdigkeit zu verlieren?<
Zweitens behebt die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik Jonas’ Begründungsdefizit und
Kriteriendefizit. Denn sie kann nicht nur den fehlenden Verbindlichkeitserweis seines
kategorischen Imperativs erbringen, sondern integriert diesen auch zwanglos in ein letzthinniges
Moralprinzip – höherrangig gegenüber jedem situativen Vermeidungsprinzip, als das Jonas’
Bewahrungsprinzip verstanden werden kann. Als letzter Geltungsboden ergibt sich dann das
Prinzip des Sich (im Diskurs) Verantwortens. Dieses indiziert wiederum differenzierende
Konkretionen sowohl auf der idealisierenden Ebene der Ziel- und Richtungsdiskurse („Was
sollen wir eigentlich in dieser Lage anstreben?“), für die Jonas Gedankenexperimente wie das
der Wette einsetzt, als auch auf der realitätsschweren Ebene moralstrategischer Diskurse; worauf
ich in den Kapiteln II 4 und III 4 zurückkomme. Wenn es gelingt, diese Begründungsaufgaben
und Konkretionsaufgaben praktischer Vernunft zu lösen, erst dann ist die innere
Herausforderung der praktischen Vernunft durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation
wirklich angenommen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen Geistes
aufgehoben.
Der reflexive philosophische Diskurs, der eine solche Prinzipienbegründung erlaubt – eben durch
die umrissene sokratische Reflexion in einem aktuell geführten Dialog auf Sinnbedingungen
eines jeden argumentativen Diskurses – ist der zweite Namensgeber der Diskursethik. Hier
kommt der Begriff nämlich im Sinne des genitivus obiectivus ins Spiel. Denn die
dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln mit Habermas’
„formalpragmatischer“ bzw. „diskurstheoretischer“ Schwundstufe von Diskursethik – ist eine
allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische sondern dialogreflexive Begründung des
Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht sich durch Diskurs und im Diskurs.
An einem solchen Begründungsdiskurs oder reflexiv philosophischen Diskurs kann jeder
teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig, insofern sie jederzeit intersubjektiv nachprüfbar
sind. In diesem zweiten Sinne bedeutet „Diskursethik“ so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von
reflexiven Dialogen im Gespräch mit dem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit
und Verbindlichkeit eines Prinzips vorbringt.
Das, was nach der Prinzipienbegründung, also nach geleistetem Verbindlichkeitserweis des
Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der Menschengattung und für Fortschritte in
233
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit, noch zu denken und immer wieder zu tun bleibt, ist
mehr als genug: die Bewältigung der äußeren Herausforderungen der praktischen Vernunft
durch die technologische Zivilisation, also die Eindämmung der Menschheits- und
Naturgefährdungen – zugunsten einer „Weiterwohnlichkeit der Welt“ und zugunsten der
„künftigen Integrität des ‚Ebenbildes‘“, wie Jonas mit Recht sagt.356
6.3
Welche Risiken lassen sich verantworten? Jonas’ Gedankenexperimente: die
„Heuristik der [moralischen] Furcht um den Menschen“ und „das Element der
Wette im Handeln“
Um
angesichts
der
Menschheits-
und
Naturgefährdungen
zu
moralischen
Handlungsorientierungen im Sinne umfassender Verantwortungspflichten zu gelangen, schlägt
Jonas
zwei
Wege
Verantwortungsintuitionen
ein:
die
aus
phänomenologische
der
Lebenswelt
und
Herausarbeitung
die
ethischer
Durchführung
von
Gedankenexperimenten zu deren Prüfung. Diese „Denkexperimente“ sollen die Prinzipienfrage
>Was sollen wir eigentlich tun?< beantworten, und zwar vor dem Hintergrund der
unvermeidlichen
Risikobeladenheit
menschlichen
Handelns
im allgemeinen
und
des
technologievermittelten bzw. technologischen Handelns im besonderen. Es wird also –
moralintrinsisch – nach richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen gesucht, nach Richtlinien
des moralischen Sollens, die als Prinzipien gelten können.
Das Gedankenexperiment der „Heuristik der Furcht“ nimmt zwei, in der lebensweltlichen
Sittlichkeit verankerte, Intuitionen auf: die zukunftsethisch belangvolle Intuition, daß die
Bewahrung des Menschen, so wie er ist, ein lohnendes Ziel ist357, und die allgemeine
Gerechtigkeitsintuition, man solle die Rechts- und Lebensansprüche der möglichen Betroffenen
zur Geltung bringen, indem man deren Standpunkt einnimmt. Die erstgenannte Intuition, die der
Zukunftsethik die Perspektive der Menschheitsbewahrung vorgibt, gibt den normativen Rahmen
ab: jedes Risiko müsse vereinbar sein mit der Permanenz moralfähigen Lebens auf Erden. Im
Hintergrund steht eine „moralische Furcht“, die „Furcht um den Menschen“ in der
356
Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, 1987, S. 46 und Prinzip
Verantwortung S. 393.
357
Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von Ernst
Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden ist. Vgl. Jonas:
Prinzip Verantwortung, S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M.: Insel, 1985, S.
298ff. Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend,
Münster: LIT, 2005 (zit.: Jonas, 2005), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“,
Einl. zu: Jonas, 2005, S. 15-18.
234
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
hochtechnologischen
Zivilisation358.
Wachsen
die
kumulativen
Folgen
der
industriegesellschaftlich normalen Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“Gangs den sittlichen Fähigkeiten des Menschen über den Kopf und das Herz?
So verbindet sich mit der anfänglichen ökologisch ethischen Furcht eine intern moralische
Sorge. Denn nicht allein die ökologische Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch
vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der
hochtechnologischen Forschung überschreitet, wie wir gesehen haben, längst jedes gewohnte
ethische
Maß:
Die
molekularbiologischen
Manipulationsmöglichkeiten
und
Konstruktionsmöglichkeiten menschlichen Lebens überrennen die moralischen Grenzen, welche
unsere ethischen Intuitionen und religiösen Vorstellungen vom Menschen als dem unantastbaren
Ebenbild Gottes geachtet bzw. selbst gesetzt hatten. Hier kann einen – wie Jonas selbst immer
wieder gesteht – allerdings das metaphysische Gruseln überkommen.
Für die konkrete Risikobeurteilung bringt Jonas mit der „Heuristik der Furcht“ zunächst einen
diskursethischen Rollentausch ins Spiel. Er nimmt den Standpunkt der Betroffenen ein, indem er
den Lesern einen negativen Wert-Test vor Augen führt, der Gefühl und Dialog, jedenfalls
impliziten Dialog mit den Betroffenen, verbindet. Etwa so: ‚Überlege zunächst, welche Folgen
deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der
Betroffenen Furcht einflößen würden.’
Dieses Denkexperiment provoziert die moralische Phantasie359, indem es uns, die Leser, auf die
Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur
Begründung führt Jonas eine vertraute logische Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung an:
Dasjenige, „was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muß die
Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir
wirklich schätzen“.360 Vorsichtig hebt Jonas hervor, das wertethische Gedankenexperiment der
vorgestellten schlechten Fernwirkungen, gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein
hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung. Ihm kommt nur der Stellenwert einer
Findekunst bzw. eines brain storming zu.361.
Jonas’ zweites Gedankenexperiment geht von der realistischen Einsicht aus, die Hannah Arendt
im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie entwickelt hat362, die Einsicht, daß alles Handeln
des Menschen riskant und in seinem Risiko schwer einschätzbar ist. Er pointiert dieses intuitive
358
Jonas, 2005, S. 137. Ders., Prinzip Verantwortung, S. 63-65.
Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen
Revolution, München 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, ››Kann Phantasie moralisch werden?‹‹, in:
J.P. Wills, Anthropologie und Ethik, Tübingen 1997, S. 41-63.
360
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 64.
361
Ebd., S. 63 ff.
359
235
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Lebenswissen durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel: Das Prinzip auch der
neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen könnten wir
erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette reflektieren, das in allem
menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten ist, und uns
fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen, wetten darf.“363
Das Gedankenexperiment der Wette ist ein zur Abhandlung stilisiertes moralisches
Selbstgespräch: ein monologisch zurückgenommener praktischer Diskurs, den ein bereits
moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter
Projektbefürworter – ein Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit
sich selbst führt. Er führt seinen Diskurs faktisch allein mit sich – aber logisch vor der
Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Diese Instanz bringt Jonas
implizit ins Spiel, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum Leitfaden
nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten Argument, dem
die Betroffenen würden zustimmen können, suchen läßt. Komplementär zum vorausgegangenen
heuristischen Denkexperiment setzt dieses gleich mit der Perspektive eines Handelnden in der
technologischen Zivilisation ein, welcher weiß, daß seine Handlungen eine kaum begrenzbare
Auswirkungsdimension haben können und daß eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell
ungewiß bzw. unsicher bleibt.364 Hier wird also schon auf der Grundlage einer moralischen
Heuristik der Furcht und eines fallibilistischen Bewußtseins argumentiert.
In die, von Jonas selbst angespielte, Form des moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir
sein Diskurs-Gedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen: „Du, der du Interesse an
einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette
haben darf und stelle dir die Frage: ‚Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?‘“ Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen,
um nichts wetten darf, was einem nicht gehört“365.
Allerdings erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt: Mit ihr „ließe
sich nicht leben, da bei der unlöslichen Verflechtung menschlicher Angelegenheiten wie aller
Dinge es sich gar nicht vermeiden läßt, daß mein Handeln das Schicksal Anderer in
362
H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 71994, §§ 26-34.
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 77.
364
Ebd., S. 76.
365
Ebd., S. 77.
363
236
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Mitleidenschaft
zieht“.366
Infolgedessen dürftest du, wenn du daraus ein direktes
Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln. Das Risiko, die Interessen Anderer zu
beeinträchtigen, gehört zu den unaufhebbaren Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in
der vielfach verflochtenen und nicht (mit Sicherheit) prognostizierbaren Welt. Hierin trifft sich
Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie mit Popper, Skirbekk367 und der Diskurspragmatik.
