Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 1 Freie Universität Berlin Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften Institut für Philosophie Lehrstuhl Praktische Philosophie und Ethik Professor Dr. Dietrich Böhler Materialien („Skript“) zur Vorlesung Sommersemester 2006 „Ethik: Tradition versus Zukunftsverantwortung oder: sich im Diskurs verantworten“ Ankündigung und Kommentar Die Vorlesung gibt eine Einleitung in die Ethik. Einerseits stellt sie die wichtigsten Gedanken und Orientierungsgehalte vor, wie sie sich seit den kulturellen Durchbrüchen der Hochreligionen, Weisheitslehren und der hellenischen "Philosophie" als 'ethischer Traditionsbestand' der Menschheit entwickelt haben. Andererseits zieht sie die Gedanken und Orientierungen der Tradition, aber auch deren Distanzierung im modernen 'westlichen Zeitgeist', nämlich die Komplementarität von subjektiver Wert- und Normenanerkennung versus moralfreier formaler Rationalität, in einen kritischen Diskurs der Geltungsprüfung. So stellen sich vor allem drei Fragen: (1) Welche lebensweltlichen ethischen Orientierungen oder philosophischen Ethiken lösen den Anspruch ein, nicht bloß als partikulare Wertorientierung einer Gruppe oder Kultur, sondern als einsehbar verbindliche Orientierung – universal, d. h. für alle, welche allein nach sinnvollen Argumenten suchen - gelten zu können? (2) Läßt sich die moderne westliche Subjektivierung der Moral, ihre Entgegensetzung von ethischer Entscheidung und moralfreier Rationalität, wie auch die moralische Entleerung der Vernunft durch Gleichsetzung mit einer formalen (bzw. nur Mittel und Zweck kalkulierenden) Rationalität in einem argumentativen Dialog aufrechterhalten? Kann man diese Annahmen als glaubwürdiger Argumentationspartner aufrechterhalten – als sinnvolle Diskursbeiträge? Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 2 (3) Auch wenn wir den Gedankenweg der ethischen Tradition behutsam nachgehen, ja, wenn wir ihn wohlwollend rekonstruieren als Weg zu einer 'praktischen Vernunft', welche die Achtung der Menschenwürde und die Suche nach dem universalisierbaren Urteil zum Inbegriff der Moral erhebt, stellt sich in der hochtechnologisch und marktwirtschaftlich globalisierten Zivilisation doch ein neuartiges Problem, das einer 'Zukunftsverantwortung'´: Welche individuellen Handlungsweisen und kollektiven (z. B. Konsum) Verhaltensweisen, welche politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, welche hochtechnologischen Projekte können ‚wir’ hinsichtlich ihrer möglichen, vielfach zeitlich und räumlich grenzenlosen, Wirkungen moralisch rechtfertigen? Wer ist dieses ‚Wir’? Das sind wir alle, die nachdenken und auf irgendeine Weise teilnehmen am öffentlichen Diskurses – auch und gerade dann, wenn dieser geführt wird mit Blick auf die Menschengattung als Teil der Natur und auf die moralische Idee der Menschheit bzw. der zu achtenden Menschenwürde. Für das Bachelorstudium gilt die Vorlesung zusammen mit dem 'Interpretationskurs: Aristoteles und Kant' als Basismodul. Zur Vorbereitung und Begleitung empfehle ich: - Apel und Burckhart (Hg): Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001; - Düwell u.a. (Hg): Handbuch Ethik, Stuttgart 2002; - Hans Jonas: Fatalismus wäre Todsünde, Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend. Hg. und eingeleitet von D. Böhler, Münster 2005 - Hans Jonas: Leben, Wissenschaft, Verantwortung, Hg. und mit Nachwort versehen von D. Böhler, Reclam 2004. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 3 Inhalt 1 Hinführende Erörterung …. S. 5 1.1 Was heißt Zukunftsverantwortung? Die Problemdimensionen …. S. 5 1.2 Gibt es eine Brücke zwischen Tradition und Zukunfstveranwortung? Worin besteht die geltungslogische Grundlage der Zukunftsverantwortung? ….S. 6 1.3 Faktische versus eigentlich moralische Urteilskriterien in der Aufstufung zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit …. S. 20 1.4 Wie beurteilen Sie jetzt Sokrates’ Argumente im „Kriton“? …. S. 40 2 Erblasten und Weichenstellungen der Philosophie. Sokrates, Platon, Aristoteles und die Idee des Sich-im-Diskurs-Verantwortens …. S. 52 2.1 Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. …. S. 52 2.2 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen. …. S. 64 2.3 Platon: Vom Dialog zur einsamen Ideenschau, vom sokratischen Diskurs zum totalitären Kosmos-Polis-Mythos? Keine Moralbegründung bei naturalistischem Fehlschluß, keine Verbindlichkeit ohne Diskurs. …. S. 67 2.4 Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens. Der Gemeinschafts- und Geltungsbezug der Rede als Basis einer dialogischen Sinnkritik. …. S. 84 2.5 Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoria-Ontologie. Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog? …. S. 96 2.6 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung für den methodischen Solipsismus …. S. 106 3 Ethische Intuitionen versus moralische Kriterien seit der „Achsenzeit“ der Hochkulturen. Jesu Liebesethik, das verantwortungsethische Defizit in der europäischen Ethik und Max Weber …. S. 115 3.1 Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen Komplementarität offenen Begründungsfragen …. S. 136 4 Kants metaphysisch dualistische und methodisch inkommunikative (solipsistische) Vernunftethik – Moralität als Pflichterkenntnis und guter Wille …. S. 140 4.1 Kants Gleichsetzung des „moralischen Werts“ mit einem, „von keiner Neigung mehr angereizten, lediglich aus Pflicht“ erfolgenden Handeln (GMS, S. 398) und Schillers Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 4 Ironisierung dieses Motivrigorismus – eine reductio ad absurdum? …. S. 150 5 Probleme der normativen Ethik: Begründung und Bedeutung von ‚Moral’, ‚Verantwortung’ und ‚Zukunftsverantwortung’ …. S. 156 5.1 Nach Kant: Das Problem eines logisch universalen Prinzips der Moral und seiner Orientierungsfähigkeit …. S. 156 5.2 Abschluß der „Kritischen Summe“ aus Kant. Wolfgang Kuhlmann, Karl-Otto Apel und Hegels Formalismuskritik. Oder: Die Selbstaufhebung des Kategorischen Imperativs in ein „Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit" und der solipsistischen Vernunftethik in eine kommunikative Diskurs- und folgenbezogene Verantwortungsethik …. S. 164 5.3 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit …. S. 179 5.3.1 Die Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft …. S. 179 5.3.2 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit als Verbindlichkeitsbedingungen von Normen und Geltungsbedingungen von Handlungen bzw. Beschlüssen …. S. 179 6 Was heißt moralische Mitverantwortung für die Zukunft in der hochtechnologischen Zivilisation? …. S. 189 6.1 Jonas versus Diskursethik – zwei Antworten auf die wissenschaftlich-technologischen Herausforderungen der praktischen Vernunft …. S. 193 6.2 Jonas’ metaphysischer Begründungsversuch, Kants „Faktum der Vernunft“ und das dialogische Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit …. S. 211 6.3 Welche Risiken lassen sich verantworten? Jonas’ Gedankenexperimente: die „Heuristik der [moralischen] Furcht um den Menschen“ und „das Element der Wette im Handeln“ …. S. 221 6.4 Gehalte des Moralprinzips und der Sinn von ‚Verantwortung’ …. S. 227 6.5 Moralprinzip und regulative Ideen oder: Dialektik von Bewahrung der Gattung und Fortschritt in der Verantwortung …. S. 229 6.6 Verantwortung primär als Fürsorge oder primär als Rechtfertigung im öffentlichen Diskurs? Moralphilosophie und demokratischer Rechtsstaat …. S. 235 7 Sich-Verantworten im Dialog …. S. 246 7.1 „Wo bist du?“ Sokratische Kohärenz und Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Moralische Orientierungskraft der Dialogreflexion …. S. 248 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 5 I 1 Was heißt Zukunftsverantwortung? Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden Situation 1980 nach Apel und Böhler, Funkkolleg Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppeninteressen bzw. Nationalinteressen vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu ethischen Problemen des Makrobereichs zu werden: Z.B. wird das scheinbar private Intimsphären-Problem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde; und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann. Situation 2006 – mit Blick auf Jonas (1978!) Dramatisierung des Atomproblems, von der Mesoebene her: Konflikt der nördlichen Atommächte mit Iran (angeblich mit dem Irak Sadam Husseins) Dramatisierung des machtstrategischen Verhältnisses der Mesoebene durch Terrorismus Dramatisierung von Makrobereichsproblemen (z.B. Ozon, Erwärmung, Wasserprobleme und –mangel, Welthunger, Feinstaub) Ein vierter Verantwortungsbereich, die Tiefendimension der Verantwortung für Gehalt und Verbindlichkeit des Moralprinzips entsteht durch die Unterordnung allgemeiner moralischer Orientierungsbegriffe wie >Menschenwürde< und Intuitionen wie >Ehrfurcht vor dem Leben< unter besondere Interessen des Mikrobereichs (Heilungs-, Kinderwunsch) oder des Mesobereichs (technologisches Industrieinteresse) Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 6 I 2 Gibt es eine Brücke zwischen Tradition und Zukunftsverantwortung? Worin besteht die geltungslogische Grundlage der Zukunftsverantwortung? Eine solche Brücke scheint es in der Tat zu geben. Denn es deutet sich in der abendländischeuropäischen Denktradition eine Einsicht an, die sich dank jener kommunikationsbezogenen Denkweise der Gegenwart, die wir „Diskursphilosophie“ nennen können, so weit ausarbeiten lässt, dass sie geradezu das geltungslogische Fundament der Zukunftsverantwortung bildet. Diese Einsicht besteht aus drei Elementen: (a) Zu allem, was Du tust und was du erlebst, bist du schon im Begriff Stellung zu nehmen. (b) Indem Du Etwas als etwas Bestimmtes tust oder erlebst, hast Du auch die Möglichkeit, einen Diskurs über die Bedeutung und Begründung deiner Handlungsweise und deiner Erlebnisinterpretation zu führen. Das „Ich führe einen Diskurs“ muss alle deine Handlungen und Erlebnisse begleiten können. Du sollst einen solchen Begleitdiskurs so führen, dass für dein Urteil, das ein Ergebnis dieses Diskurses ist, die besten Argumente sprechen. So nämlich, dass dein Urteil bzw. deine Handlungsmaxime die Zustimmung all derer verdienen, die nichts als sinnvolle Argumente gelten lassen und ernsthaft nach dem besten Arument suchen. Dein Urteil bzw deine Maxime soll der Zustimmung einer unbegrenzten idealen Argumentationsgemeinschaft würdig sein. ( c) Dass Du Dich so verhalten sollst, ist eine nicht sinnvoll bezweifelbare Pflicht; ja die Pflicht der Pflichten. Es ist die Diskurs- bzw. Vernunftpflicht. Aus diesem Sollen leiten sich auch die moralischen Pflichten ab. Denn in ihm ist das Prinzip der Moral enthalten und ineins damit das der Zukunftsverantwortung. Warum? Es handelt sich um das Prinzip des Sich-imDialog-Verantwortens gegenüber allen möglichen sinnvollen Argumenten zur Sache mithin auch jener, die von künftigen Argumentationspartnern geltend gemacht werden können. Die beiden ersten Elemente aus (a) und (b) dieser dreigestuften Einsicht bilden den Anfang, das heißt die Grundlage des Philosophierens. So bezeichnet der Anfang der Philosophie den Ort, an dem wir alle, die etwas als etwas Bestimmtes tun und erleben, der Möglichkeit nach immer schon sind. Dieser unser permanente Möglichkeitsort ist der Diskurs. Gleichviel, ob wir einen Diskurs, eine stellungnehmende begründende Erörterung in realer Anwesenheit Anderer mit den Anderen führen (als Dialog) oder ob wir alleine (in einem Monolog) über etwas nachdenken, stets befinden wir uns in einem dialogförmigen Verhältnis. Dieses hat einen sozialen Beziehungsaspekt und einen Geltungsaspekt, der seinerseits logisch und sozial ist. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 7 Die soziale Beziehung ergibt sich daraus, daß wir denkend oder sprechend eben (leise oder laut) mit jemandem sprechen. Dabei nehmen wir für das Gesagte bzw. Gedachte in Anspruch, es sei wahr oder richtig. Daraus erwächst das Geltungsverhältnis der Rede. Auch wenn wir einen solchen Anspruch nicht direkt gegenüber jemandem erheben, so bezieht er sich doch, logisch betrachtet, auf mögliche Andere, die ihn verstehen und prüfen könnten und die ihm ggf. zustimmen würden: der logische Bezugspunkt für die Geltungsansprüche unserer ausgesprochenen oder unausgesprochenen Gedanken ist die nicht begrenzbare Gemeinschaft all derer, die ihren Sinn verstehen und ihren Wahrheitsgehalt bzw. ihre praktische Richtigkeit prüfen bzw. erkennen könnten. "Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem andren, oder mit sich, wie mit einem andren …" sagt Wilhelm von Humboldt und stellt die duale Struktur, die Dialogförmigkeit des Sprechens und zugleich damit die des Denkens fest;1 denn dieses ist ein leises Sprechen. In diesem Sinne fährt er fort: "Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt."2 Wer immer etwas denkt, der "spricht" (zumindest leise), und wer spricht, der ist dadurch in ein dialogförmiges Verhältnis eingetreten; insofern ist er im "Dialog". So nennen wir im allgemeinen und in diesem Text einen sozialen Sinn- und Handlungszusammenhang, der auf der (immer möglichen und von den Beteiligten immer schon vorausgesetzten) Wechselseitigkeit von Anrede und Erwiderung, Anspruch und Erwartung beruht. Hingegen soll dann von argumentativem Dialog, von Argumentation oder von Diskurs, in dem allein Gründe, also Argumente, zählen, die Rede sein, wenn der Geltungsaspekt im Vordergrund steht. Das ist immer dann der Fall, wenn der besondere Geltungssinn eines Gesagten berücksichtigt wird; etwa, indem Andere einen Zweifel dagegen vorbringen oder einen Einwand bzw. ein Gegenbeispiel. Dann sind Gründe oder weitere und bessere Gründe für das Gesagte gefragt: der Sprecher, die Sprecherin soll den Anderen Rede und Antwort stehen; ein Dialog der Argumente ist eröffnet – ein Diskurs im terminologischen Sinne der Diskurspragmatik und Diskursethik. In meiner Erörterung werde ich immer dann von „Dialog“ sprechen, wenn es primär um das soziale Verhältnis zwischen Sprechern geht, um ihre gemeinsame Hintergrund-Praxis, die sie 1 Humboldt, "Über den Dualis" in: 1963, Bd. III, S. 137 f. und in: Schriften zur Sprache, Stuttgart: Reclam 1995 , S. 24. 2 Ebenda, 1963, Bd. III, S. 138 und in: Reclam 1995, S. 24f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 8 wie eine Institution mit Rollen und Normen verbindet. Demgegenüber bevorzuge ich den Ausdruck „Diskurs“, sofern die kognitive Form und epistemische Ebene der Geltungsrechtfertigung z.B. als Wahrheitsprüfung im Vordergrund steht. Ich verwende „Diskurs“ insofern synonym zu „Argumentation“. Diese Begriffsverwendung läßt sich durch folgende Figur veranschaulichen. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] [Figur 1] Dialog (als Interaktionsform) reziproker sozialer Sinn- und Handlungszusammenhang: Sprecher Hörer "Ich" als etwas Behauptender und "Du" als etwas vom Sprecher Versprechender, Erwartender, und zugleich als wirklicher und möglicher zugleich als möglicher Hörer, der seine Rede kontrolliert und Sprecher, der etwas behaupten und die Erwiderung erwartet versprechen würde Diskurs (i. S. von Argumentation) reziprok strukturierter logischer Sinnzusammenhang: Argumentation(en) zur Begründung als Rechtfertigung/ Prüfung der Geltung (Wahrheit oder Legitimität) einer Rede (Sachverhaltsaussage oder Handlungsorientierung bzw. Norm) 9 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 10 Es ist gut möglich, daß sich mittlerweile Widerspruch regt und das in der Kapitelüberschrift angefragte "Du" zu Wort kommen will. Vielleicht ist es, geneigte Leserin, geneigter Leser, Ihr eigener Widerspruch, den ich mit meinem Ansatz bei dem Diskurs herausfordere. Sie könnten – als Opponentin bzw. Opponent "O" – dagegen etwa Folgendes einwenden. O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs, sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die ohne Kommunikation vollzogen werden oder doch stumm vollzogen werden können. Zum Beispiel: wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen. Darauf würde ich – als Proponent "P" – mit folgender Erwiderung antworten. P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise kommunizierst, wenn du stumm bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du Sprachzeichen und Begriffe einer Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst du mit diesen Beispielen nicht ins Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist. O: Nanu, das sollte mich wundern! P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden. O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen? P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren, demonstrierst, daß du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst durch dein 'Es Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner Rechenhandlungen ein. O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 11 demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein anstelle des Diskurses? P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen der Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne aktualisierbaren Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der Praxis kontrollieren und kritisieren können usw. O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs. P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; du hast ihn im Hintergrund. Analog verhält es sich mit allen anderen Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben bzw. später darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und genau das hast du soeben ansatzweise bereits getan, indem du solche Begebnisse sprachlich ausgedrückt und als etwas charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem du sie als etwas bestimmt hast, was du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst hast diese Beispiele schon als Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse anschließen lassen; und zwar von innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese erfahren ein Widerfahrnis nur insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich, Stellung nehmend, zu diesem Begebnis oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung nehmende Sich Verhalten ist bereits ein Begleitdiskurs. O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs? P: Ja, wir sind immer schon zugleich im Diskurs oder doch betreffbar und befragbar als Diskursteilnehmer, weil der Diskurs das ständige Begleitphänomen unseres Lebens ist als Ort unseres Verstehens und Verantwortens. O: Hierzu stellen sich aber eine ganze Reihe von Fragen, und es lassen sich im einzelnen wohl manche Einwände vorbringen. P: Gewiß. Vieles bleibt zu diskutieren und im Diskurs zu erkennen; ganz im Sinne der Hauptthesen dieser Einleitung und Grundlegung: der Diskurs ist das normative Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 12 Fundament sowohl der Philosophie, wie auch der Lebenswelt. Und das kann grundsätzlich jeder Mensch einsehen und zur Orientierung fruchtbar machen. Vorgriff: Philosophieren als Sich im argumentativen Dialog Verantworten Es ist kein purer Zufall, daß aus der Anfangsgeschichte der Philosphie eine Gestalt herausragt, die zum Inbegriff des argumentativen Dialogs, des kritischen Diskurses, geworden ist: Sokrates (469 – 399 v.Chr.). Denn ohne den sokratischen Ansatz einer Klärung, Prüfung und Kritik der Meinungen im Dialog und ohne die sokratische Etablierung des argumentativen Dialogs als Instanz der Geltung wäre in dem kulturellen Schmelztiegel Athen zwar mancherlei zusammengeschossen, Rhetorik und Dichtung, sophistische Bildungsbewegung und kosmologische Spekulation bzw. Metaphysik, Mathematik und Musik, Architektur und Plastik – und all das in Vollendung; aber "Philosophie" als Liebe zu einem Wissen, das sich als Wissen ausweisen kann und soll, mithin Philosophie als Kritik, als Methode und Werkzeug der Vernunft, wäre ohne den Ansatz bei dem argumentativen Dialog nicht geboren worden. Es wäre dann z.B. bei einer Metaphysik als bloßer Spekulation geblieben. Sokrates und sein Lieblingsschüler, der junge Platon (427 – 347 v.Chr.), ertasteten die methodische Praxis des dialégesthai (διαλέγεσθαι), der gemeinsamen Untersuchung von Meinungen, die als Thesen, als Beiträge zu einem Dialog vorgebracht und damit distanziert werden, so daß sie – ohne Ansehen der Person und allein durch Argumente – geprüft werden können. Die Prüfung hat das Ziel, Allgemeines herauszufinden: Allgemeines, das gültig ist – wahr oder richtig.3 Gesucht wird die gut begründete und daher allgemeingültige Auffassung zu einer strittigen Frage. Diese Suche verstehen Sokrates und Platon nach dem Muster einer gerichtlichen Vernehmung, Untersuchung und Urteilsfindung, benennen sie daher auch mit einem juridischen Terminus: Elenchos – Prüfung, Beweisführung. Der springende Punkt einer solchen Prüfung ist es, daß sie einen Härtetest darstellt, weil ihr selbst Kriterien innewohnen, Geltungsmaßstäbe, anhand derer eine Meinung und insoweit auch ihr Vertreter geprüft werden. Sokrates und Platon tasten sich vor allem zu einem fundamentalen Maßstab vor, der zugleich die Bedeutung einer moralischen Norm hat, weil er den Vertreter einer Meinung bei seiner Wahrhaftigkeit bzw. Ernsthaftigkeit als Zeuge bzw. 3 Dazu unübertroffen die Einführungen von Gottfried Martin: Martin 1978, Martin 1974 und Martin 1967. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 13 als Argumentationspartner packt. Dieser Maßstab ist die Selbstübereinstimmung im Sich Unterreden bzw. im Dialog.4 Die Diskurspragmatik hat im Anschluß daran eine Formel der dialogisch verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit möglicher Argumentationspartner entwickelt: Das letztliche Kriterium für die Gültigkeit einer Meinung oder einer Maxime bzw. Handlungsweise sei deren Verträglichkeit mit der Rolle des Partners in einem Dialog, worin nach allen sinnvollen Argumenten der zu beurteilenden Situation/Sache gesucht wird. Diese Formel schließt das Problem der Zukunftsverantwortung ein, weil sie auch sämtliche Ansprüche möglicher Betroffener, für die sinnvolle Diskursbeiträge, gute Gründe, vorgebracht werden können, berücksichtigt. Denn es ist, geltungslogisch gesehen, eine universalistische Formel. Freilich hat Platon keine solche, dem Geltungssinne nach, streng universalistische Formel aufgestellt. Was der, in manchen Dialogen Platons von Sokrates vorgetragene Selbstübereinstimmungsgrundsatz genau besagt, ist nicht so leicht zu fassen bzw. nicht auf eine eindeutige Formel zu bringen. Auch geht es uns hier nicht um Platonphilologie, sondern darum, den Sokratischen Duktus fruchtbar zu machen. Dann bietet sich diese (diskurspragmatisch aktualisierende) Interpretation an: Im Elenchos wird der Opponent darauf hingewiesen, daß sein Rede, seine im Dialegesthai vorgebrachten Meinungen (als Aussagen), nur dann im Dialog Sinn machen, d.h. nur dann als Diskursbeiträge verstanden und beantwortet werden können, wenn sie mit seiner Rolle als Argumentationspartner übereinstimmen. Was daraus im einzelnen folgt, wollen wir später untersuchen. Einstweilen begnügen wir uns mit zwei, drei Vorgriffen bzw. ersten Annäherungen: Sinn macht eine Meinung im Diskurs nur dann, wenn ihr Bedeutungsgehalt widerspruchsfrei ist, so daß alle ihn (erstens) nachvollziehen bzw. verstehen und (zweitens) jetzt auch diskutieren bzw. prüfen können. Auf diese Konkretion des sokratischen Sinnkriteriums steuert Platons Schüler Aristoteles zu. Außerdem macht ein Dialogverhalten nur dann Sinn, wenn jemand eine Meinung nicht bloß behauptet oder viele Worte darüber macht, sondern wenn er ernsthaft, also kooperativ und diszipliniert, mit den Anderen nach dem besten Argument zur Sache sucht. Dafür scheint Sokrates zu stehen. Zur Philosophie konnte es kommen, weil die Sokratische Schule eine dialogbezogene Sinnkritik ertastete, wenngleich diese geniale Errungenschaft von Platon in einen kosmologischen, zunehmend seinstheologischen Zusammenhang gestellt und dadurch ent4 Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klinge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir widersprechen sollte.“ Gorgias, 482c. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 14 dialogisiert worden ist. Immerhin war der Sokratische Anfang sinnkritisch und in eins damit dialogethisch genug, daß Platon zumindest in die Nähe eines methodisch wie moralisch äußerst bedeutsamen Grundsatzes gelangen konnte: eines Grundsatzes, der Logik und Ethik, Methode der stimmigen Rede und Lehre vom richtigen Handeln verbindet; und das nicht irgendwie, sondern wohlbegründbar – ja m.E. letztbegründbar. Zwar gibt uns Platon weder eine hinlänglich klare oder gar zufriedenstellende Formulierung eines solchen Grundsatzes, noch führt er eine zureichende Begründung durch. Aber er gibt doch faszinierende Hinweise … So können wir den frühen und mittleren Platon in diskurspragmatischer und diskursethischer Perspektive folgendermaßen interpretieren: Oberste Maxime sei es, daß alle relevanten Verhaltensweisen und Entscheidungen im Einklang (Homologie) mit der Rolle eines Diskurspartners stehen sollen, der im Miteinander-Argumentieren nach dem besten Logos (Argument, Grund, Satz) sucht – wie Sokrates es sich zur Gewohnheit gemacht habe. An hervorgehobenen Stellen, im Frühdialog Kriton (46b4ff.) und im mittleren Dialog Gorgias (482b, c) läßt Platon seinen Dialogführer Sokrates in dieser Richtung argumentieren und mehr oder weniger in diesem Sinne agieren. Entfaltet, begriffen und zum methodischen Fundament gemacht wurde jene Verbindung freilich – bis gestern – so gut wie nicht. Die Philosophie ging theoretische Wege, zunächst den Weg der Metaphysik als Theorie des Seienden bzw. des Seins, dann den auf die Erkenntnismöglichkeiten eines Subjekts oder Bewußtseins überhaupt gerichteten Weg der Erkenntnistheorie. Und sie beschritt diese Wege vornehmlich in einer nicht reflexiven, sondern von sich selbst bzw. von der jeweiligen Praxis des Philosophierens absehenden, allein auf das Problem als auf einen Gegenstand sehenden, Einstellung. Eine solche themenkonzentrierte Einstellung, die absieht von dem, was ein Philosoph tut, indem er ein Problem zu lösen versucht, können wir „theoretische Einstellung“ nennen. Damit haben wir sie unausdrücklich (implizit) unterschieden von jener komplementären Einstellung, in der man auf sich und das, was man beim Problemlösen usw. schon tut, achtet und sich fragt, was man dabei wiederum voraussetzen muß. Was aber tut man? Man kommuniziert in einer realen Sprache und Sprachgemeinschaft, indem man Fragen und Behauptungen an andere stellt – und an sich selbst wie einen anderen. Diese rückbezogene Perspektive nimmt eine reflexive Einstellung hinsichtlich des, alle Theorie immer schon begleitenden, sprachlichen und damit kommunikativen Handelns ein; sie bezieht sich auf die handlungsträchtige, die „pragmatische Dimension“ (von griechisch πράγµα oder πράξις für Handeln), welche wissenschaftlich beim Theoretisieren, Analysieren und alltäglich, z.B. beim Arbeiten oder Spielen, mehr oder Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] weniger hintergründig mit dabei ist. Und sie ist nicht nur irgendwie mit dabei, sie trägt den Sinn des Ganzen, wie das folgende Schema veranschaulicht. 15 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 16 Die semiotischen Sinn-Dimensionen von Sach- bzw. Situationsbezug der Rede und ihrer Pragmatik im Rücken Erläuterungen: dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u. Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“ S2, 3, referentiell-semantische Dimension.: Situations- bzw. Sachbezug ... pragmatisch-semantische Dimension.: Wortgebrauch Z Z SxÆ∞ Z Syntaktische Dim.∗ Sit Z S1 Z Sn, n 1, n 2, ... geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlichen Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“ Sit Z S1 Situation bzw. Sache Sprachzeichen Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes bzw. in Bezug darauf S1 _____________ Z pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendun Sprechers/Denkenden S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞ dialogisch-pragmatische Dimension der Erhebung und Prüf ∗ Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher Geltungsansprüchen: Begleitdiskurs Ausdruck (Zeichen) steht nie allein, da er (es) nur in Bezug auf andere verständlich ist. Z .............................. Sn, Sn1, n2 ... geschichtlich-pragmatische Dimension der Vermittlung und Institutionalisierung von Sinn Sn, Sn1, n2 ... lebensweltliche Sprachgemeinschaft, von der jeder schon Si Bedeutung übernommen hat Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] S2, 3, ... S xÆ ∞ handelndes Subjekt faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft kontrafaktische Argumentationsund Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ... 17 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 18 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 19 Die Aufdeckung jener kommunikativ pragmatischen Hintergrunddimension, zu der Sokrates, Platon und z.T. auch ihr Schüler Aristoteles bereits ein wenig beigetragen haben, ist durch die sprachpragmatische Wende der Philosophie im 20. Jahrhundert – mit bahnbrechenden ‚Vorläufern’ wie Wilhelm v. Humboldt (1767-1835) und Charles Sanders Peirce (1839-1914) – auf die philosophische Agenda gesetzt worden. Die Begründung der Diskursethik oder Kommunikations- und Dialogethik ergibt sich, indem man die pragmatische Dimension zunächst systematisch aufzudecken versucht (Rekonstruktive Pragmatik5 oder 6 Transzendentalpragmatik ) und alsdann diese Aufdeckung der Rekonstruktion in einem reflexiven Dialog daraufhin prüft, ob sie sich noch mit einem sinnvollen Argumentationsbzw. Diskursbeitrag in Zweifel ziehen läßt oder nicht (Diskurspragmatik als reflexive Sinnkritik). Verstrickt sich der Zweifelnde mit seiner Zweifelsbehauptung in einen Widerspruch zwischen dieser geltend gemachten Aussage und der Rolle eines Partners im argumentativen Dialog, so ist die Zweifelshandlung gescheitert, also der Zweifel an dem fraglichen Rekonstruktionsergebnis X sinnlos. Dasjenige aber, welches sich nicht mehr sinnvoll bezweifeln läßt, das gilt (sofern es auf der ganz elementaren pragmatischen Ebene der internene Diskursbedingungen angesiedelt ist) unbezweifelbar, das ist letztlich gültig oder letztverbindlich.7 Die skizzierte Denkfigur der dialogreflexiv sinnkritischen Begründung – wir werden sie eingehend diskutieren – ist der Angelpunkt der Diskurs- oder Transzendentalpragmatik, die Kants „transzendentale“ Frage: >Welches sind die internen, konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis?< auf die Kommunikation bezieht und damit sehr bescheiden, nämlich so stellt: >Welches sind die Bedingungen des Sich Verständigens?< Oder: >Welches sind die Sinnbedingungen der Kommunikation? Welche Bedingungen müssen erfüllt werden können, damit ‚meine’ jeweilige Kommunikationshandlung für andere verständlich ist als Beitrag in dem hier und jetzt mit ihnen geführten Diskurs?< 5 D. Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. 1985, bes. Kapitel V und VI K.-O. Apel: Transformation der Transzendentalphilosophie, in: Transformation der Philosophie, Band II, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, S. 155-435. W. Kuhlmann, Letztbegründung, 1985. W. Kuhlmann und D. Böhler (Hg.): Kommunikation und Reflexion, 1982. D. Böhler, D. Nordenstam und G. Skirbekk (Hg.): Die pragmatische Wende, 1986. W. Kuhlmann: Kant und die Transzendentalpragmatik, 1992. Ders.: 1992a. 7 W. Kuhlmann, Letztbegründung, 1985, bes. Kap. 2. Ders in: 1992a, S. 270ff. D. Böhler: Rekonstruktive Pragmatik, S. 365f. 6 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 20 In dieser Weise, dialogbezogen auf sich selbst zurückzufragen, ergreift die Diskurspragmatik die große Chance der sprachpragmatisch sensibilisierten Philosophie, nämlich abzukommen von der kommunikations- und dialogvergessenen theoretischen Einstellung, um eine dialogreflexive Einstellung zu gewinnen und dank dieser in sokratisch dialogischer Manier eine Ethik des Sich im Dialog Verantwortens zu begründen. 1.3 Faktische versus eigentlich moralische Urteilskriterien in der Aufstufung zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Rekonstruktion der pragmatischen Dimensionen kommt, insbesondere seit der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der Formalpragmatik bzw. Diskurstheorie von J. Habermas, erscheint der argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft.8 Die Vernunft wird nun entmythisiert. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition, entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf, als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogische Praxis, Geltungsansprüche zu erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre, weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen Diskursethik.9 8 K.-O. Apel, „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: Transformation, Band 2, S. 358-435. Ders., Studieneinheit 4 und 20, vgl. auch 1-3, in: Funkkolleg Studientexte 1 und 2. J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankf./Main 1984, S. 353-440 D. Böhler, STE 11 und 26, vgl. auch 12 und 13, in: Funkkolleg Studientexte 2 und 3. Ders., Rek. Pragm. (1985), bes. S. 296ff, 335ff und 359ff. 9 K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a.M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 358-435. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985); J. Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 21 Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft. Wenn die Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine, sondern zugleich die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm. Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage stellte, welches fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Situation gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹ In dieser Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer „Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead sowie John Dewey erarbeitet hat.10 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h. Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat. Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“ Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen können.“11 Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des moralischen Beurteilungskriteriums: die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch 10 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung (1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Garz, Kohlberg (1996)). K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte I ,1984 (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 22 universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium moralischer Urteile. Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.12 Das Verhältnis von idealtypischer Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde, phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen, was Moral sein sollte.“13 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als „Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie) und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.14 Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw. moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was es heißt, moralisch zu sein. Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe 11 G.H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hrsg. v. H. Kellner, Frankfurt a.M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders., Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25. 12 Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, Schriften I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt/M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff. Und: Peirce, Schriften II, Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankf. /M. 1970, S. 153ff und ebenda: „Vorlesung 7: Pragmatismus und Abduktion“, S. 365ff. 13 Kohlberg, „From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development” in: Theodore Mischel (Hg), Cognitive Development and epistemology, New York 1971, S. 151-235. (Zit. bei Garz, Kohlberg, 1996, S. 38). 14 Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1983, S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg, 1996, S. 37-42 und 49ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 23 leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie. Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“15 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben wird, jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein. An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.16 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen Sollens als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, zeichnet Kohlberg eine solche Begründung als rein moralische aus, die das Prinzipienniveau einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Darin sieht er das letztliche, wenngleich eher kontrafaktische, Telos einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils. Freilich versteht er es, wie Kant und Rawls, ganz im Sinne der methodisch akommunikativ denkenden Traditionslinie – als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das bleibt zu diskutieren. 15 Vgl. das Manuskript Kohlbergs: „General Preface, in: Essays in moral development“, 1978. Zit. n. Garz, Kohlberg, 1996, S. 44. 16 Kant, GMS, Akademie-Ausg., S. 389. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 24 Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ – angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen. Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.17 In den gegebenen Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.18 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich in dieses Stufenschema der moralischen Urteilsentwicklung fassen:19 17 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f. A.a.O., S. 100 f. 19 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974)), S. 100 f. 18 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 25 Ebene Basis der moralischen Wertung Entwicklungsstufen I präkonventionelle Ebene quasi physische Geschehnisse/Handlungen und Bedürfnisse 1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und Gehorsam 2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller Gegenseitigkeit (do ut des) 1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko II konventionelle Ebene Übernahme guter und richtiger Rollen, Einhalten der konventionellen Ordnungen und Erwartungen anderer (Übergangsstufe 4 ½) III postkonventio nelle Ebene Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch oder potentiell ( Gedankenexperiment) gemeinsamen Normen, Rechten, Pflichten 3 Orientierung an vorbilden und konkreten Tugenden mein Gruppe. Konformität 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen. Rücksicht. 2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen 5 Legaistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl) 6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit: ideale wechselseitige Rollenübernahme (z. B. kategorischer Imperativ) mögliche Regressionstendenzen Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit Stufen der Moralentwicklung nach Kohlberg Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f. und: From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1871, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays … 26 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 27 Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3. Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle, bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen Urteilsbildung. Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist „die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“ Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,20 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose Relativierungstendenz und ein regressives „,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“, das Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 28 dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist, weil alles als erlaubt gilt. 21 Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können. Die Prinzipienorientierung charakterisiert Kohlberg als „postkonventionelle“ bzw. „nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für ganz unangemessen. Suggeriert diese Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw. Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive Vorstellung, die (auch) von Kohlbergs Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr kann eine prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen gedacht werden. Auch besteht ja die moralische Funktion von Prinzipien gerade in der kritischen Prüfung, welche Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht. Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“ 20 Ebd., S. 101. Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff. E. Turiel, Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington, D. C., 1973, S. 231-249; ders., Conflict and transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert, J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269. 21 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 29 ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert, z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest, nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen, daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘ definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).22 „Auf prinzipieller Ebene besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten Reziprozität“23. Führt man Kohlbergs Programm einer Sukzession der Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das metakonventionelle biblische Verständnis der Sozialordnung als Sitten- und Gemeindeordnung im Sinne des Sinai-Bundes mit dem „Bundesbuch“ der 10 Gebote als Stufe 5½ berücksichtigt. Warum? Hier fallen die utilitaristischen Untertöne einer Nutzenvereinigung weg; die Orientierung an dem, was gerecht und gut ist, die Achtung des menschlichen Lebens, die Nächstenliebe und das Vertrauen auf einen Gott, dessen Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsieht und auf dessen Güte Verlaß ist, treten in den Mittelpunkt – und motivieren zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit einem Gott, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5. Mose 10, 12-21 und 32, 1-4; Josua 24; Micha 6, 8; Psalm 119 etc. Sodann ist die Prinzipienstufe 6 derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit; was aber solange nicht eigentlich der Fall ist, als die moralische Prüfung nicht selbst der Gegenseitigkeit entspricht, sondern akommunikativ angesetzt wird. Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes. S. 387ff, 410 und 430f. 22 Vgl. G. H. Mead, Mind, Self and Society. Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankf./M. 1968). 23 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 30 Schließlich muß die idealisierende Prinzipienfrage (6), ob eine Handlungsmaxime überhaupt, nämlich unter Dialogpartnern, argumentativ zustimmungswürdig sei, im Blick auf viele Handlungssituationen geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch aufgestuft werden. Zum Beispiel immer dann, wenn die Urteilenden Verantwortung für anvertraute Schwächere bzw. Klienten tragen und dabei nicht voraussetzen können, daß sie es in der Realität stets mit moralischen Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben werden. Wenn ein solches ‚Max-WeberProblem’ ansteht – und das ist nur ein verantwortungsethisches Musterbeispiel –, dann stellt sich die prinzipienbezogene Verantwortungsfrage (7): ,Welche strategischen Gegenmittel bzw. konterstrategischen Mittel sind unter bestimmten moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Diskurspartner zustimmungswürdig und also verantwortbar, wiewohl sie das Gewissen und die moralische Identität der So-Urteilenden belasten müssen?‘ Überdies ist eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit durchaus mit der feministisch von Carol Gilligan, politisch von Max Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas geltend gemachten Fürsorge- und Verantwortungsperspektive vereinbar, welche nonreziproke Handlungsbedingungen in der Realität berücksichtigt. Im Blick auf asymmetrische und moralrestriktive bzw. nonmoralische Handlungsbedingungen fordert diese Perspektive Konterstrategien ein. Doch müßten diese nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit rechtfertigbar sein. Wie anders sollten sie als moralisch und daher als verantwortlich gelten können? Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs von der „Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“. Dieser Übergang schließt eine Identitätskrise auf Stufe 6 ein. Hierbei handelt es sich um die eigentliche Moralkrise. Sie ergibt sich aus dem Konflikt einer gesinnungsethischen Auffassung von der Anwendbarkeit des Moralprinzips einerseits und einer verantwortungsethischen, und zwar moralstrategischen Auffassung andererseits. Zur Lösung dieses Konflikts bedarf es zweierlei: logisch ist eine neue Fragestellung erforderlich, um das Moralniveau der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit realitäts- und folgenbezogen zu differenzieren, motivational und psychologisch sind eine hohe Konfliktbereitschaft und eine starke Fähigkeit zur Selbstdistanzierung vonnöten. Seelisch heikel ist die Findung eines moralischen Distanzverhältnisses zur gesinnungsethischen Identität auf Stufe 6. Denn das gesinnungsethische Einssein von anerkanntem Moralprinzip und ‚meinem’ Selbstverständnis als moralischer Person muß Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 31 aufgehoben werden in das verantwortungsethische Selbstverhältnis eines realistischen, moralisch reifen Diskurspartners. Jetzt muß die Erkenntnis angeeignet werden, daß es in nonmoralischen Handlungssituationen erforderlich ist, sich gleichsam die Hände und die Seele schmutzig zu machen, um verantwortungsethische Konterstrategien zu suchen und diese in praktische Urteile bzw. in Handlungsmaximen umzusetzen. Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie also überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 für den Verantwortlichen das nüchtern situationsbezogene Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt in Kraft. Der Blick richtet sich nun aber auf non-reziproke Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer Strategien“.24 Wird dieses Problem durchdacht, dann transformiert sich die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Um diesen Überstieg von der unmittelbaren prinzipienethischen Orientierung zu einer moralstrategisch gebrochenen Orientierung am Moralprinzip geht es auf Stufe 7. Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, kann die Frage aufkommen, inwiefern derlei für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von Bedeutung sei. Die Antwort ergibt sich daraus, daß erst das dritte, das kommunikationsphilosophische Paradigma im Stande ist, Kohlbergs Idee zur würdigen und fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und noch abzuschließende) Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis Kommunikationsphilosophie des – und dritten auch philosophischen ihrer Paradigmas, Weiterentwicklung von der Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird deutlich, wenn wir 24 K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar? In: Funkkolleg Studientexte, 3, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f. Ders., The Response of Discourse Ethics, Leuven 2001, S. 77ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 32 auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren zurückblicken. Jürgen Habermas hat (1976) den Anstoß zu einer kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe gegeben. Er zeigte, daß von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit strenggenommen erst dann die Rede sein kann, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch angewendeten Prinzip der Verallgemeinerung überprüft“ und damit die Bedürfnisinterpretationen „nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive Willensbildung einbezogen werden“25. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß Kohlberg nochmals, wie Kant mit dem Kategorischen Imperativ, auf das einsame Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die (entscheidende) „Forderung einer zwischen allen Betroffenen zu vollziehenden Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.26 Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser moraltheoretischen Erkenntnis eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen, nämlich die, Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik zu belassen und dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch eine siebente Stufe der „universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe hinzuzufügen.27 Doch ergibt es keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet – also fehlerhaft angesetzt ist. Außerdem ist der Geltungsanspruch eines Gewissensentscheids selbst ein Anspruch auf Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt, wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, kaum realisieren läßt. Daher sieht er sich zu einer kommunikationsentlasteten, mehr oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist aber der, „nach bestem Wissen und Gewissen“ zu urteilen. 