Andererseits zeigt sich eine gewisse Berechtigung jener intuitiven Antwort, wenn folgende
Qualifizierung des Wettverbots vorgenommen wird: „Der Einsatz darf nie das Ganze der
Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“368. Allerdings kann man
hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisensituationen, in denen sich das drohende
größte Übel nur durch den höchsten Einsatz, hier des Lebens Vieler, abwenden lasse; man denke
nur an den Fall eines kriegerischen Angriffs, der allein durch militärische Verteidigung, mithin
durch Einsatz des Lebens vieler Soldaten, abgewendet werden kann. Demnach ist also auch das
neue Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht
unbedingt gültig, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen – nicht aber in der
Alternative Sein oder Nichtsein, welche vielmehr zur Notwehr und zum höchsten Noteinsatz
berechtigt.
Doch trifft das Extrembeispiel überhaupt auf denjenigen zu, der das Interesse eines
technologischen Fortschritts geltend macht? Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“
werden doch nicht, so setzt Jonas das diskursive Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des
Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen
Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der
Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der
mitbetroffenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“369
Mit diesem Gedankenexperiment geht Jonas über seine kontemplative phänomenologische und
ontologische Perspektive hinaus, indem er in der verkappten Dialogform eines argumentativen
Selbstgesprächs denkt. Er argumentiert mit Pro und Contra; sein moralischer Projektbefürworter
muß sich über Rede und Gegenrede verantworten. Dabei arbeitet Jonas, wenngleich er nicht aus
dem Dialog denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, im Sinne einer
366
A. a. O.
G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris: Harmattan, 1999, chap. III, V, VIII. Ders., Praxeologie
der Moderne, Weilerswist: Velbrück, 2002.
368
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 78.
367
237
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Denn sein Moralfreund ist de facto sorgsam
darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen aller
Anderen zu befolgen.
Freilich leistet das diskursbezogene Gedankenexperiment der Wette zweierlei nicht: einmal gibt
es nichts für die Begründung her, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische
Verpflichtungen habe; zudem fehlt eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung von Max
Webers Problem einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen, wenig
moralischen Welt. Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen Imperativs oder
Habermas’ Verfahrensidee eines (idealen) praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’
Diskursexperiment der Wette gleichsam auf der idealisierenden Begründungsebene A stehen. Zu
erfolgsverantwortungsethischen Kriterien einer moralstrategischen Urteilsbildung stößt es nicht
vor.
Was das Gedankenexperiment leistet, ist dieses: Angesichts der weltgeschichtlich neuen
Situation unbegrenzter, die Gattung gefährdender Handlungsfolgen klärt und rekonstruiert es den
Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition. Indem Jonas solche allgemeinen
lebensweltlichen Moralintuitionen rekonstruiert und diese direkt auf die neuartige technologische
Problem- bzw. Handlungssituation bezieht, gewinnt seine Verantwortungsethik eine zugleich
motivierende und orientierende Kraft. Daran fehlte es, wie Wolfgang Kuhlmann frühzeitig
herausgearbeitet hat, der Diskursethik bislang.370 Erstaunlicherweise hat K.-O. Apel, wiewohl er
den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der Ebene B betont und wiewohl er
dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für moralisches Handeln sondern auch
die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen Moralbedingungen ins Auge faßt, an dieser
Stelle überhaupt kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß
er auf der Ebene B eine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, nicht
vorgesehen hat.
Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der verantwortungsethischen Beratungen
und Erörterungen die sozialanthropologisch tiefliegenden Fürsorgeintuitionen und der ihnen
eigentümlichen Umsicht samt konservativen Vorsicht zu berücksichtigen, die an der
lebensweltlichen Verantwortungsinstitution der ‚Elternschaft’ und der elementarpolitischen
Institution ‚Regent’ oder ‚Regierung’ haften? Sollte hier nicht die Diskursethik der
Bewahrungsaufgabe besonderen Nachdruck verleihen? Sie kann das, indem sie im Lichte des
369
370
Ebd., S. 79.
Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: Böhler (Hg.), E.Z., S. 277-302.
238
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Dialog-Moralprinzips (D) nach moralischen Ressourcen fragt, die einer Annäherung an dessen
regulativen Gehalt in der Praxis förderlich sind: Was ist es, das in der sozialen Welt einem
Erfolg des Moralischen entgegen kommt? Woran sollte eine moralische Strategie daher
behutsam anknüpfen, anstatt es in zorniger Anti-Haltung aufs Spiel zu setzen? Demzufolge läßt
sich für diese Suche nach dem Erfolg des Moralischen ein erster Imperativ (B 1) der moralischen
Erfolgsverantwortung angeben:
›Prüft, welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem Moralprinzip (D) gerecht
werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹371
Wenn wir nunmehr zurückblicken, um Jonas’ und Apels Ansätze als Antworten auf die
technologische westliche Moderne zu bewerten, wenn wir außerdem Apels Ansatz
transformieren in ein sokratisches und intuitionssensibles Denken aus dem Dialog, dann mag
sich folgendes Schema ergeben.
371
So D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil.“ In: Böhler/Brune, 2004, hier S. 139
f., 147 f.
239
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Technologische und geistige Herausforderungen
der modernen Zivilisation
Jonas
Von Apel zum Dialog-Denken
Verantwortungsprobleme durch
Handlungs- und Wirkungsdivergenzen:
Paralyse des Verantwortungsdenkens durch
das „Komplementaritätssystem“
der westlichen Moderne:
(1) technologische Wirkmacht
– Ohnmacht des Folgen-Wissens,
(2) Macht der Naturwissenschaften
(a) zweck-rationalistisch verengt auf das moralfrei Analysierbare/Kalkulierbare,
(b) Moral privatisiert und irrationalisiert als Sache
– Verunsicherung (u. Bezweiflung)
religiös-ethischen Normwissens.
existentieller bzw. religiöser Entscheidungen,
mithin werden moralische Ansprüche Künftiger nicht als Geltungsansprüche geachtet.
Behebungsversuch:
Aufhebungsversuch:
(Moral.) Motivation durch Sensibilisierung für
moral. Ansprüche zukünftiger Generationen:
– „Heuristik der Furcht“
– Um was darfst du wetten?
→ „Prinzip Verantwortung!“
Sokratisch-sinnkritischer Rückgang auf das, was du
als Dialogpartner nicht sinnvoll bezweifeln kannst,
z.B. die Pflicht, alle sinnvoll im Dialog vertretbaren
und begründbaren Ansprüche zu berücksichtigen
Unklar: Unter welchen Voraussetzungen können
moralische Ansprüche Künftiger
mißachtet werden?
Offen:
6.4
Verbindlichkeitserweis der Pflicht, sie zu
berücksichtigen
Begründung von und Motivation zu universaler
und Zukunftsverantwortung
→ Einsicht in meine Ansprüche/Pflichten als
Dialogpartner: Prinzip D
Gehalte des Moralprinzips und der Sinn von ‚Verantwortung’
Wenn Jonas auf lebensweltliche ethische Intuitionen zurückgeht, tut er das als behutsamer
Phänomenologe: situationsbezogen und sinnkritisch. Im Unterschied zu Ernst Blochs utopischer
Metaphysik, die Jonas im sechsten Kapitel des „Prinzips Verantwortung“ einer unerbittlichen
Sinnkritik unterwirft372, bezieht er sich nicht auf Wunschträume, auf Paradiesvorstellungen, auf
Unsterblichkeitsphantasien etc., sondern auf konkrete Intuitionen mit normativem Gehalt. Als
Phänomenologe rekonstruiert er den Anspruch eines „Du sollst!“ so, wie wir ihn in
372
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 316 ff. Unter einer Aufhebungsperspektive wird Jonas’ Utopiekritik diskutiert
in H. Gronke, „Epoché der Utopie. Verteidigung des <Prinzips Verantwortung> gegen seine liberalen Kritiker,
seine konservativen Bewunderer und gegen Hans Jonas selbst“, in: D. Böhler (Hg.), E. Z., S. 407-427.
240
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
archetypischen Appellsituationen mitverstehen. Kritisch gegenüber dem hier nicht auf die
Voraussetzungen reflektierenden Jonas sollte man aber explizieren, was dieses Mitverstehen
voraussetzt und ins Spiel bringt: Sofern wir nämlich bereits ein Vorverständnis des (logisch
symmetrischen) Moralprinzips der zu verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit haben und es im
vorhinein
bereits
anerkannt
haben,
verstehen
wir
auch
gewisse
asymmetrische
Appellsituationen, sofern wir uns (durch idealen Rollentausch) in die Lage der ohnmächtigen
Betroffenen versetzen, verstehen wir sie als Appell an unser Verantwortungsgefühl. Und wir
verstehen sie dann nicht bloß in diesem Sinne; nein, wir können dann prüfen, ob es sich dabei
um eine berechtigte Herausforderung unserer Verantwortungsbereitschaft für etwas handelt –
nämlich für etwas, das uns seinswürdig und schutzwürdig aber ohnmächtig gegenübersteht und
von unserer Handlungsmacht abhängt – so wie das Kind den Eltern gegenübersteht, in gewisser
Weise aber auch die Natur der technischen Zivilisation.
Das von ihm anfänglich nur vorausgesetzte „ethische Grundprinzip“ führt Jonas als
„ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen“ ein.373 Was er dabei im Sinn hat, ist
„wirkliches Menschentum“374 oder „echtes menschliches Leben“, das als solches Moralfähigkeit
und Verantwortungsfähigkeit einschließt. In diesem Sinne formuliert er seinen Imperativ, der auf
den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von Handlungssubjekten
gerichtet ist (...): „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“375
Bei der Entfaltung dieses Zukunftsprinzips nimmt Jonas vor allem eine Bewahrungsperspektive
ein: „Daß eine Menschheit sei“ gilt ihm als „der erste Imperativ“, den eine kollektive
Prinzipienethik im technologischen Gefahrenzeitalter geltend zu machen habe.376 Ist jene
Perspektive zureichend oder müßte sie durch eine moralische Emanzipations- und
Entwicklungsperspektive erweitert werden? So fragte Apel kritisch auf dem Bonner Kongreß
über „Zukunftsethik und Industriegesellschaft“ im Jahre 1985.377
Für eine solche Erweiterung spricht, von Jonas her geurteilt, daß er selbst in der praxisbezogenen
Fortführung seines „Prinzips Verantwortung“ (1978), in „Technik, Medizin und Ethik. Zur
Praxis des Prinzips Verantwortung“ (1985), das „echte menschliche Leben“ als das verantwortungsfähige Leben versteht, dem als solchem einzigartige Würde zukomme:
Menschenwürde. Hier argumentiert er ausdrücklich vom Grundsatz der zu achtenden
373
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 91 f.