25 J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 88 und 87. 26 K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte, 1, 1984 (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im Jahre 1980), S. 62. 27 J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f. Vgl. Apel, a. a. O., S. 62f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 33 Damit hat er die Verpflichtung anerkannt, sich um das beste Wissen zu bemühen.28 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht. Das Regulativ für die Hermeneutik bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden Anderen: „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).29 Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden (Kommunikation auf Stufe 7) wäre Flickschusterei. Die mithin erforderliche verständigungsbezogene Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6 müßte zudem zwei verschiedenartige Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses zusammenwirft. Das ist einmal die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Das ist außerdem die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung zielt. In einem ersten Schritt geht es um die kommunikative Sinnermittlung als Verständigung zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre Situation. Zu fragen ist zunächst: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“ Erst dann, wenn wir uns durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen Diskurs im engen Sinne zu führen. Der praktische Diskurs ist erst der zweite Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren Interessen und Werten so-und-so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun wieder möglichst kommunikativ geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im 28 Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G. H- Meads Beziehung des Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar: D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte, 2, bes. S. 347-350; ders., Rek. Pragm., S. 339ff. 29 Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 276, vgl. 274ff. und in Bd. 3, S. 858f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 34 Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Im Diskurs geht es um die Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise. Aus unseren Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Idee einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule („Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 35 Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils: Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik Diskursebene I Vorkonventionell: Egoismus Stufe der Orientierung Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau Bezugspunkt 1 Orientierung i. S. von Ego-Intuitionen bzw. an Lustgewinn Reziprozität von Gehorsam – Freiheit Je meine Handlung und Machtkonformität Strafvermeidung bzw. Belohnung (gut Strategismus 2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit Tauschperspektive Instrumentell relativistische Je meine/deine Gegenseitigkeit (do ut des) Handlungsweise Reifungskrise: zur Anerkennung der Anderen und der Sozialität II Konventionell: Bezug auf 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden ,unserer‘ Gruppe Soziale Identität und Anerkennung Rollen → gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit gruppenbezogene von Erwartungen in ,unserer‘Gruppe Fürsorge Ordnungs- und Rechtsbewußtsein: Normensystem → Gegenseitigkeit des generalisierten Institutionenloyalität persönliche Autorität und konkrete Werte/Normen Bezug auf funktionale Autorität u. Rechtsnormen bzw. – verfahren 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen (normativen) Anderen mögliche Regressionstendenzen ist, was mir nützt) Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 36 Reifungskrisen: zur Autonomie („Krisenstufe 4½“), zur Folgen- und Strategie-Verantwortung (Identitätskrise auf 6) III Metakonventionell: 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl) Gedankenexperimente oder Diskurse über die Politische Autonomie gegenüber der Verfassungs- bzw. Verbindlichkeit von Konvention und Sozialvertrags- Gesetz: Vertragspartnerschaft grundsätze 5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott Theonomie mit partieller Autonomie Bundesgrundsätze (10 Einsehbarkeit (für mich) dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B. gegenüber Eigeninteressen und Gebote) und und Zustimmungs- 19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und Verpflichtungen von 3 bis 5: Nächstenliebe, würdigkeit (für alle) von Jesus) Korrelation mit Gott, dem Gerechten Goldene Regel, Kommunikative Diskurs-Einstellung Moralprinzip ‚D’ → Werten/ Normen/ Handlungsweisen 6 Orientierung am Gewissen und am universalen Moralprinzip: Vom „Kategorischen Imperativ“ als mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½, einsamem Test der Verallgemeinerbarkeit zum Dialog- Verallgemeinerbare Verständigungs- Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von und Geltungsgegenseitigkeit unter Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein (möglichen) Diskurspartnern argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“ Menschenwürde und Diskurs-Gerechtigkeit: alle Rechtsansprüche! Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 7 Ausgang von (6) mit Blick auf Menschheitsgefahren, 37 Diskurs-Autonomie gegenüber Diskursverant- Nichtwissen und faktische Moralrestriktionen: ‚Können moralischen Gesinnungsmaximen (6): wortungsprinzip → wir als Diskurspartner die Erfolgsstrategie X moralisch argumentative Zustimmungs- Erfolgsbezogene noch verantworten?’ würdigkeit im Blick auf nonreziproke Zukunftssorge gemäß Handlungsbedingungen ‚D’ für das Schutzwürdige Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] Die hier vorgeschlagene Entwicklungslogik reformuliert 38 Kohlbergs Schema in diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, sie kann zudem das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½). Drittens bestimmt verallgemeinerbare sie das moralische Gegenseitigkeit, so Prinzipienniveau daß auch das der Stufe 6 strikt Beurteilungsverfahren als nicht monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist, wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die naiv idealistische Tendenz des moralischen Prinzipienurteils aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von Kommunikation, prinzipiengeleitetem Idealdiskurs und real folgenbezogenem Verantwortungsdiskurs: Die realistische Zukunftsverantwortung konkretisiert, der konterstrategische Erfolgsgesichtspunkt ernüchtert die Orientierung an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden können, zeigt die Sukzession der Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Die faktische Orientierung bei Normenkonflikten differenziert sich im Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung derart, daß die Urteilenden die Frage, was ‚moralisch’ heiße, in logischer Aufstufung der Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Dieser Differenzierungsweg stellt, bis zur Krisenstufe 4 ½, einen generellen Bildungsprozeß dar. Von dem weiteren Gelingen oder Scheitern dieser Selbstbildung hängt es ab, ob und in welchem Grade das metakonventionelle Prinzipienniveau gewonnen wird. Der Logik nach besteht hier eine sukzessive Differenzierung der möglichen Antworten auf die Frage, was es heißt, moralisch zu sein; und zwar Stufe 5: Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, Stufe 5 ½: Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen, Stufe 6: Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 39 Stufe 7: Sich-Distanzieren von der gesinnungsethischen Harmonie zwischen Moralprinzip und Handlungsweise und Sich-Einlassen auf verantwortungsethische Situations- und FolgenDiskurse, deren Ergebnisse, die Urteile, dem Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen. Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Sie ermöglichen es den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf Urteilsautonomie, sprich: auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die normative Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise) moralisch sein?“ Denn auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – folgende Antworten: ‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt habe, daß andere Orientierungen mit meinen Ansprüchen, ein autonomer Diskurspartner zu sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine moralische Identität zerstören würden.’ Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort: ‚Ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegen andere meine Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich, ein Diskurspartner, die Pflicht habe, meine Urteilsbildung und mich selbst an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’ Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur bzw. der von dir zu beurteilende Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindet oder solche Handlungsnebenfolgen nicht ausschließen kann, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der Stufe 7: du benötigst jetzt eine Strategie der schmutzigen Hände, eine Handlungsweise, für die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst, was aber deiner guten Gesinnung zuwider ist, weil du Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 40 niemanden ‚hintergehen’ willst. Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d. h. rechtfertigen und daher sollen kannst, die nötige Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen bequemen Weg nicht ernsthaft wollen. Denn er ist unvereinbar mit deiner moralischen Identität, weil diese in letzter Instanz von deiner Übereinstimmung mit der Geltungsgegenseitigkeit abhängt, also von deinem Einklang mit einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moral- und Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen (konsequente Stufe 6) fahren lassen). Weiterhin gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners unverträglich ist, das darf er nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern, denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde. 1.4 Arbeitsunterlage Wie beurteilen Sie nach unserer Diskussion der Kohlbergschen Entwicklungslogik Sokrates’ Begründungen seines Entschlusses, sich nicht durch Flucht der Hinrichtung zu entziehen? (I) Der erste Grund, den Sokrates vorbringt, bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist eine allgemeine Maxime oder Grundnorm, die den moralischen Gehalt des Logosgrundsatzes dadurch weiterführt, daß der Grundsatz auf eine Situation angewandt wird, in der jemandem – hier Sokrates – offensichtlich Unrecht geschieht. Der beste Logos könne dann doch nicht in der Maxime bestehen, man solle auf das zugefügte Unrecht seinerseits mit einem Unrecht reagieren. Denn Unrecht zu tun sei schlimmer als das Erleiden eines Unrechts, wie es im „Gorgias“ heißen wird. Das erinnert an den 1. Korintherbrief des Paulus und sogar (fast) an Jesu radikales Liebesgebot in der Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 41 „Bergpredigt“30: Kriton 49 a 3 - 49 e. (Vgl. Platon, Gorgias, 473 a 5, 474 b – 476 a. 1. Korinther 6, 7 und Matthias 5, 38 ff bzw. Lukas 6, 27 ff.) (II) Konkret – gewissermaßen al ersten Beitrag zu einem praktischen Diskurs über die Frage „Was soll man in der Situation S1 richtigerweise tun?“ – plädiert Sokrates dafür, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen. Er pflichtet des Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, „daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer wir befehlen“: Kriton 51 e 4 f. (III) Sokrates stellt seine Vaterlandsliebe als Grund heraus An ihr habe er sich ebenso wie an „unseren Gesetzen“ stets orientiert: Kriton 51 2 – c 5. (IV) Sokrates gibt sich und den Freunden zu bedenken, daß er durch eine Flucht seine Freunde in die Notlage bringen kann, ihrerseits aus der Heimat fliehen zu müssen: Kriton 53 a 8 – b 3. (V) Sokrates wirft in die Waagschale, daß er in den für ein Asyl in Frage kommenden Poleis Theben oder Magera (vermutlich) kein gutes Leben zu erwarten hätte, weil man ihn auch dort dann als Rechtsverächter diskreditieren könnte oder würde: Kriton 53 b 3 – c 8. (VI) Sokrates sorg sich um seine Kinder: seine Flucht (mit Kindern) würde sie in der Fremde zu Fremdlingen machen, wohingegen sich in Athen (nach seiner Hinrichtung) die Freunde um sie kümmern würden. So dürften sie in Athen besser aufwachsen und besser ausgebildet werden als in der Fremde: Kriton 54 b 2 – 4. Einige Teilnehmer der Vorlesung haben meine Frage schriftlich beantwortet. Ihre Stellungnahmen seien hier mit meinem Kommentar wiedergegeben. 30 Platon, Gorgias, 473 a 5, 474 b 2ff, vgl. 475 b – 476 a. 1. Korinther 6,7 und Matthäus 5,38ff bzw. Lukas 6,27ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 42 Statements Markus Fett I. Sokrates’ erste Begründung würde ich Stufe 6 zuordnen: aufbauend auf Stufe 5, die von Sokrates die Einhaltung der Gesetze fordert, fügt sich bei dieser Begründung für ihn hinzu, dass Unrecht, welches von jenen Gesetzen an ihm verübt wird, nicht erlaubt, dass er gleichermaßen mit Unrecht reagiert. Ein Standpunkt, der ganz im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit steht. Kommentar Böhlers: Entspricht Sokrates’ Maxime wirklich ganz der Prinzipienebene der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit? Das bedeutete ja, daß Sokrates den Unterschied zwischen einem konkreten Gebot bzw. einer direkten Handlungsorientierung und dem Prinzip der zu verallgemeinernden Gegenseitigkeit machte, daß er mithin seine Maxime anhand dieses Prinzips (als eines Geltungskriteriums) prüfen würde, indem er fragte: ‚Ist es verallgemeinerbar, weil ich in jeder Situation zumutbar und verantwortbar, diese Maxime als verbindliche Handlungsorientierung aufzustellen?‘ Das wäre die verantwortungsethische Diskursfrage auf Stufe 7. Eine solche fehlt. Das heißt: Sokrates unterstellt eine direkte, konkrete Handlungsorientierung als Prinzip, statt daß er sie an dem Moralprinzip auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin prüfte. Das ist rigoristisch. II. Demzufolge steht die zweite Begründung auf Stufe 5. Stufe 4 käme eventuell auch in Frage, doch da Sokrates in seinem Entschluß nicht schwankt, ferner vor einem Rückfall auf niedere Stufen aus Angst weit entfernt scheint, halte ich Stufe 5 für angemessen. Kommentar Böhlers: Nein, es fehlt eine Legitimitätsprüfung der Gesetze im Sinne der Stufe 5, deren Gedankenexperiment für die Bürger Grundrechte als Legitimitätskriterium des Staates und als prinzipielle Grenze seiner Macht geltend macht.. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 43 III. Vaterlandsliebe klingt für mich eher nach Stufe 3, der Orientierung an der Gruppe, Idolen usw. Durch den Hinweis auf die Gesetze schwingen jedoch auch die Stufen der ersten beiden Gründe mit. Kommentar Böhlers: ja. IV. Die Sorge um seine Freunde steht auf Stufe 6, vielleicht sogar 7, da er trotz ihres bewußt eingegangenen Risikos deren Angebot nicht annimmt. Kommentar Böhlers: Diese Fürsorge entspricht der Gruppenorientierung von Stufe 3. Doch läßt sie sich in der Tat auf der Prinzipienebene (6 und 7) begründen: durch eine – selbst gegenüber den Freunden noch moralstrategische Erwägung und Entscheidung. Denn dadurch entlastet Sokrates sie von den Folgen. V. Im Exil kein gutes Leben führen zu können, klingt nach einer sehr niedrigen Stufe. Vergessen darf man jedoch nicht, daß Sokrates schon aufgrund seines langen, erfüllten Lebens gar nicht wirklich daran denkt. Sein hohes Alter läßt ihm die Entscheidung zusätzlich leicht fallen und weist für mich sogar auf Stufe 7 hin. Kommentar Böhlers: In gewisser Weise – aber u.U. ausschließlich in Verantwortung für sich allein! Die Ansprüche von Frau und Kindern ermittelt er gar nicht, sondern entscheidet sich über ihre Köpfe hinweg. Auch fragt er sich nicht, ob es nicht eine moralische Strategie zum Wohle der Familie sein kann, im Ausland bei gewissen Rufeinbußen und Bildungseinbußen ein Familienleben aufzubauen. Das müßten wir uns auf Stufe 7 fragen. VI. Sokrates Sorge um seine Kinder schließt mindestens das Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit ein, auch wenn seine Familie vielleicht viel lieber gern (wie Sokrates’ Freune) mit ihm fliehen würden. Sokrates entscheidet einfach, was für sie das Beste wäre: es klingt nach Stufe 6, vielleicht auch 7. Kommentar Böhlers: Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] Sokrates scheint sich methodisch solipsistische zu verhalten; 44 um Verständigungsgegenseitigkeit bemüht er sich nicht. Insofern verfehlt er das Prinzip der zu verallgemeinernden Gegenseitigkeit im Sinne der diskursethisch differenzierten Stufe 6. Und von einer moralstrategischen Erörterung gemäß Stufe 7 ist nichts zu sehen. Kohlbergs eigene Zuordnung Der Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 scheint für Sokrates tatsächlich im Mittelpunkt zu stehen, Stufe 5 erscheint als Durchschnittswert, zumal die Gründe aus Stufe 5 in allen anderen Begründungen mitschwingen. Da Sokrates absichtlich eine Vorbildfunktion übernimmt (eine Flucht wäre ein schlechtes Beispiel; und nicht zu vergessen ist, daß Sokrates ja überhaupt schon mal in die Situation der Hinrichtung gekommen ist; er ist kein blinder Anhänger von law and order) steht seine eigentliche Motivation meiner Meinung nach auf Stufe 6, vielleicht 7. Kommentar Böhlers: In der Tat: Sokrates’ Motivation sollten wir der Kohlbergschen Stufe 6 zurechnen, d.h. freilich unter Einschluß der methodischen solipsistischen Tendenz; sein Selbstverständnis ist nicht an dem Prinzip der Verständigungsgegenseitigkeit orientiert. Nun fragen wir aber nach den Argumenten, die er vorbringt, nicht nach seinen guten Intentionen. Wir wollen seine Begründungen prüfen. Gibt er eine verantwortungsethische Begründung? Und wo deutet er eine Strategie zur Verbesserung der athenischen Gesetze und Verfahren an, eine Langzeitstrategie für mehr Gerechtigkeit in der Polis? Die Stufe, auf welcher das moralische Handeln nach den Geboten Gottes steht, würde ich nur im Idealfall jüdischen oder christlichen Gläubigen als Stufe 5 1/2 bezeichnen. Auf Atheisten trifft sie nicht zu, auch wenn der Inhalt der Gebote sehr im Sinne der verallg. Gegenseitigkeit funktioniert. Für viele Gläubige sind diese Göttlichen Gesetze jedoch gleichsam schon auf Stufe 4 anzusiedeln, da sie bei den meisten leider noch keine eigenständige moralische Haltung darstellen (wie auf Stufe 5 ½), sondern nur die Übernahme allg. Absichten. Diesen Eindruck haben zumindest viele Mitmenschen bei mir hinterlassen. Kommentar Böhlers: Sie nähern sich hier der Unterscheidung Genese vs. Geltung. Nach jener schließt ein Gottesbund Atheisten aus. Zu prüfen wäre, welche Gebote des Dekalogs im argumentativen Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 45 Diskurs verallgemeinerungsfähig und allgemein zustimmungswürdig sind, also für jeden, der allein sinnvolle Argumente gelten läßt. Auch bei partikularer und exklusiver Genese kann der normative Gehalt einer Vereinbarung universal gültig sein. N.N. Eingangs scheint die Argumentation Sokrates sich auf der 4. Stufe zu bewegen; besonders wenn die Notwendigkeit unterstrichen wird, Unrecht sei in jedem Falle zu vermeiden, auch wenn es der Rettung eines Menschenlebens dient. Die Begründung des Standpunktes mit dem Verweis auf die Rolle des Staates als sozialer Organismus, der dem Menschen rückbindende dankbare Verpflichtungen auferlegt, hebt den ethischen Anspruch jedoch auf die 5. Stufe, insofern mit dem wechselseitigen Nutzen der Gehorsam begründet und in ein nachweisbares Versprechensverhältnis eingebunden wird („Flucht als Gesetzesverletzung“) Kommentar Böhlers: Wird seine Begründung dem Niveau des Sozialvertrags wirklich gerecht? Legitimitätsprüfung an subjektiven Lebens- u. Freiheits- und Grundrechten Kohlbergs Zuordnung rechtfertigt sich gerade durch den Umstand, dass Sokrates nicht über den Bezugsrahmen des soziozentrischen hinaus argumentiert, aber ebensowenig nicht nur egozentrische Motive stark macht oder eben eine Unterwerfung unter das Gesetz, um der Erhaltung der überpersönlichen Ordnung willen. Eine ebenfalls sehr brauchbare und mit einem erstaunlichen research-Reichtum fundierte Konzeption entwicklungslogischer Stufen ist in Don Becks „Spiral Dynamics“ beschrieben. Ken Wilber greift sein Modell in seinem Buch „Ganzheitlich Handeln“ auf und ordnet die letztgenannte 4. Stufe in diesem Denken dem „Blauen Meme“ zu. Finkewitz, Filipp Sokrates begründet die Verweigerung der Flucht damit, dass er von ihr behauptet, dass sie unrechtmäßig ist, also die bestehende Rechtsordnung verletzt. Ihm ist die bestehende soziale Ordnung so wichtig, dass er sich nicht gegen sie stellen will. Deshalb würde ich dieses Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 46 Argument der Kohlbergstufe 5 zuordnen, weil Sokrates sich am Gemeinwohl orientiert (und so den Egoismus hinter sich lässt) Kommentar Böhlers: Ja, das tut er. Aber fragen Sie: Läßt er vielleicht auch legitime moralische Rechtsansprüche (i.S. von Menschenrechten) und Grunderfordernissen eines Rechtsstaats bzw. eines gerechten Rechten hinter sich? Moral und gerechtes Recht dürfen nicht der Konformität geopfert werden. Ein weiteres Argument ist Sokrates Vaterlandsliebe. Er fühlt sich dem Vaterland verpflichtet. Ich würde diesen Grund er Kohlbergstufe 3 zuordnen, weil Sokrates hier auf seine Gruppe (besser: auf seine Mitbürger und somit auf sein Vaterland) Rücksicht nimmt. Das dritte Argument, was Sokrates gegen eine Flicht vorbringt, ist, die Gefährdung der Freunde durch eine Flucht. Wenn er nämlich flüchtet, müßten sie auch die Stadt verlassen. Ich ordne dieses Argument der Stufe 3 zu, da Sokrates hier auf seine Freunde Rücksicht nimmt und sie nicht gefährden will (gruppenbezogene Fürsorge). Kohlbergs Zuordnung zur Stufe 5 halte ich für richtig, weil Sokrates Hauptargument gegen eine Flucht die Verletzung der sozialen Ordnung, also des Gesellschaftsvertrages ist. Sein Verhalten richtet sich ganz an dieser Ordnung aus und deshalb nimmt er sogar den Tod in Kauf. Er fühlt sich der Gesellschaft verpflichtet und will sich deshalb nicht über sie stellen (Gemeinwohl). Kommentar Böhlers: Aber das ist auf Stufe 5 als metakonventionellem Gedankenexperiment in gewisser Weise vorausgesetzt: Als Sachwalter von Gemeinwohl und subjektiven Freiheitsrechten klammern wir als Verfassungsbegründer die faktische Verbindlichkeit/Geltung bestehender Gesetze oder anderer Konventionen ein, um sie auf ihre Legitimität – nach Maßgabe subjektiver Freiheitsrechte und des Gemeinwohls – zu prüfen. Ein Verzicht auf diese kritische Prüfung bedeutete einen Rückfall auf blinden Gesetzesgehorsam i.S. von Stufe 4 (Rechtspositivismus und Insitutionalismus). Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 47 Frau Mendenz Sokrates argumentiert v.a. gegen Ende des Kriton i.S. konsequentialistischer Nutznießerschaft. Als Sprößling Athens und aufgrund seiner Biographie habe er im Guten einstweilen akzeptiert, was nun Tribut fordere. Die Apostrophierung des Rechtssystem als von den Einzelnen anerkanntes bzw. berechtigtes, daher nun auch zu berücksichtigendes Institut weist indes über Stufe 5 hinaus, auf den Kat. Imperative. Kommentar Böhlers: Wohl allein dann, wenn i.S. des Kategorischen Imperativs eine Verallgemeinerbarkeitsund Menschenwürde-Prüfung des Gesetzes vollzogen würde. Wo ist das aber hier der Fall? Das Hades-Argument bspw. scheint mir der sog. Stufe 5 1/2 verhaftet, sich im Bund mit einem gerechten Gott wähnend. Ausdrücklich verneint Sokrates insofern eine Vorstellung ‚ausgleichender Gerechtigkeit‘: „Unrecht und Böses mit gleichem vergeltend“. Als Unschuldiger habe er (von dem Herrscher der Unterwelt) nichts zu befürchten. Kommentar Böhlers: Ja. Hier legt Platon den Gesetzen auch die Unterscheidung ‚gesetzliche Ordnung – ausübende Menschen‘ in den Mund und unterstellt die Gesetze selbst als gerecht, schreibt aber den sie ausübenden Menschen Unrechtmäßigkeit zu (54 b/c). Freilich: Wie steht es mit der Gerechtigkeit einer Ordnung, die weder Berufungsinstanzen kennt noch den Menschenwürdegrundsatz und subjektive Freiheitsrecht wie das der freien Meinungsäußerung? Ist darin nicht eine Tendenz zum Unrechttun der Menschen, die dieses Recht anwenden, bereits angelegt? Hier müßte wohl die Mitverantwortung des Polisbürgers als Diskurspartners (der den besten Logos sucht) für die Gerechtigkeit greifen – in der Welt, nicht im Hades. Außerdem ist es nicht universalisierbar, weil das Argument Atheisten nicht einbeziehen kann. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 48 N.N. (I) Also auch nicht der, dem Unrecht geschieht, darf Unrecht tun… Diese Begründung bezieht sich meiner Meinung nach auf die Wahrung einer höheren Einsicht in die Ordnung bzw. das zwischenmenschliche Zusammensein, auf der Grundlage eines besseren Wissens und dessen Einsicht. Also: meines Erachtens nach Stufe 6. Zu Kohlbergs Zuordnung zu Stufe 5: Das sehe ich genauso. Denn in Sokrates Argumenten wird die höhere Einsicht in soziale Strukturen unabhängig von der persönlichen Lage ausgedrückt. Man ordnet die eigene Entscheidung der Einsicht in das soziale Wohl unter. Kommentar Böhlers: Aber: Ist diese Unterordnung in der gegebenen non moralanalogen Situation (Justizirrtum, gravierende Willkürelemente im Polis-Recht, Fürsorgeanspruch von Frau und Kindern, Geltungsanspruch auf den besten logos und Orientierung daran) zu rechtfertigen? Das wäre die Anwendung des Moralprinzip auf die Situation... Es gilt zu unterscheiden zwischen den jemeinigen partikularen Interessen versus Verallgemeinerungsfähigen moralischen Geltungs- und Rechtsansprüchen. Die dürfen nicht einem faktischen Gemeinwohl, das auch nur einen partikularen Stellenwert hat, untergeordnet werden. Kolkenbrock, Maire Zu Sokrates’ 4. Argument Diese Begründung würde ich der dritten Kohlberg Stufe zuordnen. Es geht hier nicht um ein allgemeines Prinzip oder um den Nutzen der Gesellschaft, sondern um gruppenbezogene Fürsorge. Sokrates möchte nicht, daß seine Freunde durch seine Flucht zu Schaden kommen und verzichtet somit um das Wohl der Gruppe willen auf die Möglichkeit, sein Leben zu retten. Kommentar Böhlers: Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 49 Ja. Fragen Sie sich nur noch, ob sich dieses Fürsorgeargument hier nicht auch anhand des Moralprinzips der verantwortungsethische zu verallgemeinernden Differenzierung Stufe Gegenseitigkeit 7) (Stufe rechtfertigen, also 6 und auf der Prinzipienebene einholen ließe. Zu Kohlbergs Bewertung Kohlberg bezieht sich bei seiner Zuordnung wahrscheinlich besonders auf Sokrates’ zweites Argument, worin Sokrates erklärt, er habe als Bürger der Polis deren Gesetze und Normen anerkannt und müsse nun auch nach ihnen handeln. Diese Begründung ist wohl eindeutig der Stufe 5 zuzuordnen, da sie sich auf das kompromißlose Einhalten der Gesetze der Gesellschaft stützt. Auch die Begründung durch Vaterlandsliebe könnte vielleicht der 5. Stufe zugeteilt werden, da auch sie das Allgemeinwohl zur Grundlage hat. Dennoch kann bezweifelt werden, ob die Stufe 5 tatsächlich eindeutig im Vordergrund von Sokrates’ Argumentation steht, da auch andere Stufe vertreten zu sein scheinen, bespw. Stufe 6 bei der ersten Begründung, die einem kategorischen Imperativ durchaus nahe kommt, aber vielleicht sogar die Stufe 2 bei der fünften Begründung, Sokrates hätte im Exil wohl kein allzu gutes Leben zu erwarten, was eine rein egoistische Motivation zu sein scheint. Kommentar Böhlers: Kohlbergs umstandslose bzw. undifferenzierte Zuordnung zur Stufe 5 überspringt den kritischen und rechtskonstitutiven Anspruch dieser Stufe als eines metakonventionellen Gedankenexperiments. Außerdem trägt Kohlberg nicht der Irrtumsfähigkeit einer Verfassungsstiftung Rechnung, aus der sich ihre Revisionsbedürftigkeit ergeben kann. Was das erste Sokratische Argument, demzufolge Unrecht nicht mit Unrecht vergolten werden dürfe, anbelangt, so kommt es in der Tat dem Kategorischen Imperativ nahe. Allerdings müßte diese Maxime im Blick auf die besondere Situation und die Folgen, die ihre Anwendung unter besonderen Situationsbedingungen haben kann, ihrerseits am Kategorischen Imperativ, genauer: am Moralprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, geprüft werden können, um als befolgungsgültig ausgewiesen zu werden. Vorsicht mit der Motivbeurteilung; prüfen wir die Begründungen! In der „Apologie“ gibt Sokrates als Grund an, daß er, wenn selbst nicht Athen, noch weniger im Ausland seine beunruhigende, die Bürger verunsichernde Diskurs-Existenz des Selbstverständnis- und Tugend-Prüfers würde führen können. Zu philosophieren, zu befragen und kritisch zu hinterfragen sei aber das höchste Gut, also das wahre gute Leben… Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 50 J.P Müller Er kann – im Sinne Kants – nicht wollen, dass sein Verhalten (- sich diskursextern inkohärent zu verhalten -) allgemeines Gesetz werde. Denn würde es allgemeines Gesetz werden, dass man in Ausnahmefällen den selber zuvor (zumindest implizit) zugestimmten Gesetzen (hier: denen der Stadt) zuwider handeln und damit seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner verlieren dürfe, könnte bald niemand mehr als glaubwürdiger Diskurspartner gelten. Ich denke, zentral ist hier die (freilich nicht so formulierte) Forderung nach diskurskohärentem Verhalten. Man kann nicht ein Leben lang durch seine Bürgerschaft die geltenden Gesetze als verbindlich anerkennen, um sich dann – wenn sie gegen einen selbst gewendet werden – ihnen zu entziehen, ohne damit die eigene Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dies scheint mir das zentrale Argument zu sein. Die anderen Gründe erscheinen mir eher wie „schmückendes Beiwerk“. Kommentar Böhlers: Ja, das Glaubwürdigkeitsargument ist zentral. Fragen Sie sich aber: Worauf ist es zu beziehen – bloß auf den faktischen Mann Sokrates und das Faktum seiner Anerkennung durch eine partikulare Gemeinschaft? Das wäre ein naturalistischer Fehlschluß. Oder geht es um die Glaubwürdigkeit des Argumentationspartners Sokrates, der sich allein dem besten logos (metakonventionell, argumentations- und prinzipienbezogen) verpflichtet weiß? Kohlbergs Zuordnung zu Stufe 5: Kohlberg hat mit seiner Einschätzung insofern recht, als Sokrates die Einhaltung der sozialen Regeln betont. Dies klingt nach Stufe 5. Ich glaube, es geht Sokrates aber um mehr, nämlich seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner (s.o.). Die Orientierung an den Regeln ist daher geboten, weil er sie selber als gültig anerkannt hat. Sie zu brechen, hieße, gegen die eigene Meinung zu handeln. Kommentar Böhlers: Verwechseln Sie hier nicht wiederum die Glaubwürdigkeit von Sokrates in seiner Argumentationsrolle eines Diskurspartners mit der faktischen Identität des Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 51 Meinungssubjekts Sokrates? Kann der faktische Sokrates sich geirrt haben? Allein aus Zu Punkt 2) 1) der Arbeitsunterlage diesem Faktum einer freiwilligen Anerkennung folgt nicht die Verbindlichkeit des Anerkannten. Vielmehr muß dieses im Diskurs, nach Prüfung aller relevanten Folgen (hier: athenisches Rechtssystem) und aller moralischen Ansprüche, als anerkennungswürdig begründet werden können. Ist das der Fall? E. V. Foerster Sokrates´ Argumente - Zuordnung zu Kohlberg-Stufen 1. Der beste Logos könne nicht in der Maxime bestehen, man solle auf zugefügtes Unrecht seinerseits mit Unrecht reagieren. Unrecht zu tun ist schlimmer, als Unrecht zu erleiden. Kohlberg-Stufe 6: Sokrates orientiert sich hier an einem Moralprinzip, das für ihn, über die etwaige konkrete Nützlichkeit für ihn selbst oder seine Gemeinschaft hinaus, absolute Geltung zu beanspruchen scheint. Die Orientierung an universalen Moralprinzipien ist charakteristisch für Stufe 6 des Kohlberg-Schemas. 2. Alle Rechtsnormen, die der Polisbürger (quasi durch Sozialvertrag) anerkannt hat, seien uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen. Kohlberg-Stufe 4 oder 6: Sokrates betont die Notwendigkeit ausnahmsloser Befolgung der Gesetze, ungeachtet ihres Inhalts. Diese strikte Orientierung am Recht um seiner selbst willen ist typisch für KohlbergStufe 4. Das sozialvertragliche Element, das in diesem Argument ebenfalls eine Rolle spielt, könnte zwar auf Kohlberg-Stufe 5 (Orientierung am Sozialvertrag) hindeuten. Es tritt m.E. aber hinter der Forderung nach unbedingter Befolgung des absolut geltenden Gesetzes (Stufe 4) zurück: Sokrates bemüht den Vertragsgedanken hier nämlich nicht, um die Geltung des Gesetzes zu begründen, wie dies für Stufe 5 charakteristisch wäre, sondern ausschließlich, um seine, Sokrates´, Bindung an das als Gesetz zu begründen. In der Begründung der eigenen Bindung an das Gesetz aufgrund konkludenten Vertragsschlusses (mit dem Gesetz als Vertragspartner :-)) könnte aber ein Hinweis auf Elemente der Stufe 6 gesehen werden. Die absolute Geltung des Gesetzes für den einzelnen ist vor dem Hintergrund absoluter Moralprinzipien und des Gewissens des Einzelnen nur denkbar, wenn dieser zunächst die Möglichkeit hatte, die Gesetzesbindung für sich zu akzeptieren oder abzulehnen. Kommentar Böhlers: Ja, die betätigte Autonomie des einzelnen ist eine notwendige Geltungsbedingung eines moralrelevanten Vertrages. Schwerlich ist sie jedoch auch die hinreichende; schon deshalb nicht, weil sich der bone fide und autonom zustimmende Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 52 Vertragspartner über die Folgen des Vertrages hat täuschen können. Spätestens in diesem Fall steht der kommunikative Diskurs darüber an, wie der Vertrag im Lichte des Moral- und Diskursprinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu revidieren sei. 3. Orientierung an der Vaterlandsliebe wie an unseren Gesetzen. Kohlberg-Stufe 4/5 ½: Sokrates misst dem Vaterland, d.h. der Gesellschaft, welcher er entstammt, so große Bedeutung bei, dass er ihr, wie einem Vater, absoluten Gehorsam zu schulden glaubt, selbst wenn sie sich, wie ein Vater, willkürlich zeigt. In der Art und Weise, wie Sokrates den Anspruch des Vaterlandes auf absoluten Gehorsam beschreibt, scheint die Legitimation des Gehorsamsanspruches sich weniger aus einem Sozialvertrag, als vielmehr aus einem Bund mit einer höheren Instanz herzurühren. Dies spricht für eine Einordnung auf Stufe 5 ½. Die absolut geltende Gehorsamspflicht auch bei Willkür des Vaterlandes spricht jedoch auch für Kohlberg-Stufe 4. Kommentar Böhlers: Letzteres ist m.E. in der Tat der Fall. Denn sowohl Kohlbergs Sozialvertragsstufe 5 als auch die von mir hinzugefügte Gottesbund-Stufe 5 ½ setzen willkürfreie Begründung des Vertragsgegenstands und freie Einsicht in diese samt freier Anerkennbarkeit des Vertrages voraus. Dieses metakonventionelle Urteilsniveau ist unvereinbar mit einem blinden Gehorsam gegenüber law and order – „was immer die Gesetze auch befehlen“ … Freilich kann die Vorstellungen des Sozialvertrages – so tendenziell bei Rousseau – und manifestiert in dessen völkischer Aneignung durch Carl Schmitt – und auch die des Gottesbundes – so in der wilhelminischen „Thron und Altar“-Theologie eines sturen Legalismus und rechtspositivistischen Gehorsams mißbraucht werden; was freilich auf die Urheber dieses ideologischen Mißbrauches zurückfällt. 4. Flucht könnte die Freunde ihrerseits in eine Notlage bringen. Kohlberg-Stufe ?: Kommentar Böhlers: Aber warum sollte die athenische Mehrheitsmeinung – Sokrates disqualifiziert sie als die unwahre bzw. ungerechte Meinung „der Vielen“ - den Ehrentitel und Geltungsrang einer ‚Gemeinschaft der Gerechten’ verdienen? Läßt sie sich denn etwa an die (logisch) universalen Moralprinzipien messen? Dies sind jedenfalls nicht, wie Sie mit einem Kategorienfehler formulieren, „in“ einer faktischen Gemeinschaft lokalisierbar, sie verweisen auf die ideale Argumentationsgemeinschaft des „universe of discourse“ (Mead). 5. Befürchtung, auch im Exil als Rechtsverächter diskreditiert zu werden und möglicherweise kein gutes Leben zu haben. Vordergründig Kohlberg-Stufe 3, eigentlich Kohlberg-Stufe 6: Das Argument stellt auf die (möglicherweise fehlende) Akzeptanz und Anerkennung einer für maßgeblich gehaltenen Gruppe ab. Dies ist typisch für die 3. Stufe des Kohlberg-Modells. M.E. stehen hinter diesem Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 53 Argument jedoch „höherwertige“ Überlegungen: Tatsächlich geht es Sokrates um die Meinung der Bürger, die noch berechtigter Weise bestimmte gemeinsame Grundsätze vertreten können, während er, Sokrates, nach seiner Flucht diese Grundsätze verraten hätte und damit aus der „Gemeinschaft der Gerechten“ ausgeschlossen wäre. Es geht also um die Geltung universaler Moralprinzipien in einer Gemeinschaft, die sich über die gemeinsam gehaltenen Moralprinzipien definiert. Kinder wären nach einer Flucht Fremdlinge, während sie in Athen besser aufwachsen dürften. Kohlberg-Stufe ?: Ob man in diesem Argument die „erfolgsbezogene Zukunftssorge für das Schutzwürdige“ im Sinne der Stufe 7 sehen kann erscheint mir zweifelhaft, da es hier nicht um die moralische Verantwortung für unbekannten künftige Gefahren geht, sondern schlicht um die Abwägung konkreter, vorhersehbarer Nachteile für die eigenen Kinder, die für Sokrates in gleicher Weise ein Rolle spielen dürften, wie absehbare Nachteile für seine eigene Person. Michael Schock (1) Sokrates geht mit der Aussage, Unrecht nicht mit Unrecht zu vergelten, über die Stufe 2 der Ich-Orientierung mit Tauschperspektive hinaus und mahnt die Einhaltung von positivem Recht an (Stufe 4) Kommentar Böhlers: Ja. Doch welche Stufe nimmt Sokrates dabei selber ein? Er gibt doch eine Begründung für die Einhaltung von Recht und Ordnung – auch angesichts ihrer Verletzung (durch das Rechtssystem). Diese Begründung steht ja nicht selber auf Stufe 4, sondern gibt offenbar ein höherstufiges Kriterium an, das besagt, wie man sich im Konfliktfalle zu den Normen eines Rechtssystems (also zu dem normativen Gehalt von Stufe 4) verhalten solle. So stellt sich hier die Frage: Wie charakterisieren Sie seine Maxime, man dürfe ein Unrecht nicht mit einem anderen vergelten, nach ihrem geltungslogischen Status? (2) Als Polisbürger weist Sokrates darauf hin, dass die Gesetze im Austausch von Argumenten entstanden sind und durch den Sozialvertrag (Stufe 5) gestützt werden. Der Einzelne könne sich am besten mit der Orientierung an Stufe 6, auch Stufe 7 in diesen Gesetzgebungsprozess einbringen. Damit ist eine Grundlage in Richtung einer idealen Argumentationsgesellschaft geschaffen. Die Einhaltung dieser Normen (Stufe 5-7) ist damit höher zu werten als die bloße Befolgung von positiven Normen. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 54 Kommentar Böhlers: Gut. Nur warum sollte man sagen, daß Sokrates hier auf den Stufen des Moralprinzips (6 und 7) urteilt? Das würde doch bedeuten, er unterschiede strikt zwischen der (kontrafaktischen) Ebene der Moral-Kriterien und der moralischen Grundnorm einerseits und der faktischen Ebene von Gesetzen, Verfassungen etc. andererseits, um nun deren moralische Geltungswürdigkeit zu prüfen. Das tut er freilich nicht, sondern schließt aus dem Faktum des athenischen Sozialvertrags auf dessen Geltungswürdigkeit. Ein naturalistischer Fehlschluß – mit rechtspositivistischen Folgen. (3) Die Vaterlandsliebe ist als Bezugspunkt zu einer Gruppe auf Stufe 3 angesiedelt. Nur wenn das Vaterland, wie das für Sokrates im Falle der grundsätzlich argumentationsbereiten Polis zu sein scheint, zusätzliche Bezugspunkte der Moral beinhaltet, kann dieser Orientierung über die Stufe 3 hinausweisen. Kommentar Böhlers: Ich stimme zu. Doch erweist sich diese Polis im Prozeß gegen Sokrates als „argumentationsbereit“? Was würde Argumentationsbereitschaft voraussetzen? Doch wohl zumindest zweierlei: a) Anerkennung und Berücksichtigung des ebengenannten Unterschieds zwischen Prinzipien/Kriterienebene und Ebene der faktischen Ordnung, die wiederum von den konkreten Urteilen, die bei ihrem Verfahren gesprochen werden können, abzuheben wäre. b) Einsicht in die mögliche Verbesserungsbedürftigkeit einer faktischen Normen- und Verfahrens-Ordnung; daran anschließend die Anerkennung der Fehlbarkeit eines Urteilsspruches (im Sinne jener Ordnung), die auch dann bestünde, wenn die Ordnung ideal wäre. (4) Die gruppenbezogene Fürsorge für die Freunde kann in Stufe 3 eingeordnet werden. Kommentar Böhlers: Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 55 Gewiß. Zudem ließe sich die – freilich implizite – Begründung, warum Sokrates eine Flucht mit Blick auf seine Freunde ablehnt, auch als Argument im Sinne der realen Folgenberücksichtigung und im Sinne der Zumutbarkeit entfalten. Dann läge eine Rechtfertigung der Fürsorge (gemäß Stufe 3) auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7 vor… (5) Eine Orientierung an Ego-Intuitionen (Stufe 1) wie einem guten Leben würde Sokrates in anderen Städten verwehrt werden. Ein Grund dafür ist, dass er sich als Teil der Argumentationsgemeinschaft, seiner Polis mit seiner Mißachtung, der von Ihm [im Diskurs] akzeptierten Regeln, unglaubwürdig machen würde (Verweis auf Stufe 6 möglich). Kommentar Böhlers: Unglaubwürdig machte sich Sokrates als Teil der faktischen Athener und vielleicht der faktischen Thebener bzw. megarischen Kommunikationsgemeinschaft. Doch inwieweit handelt es sich dabei um eine Argumentationsgemeinschaft, nicht zu reden von einer reinen Argumentationsgemeinschaft, von der gälte, daß sie nichts als sinnvolle Argumente anerkännte und zudem nach dem besten sinnvollen Argument zur Sache suchte? Ohne diese geltungslogische Ebenendifferenzierung liefert sich Sokrates einen naturalistischen Fehlschluß aus; er verwechselt die faktische Anerkennung seiner Glaubwürdigkeit in den Augen seiner Mitbürger mit der (letztlich geltungswürdigen) Anerkennung als Diskurspartner durch andere strikte Argumentationspartner. (6) Neben der Sorge um die eigenen Kinder (Stufe 3) würde ich Sokrates Prüfung der besten Argumente im dialogischen Sinne einer idealen Argumentationsgemeinschaft verstehen wollen, dann würde eine Zuordnung auf Stufe 6 möglich. Kommentar Böhlers: Ja und Nein. Sie hätten, im Blick auf die Kinder, ganz Recht, wenn man einiges ausklammert. Z. B., daß er nicht nach den Ansprüchen seiner Frau fragt, die er einfach von den Freunden nach Hause bringen läßt. Z. B., daß er seine Kinder nicht selbst anhört oder Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 56 mögliche Anwälte seiner Kinder einbezieht (seine Frau, seine Freunde…); er überspringt also unser Prinzip der Verständigungsgegenseitigkeit auf Stufe 6. Zur Berücksichtigung der idealen Argumentationsgemeinschaft (als der letztlichen Geltungsinstanz) würde es zudem gehören daß Sokrates sich auch um sich selbst sorgte, und zwar in doppelter Hinsicht: als Anspruchssubjekt mit den moralischen Rechtsansprüchen auf Menschenwürde und Gerechtigkeit aber auch als Adressaten derjenigen moralischen Pflichten, die an der Rolle des Argumentations-Partners haften. Klar ist, daß wir mit diesen unseren Fragen und Beurteilungen über den faktischen Athener Horizont teilweise hinausgehen. Philosophisch aber mit dem Recht der Wahrheits- bzw. Richtigkeitssuche – und historisch nicht einfach überfordernd, sondern den logischen und ethischen Universalismus fortsetzend, den Sokrates selbst, etwa mit dem Logosgrundsatz, und z. B. egalitäre Syskisten wie Antiphon31 vertreten haben. (zu Kohlbergs Einordnung Stufe 5) Unter Kriton 51 b 5 – b 6 sagt Sokrates, ein Vaterland müsse man „…überzeugen, oder tun, was es befielt“. Dieser Satz kommt etwas ausführlicher unter Kriton 51 c 1 – c 2 zur Geltung: „…tun, was der Staat gebietet und das Vaterland, oder es überzeugen, was eigentlich Recht sei?“ An diesen kleinen Stellen wird auf das Mitwirkungsrecht bei Rechtsnomen durch überzeugungskräftige Argumentation hingewiesen (Stufe 5), im Gegensatz zur sonst im Text eher unkritischen Akzeptanz von Gesetzen (Stufe 4). Kommentar Böhlers: Das ist eine feine Differenzierung gegenüber meiner eigenen Kritik. 31 Zu Antiphon und zu Anonymus Jamblichi: K.-O. Apel, „Zur geschichtlichen Entfaltung der Vernunft… (I)“, in: Ders. u. a., (Hg.), Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 74-80. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 57 Zum Beschluß, ohne Kommentar Bernadette Herrmann (Mitarbeiterin der Edition Werkausgabe Hans Jonas) (I) Grundsatz: „Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun“. (Kriton 49 a-e) Stufe 6: Gewissensorientierung. Test der Zustimmungswürdigkeit der Maxime. Im Zentrum des Blicks scheint jedoch eher die Unversehrtheit der eigenen Seele als das Wohl aller Betroffenen zu stehen. Reine Gesinnungsethik. Maxime wird nicht als regulatives Prinzip gehandhabt und aus verantwortungsethischen Gründen distanziert (etwa wenn es um Leben und Tod oder das Wohlergehen Mitbetroffener geht), sondern rigoristisch gehandhabt. (II) „Rechtsnormen sind einzuhalten.“ (Kriton 51 e) Stufe 5: insoweit Sokrates von der Idee des Sozialvertrags her argumentiert. Diese beinhaltet aber die Möglichkeit der Revidierung von Gesetzen, sie gelten nicht als sakrosankt. (siehe allerdings 52 a – Verweis auf diese Möglichkeit) Regression auf Stufe 4: Rigorismus von Law and Order, faktisch geltende Gesetze sind zu halten Evtl. Stufe 7: Athener Demokratie/Rechtsstaat als Fürsorgegegenstand, im Sinne der Perspektive der Bewahrung von schon realisierten Diskursbedingungen (Athener Demokratie zu sehen als real existierende Verkörperung mit menschlichen Fehlentscheidungen, aber eben ansatzweise verwirklichte ideale Kommunikation in verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit) (Möglicherweise falsche Situationseinschätzung, Überbewertung der eigenen Wirkung auf die Gesellschaft im Sinne einer durch seine Gesetzesuntreue zunehmenden Korruption...) (III) Vaterlandsliebe und „unsere Gesetze“ (Kriton 51 a-c) Stufe 3: Orientierung an den Werten und Normen der eigenen Lebenswelt; von hier aus faktizistischer Fehlschluß auf Stufe 4: Befolgungswürdigkeit „unserer Gesetze“ mit Argumentationsumweg auf Stufe 5: Akzeptanz des Sozialvertrages (allerdings durch faktisches NichtAuswandern) (IV) Verantwortung für Freunde (Kriton 53 a-b) Stufe 7: Verantwortungsethische Argumentation, allerdings solipsistisch verkürzt. Die Freunde sind bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, werden aber als Diskurspartner nicht ernstgenommen. Rein asymmetrische Fürsorgeverantwortung. (V) Kein gutes Leben im Asyl (wegen schlechten Rufs) (Kriton 53 b-c) Stufe 1: Vorkonventionelle Orientierung am persönlichen Glück. Stufe 3: Verlust der Gruppe und der mit ihr geteilten Werte und Normen Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 58 Stufe 7: (Bezug: schlechter Ruf): Argumentation vom Verlust der Diskursglaubwürdigkeit her: Verantwortungsperspektive: Sokrates sieht seine Glaubwürdigkeit und damit sein Lebenswerk, seine Dialog- und seine metakonventionelle Hinterfragungspraxis, also seine Wirkung in Richtung auf mehr Metakonventionalität und Verständigungsgegenseitigkeit in Gefahr. (Diese Sicht ist an fallible Situationseinschätzung gebunden: Sokrates geht davon aus, daß seine Flucht von den meisten als motiviert im Sinne von Stufe 1 bis 3 interpretiert würde, nicht im Sinne von 7, und daß er persönlich wirklich eine so starke Wirkung hat, die unabhängig von ihm nicht glaubwürdig von seinen Schülern fortgeführt werden kann. Weil er so mißverstanden werden kann, entscheidet er sich wegen seiner Verantwortungspflicht gegen eine Flucht.) In der Apologie ist es Platon auch sehr um seine Glaubwürdigkeit zu tun. Er will die Richter rein argumentativ zu einem Freispruch bewegen und nicht mit Emotionen bzw. emotionalem Druck agieren und auch aus Todesfurcht nicht von seinem Grundsatz abweichen. (Gesinnungsethische Orientierung an Stufe 6 statt verantwortungsethische an Stufe 7). Sokrates hebt seine Wohltaten als kritisches Regulativ der athenischen Institutionen hervor (getrieben von seinem Daimonion, der Stimme des Gottes des Orakels in Delphi, vermeintliches Wissen als Nichtwissen zu entlarven – Sokrates als Weisester: im Besitz des Wissens seiner eigenen Unwissenheit). Nach dem für ihn vernichtenden Urteil kann er einen Gegenantrag stellen: Eigentlich meint er, verdiente er für sein Tun als Wohltäter Athens eine Belohnung: nämlich die Speisung im Prytaneion. Verbannung als Strafe abgelehnt, denn ein Leben ohne Prüfung und Erforschung, ohne Selbstreflexion und ohne Dialog ist nicht lebenswert. (Aufgrund von dieser Entscheidung wäre eine Flucht umso unglaubwürdiger.) Sokrates beantragt allerdings die Zahlung einer Strafsumme, um dem Todesurteil zu entgehen (also kein vollkommener Rigorismus, Verantwortungsethik bis zur Grenze des Verlusts der moralischen Identität, nämlich der Glaubwürdigkeit als Diskurspartner – gemäß der Sokratischen Situationseinschätzung). (VI) Verantwortung für die Kinder (Kriton 54 b) Stufe 3: Institutionelle asymmetrische Fürsorgeverantwortung. Verantwortung des Familienoberhauptes für seine Kinder. Situationseinschätzung fallibel. Solipsistisch verkürzt, Kinder und andere Betroffene werden nach ihrer Situationsinterpretation nicht gefragt. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 59 2 Erblasten und Weichenstellungen der Philosophie. Sokrates, Platon, Aristoteles und die Idee des Sich-im-Diskurs-Verantwortens 2.1 Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I) es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede, Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."32 Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende, argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich ausdrücklich auf das Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht. In der Tat nimmt Platons Text bzw. die Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen Elenchos zwei Rollen in Anspruch: die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), und die Diskurs-Rolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II). Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch er im Abendland und in Europa zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser beiden Rollen. Im „Gorgias“ spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an, was sein Gesprächspartner, der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als philosophische Verrücktheit. Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir [scil: , der ich der Philosophie obliege,] widersprechen sollte.“33 32 33 Platon, Kriton, 46 b. Platon, Gorgias, 482 b/c. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 60 Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht? Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht, dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)? In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in Einklang bringt, indem er sich in der Praxis (Ich I) an das hält, was er im Diskurs (Ich II) erkennt.34 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch eine Kohärenz von ‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu verkörpert, wird er durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild anerkannt. Jenes Kohärenzstreben hat Sokrates, wie Karl Jaspers es ausdrückt, zu einem „maßgebenden Menschen“ gemacht.35 Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der Diskursbegriff, verliert seinen Verpflichtungsgehalt und damit seine ethische Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf, die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw. für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche Konsequenz.36 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt. Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog – 34 Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D. Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51. 35 K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127. 36 J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 61 passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt der „Diskurspragmatik“37, wie ich die Begründungsreflexion der Diskursethik nenne. Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann, unterstellen wir, ihr fehle nichts und sie sei unmißverständlich – im Sinne von Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“.38 Wenn wir nämlich darüber hinwegsehen, daß dieses Votum eine subjektive Evidenz zum Gültigkeitsmaßstab macht, daß es auch nicht auf die Unterscheidung achtet zwischen dem Ergebnis eines zufälligen faktischen Diskurses und dem eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten Argumentationspartnern, die alle relevanten Argumente zur Situation hinlänglich berücksichtigt hätten, dann lassen sich daraus auf den ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für die Verbindlichkeit einer Aufforderung herausheben. Denn der Sokratische Dialog bringt Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, sondern unhintergehbar sind. Warum unhintergehbar? Sie haften an jener Kommunikations-Rolle, die man dadurch übernommen hat, daß man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen Gedanken, ein Gefühl, ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und dadurch, daß man diesen Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung (sich und anderen gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines Diskursteilnehmers, der zugleich die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern? Nun, diese Rolle wird getragen von generellen dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle im Diskurs haben. Sie sind allgemeingültig, weil sie zu den Sinnbedingungen jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen Klärung gehören: es sind normative Voraussetzungen, ohne deren Anerkennung ‚meine’ und ‚deine’ Beteiligung an einer Überlegung sinnlos wäre – ein unverständliches Verhalten, so daß andere Diskursteilnehmer nicht wissen könnten, woran sie mit mir sind. Denn ihre Diskurserwartungen beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ zuhören und mit ‚mir’ im Gespräch sind, erwarten regulär von ‚mir’, daß ich die konstitutiven Diskursbedingungen erfülle, so daß sie mit ‚mir’ als ihrem Diskurspartner kooperieren können. Die für das Sich-Verständigen 37 Dazu in diesem Buch: II –Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Ferner: D. Böhler, Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-)ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik, in: Th. Bausch, D. Böhler u. Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral? EWD-Bd. 12, Münster 2004, S. 105-148. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 62 und für das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im Dialog der Argumente so mitzuarbeiten, daß ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der des besten Arguments folge (1) und daß ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll Argumentierenden als die entscheidende Instanz für die Prüfung und Anerkennung von vorgeschlagenen Normen bzw. von behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont unserer faktischen Gemeinschaft selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente zur Sache und alle involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu prüfen (2). So läßt sich der Logosgrundsatz als Prinzip aller argumentativen Diskurse – sei es etwa praktischer, theoretischer oder ästhetischer und expressiver Art – entfalten. Dermaßen expliziert, würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die in kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie sich als getragen vom besten Argument erweist.39 Und das beste praktische Argument ist, sagten wir, dasjenige, welches sich sowohl durch Verständigungsgegenseitigkeit als auch durch Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe 6 gerecht wird. Vergleichen wir unsere Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten, die der Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und berücksichtigen wir zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal seiner Frau und Kinder, geltend gemacht werden können, dann fragt sich: argumentiert Sokrates eher im Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als Ich I oder strikt als Partner in einem rein argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht, mithin als Ich II? Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt er vor allem sechs Gründe vor. (I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist, wie oben (in § 1.4) gesagt, eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch erhebt, den besten Logos über das Gut-Leben (ευ ζην) darzulegen, daß dieses nämlich „mit dem ehrenhaft und gerecht leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu berücksichtigen: nicht also die Meinung „der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und 38 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975 (zit.: Wahrheit und Methode), S. 277f. 39 Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte, II (1984), S. 313-355, hier 339. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 63 Sachverständige hinsichtlich des Gerechten und Ungerechten „sagen wird, und das, was die Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7). Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten, uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder idealen Argumentationsgemeinschaft. Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun, und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern sondern auch eine Sinnbedingung der Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).40 Er nähert sich der Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen… Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der 40 H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa), S. 14 f., 164 ff., und 214 ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 64 Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b – 48 a1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird, was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte tut.“41 Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird, kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht, als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Diese Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen ist, nicht wieder Unrecht tun darf (49 a5-b6). (II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere, etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht? (III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch 41 W. Bröcker, Platos Gespräche. Frankfurt a. M. 21967. S. 32. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 65 befehlen mögen42. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, „daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!] wir befehlen.“43 Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen freiwilliger Übereinkünfte voraus. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden – allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des Prinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben geschlossener Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja illegitime Verbindlichkeiten einschließen. (IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.44 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die Suche nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, welche dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt. Auch ein Vergleich des Arguments (3) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde. (V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu müssen.45 Doch nehmen die Freunde dieses Risiko offenbar im Sinne einer verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird 42 Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen (δίκαια, dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien. 43 Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“ 44 Ebd., 51 a 2 – c 5. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 66 der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U. existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für seine Freunde. (VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht. Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als Rechtsverächter ansehen könnte.46 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“ distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit… Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit, daß es abschließend mit dem Hinweis auf den Glaubwürdigkeitsverlust des Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze entzogen hätte47 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen könne, weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.48 Auf der reinen Geltungsund Prinzipienebene wäre das Glaubwürdigkeitsargument allein dann durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den Diskurspartner (Sokrates II) zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer bezöge, die nach dem besten Logos suchen. Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente, verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall. Aber – und darauf liefe wohl eine Überlegung von Bernadette Herrmann (in § 1.4) hinaus – könnten wir Sokrates nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe kommen, indem wir für ihn 45 Ebd., 53 a 8 – b 3. Ebd., 53 b 3 – c 8. 47 Ebd., 53 c 5ff. 48 Ebd., 53 d 1ff. 46 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 67 eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine dritte, in der „Apologie“ vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den Menschen ist, täglich sich über die Tugend zu unterreden“49, „zu philosophieren […] und sich selbst sowie andere zu prüfen“50, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu geben.51 Wenn aber schon die Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien, dessen philosophisch kritische Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig akzeptieren. Also müßte Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der anderen vertauschen“.52 Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir berücksichtigen jetzt freilich – sowie auch Sokrates’ eigene Argumentation – bloß das Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.) Nun hängt die Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet, offenbar von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist nun einmal eine ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten Gesetze (Stufe 4). Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen Verbesserung mit der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit prozeduraler Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit vorzuziehen. Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen hatte.53 Daß Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die moralische Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens in eine menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also lohnt es das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst vor der Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis – als auch seine Freunde späterhin die Ziele einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten, sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die 49 Apologie, 38 a 2 Ebd., 28 e 51 Ebd., 39 c7 52 Ebd., 37 c 7 – d 6 53 Ebd., 37 c 4 – 38 a 8 50 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 68 ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“54 Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischne Situationsstrategie gleich, von der gölte, daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens. So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und Verantwortungsethik argumentieren. Verantwortlichkeiten für Sokrates’ Allerdings nur dann, wenn auch die Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist also alles andere als leicht zu nehmen. Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative – Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates Aussagen und Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn verantwortungsethisch hoch zu interpretieren? Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates überhaupt nicht. Die zu berücksichtigenden Ansprüche, Tugenden und Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung ‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt es nicht einmal. Sokrates blendet die Familie als ein Gut mit Anspruch auf seine Fürsorge aus. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht mitnehmen, und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu machen, und weil 54 Apologie, 39 c 3 –d 2 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 69 die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...55 Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende, jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch irgend etwas anderes höher als das Recht.“56 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die Argumentationsgemeinschaft, der Realathener (Sokrates I) überwältigt den Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische Regression. Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“57 – fordert zur Diskussion heraus. Man berücksichtige dazu zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50a bis 52e, doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer wir [die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen Gesetze und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll, und zwar auch an subjektiven Freiheitsrechten als Grund- bzw. Menschenrechten. Sokrates hingegen führt kein solches Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der athenischen Gesetze und Verfahren. Das bedeutet die Vermeidung einer Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ – gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist 55 Ebd., 54 a – b 1. Ebd., 54 b 2 - 4. 57 L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view. In N.F. Sizer & T.R. Sizer, Hg., 56 Moral education. Five lectures, S. 57-83. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1970. Dazu D. Garz, a.a.O., S. 119f, vgl. 116ff und 60f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 70 Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins Sakrosankte erhebt. Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Anspruch und Sinn der Idee des Sozialvertrags diametral entgegen. Die Orientierungsfunktion des Sozialvertrags läßt sich mit Kohlberg zwar als „legalistische Orientierung“ beschreiben. Sie hat hier jedoch – eben das unterscheidet die „postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-andOrder-Stufe 4 – das gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten argumentativ geführten oder führbaren praktischen Willensbildungsdiskurs zur geltungsstiftenden Voraussetzung. Anderenfalls könnte Kohlberg den Sozialvertragsgedanken nicht zu Recht als postkonventionelles (logisch: metakonventionelles) Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser Urteilsstufe individuelle Grundrechte als vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert werden können. Eben das hat er getan – nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische „Declaration of Independence“ als „Dokument der Stufe fünf“ würdigte.58 Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt. Ist doch der Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“ ausgestatteten Menschen.59 Es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde, der aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint. Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs, dem es nicht um eine historisch hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates sondern um deren Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form einer Tabelle bringen. Horizontal stellt die Tabelle Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die 58 L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American education, in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11. 59 Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen Zentralbegriff“ erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I shall principally Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 71 Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution „Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen Diskurs der Argumente. take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 140ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 72 Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e Kriterien, Bezugspunkte Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen: Sokrates (S.) Kinder Freunde Polis Philos. Diskurs (alle sinnvollen Argumente, auch Ansprüche der Nachwelt, zu berücksichtigen) Unberücksichtigt: Situationsanalyse fehlt, keine Verständigung Unzureichend: Kritikfähige Situationsanalyse, keine Verständigung (auch nicht advokatorisch) Unzureichend: Kritikfähige Situationsanalyse, keine Verständigung Ja, in der Verteidigung seiner selbst vor Gericht [Argument V] Keine Situationsanalyse, keine Verständigung, daher keine Berücksichtigung von Gerechtigkeitsansprüchen Daher bezweifelbare Berücksichtigung von Gerechtigkeitsansprüchen Keine Situationsanalyse, keine Verständigung, daher bezweifelbare Berücksichtigung von Gerechtigkeitsansprüchen Argument II Argument I Antizipation von Stufe (5) mit Regression auf Stufe (4) Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht metakonventionell, sondern konventionell (regressiv) gehandhabt Person (Ich I) Anspruch auf Wahrheit, Gültigkeit qua Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit Gerechtigkeit Diskurspartner (Ich II) [Argument V] Bedeutet die Flucht den Verlust der Diskursglaubwürdigkeit? - Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6) - [Märtyrertum als moral. Strategie (7) → Wahrung von Rechtsloyalität u. – sicherheit (4 u. 5)?] Argument I Frau Ein moral. Gehalt des Logos-Grundsatzes (6), aber gesinnungsethisch verabsolutiert, mithin eher als Stufe 4-Norm denn als autonom anzuwendendes, metakonventionelles Moralkriterium angesetzt Argument III faktizistischer Fehlschluß von Sokrates’ Bürgerverhalten (3) auf Legitimität der Gesetze (4) Siehe Spalte Sokrates Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] Kriterien, Bezugspunkte Leben 73 Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen: Sokrates (I + II) Frau Kinder Freunde Polis Philos. Diskurs (alle sinnvollen Argumente, auch Ansprüche der Nachwelt, zu berücksichtigen) Argument V Argument VI Argument VI Argument IV S. beruft scheint sich in der Egoperspektive Stufe (1) auf persönliches Glück zu berufen und auf die faktische Akzeptanz durch eine Gruppe (Stufe 3) S. delegiert seine Fürsorgeverantwortung undialogisch und ohne das moralische Prinzip der Zumutbarkeit zu klären In Übereinstimmung mit seiner lebensweltlichen Rolle (3) übt Sokrates Fürsorgeverantwortung für seine Kinder, aber Ausblendung der Fürsorgeobjekte als Diskurspartner Asymmetrische Fürsorgeverantwortung (Ausblendung der Fürsorgeobjekte als Diskurspartner, solipsistisch verkürzende Antizipation von (7)) Unberücksichtigt bleibt und muss die Frage bleiben, ob ein Staat das Recht auf Todesstrafe beanspruchen darf, da die Idee der Menschenwürde fehlt Es fehlt die Frage: Ist ein Sozialvertrag überhaupt legitim, der einem Staat die Todesstrafe zuspricht (Prinzip der Menschenwürde als Rechtskonstituens) __________ __________ bei Ausblendung von Verantwortungspflichten des Familienoberhaupts (3); aber in „Apologie“ mit verantwortungsethischer Perspektive: Wirkungsmöglichkeit für kritische Philosophie wahren (Stufe 7)! Menschen würde __________ __________ _______ Menschenwürdegrundsatz unvereinbar mit Todesstrafe → Legitimation der Flucht Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 74 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 2.2 75 Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen. Wie enttäuschend Platons Argumente am Schluß des Kritondialogs und auch dessen monologischer Charakter für uns als Diskurspartner auch sind, wie tief sie auch unter das Urteilsniveau des Logosgrundsatzes, geschweige das der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, zurückfallen, so bahnbrechend, im Kern allgemeingültig und fruchtbar aufnahmefähig bleiben der Logossatz selbst und sein Rahmen, das Sokratische Konzept des Denkens als dialogförmiger Prüfung von Geltungsansprüchen, als Elenchos. Das sind zwei im Diskursuniversum unverlierbare und für die Argumentationsgemeinschaft unverzichtbare sokratische Errungenschaften. Sie gehören zum eisernen Bestand der Diskurspartnerrolle, so daß sie sich jede Person als Ich II aneignen kann, wie sehr sie auch die geschichtlichen Kontextbedingungen, Konventionen und partikularen Ansichten eines Ich I – hier die des antiken Atheners Sokrates bzw. seines Schülers Platon – überholen und kritisch distanzieren mögen. Das Verfahren und der Begriff des élenchos bzw. der έλεγξις sind oft weich und können teils moralische, teils juridische Nuancen haben. Beim frühen Platon mündet der Elenchos in eine Kritik des vermeintlichen Wissens, in ein Wissen des Nicht-Wissens. Dieses negative Wissen besagt jedenfalls, daß die naiv behaupteten Meinungen und deren naiver Anspruch, sie präsentierten hinreichendes Sachwissen, dann nicht mehr Bestand haben, wenn sich ihre Vertreter auf das logízesthai, das strenge Suchen nach dem zureichenden Argument, einlassen. Die naiven, vor-argumentativen und vor-dialogischen Wissensansprüche können nicht mehr bestehen, wenn man heraustritt aus der Arena der alltäglichen Selbstbehauptung und eintritt in den dialogisch-logischen Raum des Erhebens und Prüfens der eigenen Ansprüche als Geltungsansprüche; d.h. als dialogischer Angebote, welche mit Gründen zu versehen sind und anhand von Gründen geprüft werden müssen – gemeinsam im Argumentieren. Man läßt dann die unphilosophische Praxis des puren Fürwahrhaltens seiner jeweiligen Meinung und des Durchsetzenwollens seiner Orientierungen bzw. normativen Vorstellungen hinter sich, distanziert sich insofern davon und eröffnet die philosophierende Praxis von Argumentationspartnern in einer Gemeinschaft des Argumentierens. Durch diese Alltags- und Selbstdistanzierung setzt man sein bisheriges, vermeintliches Wissen skeptisch in Klammern, man betrachtet es als ein Nicht-Wissen und begibt sich nun erst auf die – gemeinsame und strikt argumentative – Suche nach begründbarem Wissen, das sich nicht bloß auf ein Meinen und Wollen sondern auf den einsehbaren Logos stützt. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 76 Verstehen wir Sokrates’ dialogischen Ansatz in dieser Weise, dann läßt sich auch die Ironie des Sokrates, ja zum Teil sogar sein rabulistisches Dreinschlagen, als ein strategisches Mittel würdigen – eine harte Schule, die es mit der bornierten Selbstbehauptungspraxis des alltäglichen Etwas-Meinens und Etwas-Wollens zu tun hat und dagegen eine Erziehung zum Miteinanderargumentieren setzt. Offenbar verfährt der kritische, teils ironische, teils unbarmherzige Sokrates nach der Maxime: Ohne schmerzhafte Einsicht in das Nichtwissen des alltäglichen Durchsetzenwollens von Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen ist der Weg zur Erkenntnis des Wahren und Richtigen im vorhinein verstellt. Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei dem frühen Platon auch den Beschluß: hier münden die Dialoge in die Erkenntnis einer Aporie oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der Lebensweise übereinstimmt.60 Doch erschließt diese negative Erkenntnis jene ‚positive’ Orientierung, die Sokrates im „Kriton“ als seinen Grundsatz formuliert: die Orientierung an der Vereinbarkeit von Verhalten und Sagen, von Handlungsweise und Logos – eben des diskursiv geprüften Logos. Als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die Verträglichkeit von Lebenspraxis und diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegels emphatische Kritik der Sokratischen Negativität muß daher zugestehen, daß sich in der Gestalt des Sokrates das metakonventionelle Prinzip der Subjektivität mit dem des Logos als Gespräch in gegenseitiger Anerkennung verbindet.61 Eben daraus ergibt sich implizit eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige Tugend der dialogischen Praxis, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich hochachtet, und des Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit erwachsen. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der Logos als Resultat eines argumentativen Dialogprozesses verstanden, mithin auf kommunikative Weise nach Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der Tugenden: Glaubwürdigkeit in Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, von Interessensubjekt und Dialogpartner. So stellt Platon in der Rede des Laches den Sokrates als Menschen vor, der die Tugend verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe.62 Wie? Indem er 60 Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit (1969)), bes. S. 91 ff, vgl. S. 87-107. 61 „Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.“ So G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke (1971), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471, 497 und 514f. 62 Platon, Laches, 188 c- 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: ders., Wahrheit (1969), S. 87-107, bes. S. 88ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 77 diese Übereinstimmung jeweils kritisch sucht. Nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in dem ein Rechtsanspruch geprüft wird, läßt er sich auf eine Prüfung der üblicherweise mitgebrachten Wissensansprüche ein. Dabei kommt er – klassisch in der „Apologie“ – zu dem Eingeständnis, diese nicht einlösen zu können: „ich bin Mitwisser, des Tatbestands, daß ich nichts weiß“, bekennt er vor Gericht63. Um dieser paradoxen Aussage einen haltbaren Sinn abgewinnen zu können, müssen wir erneut die Explikationsfrage stellen, wer denn jene erste Person sei, die ein – wie immer kritisches – Wissen von sich zum Ausdruck bringt, und wer sich hinter jenem Ich verbirgt, über das sie das kritische Urteil fällt, er wisse nichts. Letzterer, von dem behauptet wird, er habe kein Wissen von der gerade verhandelten Sache, ist offenkundig unser naives, seine Meinungen und Annahmen schlicht behauptendes Alltags-Ich, das Meinungssubjekt (I). Das andere ‚Ich’ hingegen, welches als der kritische Zeuge auftritt, der das Zu-wissen-Meinen des Selbstbehaupters als Nichtwissen entlarvt, ist der Logos-Sucher: ‚Ich’ (II) als Partner eines Diskurses, in dem nicht Meinungen zählen sondern einzig gute Gründe, die für oder gegen eine Annahme sprechen. Als Elenktiker bzw. Aporetiker lebt Sokrates von einer Zwei-RollenDialektik. Denn der Sokratische Elenchos ist so angelegt, daß die unmittelbare Rolle dessen, der schlicht etwas meint und behauptet (I), konfrontiert wird mit der reflektierten Rolle dessen, der sich in einem argumentativen Diskurs weiß und nun als Diskurspartner (II) zu einer bestimmten Meinung – hier zu einer, die er selbst (als I) vertritt – Stellung bezieht. Die paradox anmutende Selbstaussage aus Sokrates’ Verteidigungsrede ist alles andere als Ausdruck einer skeptizistischen Attitüde. Sokrates tritt nicht als Skeptiker, wohl aber als Dialektiker auf. Er kann die naiven Ansprüche des Sachwissens einklammern, ja das Nichtwissen in der Sache konzedieren, weil er ein Wissen vom argumentativen Dialog hat. Dank eines, wenngleich nicht näher bestimmten geschweige denn reflexiv ausgewiesenen, dialogpragmatischen Wissens kann Andere wie sich selbst auf die Prozedur des Elenchos, der kritischen Prüfung, verweisen und damit auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz. Daraus entspringt seine radikale Glaubwürdigkeit, die au fond kritische Tugend der Diskursglaubwürdigkeit. Allerdings läßt sie sich nicht als eine Tugend verstehen, die man haben kann, wie man einen Besitz oder eine Eigenschaft hat, sondern als permanente Aufgabe. Sie hat insofern etwas von einer „regulativen Idee“ (à la Kant, Peirce und Apel) an sich, als ‚wir’ auch im Diskurs eben Menschen sind: endliche und leibliche, affektbeladene und interessengeleitete, auf fallible Informationen und Interpretationen angewiesene Wesen, 63 Platon, Apologie, 22 c. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 78 die sich täuschen können. Worin? Vor allem in der Erkenntnis von Sachverhalten und der Einschätzung von Situationen. In der semantischen Relation der Gegenstandserkenntnis können wir uns so gut wie immer irren; hier besteht Fallibilität, von der freilich die natürliche, alltägliche Einstellung wenig wissen will – sie behauptet viel lieber: ‚ich weiß!’. Dagegen setzen Sokrates, Lessing und Kant das permanent selbstkritische Denken. Das selbstkritische Denken ist es, welches Sokrates so lebensvoll macht. Aufgrund dessen erscheint er, im Unterschied zu vielen seiner festgewurzelten und eingefahrenen Gesprächspartner, so überaus lebendig – aufgeschlossen und offen für Kritik, für begriffliche Horizonterweiterung und Präzisierung der Rede. Hannah Arendt konnte daher pointieren: „Der Sinn von Sokrates’ Tun lag in diesem selbst. Oder anders gesagt: denken und völlig lebendig sein ist dasselbe, und daraus folgt, daß das Denken immer wieder neu anfangen muß.“64 Doch kann jene kritische Lebendigkeit des Suchens nach dem besten Logos nicht bedeuten, daß die Tugend des Denkens bzw. des argumentativen Diskurses im puren Offensein bestünde, als ob ihr keine festen, von Sokrates gewußten logischen Regeln und dialogischen Verpflichtungen innewohnten. Nein, diese Lebendigkeit speist sich aus der infalliblen diskurspragmatischen Einsicht in die Verbindlichkeit bestimmter Dialogversprechen, die Sokrates durch den Logosgrundsatz zum Ausdruck bringt. Es sind zunächst die Versprechen, nichts als das beste Argument gelten zu lassen und die Gesprächspartner als Argumentationspartner zu nehmen sowie zu achten etc. Insofern ist der Sokratische Rückgang auf den kritischen Dialog auch der „erste Versuch einer Sprachethik (besser: Dialogethik)“. Vittorio Hösle belegt diese Interpretationsthese vor allem mit dem Thrasymachos- und dem Gorgias-Dialog.65 2.3 Platon: Vom Dialog zur einsamen Ideenschau, vom sokratischen Diskurs zum totalitären Kosmos-Polis-Mythos? Keine Verbindlichkeit ohne Diskurs. Seit dem mittleren Platon – klassisch im „Menon“ – tritt freilich eine anamnetische und daher maieutische Dialektik an die Stelle des Sokratischen Elenchos. Sie ist es, die kognitive bzw. moralische Intuitionen zu Bewußtsein bringt und in ein begriffliches Wissen transformiert: geleitet von dieser Dialektik könne der vernunftbegabte Teil der Seele sein implizites 64 H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S. 178; vgl. 166ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 79 Vorwissen wieder erinnern (Anamnesis), es dabei explizieren und in Besitz nehmen, indem er es in die Form des Logos bringt, also dessen Gehalt auf Allgemeinbegriffe bringt, genauer: auf Begriffe mit Kriterienfunktion.66 Im „Phaidon“ begründet Platon die Anamnesis-Lehre ausdrücklich. Er verweist auf die Wiedererinnerung der von der Seele vor der Geburt eines leibhaften Individuums geschauten Urgestalten des Seienden. Durch eine Reflexion auf notwendige Idealisierungen in einer faktischen Erkenntnis will er zeigen: wir wissen immer schon mehr, als wir in der Sache und ausdrücklich wissen. Denn wer z. B. gleiche Holzstücke sehe, der wisse im Grunde auch, daß diese nur annähernd, nicht aber vollkommen gleich sind. Wie aber könnte man das in der Erfahrung Gegebene als defizient gleich, gut, seiend usw. erkennen, besäße man nicht ein „Vorwissen“ (προειδέναι) von dem, was vollkommen und an sich gleich, gut, seiend usw. ist. Dieses Wissen vom Vollkommenen könne nicht aus der sinnlichen Erfahrung stammen, vielmehr liege es ihr zugrunde – als ein Maßstab-Wissen a priori.67 Allein mit Bezug auf die Ideen, gewissermaßen im Vergleich mit den Ideen, könne das sinnlich Gegebene als defizient gleich, als defizient gut oder groß oder gerecht erkannt werden. In dieser These steckt die erste Gruppe von Prämissen der Ideen- und AnamnesisLehre. Genaugenommen macht Platon hier drei Voraussetzungen: Einmal die eidetische Gleichsetzung von Erkennen und Sehen, von Etwas Erkennen mit dem Sehen einer Gestalt bzw. Firn demgemäß die Gleichsetzung begrifflichen Wissens und Kriterien-Wissens (bzw. Vorwissens) mit dem Gesehenhaben einer Form, Proportion oder Gestalt. Damit verwebt er ganz unausdrücklich und vermutlich auch unbewußt naiv die vorkommunikative Unterstellung, daß einer für sich alleine ein kriteriales Wissen haben könne. Diesem methodischen Erkenntnis-Solipsismus liegt ein ebensolcher Solipsismus des Verstehenkönnens bzw. Regelfolgens zugrunde. Es ist das die – dritte – Voraussetzung: einer könne überhaupt prinzipiell alleine – eben aus der je eigenen Seele – Sinn und Bedeutung besitzen, ohne daß darüber eine Verständigung in einer realen Gemeinschaft (als Bedingung der Möglichkeit solipsistischen intersubjektiver Unterstellungen Beziehungen) sind typisch erforderlich für die sei. Diese klassische eidetisch- Sprach- und Erkenntnisauffassung: den Sinn der Rede versteht sie gegenstandstheoretisch, die Funktion der Sprache sieht sie in der Beziehung von Dingen, und den Erkenntnisvorgang deutet sie 65 V. Hösle, Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334f, vgl. 314-359. 66 Vgl. G. Martin, Einleitung in die allgemeine Metaphysik, Stuttgart 1974. 67 Vgl. L. Oeing-Hanhoff, Art. „Anamnesis“, in Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, S. 263. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 80 nach dem Muster des Sehens. Diese Annahmen haben sich tief ins abendländische Denken eingesenkt und werden uns immer wieder begegnen. Fragt man nun, wie Menschen ein Wissen der Ideen erhalten haben können, so antwortet Platon darauf mit einem Mythos, einer spekulativen Erzählung, die eine (für hellenische Kosmosfromme) plausible Vorstellung vermittelt. Das leistet der Mythos von der Präexistenz der Seele vor ihrer Einkörperung in den Menschen. Die Voraussetzung dieses Mythos entzieht sich freilich einer Prüfung im Diskurs. Es sind die Glaubensannahmen, daß ein Dualismus von Seele und Leib bestehe und daß die Existenz der Seele nicht an die des Leibes gebunden sei. Diese Seelenmetaphysik bildet den Kern de zweiten Prämisse, dank derer Platon das Problem zu lösen versucht: Wie ist ein kriteriales begriffliches Wissen, ein Wissen von Ideen möglich? 1. Prämisse: Das kriteriale eigentliche Wissen ist ein Erinnern an die Schau der Urgestalten / Strukturen des Seienden. 2. Prämisse: Der Ort jenes Wissens ist die Seele als unabhängig vom Leib. Conclusio: Das Ideenwissen kann der Mensch nicht aus seiner jetzigen und sinnlichen Erfahrung gewinnen, sondern nur dadurch, daß er ein Vorwissen als „Zuvorgesehenhaben“ der Ideen hat, und zwar vor seiner Geburt: dank seiner Seele, die die Ideen bereits geschaut hat. Daran muß er sich nur wieder erinnern. Wenn man z. B. das Bild des Simmias sehe, dann erinnere man sich (a) an den wirklichen Simmias (Phaidon, 73e 6-10) und (b) bemerkt, daß das Bild in der Ähnlichkeit hinter der wirklichen Gestalt des Simmias zurückbleibe (Phaidon, 74a 5-7), und dabei (c) setze die Seele ein Zuvorgesehenhaben „des Gleichen“, „des Vollkommenen“, „des Eigentlichen“ voraus; welches Struktur-, Urgestalt- bzw. Ideen-Wissen die Seele nicht aus der sinnlichen Erfahrung – z.B. der Anschauung des Bildes ‚Simmias vor dem Haus bei der Begrüßung von…’ – haben könne, wohl aber dazu benötige (Phaidon, 75c 4 – d 5). Die Seele habe nämlich jeweils vor der Geburt eines Menschen (d.h. vor ihrer Einwohnung in einen Leib) jene Erkenntnis von „dem Gleichen“ etc. empfangen. Und so hätten wir auch „schon vor und bei dem Akte der Geburt [erkannt] sowohl das ‚Gleiche’ und das ‚Größere’ und das ‚Kleinere’ als auch die ganze Fülle solcher Wesenheiten.“ An der zitierten Stelle des Phaidon erweitert Platon die Reihe der vorgewußten Begriffe mit Kriterienfunktion zugleich auf die Gebiete der Ästhetik und der Ethik, die er als Kosmostheologe nicht nur untereinander Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 81 nicht trennt sondern die er als Pythagoräer auch nicht von der Mathematik und Geometrie scheidet, weil er diese als Wissenschaft von den Proportionen des Kosmos versteht. So fährt er fort: „Nunmehr steht bei unserem Gespräch genau so wie das ‚An-sich-Gleiche’ im Vordergrunde auch das ‚An-sich-Schöne’, das ‚An-sich-Gute’ und das ‚Gerechte’ und das ‚Fromme’ und, wie ich meine, alles, dem wir das Siegel des ‚an-sich’ aufprägen bei der Bewegung de Gedanken, in der Red und Antwort stehen. So ist der Schluß notwendig, daß wir von alledem ein Wissen bereits vor der Geburt empfangen haben“ (Phaidon, 75 c 7 – d 5; nach der Übersetzung von Franz Dirlmeier). Platon kann dem, als „Idee“ bestimmten, richtigen Logos zugleich den ontologischen Rang einer Seinsstruktur und den transzendentalen Stellenwert einer internen Erkenntnisbedingung zumessen. Denkt er etwa ontologisch und transzendentalphilosophisch in einem? Jedenfalls hat Kant mit Blick auf das Problem der synthetischen Erkenntnis a priori Platon gewürdigt,68 wenngleich er dessen „mystische Deduktion der Ideen“ als ontische Hypostasierung verwarf.69 Ihm dem kritischen Transzendentalphilosophen, der nach den Bedingungen der Möglichkeiten der Erkenntnis im Erkenntnis-Subjekt fragte und als solche die reinen Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und die regulativen Vernunftideen rekonstruierte, mußte Platon ontologisches Ideenkonzept als schwärmerisch und dogmatisch erscheinen. Doch konzediert er, daß die überschwenglich hypostasierende Sprache Platons „einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist“.70 Eine solche rettende Auslegung gibt der Begründer der Transzendentalpragmatik, Karl-Otto Apel, in metaethischer Hinsicht: „Die Ideen des Guten, Schönen, Gerechten, der Tugend usw. sind nach Platon […] das ‚wahrhaft Seiende’, im Unterschied zu den Erfahrungsgegenständen, die immer nur vorübergehend und in einer bestimmten Hinsicht gut, schön, gerecht, tugendhaft usw. sein können. Eben durch diese ontologische Unterscheidung hat Platon jedoch erstmals die gedankliche Voraussetzung auch für die Unterscheidung zwischen den Normen und beschreibbaren Tatsachen des menschlichen Handelns geschaffen. Die modernen – nicht mehr metaphysisch-ontologischen – Unterscheidungen zwischen Fakten und Normen, zwischen (erfahrbarem) Sein und (aufgegebenem) Sollen, zwischen Realität und Ideal und die wichtige Einsicht, daß das eine nicht auf das andere zurückgeführt zu werden vermag, können und müssen als Abwandlungen der Platonischen Grundunterscheidung zwischen der sinnlich erfahrenen Realität und den Ideen begriffen 68 Kant, KrV, B370f B371, Anm. 70 Ebenda. 69 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 82 werden. Kurz: ohne den Platonischen Begriff der ‚Ideen’ ist auch der moderne Begriff der ‚Normen’ nicht zu verstehen. Darin liegt die bleibende Bedeutung des Platonischen Idealismus gerade für ein Denken, das sich ethischen Idealen als ‚regulative Prinzipien’ (Kant) unterstellt. […] Die bleibende Bedeutung des Platonischen Idealismus wird jedesmal dann besonders deutlich, wenn Philosophen im Namen eines Naturalismus oder Materialismus den Anspruch einer ethisch engagierten Kritik an bestehenden Gesellschaftsordnungen erheben. Denn, wie recht sie auch immer mit ihrer Entlarvung der materiellen, z. B. ökonomisch bestimmten >Interessen als Ursachen realer gesellschaftlicher Zustände haben mögen: ihre eigene Kritik an diesen Zuständen und ihr Engagement im Sinne einer Veränderung der bestehenden Zustände haben gar keinen Sinn, wenn sie nicht auch Ideen, regulative Prinzipien oder Normen voraussetzen, die die vorfindbare Realität überschreiten. Denn allein aus den feststellbaren Tatsachen dieser Realität, aus den Tatsachen dessen, was ist, kann niemals eine Norm, die besagt, was sein soll, abgeleitet werden. Wie leicht aber wird dieser Fehlschluß [… ein naturalistischer Fehlschluß] immer wieder begangen!“71 In der Tat: Wie oft wird in Publikationen und Diskussionen die von Platon nahegelegte Unterscheidung zwischen Norm und Tatsache übersprungen. In Kantischer Perspektive haben die Neukantianer Wilhelm Windelband und Paul Natorp die Ideenlehre gewürdigt. 72 Vittorio Hösle charakterisiert die Anamnesis-Lehre als „mythische Verkleidung der Entdeckung synthetischer Erkenntnis a priori“.73 Zweifellos hat Platon damit den Reflexionserrungenschaften der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie, dem Zentrum der „Kritik der reinen Vernunft“, vorgearbeitet. Freilich decken weder Hösle noch die Neukantianer auf, daß der reife Platon kommunikationsvergessen, mithin eigentlich undialogisch denkt, wenngleich er in Dialogform schreibt. Im Rahmen seiner maieutischen Dialektik inszeniert der Ideen- und Anamnesistheoretiker den elenktischen Diskurs als ein von Sokrates, dem ‚Hebammenkünstler’ („Maieutiker“), angeleitetes Zwiegespräch der Seele mit sich selbst. Der Elenchos wird zum angeleiteten Seelenmonolog. Zugeschärft wird diese Entdialogisierung des Sokratischen Dialogs, weil Platon tendenziell sprachwidrig denkt –in semantischer wie in pragmatischer Hinsicht. Semantisch konzipiert Platon den Sachbezug im Sinne eines geistigen Sehens, so daß er die Sachverhalte, besser: die Strukturen der Dinge, buchstäblich vorstellt. Darauf zielt die sprachanalytische Kritik der formalen Semantik von 71 K.-O. Apel, Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II), in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, Bd. 1, S. 90f. 72 P. W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 151975, S. 83-102. P. Natorp, Platos Ideenlehre, Leipzig 21922. 73 V. Hösle, Wahrh. u. Gesch. (1984), S. 360ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 83 Tugendhat.74 In pragmatischer Hinsicht geht Platon gegen den kommunikativen Sinn der Sprache an, indem er die Tätigkeit des Denkenden nicht kommunikativ und intersubjektiv versteht, sondern als ein virtuell einsames Sehen. Die Erkenntnisrelation begreift er daher nicht zugleich als dialogisches Verhältnis, vielmehr unterstellt er sie als eine bloße SubjektObjekt-Beziehung. Hier setzt die transzendentalpragmatische Kritik an.75 Je länger, desto stärker ordnet Platon den Sokratischen Diskursansatz der θεωρία (theoria) als Schau der ewigen Strukturen bzw. Ideen des Kosmos unter und führt so das Paradigma einer (im Grunde) einsamen Erkenntnis ein: Erkenntnis als geistige Schau der göttlichen und daher ewigen, unwandelbaren, immer selbigen Strukturen. Allein die kosmosmythischen Gottesprädikate von Parmenides – ewig, unwandelbar, immer selbig etc. – scheinen ihm eine wahre Erkenntnis zu ermöglichen. Er sucht eine im kosmosmetaphysischen Sinne wahre Erkenntnis – als Schau des Wahren. Dieses Wahre sei eben das unwandelbare Sein hinter den wandelbaren Erscheinungen, wie es die Parmenideischen Gottesprädikate charakterisieren, und das heißt: so, wie es der göttliche νούς (nous), das geistige Auge Gottes, erschaue. Platons Wahrheitskriterium ist es, daß die Methode, dank derer der Philosoph zu seinen Aussagen über das, was ist, gelange, jenem göttlichen Schauen entspreche. Eine solche Entsprechung bewerkstellige die anamnetische Dialektik. Sie zielt darauf, das unstete zeitlich Seiende, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung und des Meinens (δόξα, doxa), durchschauen, um die Ideen, die ewigen Seinsstrukturen, auszusprechen76. Der Dialektiker soll die ewige Gegenwart des wahren Seins zu einer intellektualen Anschauung bringen. [#Folie 16] Den philosophischen Diskurs legt Platon bis in die Neuzeit auf metaphysische Grundunterscheidungen fest – zunächst auf eine ontologische und eine epistemische bzw. erkenntnistheoretische. Dabei ergibt sich diese aus jener, weil er von der Ontologie ausgeht, genauer: von der ontotheologischen Differenz zwischen dem zeitlich Seienden, das der vorphilosophischen doxa als das Wahre erscheine, und den immer selbigen Strukturen bzw. Ideen und Paradigmen, weil daran das wahre und eigentlich göttliche Sein hafte. Platons Erkenntnisproblem ist: wenn es bloß das zeitlich Seiende gäbe, welches entsteht, sich wandelt und vergeht, würde daraus folgen, daß sich alle Dinge permanent veränderten. Als 74 E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 18ff, vgl. 36ff, passim. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 334ff.; D. Böhler, Wittgenstein und Augustinus, in: A. Eschbach, J. Trabant (Hg.): Foundations of Semiotics 7: History of Semiotics, Amsterdam/Philadelphia 1983, S. 343-369 (zit.: Wittgenstein u. Augustinus (1983)), S. 352ff. 76 Vgl. G. Picht, Wahrheit (1969), S. 36-87, bes. 76ff, ferner S. 112-131. 75 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 84 theoria-Ontologe schließt er daraus, daß es dann unmöglich wäre, überhaupt etwas Bestimmtes zu erschauen und diese eindeutige Sicht der Dinge in eine Feststellung zu bringen, einen Logos, der das Wahre buchstäblich festhalten könnte. Dieser zugleich optischtheoretische und ontologische Fehlschluß von der Beschaffenheit der Dinge als Gegenständen einer geistigen Schau auf den Geltungssinn von Aussagen und Behauptungen ist das metaphysische Erkenntnisproblem. Seit Heraklit hat es die griechischen Seinsdenker beunruhigt. Dieser eigentümliche Fehlschluß ist für die sprach- und diskurswidrige Denkweise der theoria-Ontologie charakteristisch. Platons Lösung dieses ‚Problems’ ist der Versuch, sich und die Polis in absolute Sicherheit zu bringen vor der Bedrohung durch das Bewegliche und Unstete, die Veränderlichkeit und Geschichtlichkeit. Nichts scheint freilich die gesuchte totale Sicherheit zu gewährleisten als die ewige Gleichförmigkeit des Kosmos und das unwandelbare Insichstehen der Ideen, der reinen Formen. Diese Welt-, Geschichtsund Praxisflucht ist von erkenntnisphilosophischer und politischer Bedeutung. Ihre politische Konsequenz ist sein ordnungsfunktionalistisches Gerechtigkeitsverständnis77 und sein totalitäres Eintrachtsmodell der Polis. Platon wollte sich und Athen retten vor der Geschichtlichkeit, der Wandelbarkeit, von der er das Zusammenleben bedroht sah. Am liebsten ein für alle mal wollte er die krisengeschüttelte, eine Demokratie suchende Stadtkultur Athens ordnungsaristokratisch nach dem Vorbild des harmonischen Regelkreises „Kosmos“ formieren.78 Dieser Formierungswille führt ihn in der „Politeia“ zu zwei, auf unterschiedliche Weise von der Natur als Bewertungsgrundlage ausgehenden, Untersuchungen über Gerechtigkeit, verstanden als Tugend der Polis. Schon in dem ersten, kürzeren „Weg“, der die Lehre von der Philosophenherrschaft und damit auch die Ideenlehre noch ausklammert, setzt er – wie auch im „Gorgias“ – voraus, daß bloße Vereinbarungen über Normen (θέσει, thesei) nicht moralisch verbindlich sein könnten, wohl aber das, was „von Natur aus“ (φύσει, physei) für die Menschen gut sei. Und da die Menschen nicht etwa, wie Gott, autark sondern bedürftig und zur Bedürfnisbefriedigung auf eine funktionsfähige Gemeinschaft mit anderen Menschen angewiesen seien,79 sucht Platon nach einer Gesellschaft, die so geschlossen und einträchtig wie möglich geordnet sei,80 damit dort alle Klassen ihre Aufgaben zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse optimal 77 Dazu K.