Ebd., S. 89.
375
Ebd., S. 36.
376
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 90 f.
374
241
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Menschenwürde her. Damit nimmt er ein „höherrangiges Kriterium“ (M. Werner)378 als das der
bloßen Gattungsbewahrung in Anspruch und verweist insofern auf ein von ihm selbst nicht
erfülltes Desiderat. Es besteht darin, die Gehalte und Kriterien des neuen situationsbezogenen
Prinzips einer kollektiven Zukunftsverantwortung ins Verhältnis zu dem allgemeinen
Moralprinzip setzen, um so eindeutig über eine Ethik der Katastrophenvermeidung
hinauszukommen,
damit
man
(logisch
universale)
Kriterien
für
die
Beurteilung
verschiedenartiger gesellschaftlicher Betroffenheitssituationen zur Hand hat. Schließlich lassen
sich nicht alle moralischen Konflikte auf so elementare Fragen wie die des Erhalts der Gattung
oder ihrer Moralfähigkeit zurückzuführen.
6.5
Moralprinzip und regulative Ideen oder: Dialektik von Bewahrung der Gattung
und Fortschritt in der Verantwortung
Bereits seit 1967 für eine Ethik der solidarischen Menschheitsverantwortung eintretend379, hat
Karl-Otto Apel zu jener Verhältnisbestimmung beigetragen. So warf er im Diskurs mit Jonas die
Frage auf, „ob das Dasein und die Würde des Menschen durch bloßes Bewahren des jetzigen
Zustandes überhaupt zu retten sind. Genauer: ist die Natur des Menschen und seiner, längst
schon technisch und sozio-kulturell umgeformten, Umwelt nicht so beschaffen, daß sie ohne eine
regulative Idee des technischen und des sozialen Fortschritts nicht bewahrt werden können? Ist
zumal die Möglichkeit einer ethischen Bewahrung der Würde des Menschen nicht apriori an die
Bedingung geknüpft, daß sie auch immer noch erst realisiert werden muß – insbesondere im
Sinne einer weltweiten Herstellung menschenwürdiger sozialer Verhältnisse?“380 Worum geht es
Apel? Undeutlich wird seine Intuition durch die heikle Rede von einer regulativen Idee des
technischen und sozialen Fortschritts, die dem geltungslogischen Status dieses Begriffs
zuwiderläuft. Dazu gleich. Halten wir zunächst immanent fest: In entschiedener Abgrenzung
vom Begriff der Utopie, der sich auf einen erhofften, oft paradiesisch ausgemalten, andersartigen
Weltzustand bezieht und dem praktisch das Streben nach einer solchen Welt entspricht,381, hat
377
Vgl. Th. Meyer u. S. Miller (Hg.), Zukunftsethik und Industriegesellschaft. München: J. Schweizer Verlag, 1986.
Vgl. M. Werner, „Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?“ In: W. E. Müller
(Hrsg.): Hans Jonas: Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik. Stuttgart (W. Kohlhammer) 2003, S.
235. Vgl. ders., „Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung“. In: M. Düwell, K. Steigleder (Hrsg.): Bioethik – eine
Einführung, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003, S. 43f.
379
Karl-Otto Apel, Transformation II, S. 378 ff..
380
Ders. in: Diskurs (1988), S. 184 u. 185.
381
Ders., „Ist die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?“, in: W. Voßkamp (Hg),
Utopieforschung, Frankf./Main (Suhrkamp Tb) 1985, S. 325-355
378
242
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Apel die „regulative Idee einer Realisierung der Gerechtigkeit im planetarischen Maßstab“382 als
soziale Emanzipations- und moralische Fortschrittsperspektive im Sinn.
Apels
„Transformation“
der
Vernunftphilosophie
Kants
in
eine
Diskurs-
und
Kommunikationsphilosophie gelangt zu einer neuen zwiefachen Sinnbestimmung der Vernunft:
kommunikative Geltungsinstanz – Vernunft als argumentativer Diskurs – und kommunikative
moralische Kompetenz – Vernunft als die Fähigkeit und vorausgesetzte Bereitschaft,
Geltungsansprüche argumentativ und kooperativ zu prüfen bzw. einzulösen. In diesem
Begründungszusammenhang, der geltungstheoretischen Grundlagenproblematik der Philosophie
also, greift Apel auf Kant und Peirce zurück, indem er die kontrafaktischen Aspekte dieses
Vernunftbegriffs als „regulative Ideen“ versteht. Angeregt von Charles Sanders Peirces
forschungspragmatischer Kantkritik,383 orientiert er sich an Kants kritisch einschränkender
Statusbestimmung der spekulativen Vernunftideen. Kritisch gegenüber dem „dialektischen
Schein“ der Vernunftmetaphysik, die von Idee zu Idee spekulierte, schrieb Kant allen
Vernunftideen ja nurmehr eine regulative Bedeutung für den Erkenntnisprozeß zu, nicht länger
eine erkenntniskonstitutive, also Wahrheit ermöglichende Rolle.384
Im Blick darauf knüpft Apel an Peirces Idee eines argumentativen und empirisch theoretischen
Konsensus an, der sich in the long run in der Forschungs- und Dateninterpretationsgemeinschaft
einstellen und zu einer „ultimate opinion“ der Naturwissenschaftler (hinsichtlich ihrer Definition
des Realen) führen würde. Er erläutert, daß dieses Konzept einer kontrafaktischen Gültigkeit
zurückgeht „auf Kants >Vernunft<-Konzeption des ‚regulativen Prinzips’, das den Klarheitsund Wahrheitsfortschritt des sich empirisch korrigierenden Erkenntnisprozesses gerade dadurch
anzuleiten vermag, daß ihm nichts Empirisches jemals vollständig entsprechen kann.“385
Aus dem Zusammenhang, in dem Kant, Peirce und Apel den Begriff eines regulativen Prinzips
bzw. des regulativen Gebrauchs und der regulativen Funktion von Ideen ursprünglich eingeführt
haben, erhellt eindeutig, daß wir es mit einem geltungstheoretischen Konzept zu tun haben.
Natürlich läßt es sich auch auf praktische Fragen anwenden und ist in praktischen Diskursen
nicht minder unentbehrlich als in theoretischen; ja es hat, wie Kant betont, selbst einen primär
praktischen Sinn – aber doch als Geltungskonzept. Ein regulatives Prinzip ist und bleibt ein
Prinzip der Geltung und also des Diskurses: ein ideales, kontrafaktisches Kriterium zur
382
Ebd. S. 185.
K.-O. Apel, „Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik“, in: ders.,
Transformation. Bd. 2, S. 157-177.
384
Kant, Logik, (Jäsche), in: Werke, ed. Weischedel, Frankfurt a.M. (Insel) 1958, Bd. III, S. 522.
385
Apel, Auseinandersetzungen, S. 563. Zur Sache: A. Damiani, 2002, a. a. O. (s.o., Anm. 157).
383
243
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Beurteilung der Gültigkeit von Thesen und Handlungen, von Behauptungen und Aufforderungen
bzw. Normen.
Freilich kann auch ein ideales Beurteilungskriterium, wie es das Konzept des rein
argumentativen Konsensus ist, durchaus einen moralischen Verpflichtungssinn haben und
insofern von praktischer Orientierungskraft sein. Das ist immer dann der Fall, wenn es sich nicht
ablösen läßt von moralischen Gehalten, die die Rolle des Argumentationspartners betreffen oder
gar tragen. Doch ist diese Orientierungsbedeutung immer eine solche für N.N. als
Diskursteilnehmer, so daß sie sich nicht in direkte Handlungsziele, gesellschaftliche
Entwicklungsperspektiven und dergleichen diskursexterne praktische Vorstellungen ummünzen
läßt. Die Orientierungsfunktion einer regulativen Idee bzw. eines regulativen Prinzips ist strikt
geltungsbezogen, daher primär diskursintern und nur insofern diskursüberschreitend und
praxisanleitend, als ihr moralischer Gehalt die Diskursteilnehmer dazu verpflichtet, die
Realisierungsbedingungen für argumentative Diskurse zu verbessern. Was heißt das?
Es bedeutet, die gesellschaftlichen und Umweltverhältnisse diskursförderlich zu gestalten, und
zwar in so hohem Maße wie nur möglich. Eben diese Fortschrittsverpflichtung ergibt sich
unzweifelhaft, wenn wir uns als Denkende, d.h. als Geltung beanspruchende Diskurspartner
fragen, wozu wir als solche verpflichtet sind. Dann stoßen wir nämlich auf eine Reihe von
regulativen
Ideen,
die
einen
zugleich
diskursinternen
und
diskursüberschreitenden
Orientierungssinn haben. Wenn das der Fall ist, kann man von einem diskurspraktischen
Verpflichtungsgehalt sprechen.
Es ist das Verdienst von Horst Gronke, Apels Kategorienfehler im Gebrauch des Begriffs
>regulative Idee< – als ginge es dabei um die Annäherung an einen idealen Weltzustand oder um
ein
diskursexternes
gesellschaftliches
Fortschreiten
–
aufgedeckt
zu
haben.386
Das
Dialogmoralprinzip selbst, welches aus unserer Selbstreflexion als Diskurspartner hervorgeht –
„Bemühe dich um das konsenswürdige Argument und die konsenswürdige Handlung!“ –, enthält
regulative Ideen, vor allem die eines argumentativen Konsenses. Diese lassen sich aber nicht
sinnvoll als direkte praktische Ziel- und Fortschrittsvorstellungen fassen, wie Apel und ich es
früher getan haben.
In seiner Kritik an Jonas ignoriert Apel, daß eine regulative Idee eine Geltungsidee ist, wenn er
gegen Jonas die direkte praktische Entwicklungsvorstellung eines „technischen und sozialen
244
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Fortschritts“ als eine regulative Idee ins Feld führt. Das ist ein Kategorienfehler. Apels Intention
jedoch, eine langfristige Emanzipationsperspektive zur Verbesserung der ökologischen
Verhältnisse und der sozialen Lebensbedingungen als moralische Langzeitverpflichtung zu
begründen, ja als eine unabschließbare moralische Aufgabe, hat m.E. in der Tat einen
diskurspraktischen Verpflichtungsgehalt; und insoweit ist sie unabweisbar. Sie läßt sich als
diskursbezogene Richtungspflicht erweisen, weil sie soviel besagt wie: >Als Diskurspartner
könnt ihr nicht bezweifeln, daß ihr die Pflicht habt, euch mitverantwortlich für ökologischen und
sozialen Fortschritt zur Verbesserung der Diskursbedingungen für alle Menschen zu engagieren,
denn als Diskurspartner wollt und sollt ihr je schon, daß die bestmöglichen Bedingungen für
Diskurse, also für Erkenntnis, Gerechtigkeit und Verantwortung realisiert werden.<
Diese Richtungspflicht läßt sich nun durch zwei Ideale näher bestimmen: ‚intakte Umwelt’ und
‚Gerechtigkeit samt Menschenwürde für jeden und jederzeit’. Dazu nehmen wir das Gespräch
mit Jonas wieder auf. Wenn man, wie es Hans Jonas und in seiner Nachfolge die christlichen
Kirchen tun, die Bewahrung der Schöpfung postuliert, setzt man damit das Ideal einer gleichsam
„intakten“ Umwelt des Menschen voraus. Angesichts einer Jahrtausende währenden
Kultivierung und Veränderung der außermenschlichen Natur wissen wir, daß eine intakte
Umwelt eben ein Ideal und kein real möglicher Zustand ist. Was kann also mit einer „intakten
Umwelt“ gemeint sein? Zugrunde liegt die Idee einer Ökosphäre, deren Belastungsgrenzen nicht
überschritten werden. Dafür zu sorgen, ist bereits eine ständige Aufgabe, kaum je ein Besitz.
Zudem erfahren wir durch Umweltzerstörungen, daß eine lebensdienliche, zuträgliche Umwelt
zugleich Vorbedingung für Gerechtigkeit unter den Zeitgenossen wie auch zwischen diesen und
den künftigen Generationen ist. So ergibt sich diese zwiefache Bestimmung des Postulats der
Zukunftsverantwortung: Ein Verhalten in Richtung auf das Ideal einer ‚intakten‘ Umwelt
ermöglicht erst die Herstellung gerechter Verhältnisse im Weltmaßstab. Andererseits schließt das
Moral-Ideal einer ubiquitären Gerechtigkeit und permanenten Achtung der Menschenwürde das
Seins-Ideal einer ‚intakten‘ Umwelt ein. Das eine läßt sich nicht ohne das andere denken. Und
beide Fernzielvorstellungen lassen sich lediglich als fortwährend sich erneuernde Aufgaben
verstehen, weil sie stets über das Erreichte hinausweisen.
386
Gronke, Horst: „Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mitverantwortung“. In: D. Böhler u. a.
(Hrsg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. (Suhrkamp)
2003, S. 260-282.
245
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Die Dialektik zwischen moralischer Bewahrungs- und Fortschrittsperspektive läßt sich an den
Verantwortungsdimensionen vor Augen führen, die im umweltethischen Diskurs hinsichtlich
sozio-ökologischer
Problemlagen
und
der
Nebenwirkungen
technologisch-industrieller
Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Hier geht es zunächst darum, die Bedürfnisse, Interessen
und Moralgüter aller Menschen, zumal die potentiellen Bedürfnisse, Interessen und Moralgüter
der zukünftigen Generationen, seitens der heutigen Generationen nach dem Kriterium der
Verständigungsgegenseitigkeit
kommunikativ
zu
ermitteln,
um
sie
auf
ihre
Zustimmungswürdigkeit hin zu prüfen und um diese ausschließlich diskursgerecht einzulösen.
Zur Diskursgerechtigkeit gehört selbstredend auch die Verpflichtung, die Naturgüter gerecht zu
verteilen. Insofern nun von einem Moralgut oder Naturgut gezeigt werden kann, daß dessen
Gewährleistung zu den Realisierungsbedingungen von öffentlichen, weltweit führbaren
Diskursen gehört und daß es sich dabei um eine permanente Aufgabe handelt, genau insoweit
können wir hier von einer regulativen Diskursidee sprechen. Und dann haben wir es mit einer
unbedingten Richtungspflicht zu tun.
246
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
247
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Verantwortung für die Permanenz
moralfähigen menschlichen Lebens auf Erden
Jonas’ implizite, von K.-O. Apel unklar
angemahnte, soziale Emanzipations- und
moralische Fortschrittsperspektive
Jonas’ ausdrückliche
ontologische Bewahrungsperspektive
Entfaltung der Diskurs- und Moralbedingungen
(samt Menschenwürde, -Rechten) für alle
als Sozialwesen, Bürger und Personen
Schutz, Pflege der Lebensbedingungen der
Menschengattung im ökologischen Ganzen
Ideal ›Gerechtigkeit und Menschenwürde für
jeden und jederzeit‹
Ideal ›intakte Umwelt‹
schließt ein
macht erst möglich
Prof. Dr. D. Böhler
© 2005 Hans Jonas-Zentrum Berlin e.V.
248
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
6.5
Verantwortung primär als Fürsorge oder primär als Rechtfertigung im
öffentlichen Diskurs? Moralphilosophie und demokratischer Rechtsstaat
Für eine moralische Beurteilung kommt es, weil und insofern sie einsichtige Verbindlichkeit
beansprucht, darauf an, daß wir genau wissen, ob es unbedingte moralische Verpflichtungen
gibt, die sich als allgemeingültige Prinzipien begründen lassen. Die Diskurspragmatik verweist
darauf, daß es sich dabei allein um jene Grundpflichten handeln kann, die wir alle als Etwas
Denkende und damit als Subjekte von Geltungsansprüchen gleichsam im Rücken haben. Was
haben wir derart im Rücken? Interne Sinnbedingungen und externe Realisierungsbedingungen
argumentativer Diskurse. Und wie lassen diese sich als solche erweisen? In zwei Hauptschritten
einer Erhellung dessen, was wir als Teilnehmer eines Diskurses in Anspruch nehmen müssen. Da
ist zunächst die theoretische Rekonstruktion interner Diskursvoraussetzungen, die unser
Vorverständnis vom argumentativen Dialog und unseren Pflichten in einem solchen auf den
Begriff bringt. Daran schließt sich die Validierung der Rekonstruktionsergebnisse an – die
sinnkritisch sokratische Reflexion. Sie prüft, ob ‚ich’ mit einem sinnvollen Diskursbeitrag in
Zweifel ziehen kann, daß einem Rekonstruktionsergebnis unbedingte Geltung zukommt, so daß
es für alle möglichen Diskurspartner verbindlich ist.
Nun bedarf es zweifellos gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rechtlicher und politischer Art,
um die Realisierung argumentativer Diskurse außerhalb eines stillen Kämmerleins und nicht
allein in einem philosophischen Seminar zu fördern. Argumentative Dialoge, die nicht in die
Gesellschaft ausstrahlen und an denen sie nicht beteiligt ist, können ihren ureigensten Anspruch,
den auf universale Gültigkeit, kaum umsetzen. In gewisser Hinsicht können sie ihn nicht einmal
glaubwürdig erheben, wenn die Gesellschaft nicht in den Diskurs miteinbezogen wird. Immer
dann nämlich, wenn die Interpretation einer gesellschaftlichen Situation oder die Ermittlung von
Bedürfnissen, Interessen bzw. Wertorientierungen von Bürgern in einen Diskurs hineinspielt.
In den neuzeitlichen, zumal den modernen Rechtsstaaten Europas und der Vereinigten Staaten
von Amerika sind Institutionen und Rechtsnormen, insonderheit Menschenrechte und
Bürgerrechte, erkämpft und schließlich etabliert worden, die sowohl die Idee argumentativer
Diskurse in die Gesellschaft eingebracht haben als auch die Philosophie und Wissenschaft zur
Gesellschaft hin geöffnet haben. So gibt es in den modernen Systemen des Rechts, der Politik
und ansatzweise auch der Wirtschaft einen Kordon von Institutionen und Foren, die den
Anspruch eines argumentativen Diskurses entweder mitinstitutionalisiert haben, wie das im
Verfahrens- und Prozeßrecht und schwächer in der parlamentarischen Repräsentation der Fall ist.
249
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Darin finden kulturelle und politische Grundansprüche aufgeklärter Bürger eine institutionelle
Entsprechung; allen voran der Anspruch auf Öffentlichkeit der politischen Entscheidungen und
auf allgemeine bürgerliche Partizipationsmöglichkeit.
Hinsichtlich dieser politischen Grundansprüche und in einer gewissen Abstufung, nämlich mit
kritischem Angemessenheitsvorbehalt, stellen sich der normativen Ethik die Fragen, ob damit
unverzichtbare Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse in den Blick getreten sind
und was das für eine Ethik der Zukunftsverantwortung bedeutet. Haben auch sie den hohen
Verpflichtungswert einer regulativen Diskursidee? Dann müßten sie eingeschlossen werden in
die von Jonas und der Diskursethik geltend gemachte Forderung, sowohl die Möglichkeit der
Verantwortung als auch die Moralansprüche der Nachgeborenen zu respektieren.
Denn jenes zukunftsethische Postulat erstreckt sich auch auf ein sensibles Engagement für die
Realisierungsbedingungen von Zukunftsverantwortlichkeit. Es geht heute darum, die personalen
und institutionellen Bedingungen – von der Bildung bis zum Rechtsstaat – zu bewahren und zu
verbessern, die es den Zukünftigen erlauben, ihrerseits verantwortlich zu handeln. Auch
Verantwortung im Sinne des Strebens nach einer möglichst intakten Umwelt setzt
Verantwortungsfreiheit voraus. Das heißt aber: nicht allein Freiheit im Diskurs, sondern auch
und zumal die Freiheit für alle, öffentlich Diskurse zu führen.