-H. Ilting, Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik, (1978). In: Ders., Grundfragen der praktischen Philosophie, hg. v. P. Becchi u. H. Hoppe, Frankfurt a. M. 1994 (zit.: Grundfragen), S. 296-325, bes. S. 304-318. 78 Platon, Politeia, 500 c/d und Timaios, 47 a-c. Kritisch dazu: H.P. Schmidt, Frieden, Stuttgart/Berlin 1969 (zit.: Frieden (1969)), S. 37-57, bes. 48ff. Ders., Die Erfahrung des Bösen, in: Funkkolleg Studientexte, III (1984), S. 677-731, bes. 691-695. 79 Platon, Politeia, 369 b 5 – c 11. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 85 ausführen. Die gesuchte reibungslos funktionierende und absolut stabile Polis soll, wie ein Individuum, möglichst eine Ganzheit sein.81 Diese Funktionsganzheit versteht Platon, in Analogie zu der eines gesunden organischen Körpers, als die naturgemäße „Gerechtigkeit“ einer Polis.82 Daß diese Einführung Verbindlichkeitsfrage von verfehlt, Gerechtigkeit ist klar. bzw. Karl-Heinz politischer Ilting, Gerechtigkeit dessen Analyse die des Gerechtigkeitsmodells nach Platons erstem, leichteren Weg (in den Büchern II bis IV) ich gerade skizziert habe, schließt zu Recht: „Wenn dieser ganze Staat rein nach Zweckmäßigkeitserwägungen konstruiert ist, so sind alle seine Gesetze nichts als Ratschläge der Klugheit, denen jeder, wenn er vernünftig ist, nur soweit folgt, als dies im Interesse seines wohlverstandenen Eigenwohls liegt. Moralisch verbindliche Normen sind sie durchaus nicht, da Platon ja keinerlei über den Gesichtspunkt des Eigeninteresses hinausweisende Gründe ihrer Verbindlichkeit namhaft zu machen versucht hatte.“ Er scheine nicht einmal gesehen zu haben, „daß auch nach seiner Konstruktion eines Idealstaats die Frage noch immer offen ist, wieso denn eigentlich die in seinem Staatsmodell vorgesehenen spezifischen Aufgaben für die Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindliche Pflichten und Rechte sind. […] Daß Platon auf dem von ihm verfolgten Wege das Problem einer Begründung der Ethik verfehlen muß, zeigt sich womöglich noch klarer, wenn man prüft, wie er anschließend (434 d 2 – 444 a 9) auch die Gerechtigkeit eines menschlichen Individuums, analog zur Gesundheit eines organischen Körpers als Funktionsgerechtigkeit seiner ‚Seele’ und ‚Seelenteile’ zu interpretieren versucht. Indem er das menschliche Individuum bzw. dessen ‚Seele’ als eine Art Mikrostaat auffaßt, verzichtet er von vornherein darauf, die Anerkennung und Befolgung von Normen und die moralischen und rechtlichen Beziehungen zwischen Individuen als das Kernproblem der Gerechtigkeit zu erörtern. ‚Gerecht’ ist nach dieser Deutung ein Individuum nicht im Hinblick auf verbindliche Normen und auf seine Mitmenschen, sondern primär in bezug auf sich selbst: wenn nämlich seine ‚Seele’ gesund ist (443 c 9-d 1). Platon unterstellt zwar, wenn auch ohne große Plausibilität, daß solche ‚Gesundheit der Seele’ die beste Garantie gerechten Handelns ist. Aber ein anderes Interesse an der Gerechtigkeit als das des wohlverstandenen Eigenwohls kann er auch hier nicht geltend machen.“83 80 A. a. O., 422 a 8 und e 8, 423 b 10, 433 a 5, 462 b 1-2 u. ö. A. a. O., 462 c 7-10, 464 b 1. 82 A. a. O., 444 c 1-7. 83 K.-H. Ilting, Grundfragen, S. 309f. 81 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 86 Erst in dem zweiten, dem „längeren Weg“84, der Politeia, den Büchern V bis VII, kommt mit dem Postulat der Philosophenherrschaft die Ideenlehre zum Zuge. Sie ist Platons Antwort auf die herakliteische Beunruhigung. Karl Raimund Popper hat sie gewissermaßen 85 erkenntnispsychologisch rekonstruiert. Seine Hauptquelle ist Aristoteles. Dieser berichtet in der „Metaphysik“, Platon habe es für unmöglich gehalten, „daß es eine allgemeine Definition für ein Sinnesding gebe, weil die Sinnesdinge in dauernder Veränderung begriffen seien.“ Hingegen habe er die intelligiblen Dinge, die Strukturdinge bzw. reinen Formen, auf die sich die Definitionen bezögen, Ideen genannt und die These entwickelt, daß die veränderlichen Sinnesdinge nur dank einer ‚Teilhabe’ (µέθεξις, methexis) an jenen Ideen und Urbildern bestünden.86 Aristoteles’ Bericht zeigt, daß Platon die ontologische Differenz der Metaphysik: ‚zeitlich Seiendes versus ewige Seinsformen’ mit der epistemischen Unterscheidung ‚sinnliche Wahrnehmung versus intellektuelle Anschauung bzw. intuitive Vernunfteinsicht’ zusammendenkt. Die epistemische Differenz ergänzt Platon durch die methodologische Differenzierung zweier Erkenntnisweisen, welche auf akommunikativen Voraussetzungen beruhen und insofern einen methodischen Solipsismus unterstellen.87 Er unterscheidet eine schauende, intuitive Vernunfteinsicht von einer analytischen und konstruktiven διάνοια (dianoia) als diskursiver Verstandeserkenntnis. Die Vernunft (νούς, nous), verstanden als das Auge des Geistes, bezieht Platon auf das, was von dem wahren göttlichen Sein sichtbar ist, auf den Kosmos. Gemäß parmenideischer Tradition und mit pythagoreischen Obertönen verkündet er „den Kosmos-Mythos [...] in geläuterter Gestalt“ (Hans P. Schmidt)88: von dem göttlichen nous durchwaltet, habe der Kosmos die schlechthin vollkommene Gestalt der Kugel, und alles in ihm, auch die Zeit, schwinge in der Harmonieform des Kreises, befinde sich mitten in einer ewigen Stetigkeit. Neben dem VI. Buch der „Politeia“ ist der kosmologische Dialog „Timaios“ die wichtigste Quelle für diesen Ansatz einer intuitiven Kosmos-Vernunft. Der „Timaios“, den sich die römische Welt durch eine Teilübersetzung Ciceros, die christliche durch die kommentierte Edition des Neuplatonikers Chalcidius (um 400 n. Chr.) aneignete, konnte bis in die Neuzeit 84 Politeia, 504 b 2. K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons, Bern 1957 (zit.: Die offene Gesellschaft (1957)), S. 56ff. 86 Dazu Aristoteles, Metaphysik, 987 b 7 ff. Vgl. 1078 b 10-1079 a 4. Die von Aristoteles (Metaphysik 987 a 30b 18) rekonstruierten Gedankenschritte auf dem Weg zur Ideenlehre spürt Popper vor allem im „Phaidon“ (65 a66 a, 70 e, 74 a f und 99 f), im „Kratylos“ (439 c ff), in der „Politeia“ (485 a/b, 508 b ff, 509 c-511 e und 523 a527 c), im „Sophistes“, im „Theaitetos“ (174 b und 175 c) und im „Timaios“ (28 a-29 d und 48 e-55 c) auf. 87 Vgl. D. Böhler, Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit, in: Funkkolleg Studientexte, II (1984), S. 343-369. 88 H.P. Schmidt, Frieden (1969), S. 52. 85 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] als Platons Hauptwerk gelten. Er hat noch Kant ein 87 physikotheologisches Hintergrundsverständnis für seine methodologische Ethik vermittelt. In dem Dialog „Timaios“ bestimmt Platon das Verhältnis von göttlichem nous, Kosmos und menschlichem Denken (der hier unspezifisch gebrauchten διάνοια), indem er das Vermögen des Sehens als das höchste menschliche Gut auszeichnet: „Nun aber hat der Anblick von Tag und Nacht, vom Umlauf der Monate und Jahre, von Tagund Nachtgleiche und den Sonnenwenden die Zahl ans Licht gebracht und uns die Erkenntnis der Zeit und die Suche nach der Natur des Alls gespendet. Hieraus haben wir die Herkunft der Philosophie gewonnen, und ein höheres Gut ist nie gekommen noch wird jemals kommen zum sterblichen Geschlecht als Gabe der Götter [...]. Gott hat die Sehkraft für uns erfunden und uns damit begabt, damit wir die Umläufe des göttlichen Geistes [des nous] am Himmel erblicken und sie als Vorbild für die Umläufe unseres eigenen Denkens [dianoia] gebrauchen, welche jenen verwandt sind – den Unverwirrbaren die Verwirrten. Wenn wir sie aber gelernt und uns die der Natur entsprechende Richtigkeit ihrer Berechnungen angeeignet haben, dann sollen wir die ganz und gar unablenkbaren Umläufe des Gottes nachahmen und so die schweifenden Umläufe [des Denkens] in uns selbst ordnen. Von der Stimme und dem Gehör gilt wieder dasselbe, daß dieses Geschenk eben deshalb und zu demselben Zwecke uns von den Göttern verliehen sei; denn die Rede [logos] hat den selben Zweck und trägt das meiste zu dessen Erreichung bei. Soviel aber von der Musik der Stimme nützlich ist, so wurde es dem Gehör zum Zwecke der Harmonie geschenkt. Die Harmonie aber, welche verwandte Bewegungen hat wie die Umläufe der Seele in uns selbst, ist dem, der sich den Musen hingibt gemäß der Vernunft [nous], nicht zum Genuß einer irrationalen Lust, so wie man es heute meint, gegeben; vielmehr ist sie uns von den Musen als Beistand verliehen worden gegen die in uns aufgekommenen unharmonischen Umläufe der Seele, um sie zur Ordnung und mit sich selbst in Einklang [συµφωνία, symphonia] zu bringen“89. Das menschliche Denken, sofern es auf den Kosmos schaue, und die menschliche Seele, sofern sie auf die Harmonie der kosmischen Sphärenmusik höre, würden in eine Mimesis dieser Wohlordnung hineingezogen und so aus der Unordnung der Affekte herausgebracht. Das Denken bezieht Platon mimetisch auf den göttlichen nous als das Urbild allen Denkens. Eine ungeheuer folgenträchtige Bezugnahme: bis zu Kant und Hegel, ja bis zu Husserl wird die reine Kontemplation des (ursprünglich göttlichen) nous als Archetyp der Vernunft gelten... Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 88 Georg Picht, an dessen Übersetzung ich mich soeben angelehnt habe, kommentiert unsere Stelle: „Im Hintergrund steht die pythagoreische Lehre, daß die Bewegungen der Gestirne und die Bewegungen der Musik identisch sind, weil sie der gleichen Mathematik gehorchen. Wie Damon gelehrt hat, daß sich die Haltung des Menschen durch die Gewöhnung den geordneten Bewegungsabläufen der Musik angleicht, so kann der Mensch auch durch die Betrachtung der Sterne die Bewegungen seiner Seele dem Kosmos angleichen und so seine ursprüngliche Verwandtschaft mit dem die Sterne bewegenden νούς entdecken. Dies ist der geschichtliche Boden von Kants berühmtem Wort aus dem Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft: ‚Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.’ Der Begriff ‚Kosmos’, der bei Platon den Gedanken trägt, bezeichnet die Ordnung in der Bewegung. Deshalb kann der gleiche Begriff auf die Bewegung der Sterne und Gezeiten und auf die Bewegung der Musik bezogen werden. Diese Bewegungslehre bildet, wie wir aus dem ‚Timaios’ erfahren, jene Brücke zwischen Musik und Astronomie, die es Platon im ‚Staat’ erlaubt, die Lehre des Damon auf die Betrachtung des Kosmos zu übertragen.“90 Im VI. Buch der „Politeia“ spricht er die kosmosmimetische Funktion ausdrücklich der Philosophie zu. Von daher bestimmt er die philosophische Begründung des rechten Verhaltens als Rückgang auf die göttlich-natürliche Ordnung des Alls. Das ist Platons eigentümlich kosmologisch-naturalistischer Fehlschluß. Naturtheologisch suggestiv, hat er spekulativen Konsens erzeugt und Metaphysikgeschichte gemacht. Ist es doch die weithin einflußreiche Stoa, die Platon hierin folgen und – über Cicero – auch der Rhetorik eine naturalistische Hintergrundsmetaphysik vermitteln wird. Nicht weniger wirkungsträchtig ist der Bildungsbegriff, den Platon an die ethische Kosmos-Mimesis anschließt. Die ethische und politische Orientierungsaufgabe des Philosophen bestimmt er als Hineinbildung der Besonnenheit und der Gerechtigkeit in die Sitten und in die Polis: „Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten umgeht, wird auch wohlgeordnet [κόσµιος] und göttlich, soweit es dem Menschen möglich ist. […] Ihm entsteht eine Notwendigkeit, Sorge zu tragen, wie er das, was er dort sieht, auch in die Sitten der Menschen, die persönlichen und der öffentlichen, ein-bilden könne, und nicht allein sich selbst zu bilden.“91 Die Bildungsziele, 89 Platon, Timaios, 47 a 5 - 47 d 6. G. Picht, Wahrheit (1969), S. 120. 91 Platon, Politeia, Buch VI, 500 c 9 bis d 1, vgl. 500 d 3 - d 6. κόσµιος ist, wie Georg Picht betont, „ein im Griechischen geläufiges Wort zur Bezeichnung der Menschen, die sich in Zucht zu halten wissen. Aber in unserem Zusammenhang gewinnt es, wie wir sehen, einen anderen Sinn. Es wird damit gespielt, daß κόσµιος 90 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 89 welche die Kosmosmimesis mit sich bringt, sind „das der Natur nach (physei) Gerechte, Schöne, Besonnene und alles dergleichen“.92 Die nach diesem „göttlichen Paradigma“ zu bildende Polis und keine andere könne „glücklich“ sein.93 Nicht also die moralische Verbindlichkeit, die Anerkennungswürdigkeit von Normen, ist das letzte politisch-ethische Ziel des, der Kosmos- und Ideenschau hingegebenen und zur Fürsorge um die Polis genötigten, Philosophen, vielmehr ist es die gott- und naturgemäße Beglückung der Polis und durch dieses Kollektiv auch der Menschen als Poliszugehörige. Ein naturtheologisch geheiligter Eudaimonismus hat das letzte Wort. Die Philosophie gibt dann weder Raum für eine öffentliche Verständigung über das, was die Bürger wollen und worin sie politische Bedingungen ihres – das heißt aber: ihres individuellen – Glückes bzw. ihrer Werte sehen, noch ist sie selbst ein Diskurs zur Rechtfertigung von Normen mit dem Ziel ihrer begründeten, freien Anerkennung durch die Normadressaten. Sie hat überhaupt keinen Platz für einen öffentlichen Diskurs. Sie anerkennt daher auch keineswegs eine autonome Einsicht von Diskurspartnern in das, was sie den Bürgern normativ vorgibt, also das, was sie jeweils praktisch und politisch sollen – den konkreten normativen Gehalt von Gerechtigkeit, Schönheit und Besonnenheit. Sind Diskursteilnehmer, geschweige denn Diskurspartner, dann überhaupt noch am Platze? Nötig ist nur der Philosoph und zwar zuerst als Auge und Mund des die Naturordnung schauenden sowie vermittelnden Geistes, sodann als Hineinbildner der geschauten Naturordnung in die menschliche Welt. Ein gigantischer Fehlschluß von dem, was das natürliche Sein in Wahrheit sei, auf das, was die Polis glücklich mache und was die Menschen, man höre, daher als ihre Pflichten bzw. Rechte (in der Polis) anerkennen sollen. Auch das, was Platon auf dem „längeren Weg“ der Politeia vorbringt, ist kein moralisches Verbindlichkeits- sondern ein eudaimonistisches Klugheitsargument von der Form eines problematisch-hypothetischen Imperativs. Diese Klugheitsregel versieht er aber mit apodiktischer, weil kosmotheologischer Autorität, mit einer naturtheologisch entliehenen, logisch freilich erschlichenen Verbindlichkeit. Sie geriert sich, als sei sie ein kategorischer Imperativ, da sie die Handlungsweise des kosmotheoretischen Polisbildners in der Tat „als an sich gut vorgestellt“ hat, was Kant als Merkmal eines Kategorischen Imperativs auszeichnet.94 auch heißen könnte: dem Kosmos ähnlich, ein Abbild des Kosmos. Dieser Gedanke wird dann im ‚Timaios’ ausgebaut. Hier ist der Ursprung des Gedankens vom Menschen als einem Mikrokosmos.“ (G. Picht, a.a.O., S. 121.) 92 Platon, Politeia, 501 b. 93 Ebd., 420 b 7 f., 420 c 1-4, 421 b 6 f., 472 c 9. 94 Kant, GMS, S. 414. Was sich aus der Perspektive des Platonlesers als ein problematisch-hypothetischer Imperativ aufgrund einer möglichen, ihm angesonnenen Absicht darstellt, ist für Platons Philosophen, den die Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 90 Platon suggeriert damit, was er begründen müßte, aber glücksethisch und kosmostheoretisch umgeht: moralische Verbindlichkeit. Die tiefgreifenden Folgen sind: Verdrängung eines möglichen praktischen Diskurses zur Rechtfertigung von Normen, Entmenschlichung und Entgeschichtlichung der Lebenswelt zugunsten der „besten Polisordnung“, die „das wahrhaft Göttliche ist“, während „alles andere bloß menschlich“ sei.95 Platon beschreibt die politisch-ethische Bildungsaufgabe des Philosophen nach dem Muster eines Malers, der in seinem Gemälde ein göttliches Urbild darstellen will. Zu diesem Zweck müsse er die Polis und die Sitten der Menschen fast wie eine Wachstafel reinigen, um dann das Göttliche in sie einprägen zu können.96 Die kosmosgemäße und gottgefällige Bildung bestimmt Platon also nicht etwa, wie es der christliche Neuplatonismus seit Nikolaus von Kues tun wird, als Bildung zur Idee des Menschen – eine solche gibt es bei Platon im Ernst nicht. Vielmehr geht es ihm um das EinBilden des Göttlichen in das bloß Menschliche. Dessen geschichtliche und plurale Natur sei radikal zu verändern: durch ‚Bildung’ als „Technik der Umkehrung“97 (περιαγωγή, periagoge) und durch eine Bildungspolitik, die im Sinne einer ποίησις (poiesis) als eine zweckgemäße Herstellung gedacht ist. Alle erfolgsführenden Mittel scheinen dann recht zu sein. So ersteht eine kosmostheologisch gerechtfertigte, insofern bedenkenlose Poiesis des Politischen, deren Zweck der ordo-Idealstaat ist und zu deren notwendigen Mitteln die Überwindung des unstet Geschichtlichen, mithin die Beherrschung der Pluralität gehört. Doch ist Pluralität nicht eine Bedingung menschlicher Existenz – auch in dem emphatischen Sinne eines menschenwürdigen Daseins? [#bis hier geändert 7.6.2006] Hannah Arendt, die die Pluralität als conditio humana des Politischen entwickelt hat, urteilt scharfsichtig, wenn sie Platons idealpolitische Utopie als au fond tyrannische Spielart einer ‚monarchischen’ Politik kritisiert. Inwiefern? Der Versuch, der Pluralität, mithin der Individualität und Verschiedenartigkeit, „Herr zu werden“, sei „immer gleichbedeutend mit dem Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen“.98 Wie weit Platon von diesem Problembewußtsein und von dem moralisch rechtspolitischen Prinzip der Öffentlichkeit, ja auch nur von deren Wertschätzung als einem Gut entfernt ist, demonstriert er auch durch Kosmosschau zur Bildung der Einheitsordnung einer idealen, kosmosgemäßen Polis nötigt, ein assertorischhypothetischer Imperativ. Dieses assertorische Moment wird von Platon freilich mit einem kategorischen Vernunft-Schein versehen, indem er sich auf die göttliche Kosmosvernunft beruft. 95 Platon, Politeia, 497 b/c. Im Lichte der kosmosmetaphysischen „theoria” kann „das menschliche Leben“ ohnehin nicht „als etwas Großes“ gelten: 486 a 8 ff. 96 Ebd., 501 a 2 - c 2. 97 Ebd., 518 d 3 f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 91 seine Theorie der Tyrannis. Mit ihr reagierte er auf die Anarchie, von der er behauptet, sie ergebe sich in der Demokratie zwangsläufig. Demokratie sei eben der Überschuß an „Freiheit der Menge“, der in der Gleichstellung von Hintersassen, ja sogar von Sklaven mit den Polisbürgern gipfeln könne und daher zur Anarchie führe. Diese nötige dann die Tyrannis herbei.99 Den systematischen Grund für Platons Abgleiten in die Tyrannis sieht Hannah Arendt darin, daß sein Modell einer Philosophenherrschaft „die Schwierigkeiten des Handelns“ so lösen und auflösen soll, „als handele es sich um Erkenntnisprobleme“.100 Genauer gesagt: Platon vertritt einen Primat der kosmos- und polis-metaphysischen theoria und will daher die moralischen Fragen behandeln, als seien es metaphysische Erkenntnisaufgaben, welche durch spekulative Schau, von göttlichem Standpunkt und Sehepunkt her, gelöst werden könnten. Öffentlichkeit, Dialog, kommunikative Auseinandersetzung ergeben unter diesem Primat keinen Sinn. Auch eine freie Anerkennung der den Bewohnern seiner utopischen Polis auferlegten Pflichten und der den Wächtern sowie den Philosophenherrschern zugeschriebenen Rechte ist unter diesem Primat kein Thema mehr. Ebensowenig bedarf es einer Verständigung über den Sinn des Glücks, dessen die Polis teilhaftig werden soll, indem sie der funktionalen Gerechtigkeit zugeführt wird, so daß jede Klasse das Ihrige und jeder „das Seinige tue“, „wozu nämlich seine Natur [sic!] sich am geschicktesten eignet.“101 Platons utopische Bildungspolitik ist im Ansatz inhuman, gewalttätig und totalitär; gilt es ihr doch als ausgemacht, daß die menschliche Natur „von Kindheit an gehörig beschnitten und das ihrer Abstammung Verwandte (ihrer Genese Zugehörige) ausgeschnitten werden [muß], das sich nämlich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet“.102 Für das Hineinbilden des Göttlichen vermittels Herausschneidens des Menschlichen sollen die Herrscher des Idealstaates – „zum Wohle der Beherrschten“ – nicht nur zu Lüge, Täuschung und Betrug greifen.103 Sie sollen sogar, insgeheim, staatlichen Kindermord praktizieren, damit sichergestellt sei, daß ausschließlich jene Sprößlinge der Herrscherklasse aufgezogen werden, 98 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München o.J. (zit.: Vita activa), § 31, S. 215. Platon, Politeia, 562 f, bes. 563 a 1 f und 563 b 3-6. 100 H. Arendt, a.a.O. 101 Politeia, 433 a 6-9. 102 Platon, Politeia, 519 a 8 - b 4. 103 Ebd., 459 c-d. 99 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 92 die sich als die tüchtigsten erwiesen haben: Politeia 459 d – 460 c und 461 c 4f. Eingeschoben wird die rassehygienische Behauptung, das Geschlecht der Wächter müsse eben „rein“ sein.104 Wem stockt bei dieser Lektüre nicht der Atem? Einer solchen ‚politischen Bildung’ ist offenbar – kosmostheologisch – fast alles erlaubt. Sie kennt nicht die, in dem andersgearteten Geist der Bibel angelegte, Norm der Menschenwürde. Ebenso ist sie unberührt von dem normativen Begriff eines rein kommunikativen Handelns, der den zwischenmenschlichen Umgang jesuanisch bzw. mosaisch und prophetisch an das Gebot der Nächstenliebe bindet105 oder ihn (letztlich) an den Normen mißt, die ‚wir’ als Partner eines gewaltfreien, argumentativen Dialogs bereits in Anspruch genommen haben und auch anerkennen sollten, weil wir sie ohne Selbstwiderspruch nicht in Zweifel ziehen können. Zwar suchte Platon, wie Jonas sagt, „nach einem Staat, in dem Sokrates nicht zu sterben braucht“106, doch läßt sein idealstaatlicher Entwurf keinen Raum mehr, um den Sokratischen Logosgrundsatz als Diskursgrundsatz zu vertreten, also im Blick auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit und zu achtende Menschenwürde. Gemessen an einer Kohlbergschen Entwicklungslogik des moralischen Urteils, läuft Platon mit der Idee des Guten zwar auf die moralische Prinzipienstufe 6 vor – wenngleich nur in eudaimonistischer, verbindlichkeitsunfähiger Perspektive –, entzieht ihr aber sowohl die Gewissensfreiheit als auch den Selbstzweck der dialogbezogenen Anerkennung der Anderen und des Individuellen. Infolgedessen fällt er von der metakonventionellen Moralebene zurück auf ein RollenTugend-Ethos der Stufe 3 und ein rigides Ordnungs-Institutionen-Ethos im Sinne von Stufe 4, das aber von rechtsstaatlichen Grundsätzen wie den der Gleichheit der Rechtspersonen weit entfernt ist. Karl Raimund Popper, der die „Politeia“ in seinem Exil, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus und angesichts des kommunistischen Totalitarismus gelesen hatte, wertete Platons Anwendung der Ideenlehre auf das gesellschaftliche Leben als paradigmatischen, Geschichte machenden Angriff auf „die offene Gesellschaft“107, 104 Ebd., 460 c 6, vgl. 459 e 1 f. Darauf kommen wir im Zusammenhang mit Augustinus zurück: Hier Kapitel 2.6.1. 106 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979, S. 298. Befremdlicherweise übt Hans Jonas an Platons Utopie nicht eine anthropologische Sinnkritik, wie er sie in aller Schärfe Ernst Bloch gegenüber vorträgt, obgleich auch von ihr gilt, daß sie kein sinnvolles „Wunschbild menschlichen Glücks“ bietet, weil sie unvereinbar ist mit „der Permanenz echten“, d.h. seiner Würde, Freiheit und ‚Gebürtigkeit’ i.S. Hannah Arendts entsprechenden, „menschlichen Lebens“ (vgl. ebd., S. 378). 107 K.R. Popper, Die offene Gesellschaft, I (1957). 105 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 93 wenngleich deren Idee, ein Kind der Aufklärung und eines normativen Liberalismus à la Kant, durch die Wirkungsgeschichte der Platonischen Politik eher verzögert und dann erst konterkariert worden ist. In der Tat lassen sich Platons idealstaatliche Überlegungen und deren unmenschliche Folgerungen nicht als Überzeichnung resp. Übertreibung oder gar als Ironie bagatellisieren. Vielmehr zieht Platon damit die Konsequenzen aus seinem Ansatz: sowohl aus einem durch und durch akommunikativen Vernunftbegriff, der nicht den Dialog und die argumentative Berücksichtigung bzw. Geltungsprüfung realer Ansprüche zum Prinzip macht, sondern die Schau einer vorgeblich göttlichen Einheits-, Ruhe- und Ewigkeitsordnung des Kosmos. Die ist freilich ein spekulativer Ordnungsmythos und mündet in eine „totalitäre Gerechtigkeit“108, die die Maximen „Bringt die politischen Veränderungen zum Stillstand!“ und „Ersetzt die Pluralität durch Eintracht!“ kosmostheologisch abzuleiten versucht. Sowohl Kommunikation mit möglichen Betroffenen über ihre Werte, Interessen und Ansprüche, also eine Sinnverständigung, wie auch ein kommunikativer Diskurs über deren Berechtigung, im Sinne der Geltungsgegenseitigkeit, ist ausgeschlossen, wenn man wie Platon denkt: als metaphysischer Intellektualist, der eine theoria auf den natürlichen Kosmos richtet und dessen spekulativ erschlossene Strukturen dann daraus Normen für das politische Leben ableitet. Eben das ist die eigentümlich Platonische Spielart des naturalistischen Fehlschlusses, die den Mittelteil der Politeia durchherrscht.109 Karl-Heinz Ilting hat das in unerbittlicher Schärfe herausgearbeitet: Was immer Platon „zweckmäßig zu sein oder seinen eigenen Wertvorstellungen zu entsprechen schien, nannte er ‚natürlich’. Daher erklärte er sein Modell eines Idealstaates und die dort vorgesehene Herrschaftsordnung ganz unbefangen für naturgemäß und glaubte sich damit jeder weiteren Frage nach rationaler Begründung enthoben. Daß Normen und Werturteile sich im übrigen prinzipiell nicht aus Tatsachenfeststellungen und Naturbeschreibungen ableiten lassen, war ihm dabei ebensowenig klar wie irgendeinem anderen Autor vor Hume. Einen besonderen Grund hatte diese Unklarheit bei Platon in seiner Neigung, die vermeintlich naturgemäßen Normen und Ordnungen mit Hilfe seiner Ideenlehre als etwas unveränderlich Seiendes zu deuten, das in Akten intellektueller Anschauung unmittelbar erfaßbar sei. Ohne sich viel um den fundamentalen Unterschied zwischen seiner teleologischen Naturauffassung bzw. Güterlehre und seiner Lehre von den erfahrungsunabhängig erkennbaren Ideen zu kümmern, faßte er vielmehr beide Zur Unvereinbarkeit von Platons kosmostheologischem Idealismus und dem christlich humanistischen Neuplatonismus, der die Idee der Menschenwürde vorbereitet, vgl. D. Böhler, Ethische Motive der humanistischen Neuzeit, in: Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studienbegleitbrief 0, hrsg. vom Deutschen Institut für Fernstudien, Weinheim/Basel 1980 (zit.: Ethische Motive (1980)), S. 108-118, bes. 110113. 108 K.R. Popper, a.a.O., S. 126 und das gesamte Kapitel „Totalitäre Gerechtigkeit“, S. 126-168. Auch Hans P. Schmidt, Frieden (1969), S. 49ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 94 Konzeptionen im Mittelteil der ‚Politeia’ unbedenklich in einer Lehre von der teleologischen Idee des Guten zusammen. ‚Natur’ und ‚Idee’ wurden für ihn dadurch zu miteinander vertauschbaren Ausdrücken.“110 Im Mittelteil der „Politeia“ kosmologisch ansetzend schließt Platon von der Natur des Kosmos, deren Ordnung sich dem Ideenblick des Philosophen zeigt, auf die Ordnung, die sich die Menschen geben sollen. Weil dieses Sollen, dieser normative Orientierungsgehalt, damit er gelten kann, Anerkennungs- und Zustimmungswürdigkeit seitens der Menschen voraussetzt, Platon diese aber nicht aufzeigt, bleiben seine Sollenszumutungen ohne zureichenden Grund. Die Verbindlichkeitsfragen, warum man seine Seele unbedingt in jene Harmonie bringen solle, und weshalb diese Seelenordnung auch das normative Fundament für die Pflichten und Rechte der Menschen als Polisbürger sei, bleiben ohne Antwort. Ja, sie werden nicht einmal gestellt. Wenn ein Sollen allein aus natürlichen Gegebenheiten oder anderen Fakten abgeleitet wird – also ohne Gründe für die einsehbare, aus freien Stücken anerkennungswürdige Verbindlichkeit einer Orientierung an den hervorgehobenen Gegebenheiten, dann ist der Schluß ungültig: ein naturalistischer oder faktizistischer Fehlschluß eben. Dasjenige, was sich metaethisch, wenngleich ex negativo aus der „Politeia“ lernen läßt, und zwar insgesamt: aus ihrem Eudaimonismus, ihrer Ideenlehre und ihrer (unbestimmten) Idee des Guten, worin beide gipfeln, ist vor allem dreierlei. (1) Keine Ethik kann das Verbindlichkeitsproblem umgehen, wenn anders sie dem naturalistischen Fehlschluß ausgeliefert ist und im Diskurs ihre Glaubwürdigkeit einbüßt. (2) Die Verbindlichkeit moralischer Normen setzt freie Anerkennung der Normadressaten voraus, wie etwa Popper und Ilting betonen. Aber das Faktum einer freiwilligen Anerkennung, die zu einer Übereinkunft bzw. einem vertrag führt, ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für dessen Verbindlichkeit. (3) Wer annehmen wollte, die freie Anerkennung einer Norm sei hinreichend, deren Verbindlichkeit zu begründen, wie es der Dezisionismus, Liberalismus und Konventionalismus unterstellen, der beginge einen neuerlichen naturalistischen Fehlschluß 109 Vor allem: Politeia 507 a 7-519 c 7. K.-H. Ilting, „Naturrecht“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 252. 110 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 95 und müßte sich selbst als Diskurspartner widersprechen.111 Denn diese, von jedem, der etwas denkt und geltend macht, im vorhinein eingenommene kritische Rolle hängt zur Gänze davon ab, daß ihre Grundunterscheidungen, nämlich ‚faktische Anerkennung versus hinreichend begründete Anerkennung’ und ‚faktische, begrenzte Kommunikationsgemeinschaft versus reine, unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft’ im Denken und Diskutieren berücksichtigt werden. Daraus ergibt sich: Die bloße Tatsache, daß eine Norm von einer Gruppe anerkannt worden ist, kann noch nicht der hinreichende Grund ihrer Verbindlichkeit sein; vielmehr ist deren Anerkennungswürdigkeit aus universalisierbaren Gründen anzustreben. Praktisch verlangt das einen argumentativen Diskursprozeß, der sich der regulativen Gültigkeitsidee einer reinen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft unterstellt. 2.4 Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des Etwas-Denkens. Der Gemeinschafts- und Geltungsbezug der Rede als Basis einer dialogischen Sinnkritik. In dem sprachphilosophischen Dialog „Kratylos“ nimmt Platon expressis verbis die Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis an und stellt das methodologische Postulat auf, man solle die Dinge besser ohne Worte, nämlich durch verwandte Dinge, oder durch sie selbst erkennen (438 e - 439 b). Was in dem, kurze Zeit darauf entstandenen, „Phaidon“ schon als „abgedroschen“ gilt, die Erkennbarkeit der Ideen ohne Worte (100 b), wird in „Kratylos“ entwickelt. Hier sucht Platon nach einem „Paradigma“ für die richtige Benennung und Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg zur „Idee“ der Dinge, welcher vermittels Worten als den „Werkzeugen“ der Benennung zu beschreiten sei. Dieser Weg führe von einem, in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein und dieselbe „Idee des Wortes“, also den (idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das Wesen der Dinge selbst als dem „bestimmten Sinn“ der Wortidee und damit auf die sprachunabhängige Idee.112 Diese ideentheoretische Ausklammerung des sprachphilosophischen Bedeutungsproblems, welche die Konstitution der Wortbedeutungen von dem realen geschichtlichen Sprachgebrauch und deren Geltung von einem möglichen dialogischen Konsensus abtrennt, 111 Vgl. K.-O. Apels Auseinandersetzung mit K.-H. Ilting: „Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?“, in: Auseinandersetzungen, Ffm 1998, S. 221-280. 112 Platon, Kratylos, 389 a-390 a; vgl. 422 d-424 e, 428 c-428 d/e und 438 a-439 b. Dazu J. Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58f, 89 und 95ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 96 ist in Platons Werkzeugmodell der Wortbildung angelegt: Wie der Werkzeugmacher, etwa der Tischler, beim Verfertigen eines Weberschiffchens auf das Musterbild seines Werkzeugs (είδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ίδέα (idea) und gebe sie wieder (389 b 8 -390 a 7). So enthebt Platon eigentlich uns, die Wortbildner, eines Dialoges, einer Verständigung über den Sinn und dessen Abgrenzung in einem sprachlichen Ausdruck. Dabei setzt er zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung prinzipiell einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß Sprachschöpfung bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung nach dem akommunikativen Modell des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht werden kann – also in einer bloßen Subjekt-Objekt-Relation. Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, einsam und für sich allein, ein Objekt produziere, so schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus. Es ist dieser ganz und gar subjekt-objekttheoretische und herstellungstechnische Zusammenhang, in dem Platon „als erster das Wort ‚Idee’ als ein Schlüsselwort philosophischen Denkens einführte“. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff zum philosophischen Terminus erhob, der „ursprünglich im Herstellen erfahren war“.113 Ganz konsequent löst Platon im „Phaidon“ und „Phaidros“ auch den anamnetischen Weg des Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung eingeleitet114 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: die Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen115, auf deren Erkenntnis der Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne116. Daß die Sprache die Sinnbasis auch für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat Platon, wirkmächtig bis heute, verdrängt. Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun: Zuallererst gilt natürlich, daß Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens. Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige 113 H. Arendt, Vita activa, S. 220, vgl. S. 129. Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3ff. 115 A.a.O., 74 d 6-75. 116 Platon, Phaidros, 249 b 6-249 c 3 und 265 d 3-265 d 5. 114 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 97 Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen Einsichten. Anderenfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits. Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es damit die Bewandtnis eines „Zwar – aber“: Auf der einen Seite steht die Dominanz der kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur, was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen? Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im „Sophistes“ und im „Theaitetos“, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise, entstanden sein dürften. In dem späteren „Sophistes“ setzt der Fremde aus Elea zunächst Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne.117 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Worten bediene: „Der Ausfluß von jenem [dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).“118 Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοέισθαι, in dem wohl nach 365 verfaßten „Theaitetos“ als „eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über dasjenige durchführt, was sie erforschen will“, und zwar indem sie mit sich selbst rede (διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und verneinend.119 An dieser Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen. Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, Dietrich Böhler, diese Erörterung verfasse, ein Selbstgespräch in Platons Sinne? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Selbstgesprächs zu? ‚Ich’ frage doch nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst, treffe nicht allein Ja- und NeinStellungnahmen, wenngleich das Etwas-Denken noch heute, und selbst von Habermas120, meist so beschrieben wird. 117 Platon, Sophistes, 263 e 8f. Platon, Sophistes, 263 c 3. 119 Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 – 190 a 2. 120 J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns, I (1981), S.65: „Die zulässigen Reaktionen [auf eine Äußerung mit Geltungsanspruch] sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.“ Mit dieser traditionellen Bestimmung übergeht Habermas die vierte zulässige Reaktion, die Rückfrage nach der Bedeutung des Gemeinten oder die Infragestellung der Verständlichkeit des Gesagten als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als eines prüfbaren Diskursbeitrags, den andere Diskursteilnehmer als einen solchen annehmen, d.h. pragmatisch verstehen können. (Zudem fragt er nicht nach, ob eine Enthaltung wirklich immer zulässig ist oder wann sie 118 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 98 Eine solche Beschreibung verkürzt die kommunikativen Dimensionen der Pragmatik, welche der sachbezogene Sprecher zwar im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber getragen wird: man berücksichtigt dann bloß die satz-semantischen und pragmatisch semantischen Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den (assertorischen) Satz als Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält, „bipolar“ sind.121 Nur dann kann man in der Tat mit Tugendhat annehmen, die „Grundmodi“ des Sprachhandelns seien „wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen“.122 Erweitern wir hingegen den Blickwinkel, berücksichtigen wir den ursprünglichen Kontext, in dem eine Aussage jeweils vorgebracht wird und als eine Ansprache an andere verständlich ist, nämlich das Zwiegespräch bzw. den Diskurs, dann erkennen wir: Im Dialog können Sprecher auch mit Urteilsenthaltung123 reagieren. Dann lassen sie die Wahrheit oder normative Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein – als unentschieden oder moratorisch oder gar als unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das Denken als argumentativem Dialog ist freilich das sinnkritische Rückfragen. Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten gehen kann, sondern als trans- und intersubjektives Erheben und Prüfen von Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen Diskurs eröffnend oder fortsetzend, hat es auch die eigentümlich reflexive und horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon hat Sokrates schon einen gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: wenn ein Elenchos zur Selbstaufhebung einer These führt bzw. vorführt, daß sich eine Position nicht als Diskursbeitrag verstehen und durchhalten läßt, dann leistet er eine dialogische Sinnkritik. Diese sokratische Option steht jedem Diskurspartner offen, sofern zweifelhaft ist, ob sich der Aussagegehalt einer Behauptung oder die als gültig vorausgesetzte Präsupposition einer Frage vereinbaren läßt mit den normativen Sinnbedingungen der Dialogpartnerrolle des Sprechers. Da jeder, der über etwas nachdenkt, den dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur durchführen kann, indem er sich an den Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken gegenüber Anderen wie sich selbst hinsichtlich seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation unzulässig wird. Ist das nicht immer dann der Fall, wenn sich dahinter die Weigerung verbirgt, auf das Verhältnis von Geltungsanspruch und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren und Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte überhaupt mit der eigenen Rolle als eines Partners im argumentativen Dialog vereinbaren läßt?) 121 L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1960, S. 188. 122 E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), S. 518, vgl. 76f, 242f, passim. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 99 nachdenkt, provoziert er Fragen zweiter Ordnung: diskurspragmatische Verstehensfragen, die sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer dialogischen Handlung zur Einlösung der charakteristischen Geltungsansprüche beziehen. So kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage auslösen, wie das Gesagte denn genau gemeint sei; und ‚mein’ Gegenüber kann ‚mir’ entgegnen: „diese Aussage (n) habe ich nicht verstanden“. Und die eigentlichen Gültigkeitsansprüche auf Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der implizierten Normen können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: „diese deine Behauptung kann ich gar nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt bestimmten Geltungsansprüchen zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann sie nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen Dialog sinnlos ist.“ Solche typischen Diskursakte sind weder Ja-oder-Nein-Stellungnahmen noch Urteilsenthaltungen, sondern Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden Ansprüchen seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung des Opponenten über die Sache ins Spiel, sie erinnern den Proponenten vielmehr an seine diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs übernommen hat. Sie setzen den sozialen und daher normativ geladenen Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher als Diskurspartner in sein Recht. Uno actu machen sie – durch dieses Recht der gemeinsamen Institution Diskurs legitimiert und mandatiert – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher geltend. Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-undNein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe ‚ich’ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z.B. der Autor D.B. auf Platon, Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen Sie, meine Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen, das meine Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte. Inwiefern und warum? ‚Ich’ kann, wenn ‚ich’ etwas denke (oder ‚du’ etwas denkst), mich gar nicht anders verhalten als so, daß ‚ich’ (resp. ‚du’) sowohl die Verstehbarkeit als auch die 123 Vgl. K.E. Tranøy, Pragmatik der Forschung, in: D. Böhler u.a. (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), S. 3654, hier: S. 40f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 100 mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche – gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ‚ich’ rede, aber auch allen möglichen Anderen gegenüber. Wenn wir uns auf einen sinnkritischen sokratischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer Relevanz Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: ohne Verstehbarkeitsanspruch bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst. Wir wüßten nicht, worüber wir mit wem diskutieren könnten. Eine Diskussion könnte es nicht geben. Nun müßten wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die ‚wir’ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und warum ‚wir’ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen – auf alle möglichen Argumentationssubjekte und deren Argumente müssen beziehen sollen. Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also beziehst du dich implizit auf eine empirisch kaum begrenzbare reale Kommunikationsgemeinschaft, z.B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch gesprochen haben. Diesen realen Gemeinschaftsbezug habe ich bei anderen Gelegenheiten als die geschichtlich pragmatische Dimension bezeichnet, die die Rede immer schon im Rücken hat – als Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 101 lebensweltlichen Hintergrund tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns.124 Mitglieder einer oder mehrerer umgangs- und bildungssprachlicher, real geschichtlicher Kommunikationsgemeinschaft(en), schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das die Sprecher ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit all diesen sind wir unausdrücklich als mit unseren impliziten Mitsprechern verbunden, wenn wir laut oder leise reden, in Gespräch oder Selbstgespräch. So ergibt sich schon aus diesem Grund, nämlich aus der geschichtlichen Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und Etwas-Denkens, auf die der rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer, Apel) aufmerksam machen, daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt: Auch wenn unsere Gedanken überhaupt nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich mit Apel als „das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“125 einer intersubjektiven Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als „das Prinzip der Wirkungsgeschichte“126. Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem „apriorischen Perfekt“ (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die syntaktische und die umgreifende pragmatische, weiter differenziert. 124 D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S.360ff. Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 338ff, 397-435, 178-219 und Transf. d. Philos., I (1973), S. 22-76. 126 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1965), S. 250-290, 324-395. 125 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 [Fassung 25.7.2006] 102 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 103 Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-Etwas-Redens bzw. Etwas Denkens dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u. Geltungsrechtfertigung – „Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft“ S2, 3, ... pragmatisch-semantische Dimension.: Wortgebrauch referentiell-semantische Dimension.: Situations- bzw. Sachbezug Z Z SxÆ∞ Z Sit Z Syntaktische Dim.∗ S1 Z Sn, n 1, n 2, ... geschichtlich-pragmatische Dimension: Prius der lebensweltlich-kulturellen Vermittlung u. Institutionalisierung von Sinn – „Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft“ Erläuterungen: Sit Z S1 S2, 3, ... S xÆ ∞ ∗ Situation bzw. Sache Sprachzeichen Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug darauf handelndes) Subjekt faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft, auf die sich S1 bezieht. kontrafaktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft als Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, ... S1 ______________ Z S1 -----Z ------S2 / SxÆ∞ Z .............................. Sn, Sn1, Sn, Sn1, n2 ... n2 ... pragmatisch-semantische Dimension der Sprachverwendung eines Sprechers/Denkenden dialogisch-pragmatische Dimension der Voraussetzung bzw. Erhebung und Prüfung von Geltungsansprüchen im Diskurs geschichtlich-pragmatische Dimension der Traditionsvermittlung und Institutionalisierung von Sinn lebensweltliche Sprach- und Kulturgemeinschaft, von der jeder schon Sinn und Bedeutung übernommen hat Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo „Z“ (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) verständlich ist. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 104 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 105 Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele ist die, in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der „geschichtlich-pragmatischen Sinn-Dimension“ von der „dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension“ von besonderer Bedeutung. Denn beide Begriffe verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der sich jedoch auf den anderen Aspekt intern bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende bzw. als Diskursteilnehmer Geltung beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne den Kontext einer realen Sprach- und Traditionsgemeinschaft, aus der sie erst den sprachlichen Sinn und die Wortbedeutung beziehen. Umgekehrt müßte die sprachgemäße Wortverwendung, Sinnübernahme und Sinnschöpfung in Sprechakten blind und rechtfertigungsunfähig, also bloß willkürlich oder gänzlich heteronom bleiben, wären sie nicht verknüpft mit tragenden Geltungsansprüchen, hinsichtlich derer die Behauptungen (und die als sinnvoll etc. behaupteten Fragen), überprüft werden könnten. Den von einer Rede nicht abzuziehenden Geltungssinn, der den Mitdenkenden, darunter dem Sprecher selbst, erst das Mandat der Kritik vermittelt, hat Platon zweifellos gedacht – so im Begriff des richtigen Logos (ορθός λόγος, orthos logos) und im Begriff der Idee. Nicht zuletzt damit hat er dem europäischen Denken einen kritischen Impetus, ja eine kritische Gesinnung übermittelt. Doch siedelt er diese, die Denkenden zur Kritik seines Etwas-Meinens und -Sagens anhaltenden Begriffe einfach in der Beziehung des Denksubjekts auf den gedachten, und zwar intelligiblen Gegenstand an – übertragen auf unser semiotisches Schema: in der metaphysisch überhöhten referenzsemantischen Dimension der reinen Strukturen und Muster bzw. „Paradigmen“. Damit verdeckt er „das eigene Wesen der Sprache“ (Gadamer) gründlich.127 Wieso? Er ignoriert den zweifachen Gemeinschaftsbezug der Sprache als Rede, genauer: das zwiefache soziale, dialogische, daher mehrstellige Verhältnis zwischen einem Denk- bzw. Redesubjekt und anderen solchen Subjekten. Es ist eingelagert in den Sachbezug des Denkens/Redens, und es trägt diesen, indem es sowohl Bedeutung als auch Geltung ermöglicht. Sein Modell ist nicht die Teilnahme an einer Gemeinschaft und deren Diskurs, es ist das je einsame Schauen eines Bildes bzw. eines Musters oder der Gestalt eines herzustellenden Dinges, so wie er es im X. Buch der „Politeia“ am Handwerkermodell erläutert.128 Geleitet und verführt vom Schein der theoria-Metapher, die das Etwas-Denken nicht als Verständigung über Sinn und als Kooperation über Geltung (Wahrheit und Richtigkeit) sondern als einsam mögliches Erschauen unterstellt, verharrt Platon in einer Subjekt-Objekt-Relation, die als solche bloß zweistellig ist. Infolgedessen überspringt Platon neben der Sinnbeziehung des Gesagten auf eine reale geschichtliche Kommunikationsgemeinschaft auch die Geltungsansprüche eines Gedankens als Diskursbeitrag, also 127 128 So H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 385. Platon, Politeia, 595 c 7 - 597. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 106 die Geltungsbeziehung einer Rede auf das ideale Diskursuniversum. Dieses ist freilich ein regulatives Prinzip: Inbegriff eines Diskussionsforums, auf dem einzig sinnvolle Diskursbeiträge zählen würden und wo alle, samt und sonders alle, sinnvollen Argumente zur Sache die gehörige Berücksichtigung fänden. Wer an die ewigen Seins-Ideen glaubt und vermeintlich den Zugang zu ihnen besitzt, bedarf einer solchen regulativen, daher zur Selbstkritik auffordernden Geltungsinstanz nicht. Er ist sich des Wahrheitsbesitzes sicher. Ebenso bedeutsam für sein Selbstverständnis wie für seine geistige Wirkung ist seine Unterscheidung von νούς und διάνοια. Dort, wo er in weitem Sinne und unterminologisch von dianoia als menschlichem Erkenntnisvermögen spricht, kann er dieses Vermögen in den Dienst der intuitiven Vernunft als Kosmos- und Ideenschau stellen. Wo er hingegen die höhere Erkenntnisweise der Vernunftschau abgrenzt von den unteren Erkenntnisweisen der reinen Wissenschaften, und zwar nach dem Paradigma der Geometrie, spricht er terminologisch von dianoia (im engen Sinne). Damit meint er eine Verstandeserkenntnis, welche durch lückenlose Schußfolgerungen, unterstützt von anschaulichen Zeichnungen, „direkt zu einer Lösung, einem ‚quod erat demonstrandum’ der vorgelegten Aufgabe“ führt.129 Diese Unterscheidung trifft und erläutert er im Liniengleichnis. Die Geometrie gilt ihm deshalb als Muster der dianoia, weil ihr Verfahren Hilfsmittel der sinnlichen Anschauung verwende, und auf unbewiesenen Hypothesen aufbaue. Obwohl es ihr um Ideen wie die des Geraden und Ungeraden der geometrischen Formen und Winkel gehe, arbeite sie – zeichnend – stets mit Abbildern als Hilfsmitteln der sinnlichen Anschauung. Hingegen sei die noesis eine rein geistige Anschauung, die über einen großen Umweg nach einem unbedingten Grund suche, dem Prinzip des Ganzen (αρχή του παντός, arche tou pantos).130 Platon versteht die dianoia nach dem Muster der Geometrie und diese wiederum allein hinsichtlich ihres Bezugs auf ideale Gegenstände (Zahlen und Formen), geht aber nicht darauf ein, daß auch dieser Gegenstandsbezug und die geometrischen Konstruktions- sowie Beweisverfahren der Interpretation in einer Sprachgemeinschaft bedürfen. Aus diesem Grund, und zumal weil er deren Verfahren zugleich im Blick auf die intellektuale Anschauung der noesis als deren defizienten Modus erläutert, sperrt er das Selbstverständnis des Denkens ab von dessen intersubjektiver Kommunikationsfunktion. Daher würdigt er den Logos nicht als ein Ergebnis eines argumentativen Dialogs. Vielmehr gelangt er zu einer „radikalen Unterscheidung des Denkens von der Sprache als bloß sekundärem Ausdruck oder Werkzeug (όργανον, organon) der Gedanken“, wie Apel zuspitzt.131 Platons Selbstverständnis zufolge liegt der Geltungsgrund der sokratischen Dialoge nicht in der dialogischen Argumentation, sondern in der geschauten Idee. Die dialogische Kompetenz gilt ihm daher bloß als maieutische. So muß er versuchen, seine Definition des Denkens in geltungslogischer 129 130 E.A. Wyller, Der späte Platon. Tübinger Vorlesungen 1965, Hamburg 1970, S. 20. Platon, Politeia, 509 d - 511, bes. 510 b 4 - 512 d 6. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 107 Hinsicht durch den Mythos einer Präexistenz der Seele und die Annahme einer reinen Ideen-Intuition zu retten. Wenn diese Prämissen jedoch als nicht tragfähig erkannt werden, bleibt nur der transzendentalpragmatische Schritt zur Idee der Argumentationsgemeinschaft und damit zu der transzendentalpragmatischen These: Geltung beanspruchen kann ein Denken allein im Bezug auf mögliche Dialoge und auf einen Konsens, der selbst in einer unbegrenzten und noch dazu idealen, weil nichts als sinnvolle Argumente zulassenden Gemeinschaft standhielte. Den sokratischen Weg des Geistes in die Dialoggemeinschaft hat Platon nachhaltig blockiert, indem er den Logos (Rede und Sprache) von der Erkenntnis und dem Denken als einem, im Grunde sprach- und gemeinschaftsunabhängigen, intuitiven Selbstgespräch der Seele ablöste. Nach Denkweise und Wirkung ist Platon der erste große Ambivalente im philosophischen Diskurs. Sowohl seine Unterordnung der Kommunikation unter das (als einsame Erkenntnisfähigkeit durch Ideenschau verstandene) Denken, andererseits seine dialogbezogene Kritik des vermeintlichen Wissens und seine Rekonstruktion des impliziten Wissens haben die abendländische Philosophiegeschichte zutiefst geprägt. Durch beides hat Platon den philosophischen Diskurs in Stil, Logik und in einem zwar erkenntniskritischen, aber akommunikativen Selbstverständnis vorgeformt. Seine Amalgamierung von sokratischem Dialog und undialogischer theoria hat eine einzigartige Wirkung entfaltet, so daß sich die abendländische Metaphysikgeschichte in der Tat, nach Alfred N. Whiteheads Bonmot, als „eine Serie von Fußnoten zu Platon“ lesen läßt.132 Auf signifikanten Krisenschwellen der Philosophie ist jedoch auch Platons Sokrates, wenngleich in ganz unterschiedlichen Formen, anverwandelt worden: Augustinus, Nikolaus von Kues, teilweise auch der Humanismus und Galilei, dann Montaigne und Descartes, Kants kritisch- transzendentalphilosophischer Ansatz bei der quaestio juris und Habermasens bzw. Apels sprachpragmatische Reformulierung des Diskursbegriffs geben charakteristische Beispiele. 2.5 Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoria-Ontologie. Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog? Platons mit Abstand bedeutendster, doch eigenwillig kritischer Schüler und innerhalb der theoriaOntologie bald sein Widerpart, war der makedonische Arztsohn Aristoteles (384-347 v. Chr.). Mit gefächertem Interesse für Phänomene, Strukturen und Logik macht er sich einerseits daran, Phänomene zu beschreiben und zu klassifizieren – der erste interdisziplinäre Phänomenologe großen Stils; andererseits richtet er, und darin Schüler Platons, einen theoria-Blick auf das „Sein“, der in der 131 K.-O. Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 335. A. N. Whitehead, Process and Reality, New York 1929, S. 63. (Dt.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 31987, S. 91.) 132 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 108 Vielfalt und im dynamischen Prozeß des „Seienden“ eine Einheit des „Wesens“ (ουσία, ousia, Substanz) sucht. Mit besonderer Aufmerksamkeit für das Leben, die Lebewesen und ihre Entwicklung, versucht er diese dynamische Vielfalt verstehend zu strukturieren: alles Seiende strebe wie das Lebendige nach einer, in ihm keimhaft angelegten, Gestalt und Seinsform; diese sei der jeweilige Endzweck (τέλος, telos) seiner Dynamik bzw. seiner naturgemäßen Entwicklung. Es ist ein zweckgerichtetes, teleologisches Verstehen, mit dem Aristoteles an die Natur – freilich an die gesamte, nicht nur die organische Natur – und zugleich an die menschliche Sozialwelt herangeht. In dieser Perspektive entwickelt er sowohl den Kern seiner Seinslehre, der Ontologie, als auch seine Lehre von den viererlei Ursprüngen eines Seienden. Die Wirklichkeit sieht er als einen zielgerichteten Prozeß, in dem sich – ich folge der Zusammenfassung Günther Patzigs – drei Momente unterscheiden ließen: ein Wesen bzw. „eine Substanz (ουσία), an der er sich vollzieht, eine Form (ειδος), auf die er zustrebt, und die dieser entgegengesetzte ‚Beraubung’ (στέρησις), von der er ausgeht. Das Seiende ist Stoff (υλη), sofern es (in der ‚Beraubung’) die Möglichkeit (δυναµις) höherer Formung an sich hat; es ist Form, sofern es die Verwirklichung (ενεργεια, εντελεχεια) einer Form ist. Form und Stoff, Möglichkeit und Wirklichkeit sind korrelative Begriffe: jeder Stoff hat schon eine bestimmte Form, jede Form ist nur an ihrem bestimmten Stoff möglich. Die ungeformte Urmaterie (πρώτη υλη) ist nur ein Grenzbegriff, dem keine Realität zukommt. Erste Annäherung an die Urmaterie sind die Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde), geformt von den Gegensatzpaaren Warm-Kalt, Trocken-Feucht. Stofflose Form hingegen existiert: der unbewegte Beweger, göttlicher Ursprung und Gipfelpunkt zugleich jener Hierarchie, die sich im kontinuierlichen Aufstieg von niederer zu höherer Form verwirklicht. Neben die Lehre von den drei Momenten in allem Werden tritt die Theorie von den vier Ursachen: causa materialis, efficiens, formalis und finalis. Wenn ein Haus entstehen soll, müssen Steine und Holz bereitliegen (Materialursache), muß ein Baumeister mit Hilfe eines Bauplans die Materie organisieren (Wirkursache), muß das Endprodukt das Wesen ‚Haus’ verkörpern (Formalursache); und brauchte man nicht ‚schützende Hüllen für Menschen und deren Besitz’, baute man kein Haus (Endursache). Entsprechend bei Lebewesen: der Vater teilt als Wirkursache der vom mütterlichen Organismus vorgeformten Materie das ειδος mit; der embryonale Prozeß wird von dem Ziel (τέλος) gesteuert, ein neues Exemplar der Spezies, dem Vater gleich, hervorzubringen. Wirk-, Formal- und Endursache fallen im ειδος zusammen. Nur ‚ein Mensch kann einen Menschen zeugen’, das fertige Bild des Hauses ‚in der Seele des Baumeisters’ bringt ein Haus hervor. Endursachen regieren die Welt. Die Welt im ganzen ist ewig, denn alles Werden setzt schon ein Substrat voraus. Die reine Form des ‚ersten Bewegers’ muß also der Welt eine ewige Bewegung mitteilen. Nun können in endlichem Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 109 Raum nur Kreisbewegungen unaufhörlich fortgehen: unmittelbare Wirkung des Göttlichen νους ist daher das Kreisen des Fixsternhimmels. Gott ist stofflos und kann also nicht mechanisch wirken: er bewegt, selbst ruhend, die Welt, so ‚wie das Geliebte’ (Met. Λ, 7), selbst unbewegt, den Liebenden anzieht. Der Fixsternhimmel ahmt durch ewiges Kreisen die Ewigkeit Gottes auf seine Weise nach. Dass A[ristoteles] das reine Wesen, die stofflose Form Gottes als ‚Denken’ bestimmt, entspricht seiner Gleichsetzung des Begriffs mit dem Wesen, der Wahrheit mit dem Sein. Nicht, daß er Denken und Sein identifizierte; er läßt sie in einer naiven, zugleich tiefsinnigen Weise undifferenziert.“133 Deutlich von Platon und dessen Kosmostheologie beeinflußt, umspannt die Metaphysik des Aristoteles Ontologie, Physik und Theologie als eine Suche nach den allen Dingen innewohnenden Zwecken und Formen, auf die sie gleichsam programmiert seien. Der in jedem Seienden angelegte Endzustand ist für Aristoteles gleichbedeutend mit dessen Natur. Er hat einen strikt teleogischen Begriff von „Natur“. Die Entwicklung sei auf dessen naturgemäßen Soll- bzw. Endzustand hin programmiert. Dieser zeige sich in dem fertigen, wirklichen Einzelding als dem konkreten Wesen (ουσία, Substanz); und zwar an dessen Form (ειδος) bzw. Gestalt (µορφή). Daher falle der Zweck (das Worum Willen, το ου ένεκα) zusammen mit der einprogrammierten Form eines Dinges. So bringt Aristoteles drei der unterschiedenen Ursprünge – seit der Scholastik auch causae, also ‚Ursachen’ genannt – in seiner Theorie der bewegten, dynamischen Wirklichkeit aufs engste zusammen, den Zweckursprung (causa finalis) mit der Wirkursache (causa efficiens) und diese mit dem Formursprung (causa formalis). Die Form, das Eidos, hebt er als das Wesen hervor, sie sei die ουσία ανευ υλης,, das Wesen ohne Materie. Diese spekulative Wirklichkeitstheorie und ihr ziel-verstehender Zugang zu den Phänomenen steht völlig quer zur Empirie der neuzeitlichen analytischen und (mehr oder weniger) experimentellen Naturwissenschaften, die auf eine Objektivierung der Naturphänomene aus sind: auf eine gesetzmäßige Kausalerklärung physikalischer und chemischer Prozesse. Aus der spekulativen Annahme vermeinter Natur-„Zwecke“, nach denen die Dinge streben, ergibt sich die Methode eines teleologischen Naturverstehens, insbesondere die eines Verstehens organischer Prozesse – nach Analogie intentionaler (Handlungs-)Abläufe und in Verwandtschaft zu dem Sinnverstehen dessen, der ein Buch liest. So verband sich die Aristotelische Naturbetrachtung mit dem Topos vom ‚Buch der Natur’ bzw. liber naturae, woran sich die Naturerkenntnis und die natürliche Theologie, die Lehre von der Gotteserkenntnis aus der zweckvoll eingerichteten Natur, bis in die Neuzeit orientiert hat.134 133 G. Patzig, Artikel „Aristoteles“, in: RGG, 3. Auflage, Bd. 1, Tübingen 1957, S. 597-602, hier: S. 599 f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 110 Eine solche qualitative, sinn- und zweckverstehende Sichtweise ist unvereinbar mit der modernen objektivierenden Außenansicht, die nach den kausalen Bedingungen fragt, welche ein bestimmtes Naturereignis gesetzmäßig verursachen und einen bestimmten Prozeß ebenso gesetzmäßig auslösen. In dieser Perspektive versucht man ein Naturereignis nicht etwa zweckbezüglich und gewissermaßen von innen als Phänomen nachzuverstehen; vielmehr konstruiert man es mit Hilfe bestimmter Gesetzesannahmen als Fall eines allgemeinen Natur-Gesetzes bzw. einer nomologischen Theorie. So tritt an die Stelle eines teleologisch verstehbaren Phänomens, von dem angenommen wird, es zeige sich von sich selbst her, das sinnleere bzw. stumme Objekt einer theoretischen Erklärung. Es bedurfte einer Denk- und Methodenrevolution, damit es in der Neuzeit, eindeutig mit Galileo Galilei und Isaac Newton, zur mathematisierten, konstruktiv kausalerklärenden Naturwissenschaft kommen konnte.135 Allerdings hatte dieser Paradigmenwechsel einen organismustheoretischen und ökologischen Preis, weil er einen Objektivismus der Betrachtungsweise und Methode einschließt – ambivalent für die Biologie und für den Umgang mit der Natur riskant. Biologisch blendet er ab, daß die Lebensprozesse in der außermenschlichen wie in der menschlichen Natur ohne die objektiven Quasi-Zwecke der Organismen wie Stoffwechsel, ‚Selbstentfaltung’ und ‚Selbsterhaltung’ nicht begreiflich sind.136 Ökologisch läßt er außer Acht, daß natürliche Lebensprozesse von einer zuträglichen Umwelt abhängen. Nun ist aber die faktische Umwelt von Pflanzen, Tieren, Menschen gesellschaftlich – durch menschliche Kultivierung, Industrie und Technologie – derart folgenschwer verändert worden, daß es einer lebenssensiblen, ökologisch perspektivierten Technologie bedarf, deren Selbstverständnis und Methode einer Umweltethik entgegenkommt. Es ist deshalb kein Zufall, daß seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Hermeneutik, Pragmatik und Ökologie einander in der Kritik des methodologischen Objektivismus begegneten, der aristotelische Verstehenszugang zur Natur wissenschaftstheoretisch, naturphilosophisch und kritisch differenziert und ökologisch aktualisiert werden konnte: nach Hans Jonas’ Pioniertat einer „philosophischen Biologie“ (1966) zumal von Karl-Otto Apel mit transzendentalpragmatisch wissenschaftstheoretischer Fragestellung (1979) und von Robert Spaemann sowie Reinhard Löw (1981) in ontologischer Sicht.137 134 Vgl. D. Böhler, Naturverstehen und Sinnverstehen, in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis (1981), S. 70-95; D. Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 244-276. 135 Vgl. A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft, München 1977. K.-O. Apel, Das Verstehen – eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte), in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. I , Bonn 1955, S. 142-199 (zit.: Das Verstehen (1955)). J. Mittelstraß, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs, in: F. Rapp (Hg.), Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981 (zit.: Naturverständnis (1981)), S. 36-69. D. Böhler, In dubio contra projectum, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 244-276. 136 Dazu: H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973 (zit.: Organismus und Freiheit (1973)), bes. S. 22ff, 34ff, 53ff, 103ff, 124f und 130ff. K.-O. Apel, Die Erklären : VerstehenKontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt a.M. 1979, bes. S. 307ff. 137 Zu Jonas und Apel siehe Anm. 129; R. Spaemann, R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München/Zürich 1981; R. Löw, Zur Wiederbegründung der organischen Naturphilosophie, in: D. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 111 Kehren wir zu Aristoteles, dem Enkelschüler des Sokrates zurück, und fragen nach seinem Philosophieverständnis, so fällt gleich auf, daß er in erster Linie gegenstandstheoretisch, nämlich substanzontologisch, dachte, nicht etwa sokratisch dialogisch. Demgemäß begriff er die Philosophie nicht als methodischen Dialog und als dessen Reflexion, sondern als theoria des Seins. Er suchte eine durch Prinzipien gesicherte Erkenntnis des Seienden, insofern es ist.138 Unter Prinzipien (αρχαι) verstand er Quellen bzw. Ursprünge des Seienden, die diesem Grundcharaktere verleihen wie Selbigkeit der Form (ειδος) und Strebigkeit zum naturgemäßen Zustand, dem Telos – nicht primär Erkenntnis- und Verfahrensgrundsätze bzw. Beweisaxiome. Solche, wie auch seinen ersten Verfahrensgrundsatz, den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch, dachte er sich als verwoben mit den Ursprüngen bzw. tragenden Charakteren des Seins, in diesem Fall mit der Selbigkeit eines Wesens dank der Identität seiner einprogrammierten natürlichen Form. Auch darin folgt er seinem Lehrer Platon, der die Ideen zugleich als Seinsstrukturen und Erkenntnisvoraussetzungen begriffen hatte. So interpretiert er offenbar den logischen Satz vom Widerspruch in erster Linie als ontologisches principium, als Formel für die der Selbstidentität der Substanzen. Denn davon geht er im vierten Buch, in dem er den Satz vom Widerspruch als gültiges Axiom erweist, offenkundig aus: sowohl im ersten wie im dritten Kapitel. Er bekräftigt diese substanzontologische Deutung139 im Fortgang von Kapitel 4 mit gegenstandstheoretischen Argumenten, also undialogisch und gegen die natürliche Sprachpragmatik denkend. Jene Erkenntnisweise, die das Seiende so erkennt, wie es an sich selber ist, d.h. in seiner Identität und damit in seinem aktuellen Was- und Eines-Sein, um es in der treffenden Sprache des Thomas zu sagen – diese Seinserkenntnis nennt Aristoteles die erste Philosophie oder ‚erste Wissenschaft’.140 Sein Wissenschaftsverständnis erkennt der Metaphysiker, der Substanzontologe, den Vorrang vor Logik und Erkenntnistheorie zu. Denn jene sei absolut wahrheitsfähig, weil sie von dem handele, was so sei, wie es ist und nicht anders sein kann – im Unterschied zur Praktischen Philosophie, die es mit den veränderlichen bzw. schwankenden Angelegenheiten der Handlungswelt zu tun habe.141 Was andere Methoden anbelangt, kann er daher auch den Gegensatz zur Dialektik betonen, weil die es bloß zum Wahrscheinlichen bringe und beim Erkenntnisversuch stehenbleibe. Erst recht setzt er die Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1994 (zit.: Ethik für die Zukunft (1994)), S. 6879. 138 Aristoteles, Metaphysik, 1003 a 21-32, vgl. 1005a 24 u.ö. 139 Die thomasische Auslegung, derzufolge Aristoteles den Satz vom Widerspruch „offenbar in Zusammenhang mit dem Seinsmerkmal des Identischen (Selbigen), von dem er in Kapitel 3 sprach“, gesehen habe, trifft m.E. zu. So der Kommentar Horst Seidls in der Meiner-Ausgabe der „Metaphysik“: Hamburg 1991, S. 349, vgl. 351ff. 140 op. cit., 1004a 3ff 141 Nikomachische Ethik, I, 1094 b12-27 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 112 ontologische Philosophie der Sophistik entgegen, da diese zwar Philosophie zu sein scheine, jedoch keine sei.142 Für das Selbstverständnis aber auch für die Inhaltsbestimmung des philosophischen Diskurses war Aristoteles von kaum zu überschätzender Wirkung: seit seiner Wiederentdeckung und theologischphilosophischen Aneignung durch Albertus Magnus und Thomas von Aquin hat er die Philosophie erneut auf das Paradigma einer metaphysisch teleologischen Ontologie festgelegt. Noch in dem neuzeitlichen, modernen Paradigma der Subjekt- bzw. Bewußtseinsphilosophie lebte es begrifflich fort. Doch auch für ein Denken diesseits aller spekulativen Seinslehre, für die Selbstaufklärung des Philosophierens als eines Denkens im Dialog und als eines Begründens aus dem Dialog ist Aristoteles von Bedeutung. Das zeigt sich heute: bei der Entwicklung eines dritten, nämlich kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophie nehmen wir den Richtungsstoß wahr, den er für ein sokratisch dialogisches Selbstverständnis des Denkens als kommunikativ reflexiven Diskurses gegeben hat. Paradoxerweise ist es der metaphysische Seinsdenker, der – auf der Suche nach den ersten Quellen des Seins und den ersten Grundsätzen bzw. Beweisaxiomen der Seinslehre – den Sokratischen Elenchos als genuin philosophische Begründungsweise erkennt und aufgreift. Denn anders könnte er sein gesuchtes „sicherstes Prinzip von allen Dingen“, über das „kein Irrtum möglich ist“143, das ontologische der Identität und damit das logische des Satzes vom (zu vermeidenden) Widerspruch nicht als unhintergehbares, eben erstes, Prinzip erweisen. In seinen Vorlesungen über eine erste Philosophie, die viel später, nach der Anordnung seiner Vorlesungen, den Namen „Metaphysik“ – die nach der Physik – erhalten sollte, stellt er im vierten Buch die Philosophie als diejenige Wissenschaft heraus, die einerseits vom ursprünglichen Wesen dessen, was ist, handelt und andererseits von den „allergewissesten“ Axiomen bzw. ersten Grundsätzen. In Fortführung einer Diskussion mit relativistischen Skeptikern – offenbar mit Herakliteern, die ihm eine Deduktion des Satzes der Identität und des zu vermeidenden Widerspruchs abverlangt haben –, entwirft der junge Aristoteles eine reflexiv sinnkritische Argumentation. Er deutet eine dialogreflexive Letztbegründung des Satzes vom Widerspruch an, um sowohl die Gültigkeit dieses elementarsten und sichersten aller Grundsätze144 als auch seine Verbindlichkeit für jeden zu erweisen, der an einem Dialog teilnimmt. Denn jeder, der überhaupt etwas Bestimmtes zu verstehen gebe (σηµαίνειν, semainein) und geltend mache, also jeder, der überhaupt etwas denkt und etwas zu sich 142 Metaphysik, 1004 b 16-26. op.cit. 1005 b10-17 144 Ebd., 1005 b 17f und 1005 b 33f. 143 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 113 oder zu einem anderen sagt,145 der habe dieses Prinzip als gültig vorausgesetzt und es zugleich implizit als eine Grundregel der Rede anerkannt. ‚Nun gut’, kann ein Skeptiker einwenden, ‚so mag es sein. Doch schließt du damit nicht von einem bloßen Faktum auf die Verbindlichkeit einer Norm? Das wäre ein faktizistischer bzw. naturalistischer Fehlschluß eigener Art.’ Dieser Einwand läßt sich nur entkräften, wenn man demonstrieren kann, daß jenes Voraussetzen des Widerspruchssatzes als eines gültigen Prinzips logisch/dialogisch notwendig ist – durch kein sinnvolles Argument hintergehbar. Dazu tut Aristoteles einen wichtigen Schritt. Denn er kann, wie jeder von uns, hier eine Sinnbedingung des Etwas-Denkens ins Spiel bringen; mithin als etwas, das nicht bloß faktisch von N.N. anerkannt worden ist – dann hätte das Anerkannte einen bloß zufälligen Charakter, so daß ihm keine allgemeine Verbindlichkeit zukäme, vielmehr als etwas, das sich gar nicht sinnvoll in Zweifel ziehen läßt. So können wir mit Aristoteles reflexiv sinnkritisch argumentieren: Eine Person, die sich selbst bzw. Anderen etwas verständlich macht, kann dieses Gesagte/Gedachte allein dadurch als Beitrag in einem Diskurs zur Geltung bringen, indem sie eine verpflichtende Partnerrolle eingenommen hat: die Rolle eines Partners in einem Dialog, worin allein diskutierbare Argumente zählen. Denn diese Voraussetzung stellt, so läßt sich Aristoteles explizieren, eine unhintergehbare Sinnbedingung der Rede bzw. des Logos dar. Das macht er schlagartig klar: Jeder, der sich nicht davonstehle oder sich stumm wie eine Pflanze verhalte, sondern Rede und Antwort stehe, müsse – wenn er nur im Dialog auf die Sinnbedingungen des Rede-und-Antwort-Stehens achte – zugeben, daß keineswegs alles „so“ und zugleich „nicht so“ sein könne; also sei der bezweifelte Grundsatz vom zu vermeidenden Widerspruch als Prinzip wahr und als Diskursregel verbindlich. Aristoteles konstatiert, daß diese kritische Argumentation den Satz vom Widerspruch durch Widerlegung seiner Bezweiflung beweise.146 In der Tat: weder eine Rede insgesamt, also als Beitrag in einem Diskurs, noch eine Aussage als Satz, die widersprüchlich ist, kann überhaupt eindeutig identifiziert, intersubjektiv nachvollzogen und auf mögliche Wahrheit hin geprüft werden. Sie ist sinnlos. Dasjenige aber, an dessen Gültigkeit sich nicht mit einer verständlichen, sinnvollen Rede zweifeln läßt, das ist gültig. Und sofern dasjenige, an dessen Gültigkeit sich nicht mit einer verständlichen, sinnvollen Rede zweifeln läßt, einen normativen, moralischen Gehalt besitzt, ist insofern verbindlich. Wir können das sinnkritische Aristotelische Argument sowohl satzsemantisch als auch dialogpragmatisch entfalten. 145 146 Ebd., 1006 a 21-23; hiermit paraphrasiert er übrigens Sokrates nach Platon, Theätet 189 e4-190 a2. Vgl. 1006 b 7-9. Ebd., 1006 a 15-18 und 1006 a 22-28. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 114 Satzsemantisch besagt es: eine Aussage, die in ein und derselben Hinsicht Verschiedenes besagt, nämlich zugleich A und non-A geltend macht, ist nicht diskutierbar. Auch wenn man, wie Ernst Tugendhat, die satzsemantische Lesart wählt,147 hat man mit dem Kriterium der Diskutierbarkeit implizit schon einen diskurspragmatischen Standpunkt bezogen: man argumentiert als Diskurspartner, der vom Sprecher des Satzes erwartet, daß dieser in einem unausgesprochenen Behauptungsakt („Ich behaupte hiermit als verständlich und wahr: A ist zugleich A und non-A“) bestimmte diskussionsermöglichende, weil prüfbare Geltungsansprüche erhoben hat. Also geht auch der sprachanalytische Philosoph, der Satzsemantiker, von einer diskurspragmatischen Perspektive aus: er kommt nicht umhin, den zu prüfenden Satz als den propositionalen Teil eines kompletten, formal vollständigen Diskursbeitrages in einem Dialog zu verstehen – und selbst (virtuell) die Rolle des Diskurspartners einzunehmen. Das zeigt, daß eine bloß satzsemantische Analytik gewissermaßen dialogparasitär ist, lebt sie doch von einem Geltungsinn, den sie als Analyse nicht einholen kann. Dieser Befund berechtigt uns umso mehr dazu, die umfassende dialogbezogene Perspektive einzunehmen und Aristoteles’ negativen Beweis auf die ganze Rede zu beziehen: Auch ein formal vollständiger Diskursbeitrag – ein performativer Akt, der Geltungsansprüche erhebt, in Verbindung mit einer Proposition, für die Geltung beansprucht wird – ist für Diskurspartner (und auch für den Sprecher als Diskursteilnehmer) allein dann verständlich, wenn im Verhältnis beider Teile zueinander, also Geltungsanspruch und Proposition, kein Widerspruchs besteht. Anders gewendet: in dialogreflexiver Einstellung läßt sich, mit Ausgang von Aristoteles, demonstrieren, daß eine pragmatisch bzw. performativ widersprüchliche Rede sich überhaupt nicht als Diskussionsbeitrag aufnehmen läßt, weil man sie weder als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen noch sie auf ihre Geltung hin prüfen kann. Man kann sie nicht diskutieren. Wer derlei vorbringt, hat durch diesen Akt den argumentativen Dialog verlassen. Er hat sich – mit dieser Rede – disqualifiziert, so daß sein Votum ausscheidet; es zählt nicht. Das wäre der dialogpragmatische Coup des jungen Aristoteles. Für einen Blitzschlag scheint er die reflexive Einstellung und den ultimativen Status eines sokratischen Elenchos, dessen Rang als dialogreflexive Gültigkeitserweis eines Prinzips, erspürt zu haben –die Möglichkeit einer Prinzipienbegründung durch Reflexion im Dialog auf Sinnvoraussetzungen eines Dialogbeitrags eröffnend. Freilich ist dieser geniale Coup weder von ihm selbst noch von der Philosophiegeschichte in seiner reflexiven Methodik und seiner fundamentalphilosophischen Bedeutung erkannt, geschweige denn ausgeschöpft worden. Umso mehr verlohnt es, bei ihm zu verweilen und ihn zu explizieren – mit Bezug auf Wolfgang Kuhlmanns reflexiv pragmatische Rekonstruktion148. 147 148 Vgl. E. Tugendhat, U. Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, S. 50-59 W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 267-278. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 115 Aristoteles entdeckt eigentlich, sagten wir, daß eine Rede, die nicht dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch folgt, nicht verständlich ist. Folge sie ihm nämlich nicht, dann könne niemand, weder der Sprecher noch die Hörer, wissen, wovon eigentlich die Rede sei, was also diskutiert und auf seine Gültigkeit hin geprüft werden solle. In solchem Falle bringe der Redende eine These (einen Zweifel oder eine Bestreitung) vor, die sich nicht identifizieren und als Diskussionsbeitrag nicht verstehen lasse. Das heißt: ein solcher Gegner diskutiert gar nicht. Zwar scheint er einen Diskurs zu eröffnen, indem er die Rolle eines Diskurspartners einnimmt (oder prätendiert); doch hält er diese Rolle nicht durch, vielmehr entzieht er sich durch seine widerspruchsvolle Rede dem Dialog der Argumente, weil er etwas vorbringt, das Argumentationsteilnehmer nicht als Argument nachvollzieheb und prüfen könne. Diese, bei dem jungen Aristoteles zumindest angelegte, reflexive Sinnkritik kann, sofern sie diskurspragmatisch expliziert und demgemäß durchgeführt wird, sechs Dinge demonstrieren: Jeder Gedanke basiert auf dem dialogbezogenen Geltungsanspruch, als Diskursbeitrag verständlich zu sein (1). Dieser Verständlichkeitsanspruch impliziert die Anerkennung, daß der Satz vom (zu vermeidenden) Widerspruch logisch gültig (2) und für alle möglichen Diskursteilnehmer dialogisch verbindlich ist (3) –, ein unhintergehbares Sinn- und Geltungsprinzip des Denkens als Diskurs. Der gemachte Geltungsanspruch auf Verständlichkeit läßt sich nicht elementarsemantisch verengen auf die Nachvollziehbarkeit eines sprachlichen Ausdrucks, sondern geht primär auf den direkten Kontext einer Redehandlung als Diskursbeitrag, der sich auf seine Gültigkeit oder Ungültigkeit hin diskutieren läßt. Der Verständlichkeitsanspruch ist also, weil er darauf zielt, daß man das Gesagte als Diskursbeitrag ernstnehmen und hinsichtlich seiner Geltungswürdigkeit prüfen kann, verwoben mit Ansprüchen der Gültigkeit, nämlich mit dem theoretisch-empirischen Geltungsanspruch auf Wahrheit und dem praktischen auf Richtigkeit bzw. Legitimität (4). Der dialogpragmatische Schluß auf die Sinnlosigkeit eines Zweifels an der Gültigkeit und Verbindlichkeit des Satzes vom Widerspruch ist schlagend. Ein dialogreflexiver Schluß zeigt sich als eigenständiger Beweis. Wir haben es hier mit einer ganz anderen Beweisart zu tun, als es die aussagenlogische Deduktion eines Satzes aus Obersätzen ist: hier liegt ein sinnkritisch reflexiver Aufweis oder Elenchos vor (5). Die sinnkritische Evidenz des dialogreflexiven Elenchos unterscheidet ihn scharf von einer formallogischen Ableitung. Denn ein deduktiver Beweisgang führt in einen unendlichen Regreß auf wiederum bezweifelbare, beweisbedürftige Axiome oder zur dogmatischen Festsetzung eines „ersten“ Axioms, die den Begründungsdiskurs abbricht, oder aber zu einem logischen Zirkel, weil auf begründungsbedürftige Aussagen zurückgegriffen wird. Das ist die Einsicht in das von Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und Hans Albert dargelegte Münchhausentrilemma (6a). Hingegen eröffnet der reflexive Rückgang auf interne Sinnbedingungen des Diskurses einen abschließenden Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 116 Gültigkeits- oder Verbindlichkeitserweis, eine „reflexive Letztbegründung“ (W. Kuhlmann) bzw. einen dialogreflexiven Erweis (6b)149. Denn wenn ein Dialogpartner dem anderen reflexiv aufzeigt, daß dieser die logische Geltung und dialogische Verbindlichkeit eines als Prinzip behaupteten Satzes nicht ohne pragmatischen bzw. performativen Selbstwiderspruch (zu der von ihm selbst in Anspruch genommenen Rolle eines Diskurspartners) bezweifeln kann, so demonstriert er sinnkritisch, und zwar unhintergehbar, daß eben dieser Satz gültig und sein normativer Gehalt verbindlich ist – ein absolutes Prinzip des Denkens als Diskurs. Das ist die Pointe einer aktuellen, sokratisch sinnkritischen Dialogreflexion. Karl-Otto Apel hat sie in der Auseinandersetzung mit Hans Albert angebahnt und auf die Formel „Reflexion auf den Diskurs im Diskurs“ gebracht.150 Die Diskurspragmatik zeichnet eine solche Dialogreflexion als den eigentlichen philosophischen Beweis aus. Das, was der frühe Aristoteles in der Diskurssituation der Prinzipienbegründung entdeckt oder doch gegenüber Prinzipienbezweiflern in Anspruch genommen hat, die Umstellung des Etwas-Denkens zu einer aktuellen Reflexion auf dessen Sinnbedingungen in dem gerade geführten Dialog, kann er jedoch weder als Ontologe, der theoretisch spekulativ denkt, noch später als Logiker, der bloß theoretisch analytisch verfährt, in Besitz nehmen. Denn wer allein in theoretischer und analytischer Einstellung über etwas nachdenkt, statt auf seine dialogische Praxis zu reflektieren, der vergißt methodisch, was er dialogisch tut bzw. je schon getan hat, nämlich daß er selbst Geltungsansprüche gegenüber Anderen erhoben hat. So vergißt der spätere Aussagenlogiker Aristoteles das – für die Selbsteinholung des Diskurses und damit für die Letztbegründung von Prinzipien ausschlaggebende – dialektische Zugleich von theoretischer Einstellung und aktuell reflexiver Einstellung, wenn er den Elenchos nur als analytisches Instrument entwickelt: als indirektes Verfahren eines Beweises durch Widerlegung einer aufgestellten Behauptung.151 Der Elenchos habe „die Form der reductio ad absurdum, welche den Schluß auf die Negation der widerlegten Aussage erlaubt“152. Doch behandelt ein solches formallogisches Beweisverfahren die (in unserem Zusammenhang als unbezweifelbar gültig) zu erweisende Präsupposition (hier: ‚der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist unhintergehbar’) nur wie eine Prämisse in einem Syllogismus. Für den, der so verfährt – bloß analytisch technisch, ohne sich und die Anderen als Diskussionspartner zu berücksichtigen –, gilt dann tatsächlich, was Alfred Berlich irrtümlich gegen die transzendentalpragmatische Idee der reflexiven Letztbegründung 149 Vgl. W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). Vgl. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 296-308, 363-384, vgl. 335ff; H. Gronke, Die Praxis der Reflexion, in: Burckhart und Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), bes. S. 34ff. 150 K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 179. 151 Aristoteles, Analytica priora I, 6, 28b, 21; I, 23, 41a, 23 ff. sowie II, 20, 66b, 11 u.ö. 152 A. Berlich, Elenktik des Diskurses, in: Kuhlmann und Böhler (Hg. 1982), S. 251-287, hier S. 279, vgl. D. Böhler, Transzendentalpragmatik und kritische Moral, a.a.O., S. 83-123, bes. S. 85-92. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 117 vorgebracht hat: daß „das elenktische Argument vom transzendentalen Charakter des zu Begründenden Gebrauch macht, nicht ihn begründet“153. Das ist das Begründungsdefizit des Aristoteles. Er fällt damit hinter seinen eigenen Ansatz oder doch Anstoß zurück, der auf einen reflexiven Gültigkeitserweis des transzendentalen Prinzips der Logik abzielt. Indem er in seiner Ersten Analytik eine bloße Aussagenlogik entwickelt und nunmehr den Sokratischen Elenchos bloß „aus der Perspektive der apodeiktischen Logik analysiert“154, hat er das dialektische Zugleich des Elenchos, nämlich zugleich Rede über etwas und Reflexion auf die Redehandlung zu sein, im vorhinein abgespannt. Als theoretisch eingestellter Analytiker von Aussagen begibt er sich der sokratisch reflexiven Begründungsperspektive und damit auch ihres Ertrags. Denn der besteht darin, daß die Gültigkeit des zu begründenden Prinzips im Dialog durch Reflexion auf die von ‚mir’ in Anspruch genommenen Sinnbedingungen des Dialogs erwiesen wird: als nicht hintergehbar von ‚mir’. Von ‚mir’? Wer ist dieses Ich? ‚Ich’ selbst bin es: ich, der ich in der Rolle eines glaubwürdigen Diskurspartners eine These, z.B. einen bestimmten Zweifel, als Diskursbeitrag vorbringe, indem ‚ich’ einen Gedanken verständlich und geltend zu machen versuche. Der Aussagenlogiker Aristoteles verspielt diese dialogisch reflexive Begründungspointe des Sokratikers. Damit beraubt er den Elenchos seiner Bedeutung als Selbstaufhebungsargument. Es kann ein bezweifeltes Prinzip negativ begründen, indem es den dagegen vorgebrachten Geltungszweifel als sinnlos vorführt – als Zerstörung des Geltungsbodens, auf dem der Zweifelnde als Sprecher, der in einem Dialog etwas verständlich und geltend machen will, doch selber steht. 2.6 Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie – Türöffnung den methodischen Solipsismus für Es ist kein Wunder, daß die theoretische Denkeinstellung in Aristoteles den Sieg über eine reflexiv sokratische davonträgt. War diese doch ein ungesicherter Versuch, jene aber übermächtig etabliert in der griechischen theoria-Tradition. So kann der Platonschüler – seiner Kritik an der Ideenlehre zum Trotz und im Gegenzug zu seiner erfahrungsbezogenen Orientierung – das „theoria“-Konzept seines Lehrers in wichtigen Stücken fortsetzen. Beispielsweise, indem er die theoretische Lebensform (βίος θεωρητικός, bios theoretikos) des Philosophen, diese menschliche Annäherung an die vollkommen autarke, nur sich selbst denkende Vernunft Gottes, als Inbegriff eines glückseligen Lebens auszeichnet. Sokratiker ist Aristoteles eher in seiner Dialektik. Diese konzipiert er als Methode zur Prüfung schwacher Geltungsansprüche, wie sie für (bloß) wahrscheinliche Sätze erhoben werden. Nach der dialektischen Methode sollen „wir über jedes aufgestellte Problem aus wahrscheinlichen Sätzen 153 A. Berlich, a.a.O., S. 261f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 118 (ένδοξα, éndoxa) Schlüsse ziehen können“, so daß wir, „wenn wir selbst Rede stehen sollen, in keine Widersprüche geraten.“155 Im Gegensatz zu den Sophisten schlägt er diese Methode auch nicht der Rhetorik156 zu, sondern sieht sie als kommunikative Hilfsdisziplin der Philosophie an: Als Prüfungskunst habe sie „nicht denjenigen, der sicheres Wissen hat, im Blick, sondern denjenigen, der dieses nicht hat, es aber zu wissen beansprucht. Wer nun das Allgemeine sachgemäß betrachtet, ist ein Dialektiker, wer dies bloß vorgibt, ist ein Sophist.“157 Bei der dialektischen Prüfung wahrscheinlicher Sätze müsse der Dialektiker kommunikativ verfahren, nämlich „seine Argumentationspartner ständig einbeziehen und sich auf diese einstellen“. Sei es doch darum zu tun, „daß sowohl der Vorgang der Prüfung als auch deren Resultat an das Gespräch gebunden sind“, wie Edmund Braun herausarbeitet.158 So weit, so gut. Insofern gebührt Aristoteles ein wichtiger Platz in der Geschichte des dialogischdiskursiven Denkens. Aber Aristoteles hat von seiner kommunikativen Dialektik keinen fundamentalphilosophischen Gebrauch gemacht, hat sie nicht auf sich selbst als Ontologen oder „ersten Philosophen“ angewandt, sondern blieb einem platonisch-theoretischen Selbstverständnis verhaftet: „Erste Philosophie“ sei die geistige Schau der ersten Prinzipien als Ursprüngen des Seienden. Bei aller Kritik an seinem Lehrer hat er den Kern der Philosophie nicht etwa in den Prinzipien des Dialogs gesucht, so daß er auch der philosophieverführerischen Voraussetzung eines methodischen Solipsismus den Boden entzogen hätte. Die Philosophie-, die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte möchte ganz anders verlaufen sein, wenn Aristoteles seine Philosophie aus der dialogisch reflexiven Einstellung entwickelt hätte, die er im Begründungsstreit um den Satz des Widerspruchs hat aufblitzen lassen. Als Logiker, der den Elenchos als Beweisfigur rekonstruiert, bleibt er der reflexionsvergessene Analytiker, und als Fundamentalphilosoph ein „theoretischer“ Ontologe in der Schule Platons, der die Beziehung der Aussagen auf Wahrheit gegenstandstheoretisch ontologisch interpretiert und sie daher als im Prinzip kommunikationsunabhängig ansieht. So öffnet er dem methodischen Solipsismus in Sachen Geltung die Tür. Damit aber nicht genug. Auch die Ebene der Sinnkonstitution macht er von der Sprache, mithin von der Kommunikation in einer Sprachgemeinschaft, tendenziell unabhängig. Führt er doch die Bedeutung 154 der Gedanken auf innerseelische Vorstellungen zurück, welche eigentlich K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 172. Aristoteles, Topica I, 1, 100 a, 18 ff. Vgl. E. Braun, Zur Vorgeschichte der Transzendentalpragmatik. Isokrates, Cicero und Aristoteles, in: A. Dorschel u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik, Frankfurt a.M. 1993 (zit.: Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993)), S. 23; H.-B. Gerl, Philosophie und Rhetorik bei Johannes von Salisbury, in: H. Schanze, J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989 (zit.: Rhet. u. Phil. (1989)), S. 108-119, hier 109 f. 156 Aristoteles, Metaphysika I, 2, 104 b, 17 ff. 157 Aristoteles, Sophistici elenchi 11, 171 b 3 ff. 155 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 119 sprachunabhängig seien. Sprachliche Zeichen würden den Vorstellungen, die die Seele vor jeder sprachlichen Kommunikation habe, dann bloß konventionell zugeordnet.159 Im Rahmen dieser Sprachauffassung, die dem theoria-Modell der Erkenntnis als eines geistigen Sehens folgt, läßt sich die Dialektik nicht als ein Verfahren verständlich machen, das prinzipiell auf öffentliche Rede und kommunikativen Diskurs angewiesen ist. Daher führt von Aristoteles kein Weg zu einer Pragmatik, die den kommunikativen Diskurs als Basis für intersubjektive Geltung auszeichnet160, weil es die Diskurspragmatik tut. 158 E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 26; vgl. ders., Zur Einheit der aristotelischen Topik, Köln 1959, S. 36 f. 159 Aristoteles, De interpretatione I, 16 a I. 160 Anders E. Braun, Vorgesch. Transzendentalpragmatik (1993), S. 27 f. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 120 Auch Theophrast (322-287 v.Chr.), Aristoteles’ Nachfolger im Peripatos, ist in diesem Zusammenhang nicht als Abweichler von einem vermeintlich kommunikativ dialektischen Wege des Aristoteles, sondern als konsequenter Fortsetzer von dessen theoriabestimmter Philosophie-, Erkenntnis- und Sprachauffassung zu beurteilen. Er ist es, der die Auswirkungen dieser Sprachauffassung für die Beziehungen zwischen Gesprächsteilnehmern augenfällig macht: die kommunikativ-„pragmatischen“ Dimensionen der Rede reduziert er auf eine Vermittlung von Sinn- und Erkenntnisgehalten und daher auf die rhetorische Beziehung des Redners zu seinem Auditorium. Im Einklang damit verkürzt er den philosophischen Wahrheitsbezug, also die Gewinnung und In-Geltung-Setzung von Information, auf eine referenzsemantische Satz-Ding-Beziehung, von welcher „der Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will.“ 161 Diese, im Peripatos beheimatete, aber noch heute wirkungskräftige „common sense-Aufassung“ der Sprache im Sinne der „konventionellen Bezeichnungsfunktion“ hat wohl niemand entschiedener kritisiert als Karl-Otto Apel, der sie auch problemgeschichtlich auf Aristoteles zurückführen konnte.162 Da sie so suggestiv ist, daß es, wie Apel bemerkt, noch heute außerordentlich schwer fällt, sie in Frage zu stellen, und weil sie in einer Diskurspragmatik entgegensteht, lohnt es, ihr kritische Aufmerksamkeit zu schenken. Schon Aristoteles hat die implizite, aber von vornherein mitverstandene Einbettung jeder Aussage und jeder Wortverwendung in eine formal vollständige Äußerung (als Sprachhandlung)163 und in den reziproken Erwartung-Erwartungs-Zusammenhang eines Dialogs ist verdrängt – und damit eine folgenschwere Weichenstellung der Philosophiegeschichte vorgenommen. Diese doch sinnkonstitutive Einbettung des präpositionalen Gehalts in den Zusammenhang einer Verständigung mit Anderen erklärt Theoprast in aristotelischer Ausdrücklichkeit zu einer geltungsmäßig irrelevanten, bloß empirischen Angelegenheit. Dieser kommunikative Kontext sei allein rhetorisch und poetisch von Belang. Die direkten und indirekten Bezüge eines Sprechers auf andere Menschen werden so auf die direkte Sprecher-Hörer Beziehung verkürzt. Diese beschränkt er noch dazu auf den empirischpsychologischen Vorgang einer Übermittlung von Effekten, die der Sprecher durch die rhetorische Einkleidung des Aussagegehalts bei den Hörern erzielen kann bzw. will. Eine solche rhetorische ‚Einkleidung’ gilt natürlich als in der Sache irrelevant. Dem Sinn des Gesagten könne sie nur wenig, vernachlässigenswert wenig, seiner Gültigkeit aber nichts hinzutun. Folglich gehe die – derart empirisch-psychologisch reduzierte – Pragmatik den 161 Ammonius, In Aristotelis De Interpretatione Commentarius. Hg. v. A. Busse, Berlin 1887, S. 65f. K.-O. Apel, Transformation II, S. 334ff. 163 Dazu: A. Øfsti, 1994. 162 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 121 Philosophen nichts an. Denn der Philosoph habe es einzig mit der Geltung der Rede zu tun. Die aber verstehen Aristoteles und Theophrast nach dem Muster der Wahrheit von Aussagen über Dinge. Im Sinne dieses aussagenlogischen Philosophieverständnisses und dieser Beschränkung der „Logosfunktion“ der Sprache, ihres Geltungsbezugs, auf einen benennenden und einem Ding Eigenschaften zusprechenden Aussagesatz hat Theophrast eine falsche und bis heute nachwirkende Unterscheidung getroffen: er schneidet die semantische Bedeutungsrelation der Rede als Ort der Wahrheit ab von der pragmatischen Beziehung auf Hörer als Medium von Effekten (z.B. Überzeugungseffekten): "Da die Rede [λόγoς] eine zweifache Beziehung hat [...] eine zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet, die andere zu den Dingen, von welchen der Sprechende den Hörern eine Überzeugung beibringen will, so entstehen im Hinblick auf die Beziehungen zu den Hörern die Poetik und die Rhetorik [...] im Hinblick aber auf die Beziehung der Rede zu den Dingen wird der Philosoph vorzüglich dafür Sorge tragen, das Falsche zu widerlegen und das Wahre zu beweisen."164 Damit verbannt Theophrast die Pragmatik aus der Philosophie. Die folgende Abbildung mag diesen noch bis heute nachwirkenden Vorgang zu verdeutlichen: Theophrasts Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie Philosophie Wahrheit bzw. logische Geltung Semantik Dinge Rede Poetik und Rhetorik 164 psychische Effekte Pragmatik Hörer Kritisch dazu: Apel, Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache. In: Ders., Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt/M. 1973, bes. S. 336 ff. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 122 Teils verkürzt, teils verdrängt wurden damit die drei von uns unterschiedenen pragmatischen Dimensionen, also jene Funktionen der Interpretation von Sprachzeichen, die konstitutiv sind für den Verwendungssinn und Geltungssinn des inhaltlich Kommunizierten, des propositionalen Gehaltes, mithin auch konstitutiv für jeden möglichen Dialog. Was die sinnkritische Dialogreflexion anbelangt, derer sich Aristoteles ein einziges Mal ansatzweise bedient hat, so ist sie philosophiegeschichtlich implizit und auf paradoxe Weise wirksam geworden: als sokratisches Selbstaufhebungsargument, doch bloß in theoretischer statt in kommunikativ dialogischer Form. So bei Augustinus, Descartes, Kant und Husserl. Offenbar ist sowohl die drastische Verkürzung der kommunikativ pragmatischen Dimensionen der Rede als auch die Assimilation eines aktuell reflexiven Elenchos an die theoretische Einstellung in zwei Kernstücken der theoria-Tradition angelegt. Es ist das einmal das instrumentalistisch bezeichnungstheoretische Verständnis von Sprache und Rede, in dem selbst die Antipoden Heraklit und Platon übereinkommen, zum anderen die durch Platon vorbereitete, vom Neuplatonismus etablierte Unterscheidung der vermeintlich intuitiven Vernunfteinsicht (nous) von der bloß diskursiven Verstandeserkenntnis (dianoia), welche nicht als kommunikativer Diskurs sondern als monologisches Schlußverfahren angesetzt gedacht wird. Auf diesem Boden konnten dann die wirkungsträchtigen Neuplatoniker Philon, Plotin, Syrian und Proklos die Erkenntnisdichotomie der Scholastik, intuitiv versus diskursiv, denken. Sie stellen das vermeintlich intuitive Erschauen des nous als das eigentliche, der Ewigkeit zugehörige Erkennen, dem alles gegenwärtig sei, gegen das endliche, diskursive Überlegen und Reden (διεξοδικός λόγος, diexodikos logos), die intellektuelle Anschauung des intelligiblen Seins in seiner Wesenheit gegen die syllogistischen Analysen und Demonstrationen der Akzidentien. Dem diskursiven Denken überlassen sie bloß das Unwesentliche. Vor allem die, in der Platonischen und der Aristotelischen Version der theoria enthaltene und seither machtvoll tradierte Unterstellung einer unabhängig von Sprache möglichen Erkenntnis – Theorie und Diskurs ohne Kommunikation – hat das abendländische Denken zutiefst geprägt, bis heute. Genaugenommen sind es vier Unterstellungen, eine verstehenstheoretische, zwei geltungstheoretische und eine vergewisserungs- bzw. evidenztheoretische. Erstens wird unterstellt, einer allein – solus ipse, daher „methodischer Solipsismus“ – könne für sich und ohne Vermittlung durch virtuelle Kommunikation (Sprachgebrauch und Tradition) oder durch aktuelle Kommunikation Sinn bzw. Bedeutung haben. Zweitens und drittens wird vorausgesetzt, daß einer als prinzipiell Einsamer auch Gültigkeit gewinnen kann und daß er – Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 123 viertens – als solche Wahrheit von Tatsachenbehauptungen und ebenso die Richtigkeit / Legitimität von Normsätzen erkennen könne, also auch die Gewißheit der Wahrheit bzw. Richtigkeit.Das ist das Viergespann bzw. die Quadrupelthese des methodischen Solipsismus. Die folgende Figur macht sie anschaulich. Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 124 Die Quadriga des methodischen Solipsismus, d.h. der Thesen, daß Privatsprache (a), Privaterkenntnis (b) und private Evidenz (c) möglich sind Fragestellung These Anwendungsbereich Wie ist Sinn möglich? (a) einer allein (und nur einmal) kann etwas als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen, mithin charakterisieren → einer Regel folgen Sprachphilosophie und Hermeneutik Wie ist Gültigkeit möglich? (b1) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)], sondern er kann auch Erkenntnis- und Wahrheitstheorie → Wahrheit allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, erkennen → begründen, daß jene Charakterisierung zutrifft, also wahr ist Wie ist Gültigkeit möglich? (b2) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)] sondern er kann auch → Richtigkeit, Verbindlichkeit allein, d.h. ohne jeden sprachlich- kommunikativen und zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, erkennen → begründen, daß die so charakterisierte Handlungsweise etc. richtig/legitim und verbindlich ist (c) nicht bloß kann einer allein... [wie (a)], sondern er kann auch Wie ist Gewißheit möglich? → Zweifelsfreiheit allein, d.h. ohne jeden sprachlich-kommunikativen und zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, Zweifel an der Wahrheit seiner These oder an der Verbindlichkeit einer Aufforderung bzw. Norm als gegenstandslos erkennen und erweisen Ethik / Praktische Philosophie Beweistheorie/Sinnkritik Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 125 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 3 Ethische Intuitionen versus moralische Kriterien seit der „Achsenzeit“ der Hochkulturen. Jesu Liebesethik, das verantwortungsethische Defizit in der europäischen Ethik und Max Weber Teils zum universalisierbaren Erbe, in gewisser Weise aber auch zu den kaum bewältigten Erblasten des alten Europa zählt die jesuanische Liebesethik, als unbegrenzte Brüderlichkeitsethik. Erwachsen aus der hebräisch biblischen Tradition und dem zeitgenössisch jüdischen Kontext und von beiden geprägt, erschließt sie sich auch erst vor diesem Sinnhintergrund. Daher ziehe ich eine kenntnisreiche jüdisch religionsgeschichtliche Interpretation den christlichen Auslegungen vor und möchte ihre Aufmerksamkeit auf die Zusammenschau lenken, die der Jerusalemer Gelehrte David Flusser in seinem vorzüglichen Buche gibt, das einfach den Titel „Jesus“ trägt und 1999 in einer überarbeiteten Neuausgabe erschienen ist. Dieses Buch, mit Verlaub, verdient einen Ehrenplatz in Ihrer Bibliothek – neben der Bibel. Flusser eröffnet seinen fünften Abschnitt mit dem Titel „Die Liebe“ folgendermaßen: „Der – wenn man so will – revolutionäre Ansatz in der Verkündigung Jesu geht nicht von einer Kritik am jüdischen Gesetz selbst aus, sondern zielt auf die Art des Umgangs mit diesem Gesetz. Dabei konnte Jesus an schon vorhandene Kritik anknüpfen. Zu einem Durchbruch kommt es im radikalisierten Liebesgebot, im Ruf nach einer neuen Gerechtigkeit und in der Idee des Königreiches der Himmel. Etwa 175 Jahre vor Jesu Geburt pflegte ein jüdischer Schriftgelehrter mit einem griechischen Namen, Antigonos aus Socho, zu sagen: ‚Seid nicht wie Sklaven, die dem Herrn dienen, um Belohnung zu empfangen, sondern seid wie Sklaven, die dem Herrn dienen, nicht um Belohnung zu empfangen, und Himmelsfürchtigkeit sei über euch!’ Der Spruch ist bezeichnend für die Änderung der geistigen und moralischen Atmosphäre im Judentum, das eine wichtige Vorbedingung für die Botschaft Jesu gewesen ist. Gleichzeitig ist er Ausdruck eines neuen tieferen Empfindens im Judentum, das eine wichtige Vorbedingung für die Botschaft Jesu geworden ist. Die Religion Israels verkündet den einen, gerechten Gott: seine bilderstürzende Ausschließlichkeit ist mit seinem unbeugsamen moralischen Willen verbunden. Die Gerechtigkeit, von der die kanonischen Schriften der hebräischen Bibel sprechen, will sich in einem neuen Gesetz und in einer neuen, gerechten gesellschaftlichen Ordnung verwirklichen. 126 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Die Gerechtigkeit Gottes ist gleichzeitig sein Erbarmen: er nimmt sich besonders der Armen und der Unterdrückten an, denn er sucht nicht die äußere Kraft und Macht der Menschen, sondern die Furcht vor ihm. Die jüdische Religion ist eine moralische Religion, in der das Prinzip der Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht. Von daher bekommt die Einteilung der Menschen in Gerechte und Sünder ihr Gewicht. Die Auffassung, daß Gott die Gerechten belohnt und die Bösen bestraft, ist für das Judentum die Bestätigung seiner Wahrheit. Wie sollte denn anders in der Welt die Gerechtigkeit Gottes walten?“165 Hingegen habe sich den Juden zur Zeit Jesu und des Hellenismus die traditionskritische Frage gestellt, ob die schlichte Einteilung der Menschen in Gerechte und Sünder haltbar sei. Habe man doch erkannt, daß niemand ein vollkommener Gerechter oder ein vollkommener Bösewicht sei, da der gute und der böse Trieb im Herzen eines jeden stritten. Auch habe man schon gefragt, wo die Grenzen der Barmherzigkeit Gottes und seiner Liebe zum Menschen zu ziehen sind. Und selbst wenn die Belohnung des Gerechten und die Bestrafung des Sünders unproblematisch wären, so bliebe doch die Kritik an der instrumentalistisch-utilitaristischen Auffassung von Gerechtigkeit: „wäre es eine wahrlich sittliche Handlungsweise, wenn der Mensch gute Werke nur tun würde, weil er weiß, daß es sich für ihn lohnen wird? Schon Antigonos aus Socho meinte, dies sei nur eine niedrige Sklavenmoral: der Mensch soll sittlich handeln und gleichzeitig einen jeden Gedanken auf den Lohn, der ihm sicher zukommen wird, ausschalten. Da die antiken Juden erkannt hatten, daß man die Menschheit nicht mehr – wie in der alten Zeit biblischer Religiosität – scharf in Gerechte und Sünder einteilen konnte, wurde es praktisch auch unmöglich, die Guten zu lieben und die Frevler zu hassen. Und da es außerdem noch schwer geworden war, zu wissen, bis wohin Gottes Liebe und Barmherzigkeit reicht, folgerten viele, man solle gegenüber dem Nächsten Liebe und Barmherzigkeit üben, denn dadurch ahme man Gott nach. Lukas (6,36) hat Jesus das Wort in den Munde gelegt: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Dies ist ein alter rabbinischer Spruch. Lk. 6,36 ist eine Parallele zu Mt 5,48: Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist! Der Spruch ist die Schlußfolgerung aus einer kurzen Lehrpredigt, in der Jesus lehrt, daß Gottes Liebe allen Menschen gilt, unbeschadet ihrer Einstellung und ihres Verhaltens. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gut und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt. 5,45). 165 D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt: rm 50632), S. 68f. 127 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Rabbi Abbahu, der glaubte, daß nur die Gerechten auferstehen, sagte: ‚Größer ist der Tag, an dem es regnet, als der Tag der Auferstehung. Denn vom letzteren haben nur die Frommen etwas, während ersterer Frommen und Sündern gleichermaßen zugute kommt.’ Rabbi Abbahu lebte ungefähr 300 n. Chr., aber es gibt auch einen ähnlichen Ausspruch aus der Zeit Jesu.166 Der Gedanke, […] daß man sich zuerst mit seinem Bruder versöhnen soll, bevor man für sich selbst betet167, ist bei ben Sira mit einer damals typischen Veränderung des Lohngedankens verbunden.168 Die alte ausgleichende Gerechtigkeit, nach welcher der Gerechte nach dem Maß seiner Gerechtigkeit belohnt und der Sünder nach dem Maß seiner Sünden bestraft wird169, erfüllte damals manche mit Unbehagen, und darum meinte man jetzt: wenn du den Nächsten liebst, wird dich Gott mit Gutem belohnen; wenn du aber den Nächsten haßt, wird dir Gott Böses heimzahlen. Ähnliches sagte ja später auch Jesus: Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden, und verurteilt nicht, so werdet ihr nicht verurteilt werden. Sprechet los, so werdet ihr losgesprochen werden! (Lk. 6,37).“ Dieses Wort Jesu erinnere an einen Spruch des berühmten Hillel, der schon eine Generation vor Jesus gesagt hatte: ‚Richte nicht deinen Nächsten, bis du nicht an seine Stelle gekommen bist!‘. An diesem und zahlreichen anderen Beispielen zeigt Flusser, wie eng die Motive, in denen sich das neue Empfinden im Judentum zur Zeit Jesu ausdrückte, miteinander verflochten waren, so daß auch viele Worte Jesu sowohl untereinander als auch mit manchen jüdischen Sprüchen verbunden gewesen seien und fährt fort: „So lesen wir im Herrnwort bei Klemens: ‚Wie ihr tut, so wird euch getan werden‘, das heißt, wie ihr dem Nächsten tut, wird euch Gott tun. Das ist eine auch von Jesus zitierte, sehr interessante Variante der sogenannten Goldenen Regel: Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, so tut auch ihr ihnen; denn dies ist das Gesetz und die Propheten (Mt. 7,12). Die ‚Goldene Regel‘ kommt als moralischer Imperativ bei vielen Völkern vor, im Judentum wurde sie schon vor Jesus als die Summe des Gesetzes betrachtet, das Moses auf dem Sinai von Gott für das Volk empfangen hatte. Schon Hillel hat gesagt: ‚Was dir unlieb ist, tue dem Nächsten nicht; das ist das ganze Gesetz, das 166 A. a. O. , S. 69f. Jesus hat diese Maxime entschieden in Abhebung von einer bloß ritualistischen Frömmigkeit vorgebracht und gegen deren Tendenz zur Selbstgerechtigkeit oder zur Abblendung konkreter ethischer Aufgaben geltend gemacht: Mt 5, 22-24 und Mk 12,25. 168 D. Flusser bezieht sich auf das um 185 vor Christus geschriebene Buch des Jesus Sirad, nämlich auf 28, 1-7. 169 Von der Gleichheits-Verrechnungsformel des ursprünglich nicht hebräisch-biblischen sondern stadtkanaanäischen Sakralstrafrechts, dem sog. Talionsgesetz (2. Mose 21, 24), distanziert sich Jesus in der Bergpredigt, Mt. 5, 38-42: „38. „Ihr habt gehört, daß gesagt ist ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’. 39 Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“ 167 128 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 übrige ist nur Ausführung‘. Die Maxime war damals im Judentum wahrscheinlich auch so verstanden: Gott mißt dir mit demselben Maß, mit dem du deinen Nächsten mißt. Daraus folgt: ‚Wie ein Mensch seiner eigenen Seele von Gott erbittet, so soll er tun jeder lebendigen Seele‘. Sowohl Jesus als auch schon früher Hillel haben in der ‚Goldenen Regel‘ die Zusammenfassung des Gesetzes des Moses gesehen. Das wird verständlich, wenn wir bedenken, daß man das Bibelwort ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ (Lev. 19,18) sowohl bei Jesus als auch sonst im Judentum für eine große Hauptregel im Gesetz gehalten hat. In einer alten aramäischen Übersetzung lautet das Bibelwort so: ‚Liebe deinen Nächsten, denn was dir unlieb ist, tue ihm nicht!‘ in dieser paraphrasierenden Übersetzung der Wendung ‚wie dich selbst‘ durch die negativ stilisierte ‚Goldene Regel‘ ersetzt; man hat also die Worte ‚Liebe deinen Nächsten‘ als ein positives Gebot verstanden und die Worte ‚wie dich selbst‘ als ein dazugehörendes, negatives Gebot: du sollst deinen Nächsten nicht mit Haß behandeln, weil du auch nicht willst, daß er gegen dich selbst so handelt.“170 „Die Beziehung des Menschen zum Nächsten soll also durch die Tatsache bestimmt sein, daß er mit ihm sowohl in seinen guten als auch in seinen schlechten Eigenschaften solidarisch ist. Das ist nicht fern von dem Liebesgebot Jesu, aber Jesus ging noch weiter und zerbrach die letzte Schranke des antiken jüdischen Gebots der Liebe zum Nächsten. Rabbi Hanina meinte, man solle den Gerechten lieben und man dürfe den Sünder nicht hassen, aber Jesus hat gesagt: Doch ich sage euch: Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger (Mt. 5,44).“171 So weit mit David Flusser. Ziehen wir Lawrence Kohlbergs Entwicklungslogik der moralischen Urteilsbildung zur Beurteilung heran, so werden wir wohl darin übereinkommen, daß die gehörten Worte aus den synoptischen Evangelien und aus dem jüdischen Kontext Jesu, zumal aus der Liebesfrömmigkeit zeitgenössischen Judentum, teils unserer Stufe 5 ½, teils Kohlbergs Stufe 6 – Orientierung am Moralprinzip und am Gewissen – zuzuordnen sind. Allerdings fehlt ein (im kantischen Sinne) formales Prinzip mit einem Kriterium für die einsehbare Verbindlichkeit einer Handlungsweise und eines moralischen Urteils. Desgleichen finden wir keinen eindeutigen Autonomiebegriff, der in Korrespondenz zu dem Urteilssubjekt stünde, welches in der Lage sein müßte, gerade in moralischen Konfliktsituationen ein 170 D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt: rm 50632), S. 72f. 129 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 begründetes Urteil zu fällen: Aus Einsicht und Urteilsvermögen, also dank seiner autonomen Urteilskraft. Max Weber schält ein anderes Defizit heraus. Seiner Kritik liegt die Frage zugrunde: Ist überhaupt eine Verbindung der Moralität einer grenzenlos zu übenden Liebe und Barmherzigkeit, die weder aufrechnet noch richtet, so daß „ihre ethische Anforderung irgendwie in der Richtung einer universalistischen Brüderlichkeit über alle Schranken der sozialen Verbände“, auch des eigenen Glaubensverbandes, hinausreicht, zur Folgenverantwortung derer, die für Andere, für die sie in der realen Welt zu sorgen, die sie zu schützen haben, – ist hier noch eine Verbindung denkbar? Er antwortet mit einem scharfen „Nein“!172 Die reale Sozialwelt sieht Max Weber – erstens – als Überschneidungszusammenhang verschiedenartiger, selbständiger Wertsphären an, von denen die ethische eine ist. Naturgemäß können sich aus einer Pluralität von Wertsphären Kollisionen ergeben, Wertkollisionen. Und darauf bezieht sich die moralische Kernfrage, das normativ ethische oder deontologische Prioritierungs- und Sollensproblem: >Was sollen wir bei Wertkonflikten tun?< Und fundamentaler: >Gibt es ein Sollen, wozu wir (unabhängig von einer materialen Orientierung, einem faktischen Wert), unbedingt verpflichtet sind?< Das ist die pflichtethische Grundfrage, die erstmals der Ethik Kants als formale Prinzipienfrage zugrunde liegt. Doch zunächst zurück zu den gesellschaftlich institutionalisierten Wertsphären! Woran könnten wir im Anschluß an Weber denken? Jedenfalls wenn wir, freilich in Spannung zu Weber, den Primat der (dialogförmigen) Dimension der Geltungsansprüche berücksichtigen – und zumindest die Ansprüche der Verstehbarkeit sowie der Wahrhaftigkeit liegen den Handlungs- und Ausdrucksformen aller möglichen Wertbeziehungen zugrunde –, dann können wir die außerethischen Wertsphären nach leitenden Einstellungen und Rationalisierungsmöglichkeiten differenzieren, ja skalieren. Dazu bieten sich die von Habermas und Apel eingeführten Idealtypen kommunikativverständigungsorientierte versus strategisch (zweck-)rationale Handlungsorientierung an.173 171 A. a. O. , S. 74 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, I, Tübingen 19726 (zit.: Religionssoziologie I)., S. 542ff. Ders., Gesammelte Politische Schriften, hrgs. v. J. Winckelmann, Tübingen 1958: „Politik als Beruf“ (zit.: Ges. Polit. Schr.), S. [?] 173 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. FaM (Suhrkamp) 1981, S. 367ff. Ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, FaM (Suhrkamp) 1984, S- 441-472, vgl. 571ff. 172 130 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 1 – Musik 2 – Bildende Künste Kreativ expressiv kommunikativ oder verständigungsrational (6) eingestellt 3 – Literatur Weber: (Formen der) Kunst - arational 4 – Darstellende Künste 5 – Tanz 6 – Geisteswissenschaften und durch sie angeleitete Traditionsvermittlung 7 – Sexualität, Erotik und geschlechtliche Liebe überhaupt Weber: arational 8 – Spiel und Sport 9 – Produktion, Arbeit, Dienstleistung 10 – Tausch 11 – Handel, Wirtschaft, Geld Kreativ strategisch bis zweck- und formal rational (13, 14) eingestellt Weber: preiskalkulatorische (strategische) Zweckrationalität 12 – Verwaltung, Politik und Machtbildung Weber: bürokratische u. machtfunktionale Zweckrationalität und Staatsräson 13 – Wirtschafts- und Politikwissenschaften 14 – Experimentelle Naturwissenschaften und Technologie In diesen Wertbereichen ist ab 8 (ggf. bereits in der Sexualität) eine, sich bis zur Dominanz ausprägende instrumentell strategische Einstellung bzw. eine Zweckrationalität relevant, wenngleich diese Beziehungen auch – hintergründig oder durch den institutionellen Rahmen – mit der kommunikativen Verständigungsorientierung vermittelt sind. Man denke an die Rahmenordnungen von Wirtschaft und Markt, an die Fairneßregeln und Spielregeln im Sport oder an die kollegiale und öffentliche Kommunikation der experimentellen Naturwissenschaftler und Technologen. Insofern ist hier auch eine BinnenEthik wirksam. Vorwiegend handelt es sich bei 8 bis 12 freilich um strategische Interaktion und bei 14 um eine Erkenntnis in der Subjekt-Objekt-Relation mit akommunikativem, kausalerklärendem und prognostischem, daher virtuell technologischem Gegenstandsbezug, während der Gegenstandsbezug der Wirtschafts- und Politikwissenschaften, eigentlich in der Intersubjektivitätsrelation angesiedelt, primär strategisch-rational und systemfunktionalistisch orientiert ist. 131 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Max Weber selbst unterscheidet in der berühmten „Zwischenbetrachtung“ seiner religionssoziologischen historischen Abhandlung „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (1915-1919) die religiös ethische Wertsphäre der Erlösungsreligion, insbesondere der christlichen Brüderlichkeitsethik einerseits von drei rationalen Wertsphären, andererseits von zwei arationalen bzw. irrationalen der ästhetischen und der erotischen. Zu den rationalen zählt er sowohl die beiden zweckrationalen Handlungsbereiche Wirtschaft und Politik samt Verwaltung als auch den Erkenntnisbereich der Rationalität, die Wissenschaften.174 Denn die Erlösungsreligion habe in der Entwicklung des Christentums eine gewisse Rationalisierung mit liebesethischer Weltzuwendung durchgemacht: „Je rationaler und gesinnungsethisch sublimierter die Idee der Erlösung gefaßt wurde, desto mehr steigerten sich [...] jene aus der Reziprozitätsethik des Nachbarschaftsverbandes erwachsenen Gebote äußerlich und innerlich. Äußerlich bis zum brüderlichen Liebeskommunismus, innerlich aber zur Gesinnung der Caritas, der Liebe zum Leidenden als solchen, der Nächstenliebe, Menschenliebe und schließlich: der Feindesliebe. […] Stets aber lag ihre ethische Anforderung irgendwie in der Richtung einer universalistischen Brüderlichkeit über alle Schranken der sozialen Verbände, oft einschließlich des eigenen Glaubensverbandes, hinweg. Immer stieß diese religiöse Brüderlichkeit, je mehr sie in ihren Konsequenzen durchgeführt wurde, desto härter mit den Ordnungen und Werten der Welt zusammen.“175 „Wenn die religiöse Brüderlichkeitsethik mit den Eigengesetzlichkeiten des zweckrationalen Handelns in der Welt in Spannung lebt, so nicht minder mit jenen innerweltlichen Mächten des Lebens, deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist. Vor allem mit der ästhetischen und erotischen Sphäre.“176 Was die zweckrationalen Sphären angehe, so sei die ethische Spannung der brüderlichkeitsethisch sublimierten Erlösungsreligion am tiefgreifendsten gegenüber der Wirtschaft und der Politik. Je mehr die rationalisierte Wirtschaft es ihren „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ mit der Orientierung „an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen“, folge, desto unzugänglicher sei sie „jeglicher denkbarer Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“.177 Die „politischen Ordnungen“ können direkt in Widerspruch zu den Gewaltlosigkeits- und Liebesforderungen der Brüderlichkeitsethik treten, weil jene nach innen eine „legitime Gewaltsamkeit“ in 174 M. Weber, Religionssoziologie I, S. 543 und 544f. A. a. O. , S. 543. 176 A. a. O. , S. 554. 175 132 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Anspruch nehmen178 und eine solche auch nach außen wenden: als die realisierte Gewaltandrohung des Krieges, die zur „Verklärung des Brudermordes“ und zur Weihe einer Kriegsbrüderlichkeit führe.179 Auf der anderen Seite sei die Spannung der brüderlichkeitsethischen Erlösungsreligion zu den arationalen Wertsphären, denen der Kunst und der Erotik, nicht minder ausgeprägt, wenn auch von anderer Art. Die Kunst konkurriere mit der ethisch sublimierten Erlösungsreligion, als „ein Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte. Sie übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, Erlösung vom Alltag und, vor allem auch, von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.“180 Mit diesem Anspruch trete sie in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion, aus deren Sicht die Kunst als „ein Reich des verantwortungslosen Genießens und: geheimer Lieblosigkeit“ erscheine.181 Die geschlechtliche Liebe sei im Prozeß der Zivilisierung bzw. Kultivierung des anfänglich bäuerlichen Daseins „eine Pforte zum irrationalen und dabei reellsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung“ geworden.182 Deren Spannungsverhältnis zu der Erlösungsethik sei „um so schroffer, je sublimierter die Geschlechtlichkeit einerseits, je rücksichtsloser konsequent die Erlösungsethik der Brüderlichkeit andererseits entwickelt wird.183 Denn in deren konsequenter Perspektive erscheine jegliche Raffinierung des Sexuellen bzw. der Zeugung zu einer Erotik als „Kreaturvergötterung schlimmster Art“ und „alle ›Leidenschafts‹-Bestandteile […] gelten dann als Residuen des Sündenfalls, bei denen, nach Luther, Gott ›durch die Finger sieht‹, um Schlimmeres zu verhüten.“184 Für Webers idealtypische Kontrastierung einer „Gesinnungsethik“, die aus der brüderlichen Erlösungsreligion erwachse, und der „Verantwortungsethik“, die in dem politischen Anspruch auf Folgenverantwortung mit legitimer Gewaltsamkeit impliziert sei, ist zumal seine nüchterne Sicht auf den alltäglichen Egoismus der Menschen mit ihren „durchschnittlichen Defekten“, sprich: sittlichen Defekten, von Belang. Mit diesen rechne der 177 A. a. O. , S. 544. A. a. O. , S. 547. 179 A. a. O. , S. 548f. 180 A. a. O. , S. 555. 181 Ebd. 182 A. a. O. , S. 558. 183 A. a. O. , S. 556. 184 A. a. O. , S. 563. 178 133 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Verantwortungsethiker von vornherein. Ja, er habe, „wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre [nämlich der Nebenmenschen] Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: Diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet.“185 Neben der Konkurrenz von selbstständigen Wertsphären sei die reale Sozialwelt – zweitens – gekennzeichnet durch egoistische Einstellungen und antagonistische Verhältnisse, die Böses befördern können. Eben das wisse der Verantwortungsträger und darauf stelle er sich handelnd ein, insbesondere bei der Wahl seiner Mittel. Vor dem Hintergrund dieser realistischen Einsicht, welche auch die Erfahrungsgehalte hinter dem Pessimismus eines Machiavelli und eines Hobbes zu berücksichtigen erlaubt, erschließt sich folgendes Moraldilemma: ein Mensch, der für Andere und die Wahrnehmung ihrer, wir unterstellen: berechtigten, Interessen Verantwortung trägt, will das allein mit moralischen, vielleicht gar brüderlichkeitsethischen, Mitteln bewerkstelligen; doch sieht er sich auf Seiten Dritter, die u. U. als rechtlich orientierte Partner auftreten, aber Gegenspieler sind, unmoralischen Strategien, etwa der willkürlichen Selbstdurchsetzung ausgesetzt. Das wäre das Dilemma des erfolgsverantwortlichen Moralfreundes: Jemand steht vor der Aufgabe einer erfolgsmoralischen Strategiebildung, um ein drohendes, moralisch gesehen, größeres Übel abzuwehren – etwa so, wie einer, der sich in einer Notwehrsituation befindet, in der es ihm aufgetragen ist, Andere, ihm Anvertraute, zu schützen. Das dilemmatische Problem, das sich hier stellt, lautet etwa: ‚Ist in dieser nonmoralanalogen Fürsorge-Situation eine (i. S. der Fürsorge) erfolgreiche und noch moralisch legitime (d. h. mit dem Kernbestand von Moral, also mit dem Prinzip der Moral!), obzwar selbst strategische (und insoweit ‚schmutzige‘, jedenfalls nicht unmittelbar dialogische oder liebesethische) Handlungsweise möglich?’ Nun hat Max Weber das verantwortungsethische Problem so scharf nicht gestellt, vor allem nicht mit Blick auf das Prinzip der Moral, sondern hinsichtlich supererogatorischer, d.h. verdienstlicher bzw. heiligmäßiger, Maximen der Liebe und des Opfers, deren Verträglichkeit mit dem Moralprinzip allererst zu prüfen wäre – in einem moralphilosophischen Begründungsdiskurs. Darauf, also auf die durchgeführte praktische Vernunft, läßt sich Weber nicht ein. Ja, als postlutherischer Existentialist bzw. Dezisionist scheint ihm praktische Vernunft unmöglich zu sein. Und zwar definitiv; sah er doch in der „Komplementarität von wertneutraler Rationalität und irrationaler Wahl letzter Wertungsaxiome“ (Apel) das unüberholbare Resultat des ‚okzidentalen Rationalisierungsprozesses’“.186 Freilich hat er, 185 Max Weber, Ges. Polit. Schr.: „Politik als Beruf“, S. 552. K.-O. Apel, Diskurs (1988), S. 56, vgl. S. 23-33, S. 55-63. Ders., Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II), in: Apel u. a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte, 1984, Bd. 1, S. 130ff. 186 134 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 auch dank der Vorarbeit Max Schelers – „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“ 1913/1916 – das dilemmatische Moralbewußtsein maßgeblich geschärft: Wer in der realen Welt Verantwortung für Andere trage, könne und dürfe sich nicht auf eine absolute Moral der Bruderliebe zurückziehen, weil er das lediglich für sein Eigenleben verantworten könne. Das sei sehr ernsthaft und radikal – aber allein mit der Lebensführung eines Heiligen vereinbar; und man müßte m. E. hinzufügen: eines einsam lebenden Heiligen, der sich von den Institutionen, Fürsorgeforderungen und Rücksichten der sozialen Lebenswelt mehr oder weniger distanziert oder abgelöst hat. Im Blick auf diese heiligmäßige Lebensform, die Weber in der Bergpredigt und in den Gestalten von Jesus und Franziskus erblickt, kann er sagen: „Mit der Bergpredigt – gemeint ist: die absolute Ethik des Evangeliums – ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann, um nach Belieben ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll. Also, z. B. der reiche Jüngling: ›Er aber ging traurig davon, denn er hatte viele Güter.‹ Das evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles, schlechthin. Der Politiker wird sagen: eine sozial sinnlose Zumutung, solange es nicht für alle durchgesetzt wird. Also: Besteuerung, Wegsteuerung, Konfiskation, – mit einem Wort: Zwang und Ordnung gegen alle. Das ethische Gebot aber fragt danach gar nicht, das ist sein Wesen. Oder: ›Halte den anderen Backen hin!‹. Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem anderen zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer für einen Heiligen. Das ist es: man muß wie ein Heiliger sein in allem, zum mindesten dem Wollen nach, muß leben wie JESUS, die Apostel, der heilige FRANZ und seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und Ausdruck einer Würde. Sonst nicht. Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt: ›dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt‹, – so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“ [...] „Aber nach ›Folgen‹ fragt eben die absolute Ethik nicht. Da liegt der entscheidende Punkt. Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ›gesinnungsethisch‹ oder ›verantwortungsethisch‹ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch 135 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 wäre. (...) Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ›Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹ –, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“187 Max Webers fruchtbare Denkform ist die der Idealtypen; fruchtbar, weil sie zur Konsequenzenreflexion anhält und zur logisch begrifflichen Klarheit. Ob jedoch der Idealtyp einer strikten Ethik der absoluten Güte und uneingeschränkten Brüderlichkeit auf Jesus ohne weiteres und gänzlich angewandt werden kann, ist zweifelhaft. Warum? Ein vorsichtiger, umsichtiger Hermeneutiker kann hier geltend machen, daß Jesus ein gewisses Problembewußtsein für das schwierige, aber lebensnotwendige Nebeneinander selbständiger Wertsphären in der Gesellschaft nicht allein gekannt sondern, offenbar auch in gewisser Weise anerkannt hat. Zudem kann er mindestens die Spur eines verantwortungsethischen Dilemmabewußtseins aufweisen. Jesus hat jenes Nebeneinander anerkannt: z. B. hinsichtlich der Wertbereiche 9 bis 12: die von Geld bestimmten Sphären 9 und 10 und der damit verbundenen Gebiete 11 und 12. Das belegen die Schriftabschnitte Mk. 12, 13-17 bzw. Mt. 21, 15-22 und Lk. 20, 20-25: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Es ist me. E. eine sehr gezwungene, von einem radikal akosmischen und apokalyptischen Jesusbild beherrschte Interpretation zu sein, wenn Weber dieses Schriftwort als Ausdruck eines „absoluten Indifferenzstandpunkts“ charakterisiert – „denn: was kommt auf diese Dinge für das Heil an?“188 Zudem hat Jesus das Dilemma des Moralfreundes, der den Willen Gottes in einer selbstgenügsamen und selbstbehauptenden Sozialwelt, die als solche auch zum Unmoralischen tendiert und für das Böse offen ist, offenbar durchaus gekannt. Allerdings hat er es, jedenfalls teilweise, rigoristisch zu hintergehen versucht, indem er sich wie ein Heiliger auf die Seite der absoluten Moralgesinnung schlug – so in der von Weber herangezogenen Begegnung mit dem reichen Jüngling Mk. 10, 17-24a. Das Entsetzen der Jünger, mit dem dieser Schriftabschnitt schließt, hat gute Gründe für sich. Warum? Jesus bietet keinen verantwortungsethischen Ansatz, um das Dilemma im Sinne einer moralischen Strategiebildung aufzulösen. Er beharrt rigoristisch auf dem Entweder – Oder. Darauf antwortet Max Weber mit einer Kritik der Gesinnungsethik als Rigorismus in einer Welt von 187 A. a. O. , S. 550ff. 136 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 konkurrierenden Wertsphären. In diesem Fall kollidieren der Wert eines heiligmäßigen Lebens und der Wert eines Lebens im Reichtum, in dem der Betreffende aufgewachsen ist. Au taut, tertium non datur. Was Webers idealtypische Interpretation und Kritik jedoch übersieht, ist die berühmte Doppelmaxime Jesu, Mt. 10, 16: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. (→ Situation) Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Jesus verbindet hier offenbar die gesinnungsethische, halbtheonome, halbautonome Maxime ›Handle recht vor Gott gemäß seiner gerechten (und von dir anerkannten) Gebote‹ mit der erfolgsstrategischen Maxime ›Sucht und praktiziert die klügste Erfolgsstrategie als Konterstrategie gegen jeweilige unmoralische Strategien‹. Und was ist das Kriterium dafür, daß die Erfolgsstrategie nicht allein erfolgreich, sondern auch moralisch ist? Genauer, daß sie zugleich und zumal moralisch ist? Jesu Antwort scheint zu lauten: ›Ihr müßtet eure Erfolgsstrategie daran messen lassen, ob ihr sie „ohne Falsch“, ohne Täuschung, als wahrhaftige Dialogpartner rechtfertigen könnt; das heißt letztlich und geltungsmäßig erstlich im Dialog mit Gott.‹ Die von Jesus und schon von den klassischen Propheten vorausgesetzte Gültigkeitsinstanz, die der idealen Prinzipienebene des moralischen Urteils verglichen werden könnte, aber hier nicht als solche bestimmt wird, ist das verständige Wandelnkönnen mit Gott bzw. vor Gott, gemäß Micha 6,8. Einzig das, was auch vor Gott gelten kann, gilt, so können wir moralphilosophisch erläutern, als verbindlich und moralisch richtig. An eine solche Interpretation dieses Jesuswortes im prophetisch-jüdischen Kontext läßt sich Max Webers Postulat einer Verantwortungsethik also anschließen. Doch wie steht es mit der historischen Richtigkeit dieser Deutung? Setzt sie etwas Wesentliches voraus, das in der Logik von Jesu Tradition und seiner Verkündigung nicht eingeschlossen ist? In der Tat macht eine solche Interpretation zwei anachronistische geltungslogische Voraussetzungen für die einsehbare Verbindlichkeit moralischer Normen. Es ist das – erstens – die Anerkennung eines autonomen argumentativen Diskurses als Geltungsbasis moralischer Normen und – zweitens – die Voraussetzung, daß es verschiedene Ebenen eines solchen Diskurses gibt, vor allem: einerseits die ideale Prinzipienebene als Erkenntnis von Moralprinzip und Gültigkeitsinstanz und andererseits die situationsbezogene 188 Weber, Religionssoziologie, I, S. 550. 137 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Verantwortungsebene i. S. eines Verantwortungsdiskurses über die Anwendung des Moralprinzips auf nicht moralanaloge Situationen. Die erste Voraussetzung ist bei Jesus und in seiner Tradition allenfalls implizit und teilweise gegeben: in Aussagen über die Einsehbarkeit von Gottes Gesetz und der Freude an der Tora. Denn das, was sich einsehen läßt, läßt sich auch mit Argumenten anderen gegenüber rechtfertigen, oder es ist nicht eingesehen. Insofern machen z. B. der Gottesrechtspsalm 119 und der prophetische Katechismus, dessen Kern in Micha 6, 8 zitiert ist, implizit die Voraussetzung eines argumentativen Diskurses. Allerdings nähert sich die mosaische und prophetische Thoratradition eigentlichen Prinzipien nur mit der Formel von Micha 6,8 und mit der Tendenz zur Goldenen Regel bzw. mit dem Prinzip Nächstenliebe an: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19, 18; vgl. 33 f). Ansonsten gibt sie keine Prinzipienformulierungen sondern allein konkrete Normen, eben Gebote. Die aber können unter bestimmten (non-moralanalogen) Handlungsbedingungen der realen Sozialwelt untereinander kollidieren. Und dann bedarf es eines übergeordneten Prinzips mit Kriterienfunktion. Bei Jesus begegnet implizit auch die zweite von uns gemachte Voraussetzung, die Inanspruchnahme eines moralstrategischen Anwendungsdiskurses, wenn auch nur am Rande, und zwar im Blick auf die Erfolgschancen, die die ausgesandten Jünger unter nonmoralanalogen Handlungsbedingungen haben können. Summa summarum steht wohl doch ein massiv gesinnungsethisches Verständnis der Gottesbeziehung und des Wandels mit Gott bzw. vor Gott im Zentrum von Jesu Lehre. Die Forderung einer heiligen Gesinnung und eines heiligen Lebenswandels ist offenbar der Preis, den der Nazarener zahlen muß: sowohl für die Überwindung der bloß instrumentellen Gegenseitigkeit einer do ut des Gerechtigkeit des >Schaden gegen Schaden, Zahn um Zahn< (im Sinne der Kohlbergschen Vormoralstufe 2) als auch für die Entgrenzung des absoluten Liebesgebotes und dessen Ausdehnung auf alle Menschen, mithin für den Sprung von einer tugendbezogenen Gruppenorientierung der Stufe 3 zu einem brüderlichkeitsethischen Universalismus im Sinne der Stufe 6. So kann Jesus sowohl biblische Worte als auch neue, gesinnungsethische Orientierungen aus seiner jüdischen Lebenswelt – man denke an die Fraktion der Liebespharisäer, an Rabbi Hillel 138 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 und an den bereits 175 Jahre vor Christus wirkenden Schriftgelehrten Antigonos aus Ssocho – kühn in die Anweisung fassen: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Damit beschließt Matthäus jenen Hauptteil der „Bergpredigt“, in dem sich Jesus sowohl mit der do ut des Gerechtigkeit auseinandersetzt, die freilich nicht für die gesamte jüdische oder gar alttestamentliche Tradition steht, als auch Kritik an der binnenmoralischen Begrenzung des Liebesgebots auf die Angehörigen der eigenen Gruppe übt: Mt. 5, 38-48. Als Kritik an einem Ethos, welches Gerechtigkeit erstens auf ein Vergelten mit Gleichem zurückführt, auf ein Verrechnen gleicher Anteile, und welches – zweitens – die Nächstenliebe bzw. die Achtung sowie Unterstützung des Anderen ‚binnenethisch‘ eingrenzt auf die je eigene Gruppe, sind diese Jesusworte in ihrer moralischen Substanz einleuchtend – bis auf das letzte. Hier in Vers 48 ist der Bogen m. E. gesinnungsethisch überspannt und wohl ebenso in dem priesterschriftlichen Wort 3. Mose 19,2, auf das sich Matthäus hier bezieht: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott.“ Eine andere Beurteilung ergäbe sich allerdings, wenn man jenes Heiligsein- bzw. Vollkommenseinsollen diskurs-prinzipienethisch erläuterte und präzisierte. Dann bezöge es sich auf die Bereitschaft, die eigenen Handlungen und Bestrebungen stets einem idealen Rechtfertigungsdiskurs zu unterziehen, in dem die moralische Prinzipienfrage gefragt und coram deo zu beantworten gesucht würde. Ich meine die Frage: ‚Was ist es, das wir prinzipiell sollen und was wir, die wir uns in einem reinen Dialog als Argumentationspartner befragen und uns wahrhaftig sowie gegenseitig achtungsvoll verhalten, auch eigentlich wollen?“ Denn die Bereitschaft zu einem Verhalten, das dem Moralprinzip gerecht werde, also eine prinzipienethische Gesinnung und deren selbstkritische Bemühung, die sich am Ideal mißt, ist allerdings zu fordern. Doch von einem solchen Diskursbezug mit der eingeschränkten Forderung eines idealen Verhaltens in einer Begründungs- und Prüfungsargumentation ist hier keine Rede. Vielmehr wird diese (ohnedies nicht als solche erwähnte) Begründungs- und Rechtfertigungsebene sogleich vermengt mit der allgemeinen Lebenshaltung und Lebenspraxis. Das heißt: Matthäus – und vermutlich auch Jesus selbst, da die weiteren Quellen, zumal Markus und Lukas keine anderen Anhaltspunkte bieten – springt von der Prinzipienfrage sogleich zu einem Handlungsgebot, vom formalen Prinzip als Geltungskriterium zu einem materialen Gebot des Lebenswandels. 139 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Ich möchte diesen Ebenensprung den gesinnungsethischen Fehlschluß der Begründung nennen oder das gesinnungsethische Dogma einer undifferenzierten, rigorosen Orientierung am Prinzip. Das Prinzip wird nicht als ein, erst situationsgemäß anzuwendendes, Prinzip in den Diskurs gezogen, sondern – erstens – mißverstanden, als sei es bereits eine konkrete Situationsorientierung und Norm; und es wird – zweitens – stur festgehalten, statt daß sein normativer Orientierungsgehalt situativ differenziert und konkretisiert würde – etwa um eine moralische Strategie zur Bewältigung einer amoralischen oder unmoralischen Situation zu erarbeiten. D.h.: der Diskurs wird vermieden. Es ist dieser Preis, den Jesu radikal liebesethische und gesinnungsethische Traditionskritik entrichtet. Nun mag einem wohlwollenden, historisch hermeneutisch feinsinnigen Interpreten dieser Preis gleichwohl im geschichtlichen Kontext der biblisch jüdischen Tradition so verständlich sein und immanent plausibel erscheinen wie David Flusser. Ein geltungslogisches Problem ist es jedoch, daß in Jesu Worten – gleichsam auf der idealen Begründungsebene – die Differenz zwischen regulativem Prinzip als Moralkriterium und Grundnorm versus Maxime als Handlungsanleitung fehlt; welche Differenzierung allerdings selbst Kant noch unterlaufen kann, wiewohl er sie selbst mit Einführung des Kategorischen Imperativs getroffen hat. Spätestens beim Durchdenken der Dilemmasituationen, denen sich Verantwortung tragende Moralfreunde in einer nicht moralischen Situation ausgesetzt sehen, zeigt sich, daß die mangelnde Unterscheidung zwischen regulativem Moralprinzip und situativer Handlungsorientierung desaströs ist, nämlich verantwortungszerstörend. Das ist es, was Max Weber 1917 und 1919, in und nach dem furchtbaren europäischen Krieg und vor einer drohenden deutschen Bürgerkriegssituation, zumindest gespürt hat. Auch wenn Webers Idealtyp der absoluten Gesinnungsethik, der das abgelöste Leben eines Heiligen fordert und nur in der mönchischen bzw. klösterlichen Form des Lebens Gestalt annehmen, also eine Institution werden kann, – auch wenn dieser Idealtyp nicht die gesamte Verkündigung und Lebensführung Jesu abdeckt, so schärft Weber damit doch in befreiender Klarheit, in dilemmatischer Kontur, das verantwortungsethische Problembewußtsein. Die großen Traditionen der alteuropäischen Ethik, die aristotelische, die augustinischlutherische und die thomasische, entfalten dieses dilemmatische Verantwortungsbewußtsein nicht. Nicht die aristotelische Ethiktradition, weil sie kein Moralprinzip mit kontrafaktischen Kriterien für das Richtige und Gerechte hat, die uns in Dilemmata hineinstellen würden. Dazu 140 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 fehlt es ihr sowohl an der gesinnungsethischen Substanz, an jener Substanz der Moralität, die wir mit Weber „akosmistische Liebesethik“ nennen können, als auch an der kontrafaktischen Spannung zwischen unserer lebensweltlichen Vorteils- bzw. Nutzenperspektive, wie sie unser Streben nach Glück durchzieht, auf der einen Seite und dem Inbegriff von Gerechtigkeit und Liebe, wie sie in dem barmherzigen Bundesgott erfahrbar ist, auf der anderen Seite.189 Auch die (neuplatonisch-) augustinische und lutherisch reformatorische Ethiktradition ist keine hinlängliche Ressource für ein dilemmatisches Verantwortungsbewußtsein, wiewohl sie jene beiden Elemente aufweist, die dem Aristotelismus fehlen: normative moralische Substanz und jene Spannung zwischen vormoralischem Ego-Wollen versus moralische Idee bzw. Einsicht in deren moralischen Sollensgehalt. Dieses Spannungsfeld entfaltet sie in der Lehre vom Reich Gottes, insofern dieses dem Reich der Welt kritisch gegenübersteht. So macht Luther, wenngleich nirgendwo systematisch sondern meist bei Gelegenheit von Auseinandersetzungen oder Bibelauslegungen, den Ansatz zu einer Dialektik von zwei komplementären Verhältnissen, in denen der Christ sich stets befinde: coram deo und coram mundo. Der Christ, zugleich in der Welt und im Angesicht Gottes existierend, befinde sich zugleich in Relation zu Gott – er wandelt vor Gott, und in Beziehung zur Welt – er handelt als Person vor den Augen der Menschen in der Welt. Lutherische Theologen wie Gerhard Ebeling, Dietrich Braun und Wolfgang Huber haben diesen Ansatz Luthers als dialektischen rekonstruiert, der eine weltkritische Urteilsbildung fordere. „Das Sein vor Gott und das Sein vor der Welt gelten nicht etwa als wahlweise Möglichkeiten oder als getrennte Wirklichkeiten, sondern im strengen Zugleich einer Wechselbeziehung. Wer sein Sein vor Gott hat, hört damit nicht auf, vor der Welt zu existieren. Und wer sein Sein vor der Welt hat, ist damit nicht das Sein vor Gott los. Aber das Sein im einen Forum wird zum Gegensatz des Seins im andern Forum, da in der Strittigkeit beider Fora strittig ist, woher der Mensch sich empfängt, von welchem Urteil, welchem Wort er lebt, aus welchem Forum er sich versteht, welches Angesicht ihn letztlich in Anspruch nimmt und wohin letztlich sein Gesicht gerichtet und wem sein Rücken zugekehrt ist, was also seine Gegenwart ausmacht, und bestimmt. Steht er im Bann der Welt, so ist er vor Gott nichts, gerade, weil er meint, auch vor Gott etwas zu sein, sei es in seiner Frömmigkeit, sei es im offenen Aufruhr gegen Gott, sei es in Gottvergessenheit. Hört er dagegen auf das Wort 189 Vgl. D. Böhler, „Kosmos-Vernunft und Lebensklugheit“, in: K.-O. Apel, D. Böhler u- K. H. Rebel (Hg), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Studientexte, 3 Bände, Weinheim u. Basel (Beltz) 1984, zit.: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, bes. S. 356 ff., 385 ff. 141 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Gottes und gibt er ihm als dem in Gericht und Gnade tötenden und lebendig machenden Werk Gottes recht, so erfährt er im Forum der Welt den Widerspruch, der gerade denen zuteil wird, die um Gottes willen der Welt als Kreatur Gottes gerecht zu werden versuchen.“190 Diese Interpretation ist freilich bereits durch die theologiekritischen Erfahrungen der „Bekennenden Kirche“, der „Dialektischen Theologie“ Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers politisch ethischer Kritik am nachlutherischen Denken in zwei Räumen, dem geistlichen und dem weltlichen, hindurchgegangen und hat einen neuen Luther entdeckt. Hingegen setzte sich im deutschen Luthertum ein fatales „Trennungsmodell“ (Huber) der Zwei-Reiche-Lehre durch, welches im kulturprotestantischen Luthertum zum Anfang des 20. Jahrhunderts den Zeitgeist bestimmte. Max Weber griff es insofern auf, als er die Entwicklung der modernen Welt zu den „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ sowohl der „kapitalistischen Wirtschaft“ als auch des modernen Staatsapparates mit „Rechtspflege und Verwaltung“ nicht allein rekonstruierte, sondern auch die tiefe „Fremdheit“ dieser zweckrationalen Sphären gegen die ethisch religiöse Sphäre als rational unaufhebbares Schicksal affirmierte.191 In diesen kulturprotestantischen Zusammenhang gehört m. E. auch Webers Behauptung, daß zwischen dem politischen Verantwortungsprinzip und dem religiös ethischen Gesinnungsprinzip „ein abgrundtiefer Gegensatz“ klaffe. Ein Entweder-Oder, eine Wahl zwischen zwei unvereinbaren Lebensformen und Wertorientierungen: ein „unüberbrückbarer tödlicher Kampf, so wie zwischen ‚Gott’ und ‚Teufel’!“192 Zurück zum kirchlichen und theologischen Trennungsmodell der lutherischen Zwei-ReicheLehre! Dem gläubigen Christen suggerierte die undialektische Interpretation der beiden Reiche, „als gäbe es Gebiete unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern Herren außer ihm gehören, nicht seinem, sondern einem von ihm unabhängigen Gesetz verantwortlich wären.“193 Dagegen wandte sich in aller Schärfe die zweite These der Barmer Bekenntnissynode von 1934. Angesichts dieser Wirkungsgeschichte der lutherischen ZweiReiche-Lehre, vor allem aber angesichts Luthers Bestreitung der Willensfreiheit des 190 G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken. Tübingen (Mohr) 41981, S. 229 M. Weber, Religionssoziologie I, Tübingen (Mohr) 1972, S. 544, 547 und 548. 192 M. Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1968, S. 507, vgl. 505. 193 Zit. nach: Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Neukirchen-Vluyn, 1983, S. 38. Zur Kritik jenes Trennungsmodells und seiner nicht allein folgenschweren theologischen sondern auch soziologischen und politiktheoretischen Wirkung (so bei Friedrich Naumann, Max Weber, Arnold Gehlen und Niklas Luhmann), vgl. Huber, a. a. O., S. 36-70. 191 142 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Menschen und seiner eigentümlichen Ethik der Buße194 gibt es gute Gründe für eine insgesamt kritische Beurteilung. Denn in Luthers Theologie ist es um die Anerkennung der Autonomie des Urteilssubjekts nicht gut bestellt. Besagte Diskurs-Autonomie liegt aber in zweifacher Hinsicht jeder moralischen Urteilsbildung und Orientierung zugrunde. Einmal ist sie die Geltungsbasis eines moralischen, also eines verpflichtenden Urteils. Darauf zielt Kant: Zu Recht, nämlich zureichend begründet, kann ‚mich’ allein dasjenige verpflichten, was ‚ich’, sofern ich nämlich nur sinnvolle Argumente suche, mich mithin als Diskurspartner verhalte, letztlich aus freien Stücken einsehen und daher autonom als verbindlich anerkennen kann. So nämlich, daß ‚ich’ mein eigener sittlicher Gesetzgeber sein kann. Moralische Autonomie ist „das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.