So einleuchtend diese Einbeziehung der politischen Realisierungsbedingungen in den
Gegenstand der Zukunftsverantwortung auch ist, ergeben sich hier doch erhebliche Differenzen
zwischen Jonas’ ontologischer Wert-Verantwortungsethik und der Diskurs-Verantwortungsethik.
Hans Jonas’ Angelpunkt ist, daß Verantwortungsfreiheit ein Sein voraussetzt, das der
Verantwortung Sinn gibt. Insofern bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die
Existenz der Menschengattung als Teil der Natur und die ihr zugehörige moralische Idee der
Menschheit (mit dem Kernbegriff ›Menschenwürde‹), zu bewahren. Für den Dialog zwischen
Jonas’ Ethik und der Diskursethik ergeben sich daraus zwei Jonassche Anfragen an die
Diskursethiker. Zunächst: Sind die Permanenz der Gattung und die Verbindlichkeit der Ideen
›Menschheit‹ und ›Menschenwürde‹ nicht unbedingte Diskursvoraussetzungen?
Das würden die Diskursethiker zweifellos bejahen, denn wie sollte ein Sich-Verantworten
möglich sein, das sich nicht auf diese beiden Ideen verpflichtet wüßte?
Allerdings würde Jonas dann, und zwar in erfolgsverantwortungsethischer Absicht, also in einer
„B“-Perspektive, die heikle Frage stellen, ob unter bestimmten Umständen nicht ein zeitweiliger
Dispens der Demokratie und die Errichtung einer Diktatur sinnvoll und angemessen, ja
verantwortungsethisch legitim sei, wenn in der Demokratie die Erfüllung jener beiden
Verantwortungspflichten nicht durchsetzbar zu sein scheine. Wenn sich – wie der US250
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
amerikanische Staatsbürger Jonas zu beobachten meinte oder doch befürchtete – das Dilemma
zwischen Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus
neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den Mut haben, zu sagen,
Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein,
daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“387 Und er erläuterte:
„Es wird mir immer vorgeworfen, ich wäre bereit, die Demokratie aufzugeben; aber ich würde
sie mit großem Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie
zeitweilig, sagen wir mal, suspendiert würde. Im antiken Rom gab es übrigens die Diktatur als
eine Institution, eine rechtliche Institution, die auf sechs Monate begrenzt war usw.
Daß man nicht unter allen Umständen auf dem Wege von parlamentarischen Sitzungen etc. und
von Wahlen, die sich alle vier Jahre wiederholen, immer eine Menschheitskrise meistern kann,
sollte doch evident sein.“388
Diskursethiker können die Gegenfrage stellen, ob sich eine solche Notmaßnahme als
erfolgsverantwortungsethische Konter-Strategie rechtfertigen läßt. Wenn ja, dann müßte sie
begründungsarchitektonisch und diskursbezogen an das Moralprinzip rückgebunden sein. Ist das
der Fall?
Machen wir Jonas’ Argument zunächst im Sinne von Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“
stark.
Jonas hat für seinen Not-Vorschlag heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von
Karl R. Popper389. Unberechtigt ist diese Kritik jedenfalls, wenn sie nicht genügend zwischen
faktischer öffentlicher Meinung bzw. Mehrheitsentscheidung und normativer Rechtfertigung
differenziert. Denn eine Ethik, der es um normative Legitimität und um unbedingte
Verpflichtungen geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei faktische Übereinkunft, weder einen
empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid, als Geltungsgrund für
die von der Mehrheit oder (im Extremfall) von allen, die abgestimmt haben, behauptete
Verantwortlichkeit oder Richtigkeit akzeptieren darf. Erforderlich ist ein nichtrelativierbarer
Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens und erst recht eine
Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit hin überprüfen läßt.
Es ist die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und
Relativismus, die Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit der dialogreflexiv
387
Gespräch mit E. Gebhardt, in: Ethik für die Zukunft (zit: EZ), S. 210. Vgl. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 254
f., 259-270, 302-305.
388
A.a.O., EZ, S. 211.
251
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
verfahrenden, normativen Diskursethik vereint. Beide Ansätze kommen de facto darin überein,
daß der gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den normativen
Konzepten „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und „Verantwortung
dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich
ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt. Diese beiden Konzepte
enthalten eine in ihrer Verbindlichkeit unbedingte, in ihrer Erfolgsfähigkeit von vielen
Bedingungen abhängige Pflicht, die die Richtung des Verhaltens angibt, der immer
nachzustreben sei.
Wenn die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht
erheblich zuwiderläuft, dann gehört – insoweit ihre Institutionen das zulassen – auch eine
Demokratie auf den Prüfstand; entweder müßten einige ihrer Institutionen verändert werden,
oder es stünde, falls die Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der
Demokratie an. „Was ich [aber] mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerste
Rettungsmaßnahme gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus
brennt oder ein Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmungen mehr machen,
und dann kann man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen
gewisse Notmaßnahmen ergriffen werden, ...“390
Um für ein solches Dilemma klare Kriterien zu erarbeiten, ersetzen die Diskursethiker die
unmittelbare Orientierung an den normativen gehalten des Moralprinzips, hier an Jonas’
Kategorischem
Imperativ
der
Zukunftsverantwortung
als
Maxime
im
Sinne
des
Begründungsschritts A2, durch die moralstrategische B-Perspektive einer Verantwortung für den
Erfolg des Moralischen.391
Zwar kann Jonas’ Relativierung der demokratischen Staats– und Regierungsform hinsichtlich
ihrer moralischen Prinzipienstrenge einleuchten. Andererseits ist Kritik daran nicht von der Hand
zu weisen, und das aus mehreren Gründen. Ein Grund liegt darin, daß Jonas die
begründungslogisch zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine moralische
Maxime gegen Widerständigkeiten durchsetzen will, weder in seiner Demokratiekritik noch im
Denkexperiment der Wette stellt: die Frage, welche Institutionen und Traditionen im jeweiligen
Veränderungsfeld dem Moralprinzip gerecht werden und daher bewahrt und möglichst
weiterentwickelt werden sollten. Diesen ersten Prüfauftrag der verantwortungsethischen
389
390
Vgl. das Interview mit K. R. Popper: DIE WELT, 8. Juli 1987.
Ethik für die Zukunft, S. 210 f.
252
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Diskurse,
gewissermaßen
die
Stufe
B
1,
überspringt
Jonas.
Er
bezieht
sein
Verantwortungsprinzip unmittelbar auf mögliche Widerstände, die aus der Demokratie entstehen
können. Hier ist jedoch eine Diskursdifferenzierung erforderlich, damit die Anwendung des
Verantwortungsprinzips nicht rigoristisch wird, sondern sich ihrerseits verantworten läßt; so
nämlich, daß nach Maßgabe verantwortungsethischer Kriterien Rechenschaft über die möglichen
Folgen abgelegt wird.
Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil Jonas die Frage nach der moralischen
Bewahrungswürdigkeit
geschichtlicher
verantwortungsethische
Stufe
Institutionen
berücksichtigt,
kann
er
nicht
als
einfach
die
eigenständige
Demokratie
als
Mehrheitsherrschaft ins Visier nehmen, ohne den moralisch hoch relevanten rechtsstaatlichen
Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat (mit den menschenrechtlichen Ideen
der französischen und der amerikanischen Revolution), überhaupt zu würdigen. Beziehen wir die
moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den modernen Verfassungsstaat, nehmen also die
Perspektive einer moralisch-politischen Erfolgsverantwortung ein, so wird klar, daß eine
Demokratiekritik weithin als immanente Kritik zu üben ist: geleitet von moralischen
Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu gehören Grundrechte (wie der Schutz
der Menschenwürde, die Freiheit der Persönlichkeit, der Meinung, der Presse, der Kunst, der
Wissenschaft und des Glaubens) und Verfahrensprinzipien (wie das der Öffentlichkeit und das
der formalen Revidierbarkeit von Beschlüssen), deren Kerngehalt als Moment bzw. als
Realisierungsbedingung des Diskurs-Moralprinzips sogar reflexiv letztbegründbar ist.
Wenn das aber der Fall ist, dann ist bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie
gegenüber einem demokratischen Rechtsstaat äußerste Vorsicht geboten. Deren Grenze ist dann
sofort in Sicht: die Strategie darf nicht pauschal ‚Dispens der Demokratie‘ heißen, jedenfalls
nicht ‚Dispens des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats’.
Nun könnte ein Demokratieskeptiker fragen, wie sich denn ein Moralitätserweis des
Kernbestands der rechtsstaatlichen Demokratie antreten lasse. Die Antwort des sokratischen
Diskurspragmatikers
würde
lauten:
durch
einen
Rückgang
auf
die
dialogförmige
Argumentationssituation, in der sich jeder als Fragender, etwas Denkender etc. befindet – auch
derjenige, der die begründete Verbindlichkeit eines Prinzips bezweifelt. Dieser Rückgang kann
über eine dialogische Sinnprüfung des Zweifels – als eines Beitrags im argumentativen Dialog –
391
Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-Bd. 3, hier bes. S. 63 ff.
253
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
zum negativen Erweis der Verbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts führen. Denn
dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern nicht sinnvoll
bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß sein normativer Gehalt als verbindlich, als
einsichtige Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist.
In diesem Sinn zeigt die Dialog- bzw. Diskurspragmatik392, daß alle, welche überhaupt die Rolle
eines Denkenden als Argumentationspartner einnehmen können – denn einzig auf die
Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, bereits gewisse demokratisch-rechtsstaatliche
Grundsätze von vornherein dadurch als befolgungswürdig vorausgesetzt haben, daß sie
ernsthafte Diskurspartner zu sein beanspruchen. Denn als solche haben sie gewisse
rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für sich selbst in Anspruch genommen und
implizit anerkannt. Zu jenen Prinzipien gehört zuallererst die rechtsethische Grundnorm, die
Würde, mithin die Unverletzlichkeit und (mögliche) Freiheit aller menschlichen Lebewesen zu
achten.393 Hinzukommt etwa das rechtspolitische Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in
Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die im Geheimen zustande kommen, sondern allein solche,
die der öffentlichen Kritik ausgesetzt und der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen
sind, also das Prinzip der Öffentlichkeit.394
Das Prinzip der Öffentlichkeit, und zwar in dem reichen grundrechtlichen Sinne einer zu
gewährleistenden Kommunikationsfreiheit, enthält den dritten Grund einer unabweisbaren Kritik
an Jonas’ Geltungseinklammerung der Demokratie. Warum? Dieses Prinzip bezeichnet auch eine
Bedingung der Möglichkeit von Verantwortung, nämlich von moralischer Rechtfertigung. Denn
eine zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine wahrheitsfähige
Einschätzung der Bedürfnisse bzw. Interessen Anderer ist allein in dem Maße möglich, als sie
sich auf die freie Artikulation ihrer Interessen stützen kann. Wahrheitsfähig, nämlich fähig zur
392
393
394
Der Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich in: Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und
Pädagogik, hg. v. Karl-Otto Apel und Holger Burckhart, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001; sowie
Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hrsg. v. H. Burckhart u. H. Gronke, Würzburg:
Königshausen & Neumann, 2002; ferner in den Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in:
Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, und nicht zuletzt in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung.
Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. Und
jüngst in meiner Studie „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-) ethischer Richtungsstoß der
Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik.“ In: EWD-Bd. 12, Münster: LIT, 2004, S. 105-148.
D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in:
K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort zu: Thomas Rusche,
Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-Bd. 4, Münster: LIT, 2002, hier S. 247 ff.
Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: Ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg:
Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel: Beltz, 1984, S. 845-886.
254
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Erkenntnis der Situation, und darauf aufbauend legitim, durch gute Gründe gerechtfertigt und in
diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile und moralische Maximen oder Normen
einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf subjektiver Vermutung eines einsamen
Gedankenexperimentators oder auf monologischer Analyse von Experten beruhen, sondern wenn
sie die wirkliche Situation der betroffenen Menschen berücksichtigen; d.h. so, wie diese selbst
ihre Lage und, als deren Elemente, ihre Interessen verstehen würden, sofern sie diese in der
rationalen Distanz von Argumentationspartnern interpretierten.
Damit sind wir abermals bei unserem Postulat einer kommunikativen Situationsermittlung, die
auf Verständigungsgegenseitigkeit zielt.395 Kurzum: Ohne >Verständigungs-Gegenseitigkeit<
(über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen) keine Wahrheit und
Gerechtigkeit, also keine >Geltungs-Gegenseitigkeit< für moralische Urteile und für moralische
Normen bzw. Handlungsorientierungen. Das ist es, was Jonas zu kurz kommen läßt, und zwar in
Widerspruch zur grundlegenden moralischen Absicht seines Gedankenexperiments über „das
Element der Wette im Handeln“. Diese leitende Absicht heißt nämlich „Einbeziehung der
Anderen.“396
Insofern der demokratische Rechtsstaat das Prinzip der Öffentlichkeit etabliert und praktiziert,
gewährleistet er eine Realisierungsbedingung für moralische Diskurse, stellt er doch den
institutionellen Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer
Normen und den ‚Gegenständen’ moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser
Hinsicht läßt sich ein Dispens der Demokratie nicht rechtfertigen. Wohl aber kann in Form einer
moralischen
Konter-Strategie
Widerstand
gegen
einzelne
Mehrheitsbeschlüsse
und
Regierungsmaßnahmen in einer Demokratie legitimiert werden.
Warum kann Jonas dem Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht
einräumen? Er denkt in der kontemplativen, an die antike theoria angelehnten Einstellung des
Phänomenologen und Ontologen. Als traditioneller Phänomenologe und Metaphysiker, der
methodisch einsam auf das menschliche Sein schaut und darin nicht allein den Gegenstand
sondern zugleich die Instanz der Verantwortung findet, kann er dem Postulat einer
Verständigungsgegenseitigkeit
und
dem
republikanischen
Öffentlichkeitsprinzip
(als
Realisierungsbedingung einer Verständigung mit Betroffenen) keine grundsätzliche Bedeutung
für Erkenntnis und Moralität beimessen. Er schaut „die universale Verantwortung gegenüber
395
396
Hier: Abschnitt II 1.3.
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 78f.
255
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter Struktur“ ab.397 „Sieh hin und Du
weißt“398, wofür Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische
Leben um Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern, die ihren
schutzbedürftigen Kindern gegenüberstehen, ‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge
und Vorsorge zu gewähren haben. Auf diese Weise denkt Jonas nur die eine Seite des Verantwortungsbegriffs, den werthaften Gegenstandsbezug: ein Handlungsmächtiger steht einem
wertvollen, mehr oder minder handlungsschwachen Wesen gegenüber, das an die Fürsorge des
Mächtigen appelliert. So kann in der Tat Verantwortungsgefühl geweckt werden und das
asymmetrische, nämlich fürsorgende Handeln dessen ins Spiel kommen, der sich als
verantwortlich erfährt. Gefühlsphänomenologisch und ontologisch ansetzend, nimmt Jonas
allein das asymmetrische Verhältnis der Ausgangsbedingungen eines Verantwortlichen in den
Blick. Einzig diese praktische und intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff
konstituiere. Trifft das zu?
Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage und die direkte
praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich stellvertretend, mithin fürsorgend für
ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges Wesen zu handeln. Diesen
Verantwortungsaspekt stellt die nächste Abbildung auf der rechten Seite dar, während ihre linke
Hälfte den dialogförmigen, mithin symmetrischen Rechtfertigungsaspekt veranschaulicht:
Verantwortungsaspekte
Rechtfertigungsbezug
Fürsorgebezug
symmetrisch:
Sich-Verantworten im argumentativen Dialog
asymmetrisch:
Handlungsbedingungen und
fürsorgendes Handeln
S1 mit
GeltungsAnspruch
397
398
S2 mit
EinlösungsErwartung
macht-volles
Subjekt S1
ohn-mächtiges,
wertvolles
Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: Ethik für die Zukunft, S. 332,
vgl. 314-318.
Gegenüber
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 235.
256
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Logisch und kommunikationspragmatisch gesehen, hat der Verantwortungsdenker Jonas
Unrecht. Denn sowohl die Situation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im
argumentativen Dialog demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für
schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, hat eine symmetrische Form als auch die konkrete
Rechtfertigungssituation eines Verantwortlichen, der über seine Praxis befragt wird oder sich
selbst Fragen stellt. So befragt, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten
begründen können, daß seine fürsorglich praktizierten Handlungsweisen den legitimen
Ansprüchen gerecht werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines Betreuten
geltend machen kann oder die dieser – später einmal – selbst gegenüber dem Verantwortlichen
vorbringen kann. Man denke z.B. an das herangewachsene Kind in seinem möglichen
Diskursverhältnis zu seinen Eltern. Dann sind die Verantwortlichen gefordert, die Asymmetrie
des fürsorgenden Handelns zu verlassen und sich auf die Symmetrie des argumentativen Dialogs
einzulassen.
Genaugenommen, ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: prima facie die im engen
Sinne logische oder semantisch syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede, als
Aussagen betrachtet. Diese wird jedoch umgeben und eigentlich getragen von einer
dialogpragmatischen Symmetrie, die kommunikationsethische Bedeutung hat. Denn verstehen
können wir Rede und Gegenrede nicht als isolierte Sätze, sondern nur als situierte Äußerungen;
situiert nämlich in dem kommunikativen Wechselverhältnis und Erwartungsverhältnis zwischen
Frage
und
Antwort,
Gründefordern
und
Gründegeben,
Anerkennungserwartung
und
Anerkenntnis, wie es sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellt. Das ist
die Form der Verantwortung als Rechtfertigung: das Sich-im-Dialog-Verantworten. Keine
Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft.
Beide Aspekte der Verantwortung, das Rede und Antwort Stehen und das stellvertretende
Handeln des Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das
andere seinen Sinn. Das Verwobensein von Fürsorgebeziehung und Rechtfertigungsbeziehung
zeigt sich schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner
Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die
symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. Denn ‚ich’ komme
dabei nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als ernstgemeint,
verständlich und wahrheitsdienlich) zuzubilligen und ernsthaft, verständlich, wahrheitsbemüht
darauf einzugehen, als auch meinen ‚Fürsorgegegenstand’ auf analoge Weise anzuerkennen und
257
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. Als Diskurspartner muß ‚ich’ zur
Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs etwa über die Art und Weise meiner Fürsorge bereit sein.
Warum? Nun, ‚ich’ kann dem umsorgten Anderen nicht einerseits, in der Fürsorgerelation, den
Wert eines zu Umsorgenden beimessen und andererseits, in der Rechtfertigungsbeziehung, in
Zweifel ziehen, daß ich ihn als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen, also in der
Rechtfertigungsrelation zu mir, anerkennen soll. Wer das behauptete, verstrickte sich in einen
performativen Widerspruch. Hinsichtlich dieser These verlöre er seine Glaubwürdigkeit als
Diskurspartner.
Die Rekonstruktion und die, soeben vollzogene, sokratische Reflexion der dialogischen
Symmetrie ist moralisch bedeutsam. Daraus folgt beispielsweise: Eine autoritäre Fürsorge ist zu
vermeiden. Sie kann nicht als moralisch gelten, weil ‚ich’ sie nicht mit meiner Glaubwürdigkeit
als Diskurspartner vereinbaren kann, widerspricht sie doch der Diskursmoral. Inwiefern? Nun;
einerseits habe ‚ich’ als Diskurspartner, als ernsthaft Denkender, der als solcher Ansprüche auf
universale Geltung voraussetzt, z.B. auch Kinder, auch Schwerkranke etc. als mögliche Subjekte
von Geltungsansprüchen implizit anerkannt, so daß ich mich ihnen gegenüber zu virtueller und
einklagbarer Partnerschaftlichkeit verpflichtet habe. Und andererseits breche ‚ich’ dieses
vorgängige Versprechen, indem ‚ich’ jene Menschen autoritär behandele und ihnen dadurch die
Chancen beschneide, so bald wie möglich ihre Potenz zu realisieren, selbständig zu urteilen und
Ansprüche geltend zu machen. An einem solchen Bruch des ursprünglichen Dialogversprechens
erweist sich die Moralwidrigkeit einer Handlungsweise;399 dann mache ‚ich’ mich – hinsichtlich
dieser meiner Praxis – als Diskurspartner unglaubwürdig.