“195 Zudem ist die Zuerkennung eines Anspruchs auf autonome Urteilsfähigkeit auch die Motivationsbasis einer moralischen Person. Allein jemand, der bzw. die sich anerkannt weiß als in praktischen Fragen urteilsfähig, ist auch motiviert bzw. motivierbar, sich an moralisch praktischen Diskursen zu beteiligen und hier selbständig mitzudenken. Damit verwoben ist sein bzw. ihr argumentativ-dialogbezogenes Selbstverhältnis zu einer moralischen Forderung und Aufgabe: Allein wenn 'ich' mir selbst sagen kann, >diese moralische Anforderung ist aus diesem Grunde/ diesen Gründen zustimmungswürdig und mir daher einsichtig<, allein dann kann 'ich' mich frei dazu verpflichten − und habe mich dadurch selbst motiviert. Damit sind wir wieder bei Kant, insofern er das Vermögen der praktischen Vernunft als den freien Willen bestimmt.196 So zeigt er, daß bei moralischen Urteilen der Geltungsgrund mit 194 Zur Kritik von Luthers Ethik der Buße: D. Böhler, Reformation und praktische Vernunft. Zu Luthers geistiger und politisch-ethischer Wirkung. In: Universität des Saarlandes (Hg.): Martin Luther, 1483 bis 1983. Ringvorlesung der philosophischen Fakultät (Sommersemester 1983). Saarbrücken 1983, S. 173-201. 195 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (GMS), Akad. Ausg., S. 447 (Meiner, 1999, S. 75) 196 GMS, S. 412. Von daher läßt sich auch das einleitende "Donnerwort" (H. Jonas) und sein Kontext ohne problematische gesinnungsethische Vorleistungen des Lesers als vernunftethischer (antiaristotelischer, nonempirischer) Ausgangspunkt verstehen: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigenschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es ebenso bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst Gesundheit, und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Mut und 143 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 dem Beweggrund (Motiv) unauflöslich verbunden sind: in der Autonomie. Denn hier kann eine Aufforderung bzw. Norm nur dann gelten, wenn 'ich' als Argumentationspartner/in (Kant: als "vernünftiges Wesen" in "einem Reich der Zwecke")197 sie selbst einsehen kann. Umgekehrt kann ein Vernunftwesen, besser: ein(e) Diskurspartner/in, allein dadurch zu einer Pflichtübernahme bewegt werden, wenn und indem er/sie diese Pflicht als wohlbegründet anerkennen und als sein/ihr eigenes Engagement198 übernehmen kann. Diese Motivation ist um so wichtiger in allen Fällen einer moralischen Strategiebildung, die unseren ethischen Intuitionen und den davon bestärkten Gewissensskrupeln zuwiderlaufen dürfte. Eben, weil sie uns vor die Aufgabe stellt, unsere Unschuld hintanzusetzen, an unserer persönlichen Identität zu arbeiten und sich zu moralischen Strategien bereit finden, mit denen wir uns, radikal gesinnungsethisch betrachtet, die Hände schmutzig zu machen. Eben das scheint Dietrich Bonhoeffers Kritik des kulturprotestantischen Luthertums und sein Plädoyer für die freie verantwortliche Tat im Auge gehabt zu haben. Denn erst auf der Basis der Urteilsautonomie kann jemand zu der Kühnheit motiviert werden, in einem moralischen Normen- oder Maximenkonflikt moralische Strategien zu suchen und sich durch die Anwendung einer solchen Strategie die Hände bzw. das eigene Gewissen zu beschmutzen, also die ethische Reinheit einzubüßen. Denn eine solche moralstrategische Urteilsbildung müßte auch gegen die Unmittelbarkeit der eigenen Gewissensskrupel und gegen das eine oder andere der göttlichen Gebote erfolgen. Von Augustin bis Luther wird die gedoppelte Basis eines moralischen Urteils, die Autonomie als Geltungsgrund und Beweggrund, nicht anerkannt noch gar entfaltet. Daher bleiben das freie moralische Urteil und der Mut zur freien moralischen Tat auch gegen eines der Gebote und erst recht gegen eine Norm der Obrigkeit, der die Herrschaft im Reich der Welt von Gott gegeben sei, schlichtweg ohne Basis. Anders gesagt: der Lutheraner ist nicht der Mann, die Lutheranerin nicht die Frau der freien verantwortlichen Tat. Niemand hat das schmerzlicher hierdurch öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüt, und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln, berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar im Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerläßliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszumachen scheint." (GMS, S. 393: Beginn des "Ersten Abschnitts"). 197 GMS, S. 433, auch S. 434. 198 Dieses Wort, das umgangssprachlich soviel wie Verpflichtung, -bindlichkeit, -schreibung und Bindung bedeutet, ist in dem frz. Existentialismus zum Begriff und Terminus geworden, der auch die Bedeutung von Risiko, Wagnis und Sich Einlassen auf eine Situation umfaßt. Sartre bezog ihn auf die Urwahl des Menschen, in der dieser sich zugleich auf die Menschheit (und insofern auf den Kategorischen Imperativ) beziehe: 144 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 gespürt als Dietrich Bonhoeffer, der sich den Mut zur dilemmatischen Verantwortlichkeit, zum Widerstand gegen Obrigkeit und zur Zivilcourage, allererst erarbeitet hat. Politisch hat er dies so ausgedrückt: Den Deutschen fehle – durchaus in der Nachfolge Luthers –„eine entscheidende Grunderkenntnis: die von der Notwendigkeit der freien verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag. An ihre Stelle trat einerseits verantwortungslose Skrupellosigkeit, andererseits selbstquälerische Skrupelhaftigkeit, die nie zur Tat führte.“199 Auch die dritte große Ethiktradition des alten Europa, entfaltet das dilemmatische Verantwortungsbewußtsein nicht. Ich meine die aristotelisch-thomasisch-naturrechtliche Ethik und Soziallehre des Katholizismus, dessen glaubwürdiger Sohn Papst Johannes Paul II. gewesen ist. Warum auch sie nicht? Amalgamiert mit der Kosmos- bzw. Naturmetaphysik des Aristoteles, neutralisiert der Katholizismus die Differenz von moralischem Sollen und faktischem, natürlichem sowie gesellschaftlich kulturellem Sein, die in Jesu Liebesethik und Reich Gottes-Verkündigung verankert war. Folgenschwer harmonisiert Thomas, der Gesetzgeber des Katholizismus, das von ihm bereits spekulativ gedeutete natürliche Sein mit dem moralischen Sollen. Und dieses begreift er überhaupt nicht exklusiv als solches, sondern vermittelt es – wir müßten sagen: vermengt es - sogleich mit der lebensweltlichen und individuellen Wert- und Interessensphäre, indem er es wie Aristoteles als das naturgemäß Gute, das Gut-Leben i. S. natürlicher Seinsbestimmung also, versteht. Folgenschwer entwickelt Thomas den spekulativ-teleologischen Begriff des natürlichen Seins und die Gleichsetzung des Guten mit dem vollendeten Natursein in Anlehnung an Aristoteles: „ens et bonum convertuntur“ (das [vollendete] Sein ist das [wahrhaft] Gute, nach dem alles naturgemäß strebt).200 Die naturgemäße Vollendung des Seins sei zugleich der normative Gehalt des Sollens.201 „Darin liegen die Begründungsaporie und die Geltungsaporie allen Naturrechts. Denn nicht das Naturgemäße kann das Gute als moralisches Sollen bestimmen; vielmehr kann man nur, "L'existentialisme est une humanisme, Paris 1946 und 1965 (Coll. Pensées, Ed. Nagel), bes. S. 69ff, 74f, vgl. 85, 126 199 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. V. E. Bethge, München 1962, S. 145. Dazu: D. Böhler, in: Funkkolleg Studientexte, Bd 3., S. 880ff. 200 Thomas von Aquin: Summa theologica. I. Quaestio Iva, 3; Quaestio Va, 2-5. 201 Vgl. D. Böhler, „Instrumentelle und praktische Vernunft – das ethische Dilemma der Neuzeit“, in: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 412. 145 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 wenn man einen normativen Begriff des Guten schon hat, von daher bestimmen, was das wahrhaft Naturgemäße und das eigentliche, gute Sein ist: ‚So kommt es zu der typisch naturrechtlichen petitio principii: Was man zuvor als gut empfunden hat, wird als das Naturgemäße hingestellt und dann als Erkenntnisgrund des Guten verwandt. So wird auch bei Thomas die schon vorher feststehende christliche Wertwelt als das Naturgemäße herausgestellt und dann aus diesem ‚Natur‘-Begriff die christliche Wertwelt scheinbar abgeleitet.“202 „Zwar konkretisiert Thomas das allgemeine Naturrecht durch die Zehn Gebote, die er ebenfalls als natürliche Gesetze versteht, weil man sie aus obersten Prinzipien ableiten könne. Das hindert ihn aber nicht, die Sklavenlehre des Aristoteles zu übernehmen. Es gibt, sagt Thomas, Menschen, die wegen der Schwäche ihres Verstandes von Natur nur zum Dienen bestimmt und daher beseelte Werkzeuge in der Hand ihres Eigentümers sind.203 So sieht er vor allem die Naturvölker, die ohne Schrift, ohne geschriebenes Recht und in tierischen Sitten dahinleben, als Sklaven von Natur an.“204 Für uns ist wichtig, daß der Thomismus das Problem einer autonomen verantwortungsethischen und moralstrategischen Urteilsbildung eher verstellt, als daß er es begründen und angemessen entfalten könnte. Da er den Standpunkt der moralischen Urteilsautonomie nicht konsequent einnimmt, sondern bei dem vermeintlichen Telos des menschlichen Lebens ansetzt, ist sein Bewußtsein für die Weltverantwortung eingeschränkt: wo eine Teleologie herrscht, ist der Mensch – auf der Ebene des Denkens der Ethiker – nur begrenzt für Handlungsfolgen verantwortlich. Ist es doch Gott, der Schöpfer, dem ist es ja, der die Verantwortung für die Teleologie zufällt. Insofern reicht es in der Tat aus, wenn der Christ recht handelt und die Folgen dem Schöpfer, dem Herrn der von ihm so eingerichteten Welt, anheimstellt … Hinzu kommt wie bei Aristoteles, daß die, de facto doch an das Verständnis der eigenen Lebenswelt anknüpfende teleologische Welt- und Seinsdeutung auch den lebensweltlichen, traditionalen und anderen Vor-Urteilen zuneigt. Aus diesen Gründen ist der Thomismus vom Ansatz her unfähig, das verantwortungsethische Dilemma zu erkennen und es strikt argumentativ, mit dem Anspruch intersubjektiver Gültigkeit, schließlich zu lösen. 202 D. Böhler, a. a. O. , S. 414. Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles, III 81. 204 D. Böhler, ebenda. Thomas von Aquin: Kommentar zu Aristoteles’ Politik I, lect. I. 203 146 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 3.1 Zwei Stachel im Geist – die nach Max Weber und aufgrund der westlichen Komplementarität offenen Begründungsfragen Es ist das freilich eine Aufgabe, deren Lösbarkeit selbst derjenige Gesellschaftsdenker, dem wir ihre Stellung verdanken, Max Weber, als unlösbar angesehen hat, und zwar dank zweier begründungsskeptischer Voraussetzungen. Einmal ist er im vorhinein wertrelativistisch und avant la lettre existentialistisch eingestellt, so daß er eine rationale Begründung, den Gültigkeitserweis eines Moralprinzips mit normativem Wertgehalt als unmöglich ansieht. Außerdem verneint er die verantwortungsethische Legitimationsfrage, ob sich Kriterien für eine legitime Inkaufnahme sittlich bedenklicher Strategien, wie etwa gewaltsamer Mittel, im strengen, wissenschaftlichen Sinne rational begründen lassen. Selbst als Verantwortungsethiker bezieht Weber ausdrücklich eine agnostische und existentialistische bzw. dezisionistische Position: Erkenntnis des Richtigen sei hier nicht möglich. „Schon so einfache Fragen […], wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in den Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses∗. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte.“205 Bezüglich seiner Kritik der Gesinnungsethik und seines, ja von ihm selbst eingeführten, Typus einer Verantwortungsethik, vor allem als Ethik des Staatsmanns, bringt Weber sich damit in eine Aporie: Einerseits fordert er eine verantwortungsethische, moralisch strategische Maximenbildung, die als solche nicht etwa gesinnungslos sondern wertrational sein und eine Maxime „von streng ›formalem‹ Charakter“ sein solle.206 Andererseits beläßt er sowohl den Zugang zu diesem ethischen Prinzip, nämlich um willen der Verantwortung für Dritte auch „sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf“ zu nehmen,207 als auch dessen situationsbezogene Konkretion, nämlich „inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in den ∗ Hervorhebung von mir (D.B.) M. Weber, „Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der …“, in: Ders., Wissenschaftslehre, S. 508. Vgl. ders., „Politik als Beruf“, s. Anm. 17, S. 552, 3. Abs. 206 Ebenda, S. 505. 205 147 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Kauf genommen werden sollen“,208 in der Irrationalität „der eigenen letzten Entscheidung“209, mithin ohne ein wissenschaftliches Verfahren. Was würde daraus für die Ethik folgen? Auf die Diskursethik bezogen, hieße das zunächst, daß Karl-Otto Apels Idee eines eigenständigen, intersubjektiv geltungsfähigen Verantwortungsebene „B“ der Ethik zur Anwendung des rational andemonstrierbaren, insofern letzthinnig begründbaren, Moralprinzips nichtig sei – eine Illusion. Zweitens unterstellt Weber offenbar auch, ein Gültigkeitserweis des Moralprinzips als Kriterium der Verallgemeinerbarkeit und ein Erweis seiner Verbindlichkeit als Grundnorm der Achtung und Solidarität, sei nicht möglich. Auch hier, also gegenüber der Frage, warum man eigentlich moralisch sein solle, sei einzig die existentielle aber arationale Haltung der Wahl möglich und angezeigt. Diese dezisionistische Konsequenz – Entscheidung in allen normativen bzw. Wertungsfragen – hat der „Kritische Rationalismus“ Karl Raimund Poppers und seiner Schüler, an der Spitze Hans Albert, ausdrücklich bezogen,210 was dann zu einer teils intensiven, teils mißverständnisgesättigt polemischen Kritik an dem transzendentalpragmatischen Programm einer Begründungsreflexion des Moralprinzips geführt hat.211 Deren Vertreter, voran Karl-Otto Apel und Wolfgang Kuhlmann, sind die Metakritik nicht schuldig geblieben.212 Und die weitere Entwicklung der ursprünglich transzendentalphilosophisch rekonstruktiven Transzendentalpragmatik hin zu einer, jedenfalls im entscheidenden Begründungszug, sokratisch dialogreflexiven Diskurspragmatik ist ebenfalls von dieser Debatte mitangestoßen worden.213 207 M. Weber, „Politik als Beruf“, a. a. O., S. 552. M. Weber, „Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der …, a. a. O., S. 508. (Hervorhebung von mir, D.B.) 209 Ebenda, S. 507. 210 So vertritt Karl R. Popper die Auffassung, daß das Begründungsdenken in Philosophie und Wissenschaft überhaupt abgelöst werden müsse durch das neue Konzept von Philosophie und Wissenschaft als „Vermutungen und Überlegungen“ bzw. als „Konstruktion und Kritik“ (Hans Albert). K. R. Popper, Conjectures and Refutations, London, 1963, deutsch: Vermutungen und Widerlegungen I + II. Mohr: Tübingen. 1994. H. Albert, Konstruktion und Kritik, Hamburg 1975. Ders., Traktate über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr 1968. Ders., Traktat über rationale Praxis, Tübingen (Mohr) 1978. 211 H. Albert, Transzendentale Träumereien. K.-O. Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg (Hoffmann und Campe) 1975. H. Keuth, „Fallibilismus vs. transzendentale Letztbegründung“, in: Ztschr. f. Allg. Wissenschaftstheorie, XIV/2 (1983). 212 H. Albert und K.-O. Apel, „Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?“ in: Apel, Böhler u. a. (Hrsg.) Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 2, Frankfurt a. Main (Fischer Tb) 1984, S. 82122. K.-O. Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1998, Essay 1, S. 33-80 und Essay 2, S 81-194. W. Kuhlmann, „Reflexive Letztbegründung vs. radikaler Fallibilismus. Eine Replik.“ In: Ztschr. f. Allg. Wissenschaftstheorie, XVI/2 (1985), S. 357-374. 213 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, S. 94ff., 149ff und 356ff. Ders., „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“, in: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hrsg.) Strategien contra Moral. Wirtschaft und Ethik. EWD-Band 12, Münster (Lit) 2004, S. 105ff. 208 148 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Als kulturprotestantischer Lutheraner, der das Trennungsmodell der Lehre von den beiden Reichen mitbrachte, und als Begründer der empirischen Sozialwissenschaften, der einer wertfreien Rationalität die Bahn brach, war es Max Weber, der nicht nur die Begründung des Moralprinzips sondern auch die Aufklärung des verantwortungsethischen Dilemmas aus dem Aufgabengebiet rationaler Erkenntnis verbannt hat: Er erklärte sie offenbar „zur Sache der Wahl oder des Kompromisses“. Insofern ist er Vater jener Struktur des modernen westlichen Geistes, die Apel als „Komplementaritätssystem“ analysiert hat. Damit ist er es, welcher, sechsundachtzig Jahre nach seinem Tode, eine Vorlesung, die sich weder mit seinem existenzialistischen bzw. dezisionistischen Moralverständnis noch mit seinem instrumentalistischen Verständnis des Rationalen abfinden kann, vor diese beiden Begründungsfragen stellt: a) Ist der politisch ethische Gegensatz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik auf der Prinzipienebene des Moralischen unüberbrückbar? Oder ist eine rationale, argumentativ zustimmungswürdige moralische Strategiebildung möglich? b) Läßt sich das Moralprinzip aber als ein rationales Prinzip erweisen, oder erschließt (bzw. verschließt) es sich einzig durch arationale Entscheidung dafür (bzw. dagegen)? Ist praktische, einen verbindlichen Richtungssinn angebende, Vernunft überhaupt möglich? Ad a): Die zweite Frage klammern wir zunächst aus und entwickeln fürs erste ein Vorverständnis, in dessen Perspektive wir später das verantwortungsethische Dilemma, wie ich hoffe, werden lösen können. Worum geht es? Was Max Weber für rational unlösbar hält und was auch die moralphilosophisch sonst äußerst elaborierte thomistische Tradition nicht angemessen zu denken vermag, ist dieses: Beim verantwortungsethischen Dilemma geht es um eine Kollision von solchen moralischen Maximen, die sich aus einer idealisierenden moralischen Überlegung auf der Prinzipienebene ergeben, und jenen Verpflichtungen, die ein Verantwortungsträger in der realen Welt anderen gegenüber (Klienten, Schutzbefohlenen, Kindern) institutionell übernommen hat. Betrachten wir zuerst jene idealisierenden moralischen Sollensperspektiven, eigentlich z.B. gelte unbedingt: ‚Du sollst nicht töten.’ Für solche moralischen Gebote ist vorauszusetzen (und jeweils zu gewährleisten), daß jede(r) ihren normativen Gehalt einsehen kann, wenn 149 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 sie/er mit anderen in einem idealisierenden, von Realitätszwängen entlasteten Dialog die Überlegung anstellte: „Distanzieren wir uns einmal sowohl von den lebensweltlichen Werten und Konventionen als auch von unseren persönlichen Interessen distanzieren, indem wir deren Legitimität einklammern und sie dahingestellt sein lassen, um nach allgemein geltungswürdigen Prinzipien zu suchen. Wie? So, daß wir uns auf das besinnen, was wir jetzt in der Rolle leibhafter Partner im strikt argumentativen, auf Achtung der Gleichberechtigung beruhenden Dialog in Anspruch nehmen und anerkennen müssen, was ist es, was wir als solche, vernünftige, Dialogpartner wollen und sollen?“ Die sich in einer solchen ursprünglichen Dialogreflexion ergebenden Werte bzw. Wollensgehalte (wie ‚meine‘ Freiheit zu argumentieren, ‚mein‘ Anspruch auf Achtung und kommunikative Freiheit etc.) und die dadurch eingesehenen Normen bzw. Sollensgehalte (wie Anerkennung der kommunikativen Freiheit der Anderen, Achtung ihrer Würde als gleichberechtigter Dialogpartner etc.) würden zugleich den Wertgehalt des Prinzips der Moral und dessen normativen Verpflichtungssinn bilden. Dieser ließe sich als regulative Norm fürs erste so zusammenfassen: >Bemüht euch um solche Argumente und Handlungsweisen, denen bei einem idealen Situations- bzw. Rollentausch auch alle anderen als Argumentationspartner (nach zureichender Prüfung aller Gründe) zustimmen würden.< Mit diesem Dialog- Moralprinzip („D“) sind m. E. die Gebote bzw. Wegweisungen Jesu‘ Liebesethik prima facie vereinbar. D.h. aber sie erhalten nur dann situative Befolgungsgültigkeit, wenn zugleich die realen Fürsorgerollen (Eltern für Kinder, Politiker für Bürger, Unternehmer für Stakeholder) und gewisse harte Realitätsbedingungen berücksichtigt werden, insofern sie die (verantwortbaren) moralischen Handlungsoptionen einschränken, also Moralrestriktionen darstellen. Solche können sich ergeben: aus den faktischen Ego-Verhaltensweisen einzelner, aus den gesellschaftlichen Konventionen bzw. Institutionen, aus der Konkurrenz kultureller Wertsphären, aus der Eigensinnigkeit’ sozialer Systeme usw. All das darf bei der Urteilsbildung nicht idealisierend ausgeblendet werden. Berücksichtigen wir jene Restriktionen einer idealisierenden Prinzipienüberlegung und beratung, so stehen wir als Beratende in einer dilemmatischen Problemsituation. Deren Ausgangspunkt und moralischen Bezugspunkt bilden: die volle Autonomie der Urteilsfindung, die Reflexivität und Formalität der Prinzipienerkenntnis und die kompromißlose Geltungseinklammerung aller lebensweltlichen Urteilsinstanzen (unter Einschluß sowohl der liebesethischen Maximen als auch der strategischen Klugheitsregeln und ihrer strategischen Oberregel, daß am Ende nur der Erfolg zähle und daß auch bedenkliche Mittel durch den 150 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zweck geheiligt würden). Ihr Gegenstand, ihr besonderes Thema ist die eingesehene Notwendigkeit, einer Fürsorgeverpflichtung unter mehr oder weniger nonmoralischen Handlungsbedingungen auf möglichst moralische Weise nachzukommen – m. E. so nah wie möglich an den Forderungen der Bergpredigt, verstanden als letzthinnige Zielsetzung, nicht als konkrete Situationsnormen, die hier und jetzt und buchstäblich zu befolgen wären. Denn alle konkreten – Kant würde sagen: alle ‚materialen‘ – Gebote und Maximen sind anhand des Moralprinzips als Gültigkeitskriterium und im Blick auf die je gegebene, vielleicht sehr harte und gar nicht moralanaloge, Handlungssituation doppelt zu prüfen: >Lassen sie sich konkretisieren oder wie müssen wir sie verändern, um eine moralprinzipverträgliche und situationstaugliche Orientierung zu gewinnen?< Dabei behält die Moralverträglichkeit den geltungsmäßigen Primat. Daher soll die Prüfung, ob eine ersonnene und diskursiv erhärtete Konterstrategie mit dem Moralprinzip „D“ verträglich ist, unbedingt das letzte Wort behalten. Alles andere wäre ein Abrutschen von der moralischen Urteilsbildung in zweckrationale Klugheit, eine Kapitulation vor jenem Relativismus, der sich als weltkluger „Pragmatismus“, als Rationalität der „Sachzwänge“ oder als „Einsicht in die Notwendigkeit“ empfiehlt und hinter diesen Selbstempfehlungen seine tendenzielle oder gänzliche Prinzipienlosigkeit verbirgt. 4 Kants metaphysisch dualistische und methodisch inkommunikative (solipsistische) Vernunftethik – Moralität als Pflichterkenntnis und guter Wille. Gegen die Tradition denkend, und zwar sowohl gegen die naturteleologische und poliskonventionalistische Perspektive von Aristoteles als auch gegen die strategisch zweckrationalistische und autoritär-dezisionistische Perspektive von Thomas Hobbes sucht Kant eine „reine“ und „formale“ Vernunftethik, die das allgemeingültige, weil autonom einsehbare (und einen zureichenden „Grund der Verbindlichkeit“ an die Hand gebende) Sollens-„Prinzip der Moral“ aus dem intuitiven sittlichen Menschenverstande/Gewissen rekonstruiert.214 214 GMS, Erster Abschnitt, bes. 393-396 und 411-413, 439. Zu Hobbes bzw. Kant: Karl-Otto Apel in: Funkkolleg Studientexte Bd. 1 S. 110-120 und D. Böhler, a. a. O, Bd. 2, S. 421-429. 151 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Kant bestimmt den Sinn von „moralisch“ kriterial, nämlich als Inbegriff jener Handlungsweise, die „als Grund einer Verbindlichkeit“ gelten können.215 Im Blick auf diese formale bzw. kriteriale Bestimmung des Moralischen sagt Kant, dass sein Ansatz dem Aufklärungszeitalter als „Paradoxon der Methode“ erscheinen müsse. In der Tat waren seine Zeitgenossen an der materialen Naturethik des Guten des Aristoteles orientiert. Demgegenüber erklärt Kant in der Kritik der Praktischen Vernunft: „daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte) sondern nur […] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.“∗ Warum? Der Ansatz bei dem formalen-moralischen Gesetz sei entscheidend, weil „nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bestimmung ihrer Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.“∗, er einen allgemein einsehbaren „Probierstein des Guten oder Bösen“ ermögliche. Dieser Ansatz „erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral. Denn sie suchten einen Gegenstand des Willens auf, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen, (welches alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes, der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte), anstatt daß sie zuerst nach einem Gesetze hätten forschen sollen, das a priori und unmittelbar den Willen, und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte. Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühle, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen; weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl, welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten. Nur ein formales Gesetz, d.i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein. Die Alten verrieten indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom 215 GMS 398. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausg., S. 110; vgl. auch: S. 112ff. ∗∗ Ebd., S. 113. ∗ 152 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten[…]“ ∗ Vgl. W. Kuhlmann „Warum Normenethik?“ In: Funkkolleg Studientexte Bd. 2, bes. S. 509514. Im „Ersten Abschnitt“ der GMS rekonstruiert Kant „die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis“, den ethischen Gemeinsinn, den er auf den guten Willen als das autonome bzw. autonomiefähige Vermögen zu praktischer Vernunft und auf dessen Gewissens-Tendenz zum Kriterium der Verallgemeinerbarkeit der Maxime (GMS, 404) zurückführt. Dieser stehe aber die faktische Neigungs-Willenstendenz zur je eigenen Glückseligkeit entgegen, bei der Aristoteles’ natürliche Teleologie ansetzt. Die gemeine Gewissenstendenz zum Verallgemeinerbarkeitskriterium setzt Kant kriteriologisch, also geltungsmäßig, über die faktischen – vielfach instrumentalisierbaren – Tugenden, von denen Aristoteles’ Ethik, die ‚naturgemäß’ und daher material bzw. empiriebezogen ansetzt, ausgeht. Vgl. zur normativen autonomiebezogenen Rekonstruktion: W. Kuhlmann, ebenda, S. 504 unten bis 509, 520 letzter Abs. – 521, 2. Abs. Überdies ist Kants Ansatz ein charakteristisch moderner Versuch, der neuen formellen (mathematisierten und kausal erklärenden) Rationalität der Naturwissenschaften gerecht zu werden, aber dennoch Freiheit des Willens und sittliche Freiheit, also Autonomie, wie auch sittlich verbindliche Orientierung zu denken: „reine praktische Vernunft“. Die Kosten dieses großangelegten Versuchs sind nicht unbeträchtlich. Kant entrichtet dafür zwei hohe Preise, die den Begründungswert bzw. die rationale Geltungsfähigkeit aber auch die Orientierungskraft bzw. die Anwendbarkeit seines Ansatzes in Frage stellen: zwei metaphysische Konstruktionen, die sich als solche nicht rational einholen und die sich ohne Glaubenssetzungen nicht einmal als Diskursbeitrag verstehen und diskutieren lassen. Metaphysische Vermutung der Freiheit als Voraus-Setzung des Vernunftsubjekts Um überhaupt für Freiheit angesichts einer restlos kausalmechanisch objektivierten Welt (der Naturwissenschaften) einen logischen Ort zu finden, postuliert Kant eine intelligible Welt des 153 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 denkenden, urteilenden Subjekts, des denk- und urteilseinsamen Bewußtseins und Selbstbewußtseins überhaupt, das sich selbst als frei und selbstbestimmend „setze“ (Fichte) – oder das sich als solches „wähle“ (Existentialismus). Zwar will Kant zeigen, daß in dieser angenommenen Subjekt-Welt die Rationalität, die logische Form des Allgemeinen, herrsche und hier demgemäß Allgemeingültigkeit möglich sei, mithin auch praktische Verbindlichkeit. Aber er macht deutlich, daß diese freie und vernunftfähige Sphäre eben nicht erkennbar und in ihrem Ursprung nicht erklärbar sei: sie gehöre nicht in den Bereich möglicher Erfahrung – Kant hat bloß den frühmodernen Begriff einer kausalistischen Theorie- und ExperimentBeobachtungserfahrung, nicht auch den einer kommunikativen Verstehens-Erfahrung im Medium der Sprache – und könne daher nur metaphysisch vermutet werden. Kant ringt mit der scheinbaren Unmöglichkeit, in der Welt als Natur bzw. dem Objekt der experimentellen Kausalerklärung einen Anhaltspunkt für - Urteilsautonomie (und sittliche Freiheit) und - für die intersubjektive Sphäre der autonomen Erkenntnis als einer Verbindung oder Gemeinschaft der Erkenntnissubjekte zu finden. Problem: Wie können wir das, was wir als Vernunftsubjekte doch für uns in Anspruch nehmen, nämlich Urteilsautonomie und allgemeingültige Erkenntnis bzw. Vernunft als Möglichkeit zu denken? Nicht als etwas, das zu der realen Welt gehört, deren Erscheinungen sich (natur-) wissenschaftlich kausal erklären lassen; sondern nur als etwas, das menschliche Vernunft überhaupt nicht zu „erklären“ imstande ist, das sie daher nur „postulieren“ kann. Aus dieser Erkenntnisaporie hilft sich Kant mit einer neuen Metaphysik, die er kritische nennt, weil sie zweierlei leisten soll: Endgültige Diskreditierung der bis dato endlosen Spekulationen über das Wesen, die Bestimmung etc. der Welt, und Ermöglichung einer autonomen allgemeingültigen Erkenntnisweise, einer kritischen Vernunft sowohl in theoretischer Hinsicht als auch in praktischer. Kant stellt also der kausal erklärbaren Welt des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Erscheinungen, der Welt der objektivierenden wissenschaftlichen Erfahrung, eine metaphysisch angenommene – allein von Gott, als intuitiv alles erschauendem intellectus archetypus, erkannte – Welt der (für uns) unerkennbaren freien Wesenheiten, der „Dinge an sich“, gegenüber. Auch deshalb heißt seine Grundlegung der Ethik, könnten wir heute sagen, mit Recht eine „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.“ 154 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zieht man aus dieser Nichterkennbarkeit der moralischen Sphäre und aus ihrem ‚Gesetztsein’ skeptische Konsequenzen, dann befindet man sich bereits in der, von Apel als geistigem Signum der westlichen Moderne rekonstruierten, Komplementarität von formeller, nonethischer Rationalität versus ethisch normierender, aber nonrationaler Wertentscheidung. Es ist Max Weber, der diese Konsequenz gezogen und damit die Komplementaritätsstruktur des westlichen Geistes etabliert hat.216 Metaphysische Setzung eines „Faktums der Vernunft“ statt Verbindlichkeitserweis Hinzu kommt, daß der ebenso intellektuell redliche wie scharfsinnige Kant zugesteht, daß sein Gültigkeitsanspruch für den Kategorischen Imperativ rational nicht einlösbar sei. Genauer gesagt, ist es der Gültigkeitsanspruch für das – eben bloß in der postulierten metaphysischen Sphäre eines „Reichs der Zwecke“ angesiedelte und dort einsehbare – Moralprinzip und damit für die Verbindung der Freiheit des Willens mit der Verpflichtung zur Moralität. Denn eine „transzendentale Deduktion“ aus der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung sei hier undenkbar, weil Freiheit eben in der realen (kausaldeterminierten) Welt der Erscheinungen nicht vorkomme, also auch nicht erfahren werden könne. Den Mangel eines Verbindlichkeitserweises des Moralprinzips glaubt er jedoch durch eine Art „metaphysische Deduktion“ (Hans Jonas) ausgleichen zu können: er meint, daß es einfach ein „Faktum der Vernunft“ sei, das „sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori.“217 Wenn es sich aber bloß „aufdringt“ und wenn dessen normativer Gehalt nicht als allgemeingültig erweisbar ist, was anderes ist es dann – so dürfte ein argumentationswilliger Skeptiker mit Recht sagen – als eine philosophische Glaubensannahme: sympathisch, aber unverbindlich? Kant beschwört hier mehr oder plausibilisiert in seinem metaphysischen Rahmen, als daß er hart begründete und so auch Zweifler überzeugen könnte.. Er fährt an der zentralen Stelle fort: Jener synthetische Satz a priori sei „auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet […], ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. [Scil.: Denn diese käme nur Gott zu, 216 Dazu hier: Skript, S. 21 155 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 der als archetypus intellectus alles intuitiv – schauend – so erkenne, wie es in seinem Wesen ist [D.B.]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken, daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt.“218 Allerdings läßt sich, mit Karl-Heinz Ilting, dagegen einwenden, daß Kant hiermit selbst, gegen seine natur-metaphysikkritische Absicht, aus einem Faktum die logische Geltung und praktische Verbindlichkeit einer Norm herzuleiten versuche.219 Andererseits kann man mit Apel, in gewisser Weise auch mit dem Briefwechsel zwischen Jonas und Gadamer, fragen, ob Kant hier nicht dann einen Verbindlichkeitserweis nahelegt, wenn man – erstens – die freie, vernünftige Sphäre unmetaphysisch denkt: als kommunikative Erfahrung und als Geltung Beanspruchen zwischen Argumentationspartnern ( → doppeltes Apriori der Kommunikation) und so daß man – zweitens – das Äquivalent einer „Anschauung“, das wechselseitige Einander Verstehen sowie Anerkennen als freie und zugleich moralverpflichtete Diskurspartner, gar nicht sinnvoll bezweifeln könne. Und daß hieran kein Zweifel bestehen kann, läßt sich demonstrieren, wenn man – drittens – die Begründung bzw. Deduktion sokratisch dialogreflexiv ansetzt …220 Das aber liefe darauf hinaus, im Gespräch mit dem Geltungsskeptiker zu demonstrieren, daß auch er, wie jeder, in einer realen Kommunikationsgemeinschaft das ideale Moralprinzip bereits dadurch als gültig vorausgesetzt hat, daß er selbst – mit Anspruch auf Geltung – gegenüber Anderen für etwas argumentiert. Das bedeutet zunächst: er hat, wie jeder, insofern er denkt, in doppelter Hinsicht Autonomie sowohl für sich beansprucht wie auch den Anderen zuerkannt – als Argumentationspartner. Das bedeutet zugleich: er hat für sich und die Anderen als Argumentationspartner vorausgesetzt, daß eine interne Verbindung besteht zwischen den Geltungsansprüchen des Diskurspartners und der Selbstmotivation, das Moralprinzip zu befolgen. Warum? Weil er andernfalls weder vor sich selbst noch vor Anderen als das gelten und realiter erscheinen kann, was er sein will bzw. zu sein in Anspruch genommen hat: ein glaubwürdiger Diskurspartner. So ließe sich, diesseits von Kants Zwei-Welten-Metaphysik, rational einholen, was Kant für die intelligible Subjektwelt 217 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Ak. Ausg., S. 56 Ebenda 219 K.-H. Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: Ders., Grundfragen der praktischen Philosophie, Ffm (Suhrkamp) 1994, S. 277ff. 220 Dazu: D. Böhler, Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung (I), in: Ders. u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung, 2004, S. 123-127 und: H.-G. Gadamer u. H. Jonas: Briefe über die Zukunftsethik, in: ebda., S. 471-482. 218 156 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 postuliert – Autonomie und deren interne Verbindung zwischen Geltungsgrund und Beweggrund (Motiv). Kritische Summe: Ungelöste Probleme und Aporien (Ausweglosigkeiten) in der Anwendung des Moralprinzips a) Unklare Doppelfunktion des Moralprinzips: als Kriterium (kriteriologische „Regel“ (Singer) versus Grundnorm (verpflichtende Rahmenorientierung für das Handeln)). Das Kriterium hat den Geltungsprimat, der Orientierung kommt das lebensweltliche bzw. praktische Prius zu: Interesse an Orientierung. b) Da Kant die kriteriale Funktion des Moralprinzips nicht als solche streng festhält, kann er das Moralprinzip als Grundnorm verwechseln mit einer konkreten Situationsnorm (Singer, S. 264 ff., Böhler, Studientexte Bd. 2, S. 431f). Erläuterung zu b) Ein eindrückliches, wenngleich in gewisser Hinsicht implizites bzw. halb verdecktes, Beispiel ist Kants Auseinandersetzung mit dem französischen Schriftsteller Benjamin Constant. Hier gibt sich Kant als bloßer Rechtsphilosoph und verbirgt so, freilich ein Stück weit veranlaßt von Constants gleichsam juridischer Ausdrucksweise, das eigentliche moralphilosophische Problem: Wozu führt eine Anwendung des Moralprinzips in Form des kategorischen Imperativs auf diese dilemmatische Situation: >Soll ‚ich’ lügen oder die Wahrheit sagen, wenn mich ein Mörder fragte, ob mein von ihm verfolgter Freund sich in mein Haus geflüchtet?< Kant versucht, diese moralphilosophische Fragestellung durch eine rechtsphilosophische, zudem z. T. rabulistisch spitzfindige Erörterung zu umgehen. Wenn der Leser dieses Manöver aber nicht mitmacht, sondern Kants Antwort an Benjamin Constant als Lösung dieser moralphilosophischen Problems versteht, kommt er zu den kritischen Thesen (a) und (b) – oder sogar zu der verblüffenden Erkenntnis, daß sich Kant hier rechtsphilosophisch dreht und windet, um nur ja den Kategorischen Imperativ nicht auf diese Dilemmasituation anwenden zu müssen. D.h.: Kant weicht einer moralstrategischen Lösung des Dilemmas durch Anwendung des Kategorischen Imperativs mit allen Mitteln aus, um eine gesinnungsethische 157 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Reinheit des Willens zu bewahren. Einen solchen gesinnungsethischen Rigorismus schreibt ihm sein Ansatz bei einem guten Willen jedoch nicht vor. Denn dieser Ansatz bezieht sich notwendigerweise allein auf einen moralisch guten Willen im Sinne praktischer Vernunft– just so, wie er diesen im „Ersten Abschnitt“ der GMS einführt: als die Bereitschaft, aus Einsicht in moralische Pflicht zu urteilen und zu handeln, mithin aus Achtung für das Sittengesetz als Inbegriff der widerspruchsfreien, mithin einsichtigen, Verallgemeinerbarkeit einer Handlungsmaxime.221 Und in dem „Zweiten Abschnitt“ der GMS definiert er den Willen ausdrücklich als „das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln“, und damit „als praktische Vernunft“.222 Doch betrachten wir Kants Hauptargument in seiner kleinen Schrift „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797. Den Grundirrtum B. Constants sieht Kant in der gewissermaßen rechtsphilosophisch formulierten, jedoch durchaus moralphilosophisch verständlichen und diskutierbaren These: „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat.“ Das sei ein sinnloser Ausdruck, weil es sich ja nur um die Wahrhaftigkeit einer Person handeln könne, nicht aber um die Wahrheit der Aussage selbst. Was aber jene subjektive Wahrhaftigkeit bzw. Ehrlichkeit „in Aussagen“ anbelange, so handele es sich dabei um eine Grundpflicht gegenüber der Menschheit. Wer wollte dem widersprechen – auch Constant gewiß nicht. Kant argumentiert nun in drei Schritten gegen ein Recht, zu lügen: 1) Lügen heiße, die Rechtsquelle unbrauchbar machen; diese bestehe nämlich in Wahrhaftigkeit als der Bereitschaft, einen Vertrag ernsthaft zu schließen und also einzuhalten; dies sei die Basis – freilich, wie dem Rechtsphilosophen nicht entgangen sein dürfte – die moralische Basis, aller Verträge und allen Zusammenlebens. 2) Daher füge eine Lüge der Menschheit Unrecht zu, indem sie den Verträgen etc. die Glaubwürdigkeit entziehe.223 3) Also: Wahrhaftigkeit „in allen Erklärungen“ ist „ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen224 einzuschränkendes Vernunftgebot“.225 Könnte man jedenfalls mit Kant sagen, daß es kein Recht, aus Menschenliebe zu lügen, geben kann? Das hieße, daß es in dem Katalog der Menschenrechte kein solches >Recht< geben 221 GMS, Akad.-A., S. 393f, 402f, vgl. 404. Ebd., S. 412 223 Kant, Werke in zwölf Bänden, ed. Weischedel (Suhrkamp (Insel)), Bd. VIII, S. 638f. 224 Harmonie-, Wohlanständigkeits-, Angemessenheits-Regel 225 Zit. nach: Kant, Werke, hg. von W. Weischedel, sechs Bände, Frankfurt a. M. (Insel) 1956 resp. In zwölf Bänden (Suhrkamp) 1968: Bd. VIII, S. 639. [Konvenienz: Regel der Harmonie, der Angemessenheit oder der Wohlanständigkeit] 222 158 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 dürfe, weil das einem Prinzip des Rechts, und zwar einem tragenden moralischen Rechtsprinzip, zuwiderliefe, also die Kohärenz der Rechtsbegründung zerstörte. Insoweit wird Kant als Rechtsphilosoph gegen B. Constant recht haben. Aber hat Constant vielleicht als Moralphilosoph sachlich recht? Auch wenn er sich unangemessen ausgedrückt hat, indem er von dem „Recht auf eine Wahrheit“ des Fragenden ausging, statt von einem moralischen Recht bzw. moralischen Anspruch des Fragenden und von der moralischen Pflicht des Antwortenden als eines Vernunftsubjekts im „Reich der Zwecke“, oder richtiger als eines Diskurspartners in der (letztlich idealen) Argumentationsgemeinschaft. Diese moralische Pflicht müßte der Antwortende gegenüber dem Frager (also in einer realen Kommunikationsgemeinschaft) so wahrnehmen, daß er seine Handlungsweise vor der idealen Argumentationsgemeinschaft würde rechtfertigen können. Hätte Benjamin Constant derart moralphilosophisch angesetzt und hätte Kant ihn in diesem Sinne als Partner eines moralischen Diskurses ernst genommen, dann hätte ihm Kant in seinen Begriffen (resp. in terms of discourse) folgendermaßen antworten müssen. Erstens: Ein moralisches Recht auf die Wahrhaftigkeit des Anderen (A) habe ‚ich’ nur insoweit, als dessen wahre Antwort auch hinsichtlich ihrer von A in Kauf genommenen Schadensfolgen in dem „Reich der Zwecke“ bzw. vor dem Forum einer idealen Argumentationsgemeinschaft verallgemeinerbar bzw. zustimmungswürdig wäre. Zweitens: Für ‚mich’ als Antwortenden besteht die moralische Pflicht zur wahrhaftig gegebenen Antwort genau insoweit, als in dem „Reich der Zwecke“ bzw. vor dem Forum der idealen Argumentationsgemeinschaft die gegebene Antwort im Kontext ‚meiner’ Situation und damit im Blick auf die von ‚mir’ wissentlich in Kauf genommenen Schadensfolgen sowohl in wahrhaftiger Einstellung als auch mit zutreffenden Gründen gerechtfertigt werden kann.226 c) In der Auseinandersetzung mit Benjamin Constant verrät sich der Gesinnungsethiker Kant daran, daß er sogar die Anwendung des Kategorischen Imperativs, zumal die seines kriterialen Sinns als Verallgemeinerbarkeitsprinzip, umschifft, und sich dadurch eine verantwortungsethische Urteilsbildung erspart. Dort, wo er jedoch eine Anwendung dieses Prinzips eigens thematisiert, kann er wiederum als Gesinnungsethiker argumentieren, weil er eine kommunikativ diskursive Ermittlung der Handlungsfolgen für alle Betroffenen von vornherein abschneidet. Wodurch? Er versteht die Anwendung des Kategorischen Imperativs als Aktualisierung der formal 159 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 gesetzmäßigen Gesinnung, über die der „gemeine Mann“ nicht nur in seinem „Gewissen“ je schon verfügte, sondern die er auch je für sich – methodisch einsam – bewerkstelligen könne. Im „Zweiten Abschnitt“ der Grundlegungsschrift und auch sonst versteht der Vernunftethiker die Anwendung des Kategorischen Imperativs als ein Gedankenexperiment, d. h. als einsam vollziehbar. Er denkt methodisch solipsistisch, als sei Vernunft ein solitäres Vermögen. Sein Verfahrensmuster ist der einsam handhabbare „Probierstein“: das Gedankenexperiment, das ein Vernunftsubjekt für sich allein vornimmt. Damit überspringt er, wie später in gewisser Weise sogar Jonas, die – auch für die, von Jonas gegenüber Kant geltend gemachte, asymmetrische Zukunftsverantwortung – unentbehrliche Idee der möglichst zu erzielenden Verständigungs-Gegenseitigkeit zwischen Akteur und möglichen Betroffenen, deren Interessen und Bedürfnisse dieser ja verstehend erschließen und berücksichtigen müßte… Denn nur so ließen sich die Geltungsansprüche, die HandlungsfolgenSituation zutreffend zu interpretieren und eine gerechte Handlungsmaxime zu finden, überhaupt einlösen.227 d) Mit c) verwoben: die Gültigkeitsinstanz (G-I) sowohl für das Moralprinzip selbst als auch für dessen Anwendung kann nur eine freie, kontrafaktisch offene und kontrafaktisch rein argumentative Kommunikationsgemeinschaft ernsthafter Argumentationspartner sein. Eine solche Vernunftgemeinschaft postuliert Kant in gewisser Weise tatsächlich, nämlich metaphysisch als ein freies und vernünftiges „Reich der Zwecke“, konterkariert dieses Postulat aber durch sein solipsistisches Verfahren. Zudem kann er in seiner Zwei-Welten-Theorie keine realen Anknüpfungspunkte für diese Gemeinschaft finden: Wo zeigen sich, wo erscheinen Entsprechungen zu dieser G-I? Inwiefern setzt man sie im realen Denken bereits voraus? Freie Handlungen und kommunikative Freiheit fallen für Kant nicht unter die erkennbaren Phänomene bzw. Erscheinungen der Welt; Welt setzt er mit der kausal determinierten Natur gleich, so daß er alles, was nicht zum vernunftfähigen Subjekt, 226 Systematisch dazu: D. Böhler, „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners“ in: Th. Bausch u.a. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. EWD-12, 2004, S. 105ff. 227 Dazu die Einführung der regulativen Idee einer Verständigungsgegenseitigkeit von Böhler, in: K.-O. Apel, D. Böhler u- K. H. Rebel (Hg), Funkkolleg Studientexte Bd. 1, S. 276 vgl. 271f, 274ff, Bd. 2, S. 432 und Bd. 3, S. 858ff. 160 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 dem „intelligiblen Ich“ gehört, nur als kausal determinierte Natur denken kann. Damit aber lösen sich der Handlungsbegriff und der Freiheitsbegriff eigentlich logisch auf.228 Darauf antwortete in gewisser Weise bereits Apels Ansatz einer Dialektik von idealer Argumentationsgemeinschaft und realer Kommunikationsgemeinschaft: Innerhalb der jeweiligen realen Kommunikationsgemeinschaft setzen die Etwas-Behauptenden kontrafaktisch die Instanz einer idealen Argumentationsgemeinschaft voraus.229 e) Das in der realen Welt unhintergehbare Problem eines dilemmatischen Verantwortungsbewußtseins überspielt Kant, indem er – erstens – das Moralprinzip als Kriterium und als Grundnorm vermengt mit einem konkreten situativen Handlungsgebot (s. o.) und – zweitens – keinen Ansatz zu einer moralischstrategischen Urteilsbildung, also zu verantwortungsethischen Diskursen, macht. Vielmehr verweigert er solche Diskurse, ja stellt sie implizit als moralisch verwerflich hin (so wie später Albert Schweitzer, der alle verantwortungsethischen Überlegungen zur Differenzierung seines absoluten Prinzips der „Ehrfurcht vor allem Willen zum Leben“ als – verwerflichen – Kompromiß abwehrt). Das ist der gesinnungsethische Rigorismus. 4.1 Kants Gleichsetzung des „moralischen Werts“ mit einem, „von keiner Neigung mehr angereizten, lediglich aus Pflicht“ erfolgenden Handeln (GMS, S. 398) und Schillers Ironisierung dieses Motivrigorismus – eine reductio ad absurdum? Lit.: Kant, GMS, Akad.-Ausg., - S. 397,2-399, 3. Z. (Beispiel des Kaufmanns und Beispiel einer Wohltätigkeit „mit innerem Vergnügen“: auch der Maxime dieser Handlungsweise „fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun“; denn allererst [dann haben sie] ihren echten moralischen Wert“ (398, 2)), 228 Vgl. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, S. 56 ff. u. A. Øfsti, Abwandlungen, Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, Würzburg (Königshausen & Neumann) S. 93 ff., 112 ff. 229 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt 1976, (zit.: Transformation), S. 423 ff. 161 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 - S. 406, 1-408,1 (Verbindung des Motivrigorismus mit der kontrafaktischen Prinzipienebene, nämlich der Geltungs-„Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft“, S. 408), - S. 414, 2f: „Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv notwendig vorstellte.“ „Wird die Handlung als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen als Prinzip derselben, so ist er [der in irgendeiner Art gute Wille der] kategorisch“. (Klare, wenngleich nicht intersubjektiv – also vom Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit her – sondern in der Subjekt-ObjektPerspektive des Vernunftsubjekts gedachte, Definition einer moralischen Maxime: als moralisch könne eine Maxime gelten, wenn sie sich am Moralprinzip, verstanden als Geltungskriterium und Prüfungsinstanz, orientiere). Vgl. KpV, Akad.