Soviel hier zur Begründung des Rechtfertigungsaspekts der Verantwortung und zur Einsicht in
seinen moralischen Orientierungsgehalt bzw. seinen Verpflichtungssinn. Nun zurück zum
Verhältnis der beiden Aspekte! Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf
die appellative wertethische Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu
einem wertvollen, vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt
aus der, damit von vornherein verbundenen, dialogethischen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst
beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den vollen Sinn von ‚Verantwortung’ aus.
Es hieße, den Verantwortungsbegriff zu verzerren und zu verkürzen, wollte man den
asymmetrischen
Fürsorgeaspekt
von
dem
symmetrischen
Rechtfertigungsgesichtspunkt
abtrennen. Das folgende Schema veranschaulicht das Verwobensein der beiden Aspekte.
258
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Verantwortung:
Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung
rechtfertigt sich
praktizierte
dialogische
Symmetrie
Subjekt 2
im Dialog
anerkennt GeltungsanSubjekt 1
sprüche von bzw. für
Fürsorgegegenstand
als mögl.
Subjekt
implizite
Symmetrie
behandelt
mögl. Subjekt als
Fürsorgegegenstand
7
praktische
Asymmetrie
Sich-Verantworten im Dialog
Zur Verantwortung gehört das Sich-Verantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des
Wie, der Mittel und Wege einer Fürsorgepraxis. Vor allem muß sich der Fürsorgende konkret
verantworten können gegenüber möglichen Kritikern in einem Diskurs und gegenüber den
Ansprüchen des Adressaten seiner Fürsorge. Das gilt auch dann, wenn der ‚Fürsorgegegenstand’
faktisch selbst keine Ansprüche erheben aber ein „moralisches Mandat“ beanspruchen kann.400
Wenn das richtig und nicht sinnvoll bezweifelbar ist, dann kommt offenbar konkret alles darauf
an, daß sich die Fürsorglichen bzw. die institutionellen und die natürlichen Verantwortungsträger
ernsthaft sowie strikt diskursgemäß verantworten. Damit nun wir, die öffentlichen
Diskurspartner und republikanischen Sokratiker, begründeterweise prüfen können, ob die
‚Verantwortlichen’ eben das tun, so daß wir es ihnen auch exemplarisch vormachen und sie
399
Dazu meine Einführung des Begriffs eines ursprünglichen bzw. vorgängigen Dialogversprechens in: Böhler,
„Warum moralisch sein?“, in: Apel und H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 15-68,
bes. 24-41. Weiterführend: Hier III 1f.
400
Jens Peter Brune, „Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze.“ In: Burckhart u. Gronke
(Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann,
2002, hier S. 443.
259
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
nötigenfalls kompetent dazu drängen können, müssen wir uns darüber klarwerden, was es
eigentlich bedeutet, sich im argumentativen Dialog zu verantworten: Was ist dabei unbedingt zu
beachten? Eine Frage, die uns alle zwiefach angeht. Sind wir doch allesamt sowohl als
‚Verantwortliche’ gefordert (in verschiedenen Rollen, seien es institutionelle, seien es natürliche,
seien es freundschaftliche etc.) wie auch als Diskurspartner gefragt: vom Selbstgespräch über die
Gewissenserforschung zum Diskurs mit anderen.
Wenn man diese Frage stellt, ist man schon im Begriff, den verpflichtenden Orientierungsgehalt
auszuschöpfen, den man voraussetzt, wenn man ernsthaft ein Selbstgespräch oder ein Gespräch
führt, um ein Problem zu lösen oder herauszufinden, ob eine These zutrifft bzw. ob eine
Handlungsweise als richtig gelten kann. Auf diesen Orientierungsgehalt sind wir in der
vorangegangenen
Vorlesung
Verantwortungsbegriffs,
die
gestoßen,
Fürsorge,
als
mit
der
wir
damit
den
Gegenstandsbezug
verwobenen
des
hintergründigen
Verhaltensweise zusammengebracht haben, nämlich den Anderen Rede und Antwort zu stehen.
Denn in einem solchen Begleitdiskurs der Fürsorge, generell aber in jedem möglichen
Begleitdiskurs, ist ein weitreichender Verpflichtungsgehalt beschlossen, der zwei einzigartige
Vorzüge hat, nämlich: allgemeingültig und allgemein einleuchtend zu sein. Allgemeingültig, weil
er sich von keinem glaubwürdigen Diskurspartner sinnvoll bezweifeln läßt; denn jeder, der einen
solchen Zweifelsversuch unternimmt, hat damit schon – uns und anderen gegenüber – die Rolle
eines glaubwürdigen Partners in einem Dialog eingenommen (oder doch beansprucht), in dem
nur wahrheitsfähige, rechtfertigungsfähige Argumente zählen. Also lebt er, auch indem er
zweifelt, seinerseits von dem, was es bedeutet, ein Dialogpartner für Andere zu sein.
Allgemein einleuchtend, schlechthin evident, ist der Orientierungsgehalt eines Diskurses, weil er
von jedem bzw. von jeder und zu jeder Zeit aufgedeckt und getestet werden kann. Wie? Indem
man sich im Dialog auf das besinnt, was man dem Dialog und seinen Dialogpartnern schuldig
ist. Und was ist man schuldig? Alles das, was man nicht bezweifeln kann, ohne durch einen
solchen Zweifel seine Glaubwürdigkeit als Dialogpartner (für die anderen Dialogpartner) aufs
Spiel zu setzen und letztlich, so man auf dem Zweifel beharrt, auch zu zerstören – und damit das
Dialogverhältnis.
Demnach gibt es, der vernunftresignativen bzw. skeptizistischen und relativistischen Stimmung
des Zeitgeistes zum Trotz, einen allgemein und rational zugänglichen Weg, verbindliche
moralische Orientierung zu finden. Und es gibt eine Philosophie, die diesen Weg bahnt, indem
sie das reflexiv vorführt, was alle denken und tun können: sich zu besinnen auf die
260
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
diskurstragenden Geltungsansprüche und Dialogversprechen, die wir einander als Diskurspartner
im vorhinein abgegeben haben. Durch eine solche Besinnung läßt sich zunächst nachholen, was
Jonas versäumt hat, um die Allgemeinverbindlichkeit seines Imperativs zu erweisen; also zu
demonstrieren, daß die Mitverantwortung für die „Permanenz echten menschlichen Lebens auf
Erden“, also moralfähigen echten menschwürdigen Daseins, eine unbestreitbare prinzipielle
Pflicht ist. Durch Rückgang auf den argumentativen Dialog und damit auf das Sich im Dialog
Verantworten ergibt sich folgendes Beweisschema:
Schema des Verbindlichkeitserweises von Jonas’ Imperativ (I.V.)
aus dem argumentativen Dialog/Diskurs:
P1: Was unvereinbar ist mit deiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner, ist moralisch
falsch/verwerflich.*
P2: Eine Bezweiflung und Nichtbefolgung von I.V. ist damit unvereinbar.*
C: Also ist die Anerkennung und Befolgung von I.V. moralisch richtig/verbindlich.
* Warum?
ad P1: Was du nicht als glaubwürdiger Diskurspartner, also nicht mit einem ernsthaften
Diskursbeitrag bezweifeln kannst, das gilt prinzipiell (mithin moralisch verbindlich).
ad P2: Die Bezweiflung zerstört deine Glaubwürdigkeit, da du zwar einerseits jetzt als unser
Diskurspartner Glaubwürdigkeit für deinen Zweifelsakt und damit (a) das Recht auf
Dialogteilnahme und freie Meinungsäußerung sowie (b) das Recht auf unbedrohte
Existenz
in
Anspruch
nimmst,
andererseits
aber
eine
(auch
deine)
Mitverantwortungspflicht für die Entwicklung der Bedingungen echten menschlichen
Lebens auf Erden, mithin für die Entwicklung der Existenz- und Dialogbedingungen
überhaupt, zu bezweifeln versuchst.
Wer
sich
derart
rückbesinnt
auf
den
argumentativen
Dialog,
kann
dadurch
die
Begründungsschwäche von Jonas’ gegenstandszentriertem Verantwortungsdenken ausgleichen.
Zudem macht dieser Rückgang auf den argumentativen Dialog für die generelle Bedeutung von
261
Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006
Jonas’ Orientierungsweg einer „Heuristik der Furcht“ und eines Gedankenexperiments „der
Wette im Handeln“ empfänglich. Der Ertrag seines Wegs läßt sich nun als Beweislastverteilung
im Dialog interpretieren401 – als Maßgabe für den verantwortlichen Umgang mit Unsicherheit
bzw. Nichtwissen in konkreten praktischen bzw. moralischen Diskursen, auch und zumal in
bioethischen Diskursen.
7.1
Wo bist du? – Virtuell schon im argumentativen Diskurs.
„Wo bist du?“ So ruft Gott, der Schöpfer, in der jahwistischen
Schöpfungserzählung den
Menschen an, (1. Mose 3, 9). Denn Adam, der Mensch, hatte sich dem Dialog mit Gott entzogen
und sich schließlich vor ihm verborgen – wissend, daß er Gottes Verbot mißachtet hatte. Diese
Frage wurde – eher am Rande der Philosophie, aber in emphatischer Kritik des methodischen
(und z. T. sogar ontologischen) Solipsismus, den ihre neuzeitlichen Hauptströmungen von
Descartes über Kant und Fichte bis Husserl verkörpert hatten – zum Losungswort Franz
Rosenzweigs und Martin Bubers. In der geradezu „vesuvischen“ Krisis nach dem hochtechnisch
geführten europäischen Bruderkrieg402 suchten die beiden biblisch jüdisch inspirierten Existenzund Religionsdenker – Rosenzweig war auch durch den Neukantianismus Cohens
hindurchgegangen und mit Heideggers Faktizitätsanalyse des menschlichen Daseins vertraut –
vor allem zweierlei: einen Ansatz diesseits der transzendentalen Subjektivitätsphilosophie,
diesseits ihrer „Lehre von der Konstitution der Welt aus der Subjektivität“403, und einen
existentiell ansprechenden „Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des
Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.“404
Hier wird die „Wo bist du?“-Frage nicht in dem vorgenannten Sinne gestellt, also weder
religions- noch existenzphilosophisch. Vielmehr soll sie anthropologisch und sprachbezogen das
in den Lebensaktivitäten meist unbemerkte, elementare Verhältnis erschließen, welches
Menschen von vornherein in der Welt unterhalten. Es wird gefragt, wo ‚wir’ (logisch
unvermeidlicherweise) immer schon sind: wir Menschen, jeder ein „Du“ und ein „Ich“, das sich
sprechend bzw. handelnd zu „etwas“, einem Gegenstand seiner möglichen Rede, verhält. Wir
401
So in meiner Studie „In dubio contra projectum.“ Mensch und Natur im Spannungsfeld von Verstehen,
Konstruieren, Verantworten“, in: D. Böhler (hg), Ethik für die Zukunft, München 1994, S. 244-276, bes. S. 268f,
vgl. S. 259ff. (Vgl. auch die frühere Fassung „Mensch und Natur: im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren,
Verantworten“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft9/1991).
402
Vgl. Martin Bubers Nachwort: „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“, in: Ders., Das dialogische Prinzip,
Heidelberg (Lambert/Schneider) 1973, S. 301ff., bes. S. 304-310.
403
Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin (DeGruyter) 1965, S. 246.
404
M. Buber, a. a. O. , S. 307 (Selbstzitat aus Buber, Die Legende des Baalschem, 1907).
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sind immer schon in Situationen, die wir, sofern wir noch oder schon oder von neuem bei
Bewußtsein sind, als etwas Bestimmbares oder Bestimmtes verstehen, indem wir uns zu ihnen
verhalten. Das ist unser ursprüngliches Welt- und Selbstverhältnis. Seine Bezugspunkte sind die
jeweilige Situation unseres Etwas-Erlebens bzw. Etwas-Tuns und, dieser schon zugehörig,
unsere ebenso sprachlich verstehende wie beurteilende bzw. bewertende Stellungnahme – so
unausdrücklich, ja unvermerkt diese auch sein mag.
Die hier gestellte Wo bist du?-Frage ist sprach- und erkenntnisanthropologischer Art. Der
Versuch, sie zu beantworten, führt in eine „Rekonstruktive Pragmatik“, besser: in eine
Diskurspragmatik.405 Ihre Auskunft ist zweistufig und lautet grob:
Du bist immer schon in verstandenen Situationen oder im Handeln als einem Antworten auf
verstandene Situationen, also in einem quasi-dialogischen Bezug auf Situationen (a).
Dieses Quasi-Dialogische manifestiert sich darin, daß du in einem möglichen Begleitdiskurs mit
Geltungsansprüchen zu deiner Handlung Stellung nehmen kannst (b).
Zusammengenommen besagt die Antwort: Du bist immer schon in verstandenen Situationen und
damit auch in einem impliziten, doch jederzeit explizierbaren Begleitdiskurs.
Vergleichen wir diese Rekonstruktion des menschlichen Situationsbezugs mit dem
Rückgriff der „Dialogiker“ auf das biblische Angeredetwerden Adams durch seinen Schöpfer, so
zeigen sich Analogie und Differenz. Denn die sprachpragmatische Rekonstruktion ist
keineswegs autoritativ gesetzesbezogen; auch geht es ihr nicht um die Ich-Du-Beziehung als
existentielle Begegnung. Wohl aber hat auch sie ihren Ansatzpunkt in dem Zugleich von
Welterfahrung
und
Miteinandersprechen,
von
Über-Etwas-Reden
und
Aufsichzurückgehenkönnen, insofern setzt sie ebenfalls bei der Gleichursprünglichkeit von
„Teilnahme am Sein“ und „Du-Sagen des Ich“ an. Und auch ihr ist es um Verbindlichkeit zu tun;
doch wird keine Glaubensentscheidung vorausgesetzt oder die Entscheidung dafür, sich als von
Gott angerufen zu verstehen.
Die Suche nach Verbindlichkeit muß aber über eine Rekonstruktion des Situationsbezug und der
Diskursvoraussetzungen hinaus führen, weil ein Skeptiker deren Ergebnissen mit dem
Fallibilismusvorbehalt begegnen kann. Erst nach diesem skeptischen Vorbehalt kommt die Wo
bist du?-Frage geltungslogisch zum Zuge. Dann nämlich wird der Skeptiker (ebenso wie die
anderen Diskursteilnehmer) befragt, wo er mit dieser Skepsis eigentlich stehe: ‚Bist du damit
405
D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion:
Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, V. Kapitel.
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noch im Dialog der Argumente? Ist deine Skepsis gegenüber dem normativen Gehalt der
diskurspragmatischen Rekonstruktion verträglich mit den normativen Gehalten deiner
Diskurspartnerrolle?’
Sofern die Rekonstruktion auf Gültigkeit und Verbindlichkeit abzielt, muß ihre theoretische
Erkenntniseinstellung zugunsten einer aktuell reflexiven Einstellung verlassen werden. Nicht
durch eine theorieförmige Explikation läßt sich Einsicht in Verbindlichkeit gewinnen, sondern
allein durch die, im Streitgespräch mit dem Skeptiker zu vollziehende, Besinnung auf das
Wechselverhältnis von Situation und Begleitdiskurs, insbesondere aber auf die Sinnbedingungen
des Diskurses selbst. Nur hier finden sich unwiderlegliche Argumente.
Damit sind wir wieder bei dem Leitmotiv oder cantus firmus dieser Vorlesung. Und so bietet es
sich an, mit dem kleinen Skeptikerdialog zu schließen, den wir schon zu Beginn der Vorlesung
geführt hatten – eine vertiefende Erinnerung oder eben, mit Hegel gesprochen, „Er-innerung“.
Denn vielleicht würden einige von Ihnen mir erneut entgegenhalten:
O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs, sondern in
mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die sich ohne Kommunikation und
stumm vollziehen lassen. Zum Beispiel: wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege
ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen.
P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise kommunizierst, wenn du stumm
bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du Sprachzeichen und Begriffe einer
Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise
voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst du mit diesen Beispielen nicht ins
Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der
Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist.
O: Nanu, das sollte mich wundern!
P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es
allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es
jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser
Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine
Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du mußt
diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen auch die
anderen kompetenten Angler beistimmen würden.
O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen?
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P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig
machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die Rechenmeister
dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren, demonstrierst, daß
du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst durch dein 'Es
Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner Rechenhandlungen ein.
O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer
bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch
einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte demnach
nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein anstelle des
Diskurses?
P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die Praxis
mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen der
Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne aktualisierbaren
Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn eine Praxis mußt du
dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der Praxis kontrollieren und
kritisieren können usw.
O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte
etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir
passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs.
P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich keinen
Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; er ist die geltungsrelevante
Hintergrundserfüllung deiner Praxis. Analog verhält es sich mit allen anderen
Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben bzw. später
darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und genau das hast du
soeben ansatzweise bereits getan, indem du solche Begebnisse sprachlich ausgedrückt und
als etwas charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich bin in einer Stimmung oder in
einer Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem du sie als etwas bestimmt hast, was
du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst hast diese Beispiele schon als
Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse anschließen lassen; und zwar von
innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese erfahren ein Widerfahrnis nur
insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich, Stellung nehmend, zu diesem Begebnis
oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung nehmende Sich Verhalten ist bereits ein
Begleitdiskurs.
O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs?
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P: Ja, da kein Erlebnis und keine Handlung ohne eine mögliche Stellungnahme denkbar ist,
trifft es zu, daß wir entweder jeweils zugleich im Diskurs sind oder betreffbar und befragbar
sind als Diskursteilnehmer. Der Diskurs ist das ständige Begleitphänomen unseres Lebens,
der Ort des Verstehens, des Sich Verstehens und Verantwortens.
O: Und was leistet die Diskurspragmatik?
P: Dreierlei. Sie rekonstruiert im allgemeinen dieses Zugleich von leben und Diskurs, im
besonderen dann die normativen Sinnvoraussetzungen des Diskurses. Drittens geht sie,
skeptisch und sinnkritisch, von der Rekonstruktion zur Reflexion im aktuellen Dialog auf
den Diskurs überhaupt über.
O: Aber wie?
P: Frage dich als Argumentationspartner: Kannst du die Allgemeingültigkeit und
Allgemeinverbindlichkeit einer der durch die Rekonstruktion geltend gemachten
Diskurspartner-Normen in Zweifel ziehen? Oder kannst du es nicht, weil dich dieser Zweifel
als Diakurspartner unglaubwürdig macht?
Denn merke: das, was du als glaubwürdiger Diskurspartner nicht in Zweifel ziehen kannst,
das gilt absolut und verpflichtet allgemein. Die nicht sinnvoll und diskursglaubwürdig
bezweifelbaren normativen Voraussetzungen eines Diskurses sind die Grundlagen der
Moral.
O: Dann wäre die Diskurspragmatik die Begründung der Ethik.
P: Ja, der Ethik aus dem Diskurs.
O: Aber würde das nicht ganz fundamentale Fragen aufwerfen? Denn hieße das nicht sowohl,
daß dann sehr viel von der Metaphysik über Bord ginge, als auch, daß der moralneutrale
Vernunftbegriff zu überwinden wäre?
P: Laß uns darüber, wie auch über Anschließendes, in der nächsten Vorlesung nachdenken.
O: Und die hieße?
P: „Metaphysik, Kritik, Kommunikation. Grundzüge europäischen Denkens.“
O: Da bin ich mit von der Partie.
P: Wie schön! Dann überlegen wir weiter – Donnerstags 14-16 Uhr in Hörsaal 2.
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