-Ausg., S. 150,2-153f; S. 211,2-214 und S. 269,2-273. F. Schiller, Xenien (von Schiller und Goethe), „Philosophen“, in: Sämtliche Werke, Bd. I, hg. v. A. Meier, München (dtv) 2004, S. 298-300: Philosophen Gut, daß ich euch, ihr Herren, in pleno zusammen hier finde, Denn das Eine, was not, treibt mich herunter zu euch. Aristoteles Gleich zur Sache, mein Freund. Wir halten die Jenaer Zeitung Hier in der Hölle und sind längst schon von allem belehrt. Dringend Desto besser! So gebt mir, ich geh' euch nicht eher vom Leibe, Einen allgültigen Satz, und der auch allgemein gilt. […] Ein achter Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden, Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst! Ich Dacht' ich's doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu erwidern, Schieben sie's einem geschwind in das Gewissen hinein. David Hume Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret, Mich frag, ich bin mir selbst auch in der Hölle noch gleich. […] 162 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Gewissensskrupel Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum Da ist kein andrer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut. Schlagend, soweit. Unterschlagen wird freilich die Geltungs- und Prinzipienfrage der Pflichtethik: Gibt es etwas, das uns – unabhängig von Interessen/Neigungen – unbedingt verpflichtet? Was könnte das sein? Und: Wie könnte es das erreichen? Das müßte etwas sein, was – erstens – uns als Denkenden resp. Dialogteilnehmern, die nach dem suchen, was allein kraft sinnvoller Argumente gültig sein kann, einsichtig ist, so daß wir es – zweitens – autonom anerkennen und uns davon frei motivieren lassen können; und was – drittens – so beschaffen ist, daß wir mit seiner Hilfe in der praktischen Überlegung erkennen können, wozu wir praktisch verpflichtet sind. Das heißt, es müßte ein praktisches Kriterium (Kant: Probierstein, Singer: eine Regel) sein. Mit dem Verallgemeinerungsprinzip und dessen Formulierung als „Kategorischer Imperativ“ beantwortet Kant diese Fragen und gibt beides: Autonomie oder Vernunftmotivation aus Achtung vor dem einsichtigen „moralischen Gesetz“ bzw. Moralprinzip und Kriterium als orientierungsfähige Handhabe. Darin zeigt sich Kants neuartiger Ansatz einer Vernunftethik, den Schillers Xenien nicht als solchen würdigt: interne Verbindung von (1) Geltungsfrage, (2) autonomer Motivation und (3) praktischem Beurteilungskriterium, und zwar in Form eines Sollens. Zwischen diesen drei Elementen muß eine zwanglose interne Verbindung bestehen. Das erkannt und z.T. geleistet zu haben, ist das Verdienst von Kant, womit er eine Revolutionierung des ethischen Denkens herbeigeführt hat. Erstmals und epochemachend, ja prinzipiell vorbildlich für alle künftige normative Ethik, hat Kant die drei Grunderfordernisse einer Moralbegründung bezeichnet – und annäherungsweise auch schon erfüllt, teilweise aber auch verfehlt. Wie hier die Bilanz genau zu ziehen ist, zeigt unsere „kritische Summe“, die wir in Kapitel II 1 abschließen werden. (1) Geltungsfrage der praktischen Vernunft Was kann als moralisch verbindlich gelten? Gibt es etwas, das uns unbedingt verpflichtet, so daß wir, als Vernunftwesen, es einsehen müssen? 163 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 (2) Moralische oder autonome Motivationsfrage: Führt ‚mich’ das moralische Autonomie-Motiv zu der Handlungsweise H? Entspricht es ‚meinem’ moralischen Autonomieanspruch (als Vernunftwesen in dem intelligiblen Reich der Zwecke mit Kausalität der Freiheit), daß ‚ich’ H tun will? Von (1) zu (2): Es besteht ein interner Übergang von dieser zur Selbstmotivation der Vernunft: >Du kannst, denn du sollst.< (KpV 283, KpV 54 und GMS 455) zugleich: Autonomie vorausgesetzt und moralisches Sollen anerkannt (3) Welche Form muß das gesuchte X haben, damit es praktisches Kriterium funktionieren, d.h. Handlungen normieren kann? Kants Antwort: Die Form eines Sollenssatzes, eines Imperativs. Warum? Ein Handlungskriterium muß aus zwei Gründen, einem handlungslogischen und einem anthropologischen eine Norm sein. Und zwar einmal weil der Akteur anhand dessen Alternativen 230 (handlungslogischer Grund) muß gewichten und entscheiden können , zweitens, weil die Akteure realiter so beschaffen sind, daß sie mehr dem „Prinzip des Glücks“, mithin „der Selbstliebe“, als einem Moralprinzip nachzukommen geneigt sind (anthropologischer Grund): GMS, 407, 2. Abs. und S. 412,3-413,1. „Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäß, ist Nötigung, d. i. das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist. 230 Kuhlmann, Warum Normenethik? In: Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 495-522. 164 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“231 Kant läßt keinen Zweifel daran, daß der anthropologische Motivstreit zwischen „Selbstliebe“ und „Achtung für das moralische Gesetz“ jeweils durch eine Auseinandersetzung mit sich selbst entschieden werden müsse, ja durch einen inneren Kampf: „Die sittlich Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens.“232 Aber ist die Befehlsform mit der beanspruchten Autonomie vereinbar? Dadurch, daß ‚ich’, das Vernunftsubjekt, den Gehalt und die Form des moralischen „Du sollst“, nämlich die gebotene Allgemeinheit, als das vernünftig Gewollte erkenne – und insofern als mein „Ich will das Moralische eigentlich“. Das moralische Sollen ist des Menschen „eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet“ GMS 455, vgl. 453, 1. Die interne Verbindung von Wollen und Sollen hat Kant in der (je nach Zählweise) dritten (oder vierten) Formel des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebracht: Die moralische Gesetzgebung müsse „in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können, dessen Prinzip also ist: keine Handlung nach einer anderen Maxime zu tun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“233 231 Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 412f. Kant, KpV, Ak.-Ausg . S. 150f. 233 Kant, GMS, Ak.-Ausg. S. 434. 232 165 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Das von Kant vermachte Motivationsproblem Kann einzig ein Handeln „aus Pflicht“ und nur aus Pflicht als moralisch gelten? Kritische Analyse – nach Schiller, jedoch im Ausgang von ‚uns’, die wir hierüber im Diskurs sind, als leibhaften Diskurspartnern: Da Kant die moralische Geltungs- bzw. Kriterienfrage der moralischen Motivationsfrage nicht eindeutig überordnet und da er den moralischen Akteur als einsames Vernunftsubjekt in einem intelligiblen Vernunftreich der freien Zweckfindung ansetzt, statt als leibhaft realen Teilnehmer von Diskursen mit Interessen, Neigungen, Leidenschaften etc. und in wechselseitiger kommunikativer Freiheit, gelangt er nicht zu einer diskursglaubwürdigen und lebensdienlichen Vermittlung der sozialen und Ego-Interessen mit der Idee einer ausschließlichen Pflichtmotivation bzw. einem reinen Handeln „aus Pflicht“. Problemlösungsfrage bzw. Kohärenzhypothese Lassen sich Kants Spannungen zwischen der kriterialen Geltung, der kontrafaktischen Moral- und Vernunftmotivation und den faktischen Motiven bzw. Eigeninteressen in eine moralische Kohärenz bringen, die von realen Diskurspartnern glaubwürdig im Diskurs vertreten werden können? Ist folgende Kohärenz von Motiven angemessen: „Heteronome“ (Kant) Vorteilsinteressen wären so lange moralisch neutral, als das autonome Moralmotiv bzw. Gewissen leitend bleibt, so daß der Akteur das Geltungskriterium des Moralprinzips – kritisch gegenüber Kant gesprochen: die „verallgemeinerbare Gegenseitigkeit“ (Apel) resp. die „universale Zustimmungswürdigkeit“ (Berliner Diskursethik) – ohne Widerstand aktualisieren kann? Eine solche Aktualisierung wäre immer dann nötig, wenn die von Kant befürchtete „Dialektik“ der „praktischen gemeinen Vernunft“ eintritt und die Handlungsorientierung de facto dem Moralkriterium zuwiderläuft. Das wäre eine prinzipiengemäße, mithin nach Gehalt und Kriterium moralisch zu nennende, Kohärenz von faktischen (Kohlberg: vorkonventionellen samt konventionellen) und innermoralischen Motiven. 166 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 5 Probleme der normativen Ethik: Begründung und Bedeutung von »Moral«, »Verantwortung« und »Zukunftsverantwortung« 5.1 Nach Kant: Das Problem eines logisch universalen Prinzips der Moral und seiner Orientierungsfähigkeit 5. 1.1 Wie begründen? Rekonstruktion und Reflexion. - Kants und Habermas’ Rekonstruktion des faktischen ethischen Bewußtseins (guter Wille) bzw. des bereits gewollten praktischen Diskurses versus diskurspragmatische Rekonstruktion von Diskursen überhaupt, die auch den Moralskeptiker einbeziehen. - Das Erfordernis einer Validierung der Rekonstruktionsresultate: sinnkritische Reflexion als Konfrontation der Sinnbedingungen des Bezweifelns als Diskursbeitrag mit dem Gehalt der Zweifelsthese. Oder: Dasjenige, dessen Gültigkeit bzw. Verbindlichkeit du nicht mit einem sinnvollen Diskursbeitrag in Zweifel ziehen kannst, gilt absolut bzw. verpflichtet dich grundsätzlich. (Hier nur als Problemanzeige und als Vorgriff auf II 2.2 und 2.3) Vergleichen wir Kant mit der diskursbezogenen Kanttransformation (einerseits von Apel bzw. seinen Schülern Kuhlmann und Böhler und andererseits von Jürgen Habermas), dann bemerken wir zwei verschiedenartige Rekonstruktionsansätze. Beide verfolgen eine moralische Absicht, und beide sind begrifflicher Art – interne Rekonstruktionen moralisch gehaltvoller Ansprüche und Voraussetzungen. Gleichwohl differieren sie erheblich, nämlich nach Gegenstand und Geltungsbereich. Während Kant und Habermas Voraussetzungen des ethischen Urteilens bzw. des lebensweltlichen ethischen Bewußtseins oder des praktischen Diskurses rekonstruieren, fragen die Transzendentalpragmatiker bzw. Diskurspragmatiker ganz allgemein, ob es moralisch gehaltvolle Sinnbedingungen jedweden Diskurses gibt. Die Fragen dieser Rekonstruktionsweisen lauten: Was nehmen wir notwendigerweise für uns in Anspruch und was erkennen wir implizit notwendigerweise als gültig sowie verpflichtend an, wenn wir – so Kant – ohne Einschränkung gut handeln und urteilen wollen bzw. wenn wir „praktische Diskurse“, in denen „moralische Normen begründet werden können“, führen 167 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 (Habermas)234 – und was, wenn wir – so die Diskurspragmatik – überhaupt etwas als etwas verständlich und geltend machen wollen resp. etwas mit Wahrheitsanspruch erkennen oder es praktisch mit Richtigkeits- bzw. Gerechtigkeitsanspruch angehen wollen? Unterschiede der beiden Rekonstruktionsfragen Kant fragt sogleich nach der „sittlichen“ Vernunfterkenntnis. In der Diskursethik tut das heute Habermas, dem es um die Sinnbedingungen („Präsuppositionen“) des praktischen Diskurses geht.235 Hingegen fragt die Diskurspragmatik, um eine Vorentscheidung für das Moralische zu vermeiden und gar nicht erst in die Nähe einer petitio principii, der Erschleichung des allererst als verbindlich zu erweisenden Moralprinzips zu gelangen, ganz allgemein: Gibt es etwas, das uns alle, insofern wir überhaupt etwas geltend machen wollen, im vorhinein verpflichtet? Anders: Ist jeder, auch wenn er sich nicht dazu entschieden hat, einen praktischen bzw. moralischen Diskurs zu führen, also nach dem zu suchen, was ohne Einschränkung für „gut“ oder „gerecht“ gelten kann, zur Moralität verpflichtet? Läßt sich eine schlechthin allgemeinverbindliche Pflicht zur Moralität erweisen? Der Adressatenkreis beider Fragestellungen ist unterschiedlich groß: Im Fall der ethischen Rekonstruktionsfragen von Kant und Habermas wird nur der Kreis jener Menschen erfaßt, die bereits moralisch sein wollen, also den guten Willen zur „sittlichen Vernunfterkenntnis“ oder zum „praktischen Diskurs“ bereits mitbringen und die moralische Motivation nicht in Frage stellen. Was jedoch sagt man denen, die auch hier nachfragen, auch hier das ›Warum?‹ und einen „Grund der Verbindlichkeit“ wissen wollen? Die Angabe eines solchen Verpflichtungsgrundes hielt ja auch Kant selbst für ausschlaggebend… Diejenigen aber, die skeptisch und radikal genug sind, so zu fragen, fallen sowohl bei Kants als auch bei Habermas’ Rekonstruktion aus dem Adressatenkreis heraus, wohingegen sie von der diskurspragmatischen Rekonstruktion einbezogen werden. Ihre ganz allgemein angesetzte Fragestellung berücksichtigt alle nur möglichen Subjekte von Geltungsansprüchen, und zwar in jeder Argumentations- bzw. Denkform, gleichviel auf welches Thema sie gerichtet ist. Was freilich die Methode der verschiedenen Rekonstruktionen anbelangt, so läßt sich für alle – sieht man einmal über Kants solipsistisch vermögenspsychologischen Ansatz bei einem, im Singular gedachten Willen als dem Vermögen praktischer Vernunft hinweg – durchaus eine gemeinsame Verfahrenslogik auffinden: eine gleichsam grammatische Analyse der 234 J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Ffm. (Suhrkamp) 1992, S. 133, vgl. 134ff, 153ff. J. Habermas, ebenda; vgl. ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 2. Aufl. Ffm. (Suhrkamp) 1984, S. 93ff. 235 168 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 konstitutiven Regeln und der internen Voraussetzungen (Sinnbedingungen, konstitutive Regeln) des moralischen Urteilens oder des Argumentierens überhaupt. Resultate und deren Status: Die ganz elementar ansetzende diskurspragmatische Rekonstruktion erschließt die internen normativen Gehalte, die jeder, der überhaupt etwas als etwas denkt und (implizit) geltend macht, durch seine Diskursrolle als gültig und verbindlich bereits vorausgesetzt hat. Eine Rekonstruktion des ethischen Urteilens erschließt, wie mir scheint, dieselben normativen Gehalte, kann deren Verpflichtungssinn jedoch nur für diejenigen möglichen Argumentationsteilnehmer behaupten, die sich schon entschieden haben, moralisch urteilen und handeln zu wollen. Was den Geltungsstatus anbetrifft, so ist zweierlei zu bedenken. Erstens können beide Rekonstruktionen zu fehlerhaften oder ergänzungsbedürftigen Ergebnissen führen, weil sie von Vorverständnissen ausgehen und eine systematisierende Interpretation darstellen, die als solche kritisierbar ist. Infolgedessen kann hier Revisionsbedarf bestehen. Das aber ist mißlich, weil Skeptiker dann einwenden können, daß die Rekonstruktionsmethode als solche nicht dazu taugt, die gesuchten Normen für alle Argumentationsteilnehmer oder für alle Teilnehmer an moralischen Überlegungen ausfindig zu machen und das Resultat mit dem Gewißheitsanspruch der Verbindlichkeit geltend zu machen. Denn etwas, das fehlerhaft sein kann, kann nicht als allgemeinverbindlich gelten. Also erlegt uns der Skeptiker eine neue Beweislast auf. Wir stehen vor der Frage, ob ein Beweisverfahren möglich ist, das die Zweifel des Skeptikers ausräumen kann. Das bleibt also zu besorgen. Zweitens: Es ist aber selbst dann ein Zweifel an der Sollgeltung der Rekonstruktionsresultate möglich, wenn deren faktische Richtigkeit außer Frage steht. Wie das? Nun, unser Skeptiker dürfte mit dem Argument des naturalistischen Fehlschlusses kommen. Er wird darauf beharren, daß es einem faktizistischen oder naturalistischen Fehlschluß gleichkomme, wenn man – bloß auf die Rekonstruktion einer faktischen Urteilspraxis gestützt – von deren faktischen normativen Bedingungen schließt auf deren allgemeine Sollgeltung. Das aber sei das Ziel; sollten doch die aufgewiesenen normativen Gehalte in einem Prinzip der Moral zusammengefaßt und als verbindlich präsentiert werden. In der Tat, darum geht es. Dann aber, so würde der Skeptiker entgegnen, sei das Ziel verfehlt. Denn bloß aus Tatsachen kann nicht auf die Legitimität von Normen geschlossen werden. Das, was alle tun, muß allein deshalb, weil alle es faktisch tun, noch nicht richtig sein. Daher 169 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 bedarf es einer Richtigkeitsprüfung der faktischen Regeln und vor allem des Aufweises eines Grundes der Verbindlichkeit für die Entscheidung zur Moralität. Zu beantworten bleibt die Frage: ›Warum sollen wir moralisch sein wollen?‹236 Kantisch (und somit allerdings verkürzend) gefragt: ›Warum ist die Anerkennung des Verallgemeinerungsprinzips i. S. des Kategorischen Imperativs eine allgemein einsichtige Pflicht?‹ Zu fragen bleibt also – und das ist die radikale moralphilosophische Prinzipienbegründungsfrage bzw. die Frage nach dem Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips, ob es etwas gibt, das uns, insofern wir überhaupt ernsthaft nach etwas fragen und etwas wirklich erkennen wollen, also Ansprüche auf Geltung erheben, einsichtig und unbedingt auf eine bestimmte Orientierung verpflichtet. Das Erfragte müßte demnach so umfassend gültig und verbindlich sein, daß es auch den Skeptiker überzeugt und bindet, der den Einwand des naturalistischen Fehlschlusses vorbringt. Wo kann ein solcher – nicht mehr durch ein sinnvolles Argument hintergehbarer – Grund der Verpflichtung liegen? Offenbar müßte er im Rücken der sinnvollen Zweifel und alles sinnvoll Bezweifelbaren gesucht werden. D.h., wir müßten eine solche Verpflichtung angeben, die auch der Skeptiker anerkennen muß, sofern er als Diskurspartner glaubwürdig bleiben und mithin die Kommunikationsgemeinschaft der Wahrheitssuchenden nicht verlassen und düpieren will. Erst eine solche, gleichsam anerkennungsnotwendige, Ur-Pflicht, die daher zugleich UrEinsicht wäre, kann dem Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses entgehen – wie immer sie verbunden sein mag mit einer faktischen Praxis des Urteilens bzw. des Diskurses, nicht aber in ihr aufgehen kann, sondern sie stets normativ transzendiert, weil sie den Maßstab zu ihrer Kritik enthält. Das ist die Begründungsidee der Diskurspragmatik als Pragmatik im Rücken der faktischen Kommunikation, als Pragmatik der Geltungsansprüche und Geltungsrechtfertigung, von der anfangs, im Unterabschnitt I.1.5, schon die Rede war.237 Lassen Sie uns, ehe wir nun weiterdenken, sowohl die unterschiedenen Rekonstruktionsansätze zusammenfassend einander gegenüberstellen als auch den Schritt von der fehlerhaft, teilweise sogar faktizistisch bleibenden, mithin eine allgemeine Sollgeltung verstellenden, Rekonstruktion hin zu einer sokratischen Reflexion veranschaulichen, die einen reflexiven Dialog mit dem Moralskeptiker bzw. Geltungsskeptiker führt und dadurch eine Verbindlichkeitsprüfung der Rekonstruktionsresultate ermöglicht. Dazu die folgende Tabelle: 236 Dazu meine Antwort: D. Böhler, „Warum moralisch sein?“ In: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, 2001, S. 15-68. 237 Vgl. unser Schema „Die semiotischen Dimensionen von Handlungsperspektiven versus Sinn- und Geltungspragmatik im Rücken“, zu § I.1.5. 170 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien: I Normative Rekonstruktion nach Kant Frage: Was kann ohne Worauf soll die Einschränkung Rekonstruktion für gut antworten? gehalten werden? Gegenstand: Was wird rekonstruiert? ethisches Urteil und seine Voraussetzung en nach Habermas nach der Diskurspragmati k Was nehmen wir in Anspruch, wenn wir praktische Diskurse führen? Gibt es etwas, das uns alle, insofern wir überhaupt etwas geltend machen wollen, im vorhinein verpflichtet? moralischDiskurs (Denken, etwas geltend praktischer Diskurs und machen) und seine seine Sinnvoraussetzung Voraussetzung en überhaupt en Adressatenkrei alle Menschen, die moralisch sein wollen und die s: An wen richten eine faktische Urteilspraxis sich die gemein haben Resultate der Rekonstruktion? Status der Resultate: - können fehlerhaft sein, - keine allgemeine Sollgeltung, weil naturalistischer Fehlschluß alle möglichen Diskurspartner (Dpt) - können fehlerhaft sein, - transzendiere n die bloße Faktizität einer Urteilspraxis als regulative Ideen 171 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 „Methode“ der Vergewisserun g absoluter Verbindlichkeit der Resultate: – aktuelle Dialogreflexion, demonstriert, warum wir moralisch sein wollen und sollen Gibt es jenes X? Und wenn, wie verhält es sich zu den Resultaten der ethischen Rekonstruktion? In gewisser Weise sucht Kant, wie wir gesehen haben, selbst nach jenem X. Macht er doch, gegen alle Ethiktradition, die Begriffe der einsehbaren „Verbindlichkeit“ und der „objektiven Notwendigkeit“ zum Angelpunkt seiner „Metaphysik der Sitten“ als einer Moralphilosophie aus bloßer Vernunft.238 Gleichwohl beläßt es Kant in den beiden ersten Abschnitten der Grundlegungsschrift bei einer Rekonstruktion239 und im dritten Abschnitt bei einer vernunftmetaphysischen Affirmation des rekonstruierten „Faktums der reinen praktischen Vernunft“240, wie er sein Rekonstrukt kurze Zeit darauf, in der „Kritik der praktischen Vernunft“ charakterisieren wird. Damit bestätigt er, daß er über die „Aufsuchung“, „Zergliederung“ und „Festsetzung“, also die Rekonstruktion einer Vernunftfaktizität nicht hinausgelangt. Was aber die Art und Weise anbelangt und den begrifflichen Rahmen, in dem er seine Rekonstruktion durchführt, so bezieht er sich damit gar nicht auf ein „Wir“ oder auf ein „Ich“, insofern es zugleich denkt und kommuniziert oder etwas will und diesen Willen zugleich anderen gegenüber geltend macht, sondern völlig inkommunikativ auf das einsame „Verhältnis eines Willens zu sich selbst, sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt“.241 Sein Ausgangs- und Angelpunkt ist ein im Singular gedachtes Vernunftsubjekt, der „Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich […] als allgemein gesetzgebend betrachten muß“.242 Und in scholastisch begriffsanalytischer, nämlich wesensontologischer oder essentialistischer Manier behauptet Kant dann, daß diesem methodisch solipsistischen Begriff der Begriff einer „systematischen Verknüpfung“ aller Zwecke, d. i. eines „Reichs der Zwecke“ anhafte. Weiter behauptet er, daß „ein 238 GMS, Akad.Ausg., S. 389, 412, 416, 426 u.ö. Kant spricht von der „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (GMS, S. 392), welche durch „bloße Zergliederung“ der in dem „Willen jedes vernünftigen Wesens“ vorkommenden „Begriffe der Sittlichkeit“ erfolge (GMS, S. 440). 240 KpV, Akad.Ausg., S. 56f. 241 GMS, Akad.Ausg., S. 427. 242 GMS, Akad.Ausg., S. 433. 172 239 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 vernünftiges Wesen“, einfach aufgrund seiner Wesenheit, zu diesem Reich der Zwecke gehöre, entweder als Glied oder als Oberhaupt.243 Mit keinem Wort erläutert Kant, daß und wie diese Wesen untereinander eine Gemeinschaft bilden, daß sie miteinander kommunizieren und einander als Glieder jenes Reichs anerkennen. Er unterstellt, sie seien von sich aus beziehungslose Vernunftwesen, gleichsam fensterlose Monaden, deren Verbindung einfach aus ihrer Wesenheit „entspringt“: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.“244 Dieses „denn“ ist erschlichen: Kant springt hier einfach von der theoretischen Perspektive einer inkommunikativen Wesensspekulation zu der kommunikativen Teilnehmerperspektive eines Verstehens von Gemeinschaftsverhalten, ohne diese irgend einführen und in seinem Denkrahmen durchhalten zu können. Denn für eine Gemeinschaft kann charakteristisch sein, was für eine Gemeinschaft von Argumentationspartnern geradezu konstitutiv ist, daß sich die Teilnehmer als gleichberechtigte, niemals bloß zu instrumentalisierende Partner anerkennen und also in ihrer unverfügbaren Würde als autonome Subjekte von Geltungsansprüchen achten. Von diesem intersubjektiven, und zwar moralisch aufgeladenen, Verhältnis zwischen Kommunikationspartnern, die a priori als Plural zu denken sind, ist freilich bei dem Ontologen des Vernunftsubjekts nicht die Rede. Warum ist die wechselseitige Anerkennung als eines gleichberechtigten Partners und die wechselseitige Achtung als eines autonomen Gegenübers sowohl schlechthin konstitutiv für die Argumentationsgemeinschaft wie für die einzelne Argumentationshandlung? Sie ist es deshalb, weil jede Argumentationshandlung, jeder Diskussionsbeitrag, dann zusammenbräche, wenn er sich nicht vereinbaren ließe mit der Überzeugung der Teilnehmer, daß sie alle, die mit diesem Beitrag angesprochen werden, durch ihn auch als gleichberechtigte Diskussionspartner anerkannt werden, so daß sie Fragen stellen, Gründe fordern, Einwände vorbringen können etc. Und diese Überzeugung, durch einen Beitrag als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden, kommt nicht etwa von außen zu den Diskussionsvoten hinzu; nein, sie muß mit diesen verwoben sein. Woran muß sich dieses Verwobensein zeigen können? Es muß sich für alle Diskussionsteilnehmer daran ablesen lassen, daß ein Diskussionsbeitrag prinzipiell jetzt und hier sinnvoll diskutierbar ist (und z.B. nicht in eine mögliche andere Welt Zuflucht nimmt, über die wir nicht begründet und kontrolliert argumentieren können). Außerdem muß sich jene Anerkennung daran zeigen, daß das jeweilige Diskussionsvotum keine Ausschließungsfolgen für Dritte enthält, die sich selbst mit sinnvollen Argumenten an der 243 Ebenda. 173 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Diskussion beteiligen könnten oder die von den Anwesenden, mit sinnvollen Argumenten vertreten werden können. Die konkrete Diskutierbarkeit eines Votums und die Glaubwürdigkeit eines Diskussionspartners hängen an dem moralischen Gemeinschaftsverhalten der wechselseitigen Anerkennung der Teilnehmer bzw. möglichen Teilnehmer als gleichberechtigter Partner. Eine solche, hier nur angedeutete, Begründungsreflexion ist freilich nur möglich, wenn man die theoretische Außenperspektive bzw. Beobachterperspektive einklammert und selbst die Teilnehmerperspektive eines Kommunikations- und Argumentationspartners einnimmt, der sich fragt oder von anderen gefragt wird, wozu er als Argumentationspartner unbedingt verpflichtet sei. Kant stellt die Verpflichtungs- bzw. Verbindlichkeitsfrage nur in theoretischer Perspektive und im Außenblick auf das Wesen eines jeden Vernunftsubjekts. Eben deshalb kann er weder eine konsistente Form des Imperativs der Menschenwürde bzw. der Achtung anderer als „Zweck an sich selbst“ noch gar eine unwiderlegliche Begründung für die Gültigkeit dieses Imperativs geben. Kant führt den Menschenwürde-Imperativ zwar als Selbstzweckformel ein und bringt damit seine kommunikative Gesinnung, seine moralisch-dialogische Absicht, glaubhaft zum Ausdruck. Aber seine Einführungsformel des kategorischen Imperativs als des „praktischen Imperativs“, welche er dann (an der eben zitierten Stelle) stillschweigend in kommunikativem Sinne erweitert hat, fällt weder kommunikationsbezogen aus, noch enthält ihr Kontext eine Begründung für die darin geltend gemachte, eigentlich dialogisch-moralische Pflicht, alle Personen als Selbstzweck anzuerkennen und zu achten. Die Formel lautet ja: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“245 Hier fehlt gänzlich die Dimension der Gemeinschaftlichkeit und der Intersubjektivität. Denn in diesem „praktischen Imperativ“ ist, wie Horst Gronke argumentiert, „gar nicht davon die Rede, daß die anderen Subjekte (Personen) als Zwecke an sich zu achten sind“, vielmehr sei der Zweck an sich selbst hier eben „die Menschheit“. Der Ausdruck ‚Menschheit’ stehe aber nicht für „‚die Gattung Mensch’, sondern [für] die vernünftige Natur des Menschen (also den Menschen als Vernunftwesen).“246 Für eine solche wesensontologische, nicht etwa kommunikationsbezogene Interpretation spricht auch Kants Begründung dieser – meist kommunikationsbezogen verstandenen und in der Tat von dieser Konnotation zehrenden – Selbstzweckformel, die Kant als Begründung seines „obersten praktischen Prinzips“ anbietet: „Der Grund dieses Prinzips ist: Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst.“247 244 Ebenda. GMS, Akad. Ausg., S. 429. 246 H. Gronke, „Erläuterungen zu Kants Beispieldiskussion in der ‚GMS’“, Typoskript zum PS Böhler/Gronke: Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (WS 91/92), FU Berlin. 247 Kant, GMS, Akad. Ausg., S. 429. 174 245 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Kant argumentiert also substanzmetaphysisch, er leitet aus der Existenzform des Vernunftwesens bzw. der vernünftigen Natur des Menschen eine normative Bestimmung ab, die er dann als moralisches Sollen, als praktischen Imperativ, geltend macht. Das ist ein naturalistischer Fehlschluß, wie wir ihn ähnlich aus der objektivistisch zweckorientierten Substanzmetaphysik des Aristoteles aus seiner Teleologie der Vernunftnatur des Menschen kennen. Nur daß Aristoteles nicht ausdrücklich Sollensbestimmungen, Imperative formuliert hat, wohl aber sein wirkmächtiger christlicher Kommentator und Spätschüler, Thomas von Aquin. 5.2 Abschluß der „Kritischen Summe“ aus Kant. Wolfgang Kuhlmann, Karl-Otto Apel und Hegels Formalismuskritik. Oder: Die Selbstaufhebung des Kategorischen Imperativs in ein „Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit" und der solipsistischen Vernunftethik in eine kommunikative Diskurs- und folgenbezogene Verantwortungsethik Der Gehalt der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs und auch der unausdrücklich kommunikative Sinn eines „Reichs der Zwecke“, das Kant als Bezugsrahmen und Geltungsinstanz der moralischen Urteilsbildung einführt, sind ohne Inanspruchnahme genuin kommunikativer Begriffe (wie Anerkennung und Gemeinschaft) gar nicht zu verstehen. Sowohl die Selbstzweckoder Menschenwürdeformel als auch jene Instanz der Vernunftwesen gewinnt erst dadurch Sinn und Bedeutung und einen normativen Gehalt. Dieses solipsismuskritische Argument ist, soweit ich weiß, erstmals 1980/1981 in dem kontroversenreichen „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ von Karl-Otto Apel und mir vorgebracht248, dann von Wolfgang Kuhlmann und mir weiter verfolgt worden.249 Hier will ich zunächst Kuhlmann mit seiner vorzüglichen Studie über die ersten beiden Abschnitte der Grundlegungsschrift „Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik“ von 1990 zu Wort kommen lassen.250 Ich setze mit der Beobachtung ein, daß Kant erst in der Hälfte des „Zweiten Abschnitts“ überhaupt auf die inhaltliche Seite, auf die Zweckorientierung des Wollens und Handelns zu sprechen kommt, was an sich schon verwunderlich ist. 248 Vgl. Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, bes. S. 429ff. und 618ff. D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Ffm 1985, S. 56-65 und S. 342-353. 250 Hier zitiert nach der Wiederveröffentlichung in: W. Kuhlmann, Kant und die Transzendentalpragmatik. Würzburg (Königshausen & Neumann) 1992, S. 100-130. 175 249 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 „Nun ist das, was dem Wollen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten.’251 Kuhlmann referiert und kommentiert diesen entscheidenden Gedankengang folgendermaßen: „Er unterscheidet zwischen relativen Zwecken und Zwecken an sich selbst (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 427f.). Er behauptet: ‚Die vernünftige Natur (und also auch der Mensch) existiert als Zweck an sich selbst’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 429). Ohne sie könnte ‚überall gar nichts von absolutem Werte […] angetroffen werden, wenn aber aller Wert bedingt […] wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 428f.). Und er formuliert als dritte Fassung des kategorischen Imperativs: ‚Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst’ (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 429). Aus dieser ‚Selbstzweckformel’ ergibt sich auf unproblematische Weise – über den Gedanken, daß, was als Selbstzweck gelte, in den Zweck der jeweiligen Handlung einstimmen müsse – die sogenannte Autonomieformel.252 Diese lautet: „Handle so, daß dein Wille durch seine Maximen sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“.253 Allererst durch den Blick auf diesen inhaltlichen und geradezu konstitutiven Handlungs- und Willensaspekt, die Zweckorientierung, tritt auch die Beziehung des, zuvor als rein formal angesehenen, Moralprinzips auf andere Menschen als vernünftige „Personen“ in den Gesichtskreis. Erst jetzt wird – wir nehmen Kuhlmanns Kommentar wieder auf – „explizit davon geredet, daß schon das rein formale Sittengesetz den Bezug auf andere Vernunftwesen als Personen enthält, daß es in dem Moralprinzip wesentlich um so etwas wie die Achtung fremder Ansprüche als den meinen prinzipiell gleichberechtigter geht. Damit wird eine sehr wesentliche Implikation des bis dahin in dieser Hinsicht nicht sehr klaren Begriffs Gesetzmäßigkeit (des Moralprinzips) entfaltet. Die ethische Substanz des Moralprinzips tritt deutlicher hervor. An den Zweckbegriff schließt sich zwanglos und unproblematisch die Einführung des Autonomiebegriffs an und an beide die Idee des Reiches der Zwecke, in der die gerade eingeführte interne Beziehung zwischen dem Begriff der Gesetzmäßigkeit und dem einer Kommunität, einer Vielheit von koexistierenden Vernunftwesen weiter ausgearbeitet wird. Damit hat das vorher sehr blasse, extrem formale und leere Moralprinzip nunmehr eindeutig Inhalt bekommen. Der letzte Schritt besteht in der Ausarbeitung der Beziehung zwischen apriorischer praktischer Vernunft und Freiheit. Da er unser Problem [ob nämlich Kant in seiner Ethik solipsistisch 251 Kant, GMS, Akad. Ausg., S. 427. W. Kuhlmann, a. a. O. , S. 104f. 253 Kant, GMS, Akad. Ausg. IV, S. 434. 252 176 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 argumentiert, so daß der zugrundegelegte Vernunftbegriff kommunikationsbezogen reformuliert werden müsse – D. B.] allenfalls ganz am Rande betrifft, können wir ihn hier auf sich beruhen lassen. Der für uns entscheidende Schritt ist der Übergang von der These, daß Sittlichkeit wegen der zu fordernden Intersubjektivität ihren Ursprung in reiner, formaler, apriorischer Vernunft haben müsse, zur Behauptung, daß darum das Moralprinzip den in den verschiedenen Fassungen des kategorischen Imperativs zum Ausdruck gebrachten Inhalt habe müsse.254 Worin kann jener Inhalt bestehen, wenn nicht darin, daß Vernunft unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reine Vernunft, von vornherein etwas soziales wolle: Gerechtigkeit als Transzendierung der Egoität zugunsten von Unparteilichkeit, und überdies Achtung als Anerkennung der Geltungsansprüche anderer? Offenbar besteht er eben darin, es ist eindeutig ein kommunikationsethischer bzw. ein dialogmoralischer Gehalt. Aber wie kommt Kant in seinem akommunikativen Begriffsrahmen und seinem Ansatz bei einem Vernunftsubjekt im Singular, welchem ein Gedankenexperiment, ein monologischer Text, angenommen wird, zu diesem gemeinschaftsbezogenen Inhalt? Kuhlmann argumentiert: „Derartiges wie Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Achtung der Ansprüche anderer [ist] nur möglich und sinnvoll […], wenn das relevante Universum bevölkert ist mit mehreren, am besten vielen, Wesen, unter denen Gerechtigkeit, Fairneß etc. herrschen soll. Die zur Gerechtigkeit konstitutiv hinzugehörige Idee der Überwindung des blanken Egoismus ist offenbar nur sinnvoll, wenn es neben dem potentiellen Egoisten noch andere Wesen gibt, zu deren Gunsten der Egoismus transzendiert wird. Wo sind diese anderen, wo kommen sie her, wie werden sie bei Kant eingeführt? – Wir behaupten nun, daß die erforderliche Pluralität von Wesen bei Kant nicht legitim eingeführt wird, auch nicht ohne weiteres eingeführt werden kann, und daß deshalb eine wesentliche Bedingung für den Sinn des Kantischen Moralprinzips und insbesondere seine Konzeption von praktischer Vernunft fehlt. Der Solipsismus in der praktischen Philosophie Kants besteht darin – so unsere These -, daß Kant in Wirklichkeit nur mit so etwas wie einer reinen Vernunft im Singular rechnet und rechnen kann und daß daher der Gehalt des Moralprinzips, der es allererst zum Moralprinzip und die Idee praktischer Vernunft allererst zur Idee praktischer Vernunft macht, in Wahrheit nicht plausibel gemacht werden kann.“255 „Die beiden Argumente – oder besser Argumentationsskizzen – die Kant tatsächlich bemüht (neben dem für unser gegenwärtiges Problem irrelevanten Nachweis, daß der Kategorische Imperativ mit unseren vortheoretischen Moralintuitionen übereinstimmt [GMS, Akad. Ausg. VI, S. 428f.]), um 254 Kuhlmann, a. a. O. , S. 107. 177 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 plausibel zu machen, daß Vernunft selbst Gerechtigkeit will, sind erstens: das Argument zugunsten der Zweck-an-sich-Formel (Wenn es nichts von absolutem Wert gäbe, keinen Zweck an sich, dann könnte es kein oberstes praktisches Prinzip für die Vernunft geben. Nun ist aber der Mensch Zweck an sich selbst.) und zweitens: – und das ist wohl das Hauptargument – daß die reine Vernunft sich in Widersprüche verwickeln würde, wenn sie nicht den Kategorischen Imperativ, daß heißt Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, wollen würde (GMS, Akad. Ausg. IV, S. 424). Beide Argumente können nicht überzeugen. Das erste Argument setzt voraus, daß Vernunft bzw. ein Vernunftwesen sich kognitiv angemessen zu anderen Vernunftwesen als solchen verhalten kann, was bei Kant nirgendwo vorgesehen ist. Das zweite Argument führt unmittelbar in ein für die Kantische Konzeption sehr bezeichnendes Dilemma: Die leitende Idee dieses Arguments ist offenbar: Vernunft muß ihre eigene Effektivität wollen, daher kann sie sich nicht selbst widersprechen und so ihre Kraft neutralisieren, zerstören wollen. Vernunft muß sich selbst achten und ihre Freiheit – wo immer sie sie antrifft – wollen. Dieser Gedanke, der Kant vorgeschwebt haben muß, ist attraktiv, aber gefährlich. Denn er überzeugt nur, wenn einseitig auf die Identität der Vernunft (in ihren vielen Instantiierungen, Realisierungen) gesetzt wird und die Verschiedenheit der Vernunftwesen heruntergespielt wird. Nur wenn die wollende Vernunftinstanz nicht das einzelne Vernunftwesen in Opposition zu den anderen, sondern die Vernunft überhaupt ist, ist das Argument als teleologisches Argument verständlich. Dann aber gibt es in Wahrheit die relevante Verschiedenheit der Vernunftwesen nicht, und das zu lösende Problem entfällt.“256 „Es ist wichtig, sich […] klar zu machen, was genau durch diese Kritik betroffen ist. Zunächst, nicht berührt wird durch das Vorgetragene die Kantische Formulierung des Moralprinzips selbst, der Kategorische Imperativ in seinen verschiedenen Fassungen als Ausdruck des moral point of view, der ja – wie wir sahen – in den Beispielanalysen jeweils relativ unabhängig vom theoretischen Kontext direkt an vortheoretischen Intuitionen getestet und durch sie bestätigt wird, ebenso wie die wichtige Unterscheidung Kants zwischen Moral und Klugheit. Betroffen ist allerdings dasjenige, was Kant zur Erläuterung seines Rekonstruktionsversuchs aufbietet, was er als theoretischen Hintergrund, in den er seine Fassung des moral point of view einbettet, heranzieht, und was durch die Konfrontation mit vortheoretischen Intuitionen ohne weiteres nicht zu stützen ist. Betroffen ist also erstens die These, daß reine Vernunft der Sitz der Moralität ist. Daß reine Vernunft in der Kantischen Version etwas will, das zu Recht und plausiblerweise den Namen des moralisch Guten verdient, ist nicht mehr einleuchtend. Betroffen ist zweitens der Kern der Idee einer Vernunft, die auch ‚praktisch sein kann’, die Kantische Idee einer praktischen Vernunft. 255 A. a. O. , S. 112. 178 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Diese Idee ist nun eine der wichtigsten Alternativen zur – ungeheuer einflußreich gewordenen – Max Weberschen szientifischen Konzeption von Rationalität, einer Konzeption, in der Vernunft letztlich zusammenschrumpft auf wertneutrale, theoretische Vernunft, auf Zweckrationalität. Es geht hier darum, daß einer der Kronzeugen – vielleicht der wichtigste und heute am meisten noch ernstzunehmende der älteren Kronzeugen – für den emphatischen Begriff einer umfassenden Vernunft diesen Begriff in Wahrheit nicht verteidigen kann. Es geht für die Philosophie, die sich wesentlich als ‚Explikation der Erfahrungen der Vernunft im Umgang mit sich selbst’, als Rekonstruktion der Vernunft(-kompetenz) versteht, auch um das absolut zentrale Problem, ob legitim mit dergleichen wie einer praktischen, d.h. auch für die (letzten) Zwecke selbst verantwortlichen Vernunft gerechnet werden kann und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, oder ob das nicht möglich ist.“257 Daß jenes möglich ist, daß wir – eben in dem konstitutiven Plural von Diskursteilnehmern – eine praktische, für unserer Zwecke bzw. Zwecksetzungen verantwortliche Vernunft bewähren können und daher auch müssen denken können, wollte Apels „Kanttransformation“ von Anbeginn vorführen. Dieses Ziel sei erreichbar, wenn das Moralprinzip als Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit gefaßt und durch reflexiven Rückgang auf die Sinnbedingungen der Kommunikation bzw. des Denkens als Kommunizierens begründet werde. Eine Deutung des Moralprinzips im Sinne der universalisierbaren Gegenseitigkeit entwickelt Apel in einem erhellenden Diskurs mit Hegel und Kant. Dieser führt zu der Einsicht, daß der Kategorische Imperativ, unbeschadet jener geltungslogischen Formalität, die er als kriteriales Prinzip, als Maßstab für die allgemeine Vernunft- und Geltungsfähigkeit einer Handlungsmaxime hat und haben muß, sei er doch nicht bloß formal, wie es eine technische oder formallogische Regel ist. Im Unterschied zu einer Kalkülregel setze der Kategorische Imperativ den kommunikativ moralischen Gehalt der Gegenseitigkeit voraus, eines Gemeinschafts- und Anerkennungsverhältnisses also; und er erhebe diesen Gehalt, wenngleich stillschweigend, begrifflich verdeckt und pragmatisch inkonsistent, de facto zur Formalität eines Geltungskriteriums. Darin sehe ich die fruchtbare Pointe von Apels Auseinandersetzung mit Hegels, gegen Kant vorgebrachten Formalismuseinwand. Fruchtbar auch deshalb, weil Apel dabei die Kontroverse um den (stillschweigenden) methodischen Solipsismus von Kantianern und Personalisten im Auge hat, die 1980/81 unversehens zwischen Ottfried Höffe und Manfred Riedel einerseits, Apel und Böhler andererseits in „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“ aufgebrochen war. 256 A. a. O. , S. 120f. 179 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Beim Wiederlesen nach bald fünfundzwanzig Jahren erschien mir Apels Abhandlung so stupende, frisch und erhellend, daß ich sie auch den Hörern und Lesern dieser Vorlesung sehr empfehlen möchte. Hier ist ein Auszug daraus, in dem Apel "die radikale Kantkritik Hegels" dadurch einschränkt, daß er den Kategorischen Imperativ im Lichte einer transzendentalpragmatischen "Kommunikationsethik" umdeutet.258 „Der Anwendungssinn der Grundnorm einer Ethik konsensualer Kommunikation liegt in der Normierung eines zweistufigen Verfahrens konsensualer Normenbegründung, in dem die Interessen aller Betroffenen im praktischen Diskurs argumentativ vermittelt werden sollen. Wie verhält sich diese zweistufige Ethik der konsensualen Normenbegründung (die sich ja selbst als Umbildung der Kantischen Ethik versteht) zu dem Vorwurf des ,Formalismus‘ bzw. der damit verbundenen Inhaltslosigkeit, der gegen KANTS Prinzip des kategorischen Imperativs erhoben wurde? Zur Verdeutlichung dieser Frage wollen wir im folgenden zunächst die Kantkritik HEGELS aus dem Naturrechtsaufsatz von 1802259 kurz darstellen. Sodann wollen wir die ,Aufhebung‘ dieser Kritik versuchen, indem wir das formale Prinzip der Ethik KANTS auf der Grundlage der transzendentalpragmatischen Kommunikationsethik umdeuten und ergänzen. Bei KANT heißt es: ‚Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.’260 Dieser Zwang zur Fernhaltung aller inhaltlichen Bestimmungen vom Sittengesetz ist es, den HEGEL zum Ausgangspunkt seiner Kritik an KANT macht. Denn indem reine praktische Vernunft nur diese Form zum Gegenstand haben kann, muß sie jeden bestimmten Inhalt (etwa den jeweiligen Zweck oder das Interesse des Handelns) aus diesem Gesetz ausschließen und zugleich für alle solchen Inhalte die verbindliche Vorschrift ihrer ethischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit vorgeben. Demnach muß also das Sittengesetz KANTS alle inhaltliche Bestimmtheit möglicher Maximen, sofern sie nur mit ihm vereinbar sein sollen, 257 A. a. O. S. 121f. K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“ In: Apel, Böhler, Rebel (Hg.): Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 606ff, hier S. 613f und 616-621. 258 259 G. W. F. HEGEL: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. - Hier zitiert nach dem gekürzten Abdruck in: R. BITTNER / K. CRAMER: Materialien zu Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Frankfurt 1975, S. 327ff. (Vollständiger Text in: G. W. F. H EGEL : Werke in 20 Bänden. Bd. 2. Hrsg. Von E. MOLDENHAUER und K. M. MICHEL. Frankfurt 1974, S. 434 ff.) 260 I. KANT: Kritik der praktischen Vernunft, A 113. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe. Bd. V, 180 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 nach HEGELS Worten ‚in die Form der reinen Einheit’ erheben261 – das heißt: Die Gleichheit mit sich, die Identität von Form und Inhalt, die die praktische Vernunft im Sittengesetz (als der Form jeden praktisch-verbindlichen Gesetzes) erreicht hat, muß auch an allen möglichen Inhalten von Handlungsmaximen aufgewiesen werden können. Denn nur dann können sie auch zugleich als allgemeingültig vorgestellt werden. Nur wenn dies im Gedankenexperiment gelingt, das heißt, nur wenn bei diesem Versuch der Inhalt des Gesetzes nicht mit seiner Form (der Allgemeingültigkeit) in Widerspruch gerät und damit sich selbst als konkreten Inhalt aufhebt, ist das Handeln nach dieser bestimmten Maxime gerechtfertigt.262 HEGEL geht nun von der logisch schärfsten Bestimmung der formalen Einheit der praktischen Vernunft mit sich selbst aus, die KANT gegeben hat. Ihr zufolge läßt sich eine Maxime, die dieser Einheit entgegensteht, ohne Selbstwiderspruch als allgemeines Gesetz nicht einmal denken. Dies ist bei KANT der Fall bei der Vorstellung einer Verneinung der „vollkommenen" oder „unerläßlichen Pflichten", für die er in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" zwei Beispiele gibt: Selbstmord und lügnerische Versprechen. HEGEL setzt jedoch an einem anderen Beispiel an, das KANT in der „Kritik der praktischen Vernunft" gibt. Dort geht es um die Maxime, mein Vermögen mit allen Mitteln zu vergrößern, also auch durch Aneignung fremden Eigentums, etwa durch Aneignung eines Verwahrguts, eines Depositums, das in meinen Händen ist und ‚dessen Eigentümer verstorben ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat’. Von einer solchen Maxime sagt KANT: ‚Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.’263 HEGEL versteht nun den hier von KANT gemeinten Selbstwiderspruch des Gesetzes bzw. des gesetzgebenden Willens als formallogischen Widerspruch zwischen Sätzen – was durch KANTS Text zumindest nicht ausgeschlossen wird. Demnach bestünde der Selbstwiderspruch, der die Maxime der Selbstbereicherung durch Diebstahl als mögliches Gesetz undenkbar macht, darin, daß in diesem Falle ein Gesetz von der Art entsteht: Eigentum soll sein und zugleich nicht sein. Dagegen wendet nun HEGEL ein, daß durch Aufzeigen dieses logischen Widerspruchs die entscheidende Frage, ob denn Eigentum sein soll, gar nicht beantwortet werde; denn nähme man an, daß Eigentum nicht sein soll, so würde die Maxime, auf dem eigenen Recht auf Eigentum zu bestehen, ja ebenfalls zu einem sich selbst aufhebenden Gesetz führen. [...] S. 64. G. W. F. HEGEL: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, a. a. O., S. 327. 262 vgl. hierzu auch Höffe: Der Standpunkt der Moral: Utilitarismus oder Universalisierbarkeit?, in: Apel, Böhler, Rebel, Funkkolleg Bd. 2. 263 I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 27 (A 49). 261 181 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 In der 4. Studieneinheit des Funkkollegs haben wir die These aufgestellt, daß KANTS Ethik der reinen gesetzgebenden Vernunft im Sinne einer Ethik der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft umgedeutet werden kann.264 In diesem Zusammenhang haben wir das von KANT zugrunde gelegte ,Faktum der Vernunft‘ als immer schon notwendigerweise anerkannte Grundnorm dechiffriert und damit das bei ihm noch bestehende Hindernis einer Letztbegründung der normativen Ethik ohne ,naturalistischen Fehlschluß‘ (der Herleitung der Grundnorm als einem Faktum) beseitigt. Wenn dieser Anspruch zu Recht besteht, dann müßte es im Lichte der transzendentalpragmatischen Letztbegründung der Kommunikationsethik auch möglich sein, den kategorischen Imperativ so zu verstehen, daß er von HEGELS Kritik nicht betroffen wird. Die immer schon anerkannte Grundnorm, die sich hinter dem 'Faktum der Vernunft‘ KANTS und damit auch hinter dem kategorischen Imperativ verbirgt, muß – trotz ihrer Unabhängigkeit von empirischen Inhalten, die von bestimmten Neigungen oder Bedürfnissen bestimmt sind – als Vernunftnorm schon einen Inhalt besitzen, der nicht auf die ,Tautologie‘ der formallogischen Identität bzw. Widerspruchsfreiheit zurückgeführt werden kann. Dies soll im nächsten Schritt näher verdeutlicht werden. HEGEL hätte meines Erachtens die Pointe seiner Kantkritik nicht herausbringen können, wenn er, statt am Beispiel des ,Depositums‘, an dem von KANT in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ gegebenen Beispiel des lügenhaften Versprechens (bzw. der Unwahrhaftigkeit schlechthin) angesetzt hätte. Und weswegen nicht? Worin besteht der Unterschied der Beispiele, die nach KANT beide eine Maxime illustrieren sollten, die sich als Grundlage eines allgemeinen Gesetzes nicht ohne Selbstwiderspruch denken läßt? • Im Falle der Aneignung des Depositums wird die Frage, ob persönliches Eigentum als Gesetz gelten soll, durch die probeweise Anwendung des kategorischen Imperativs auf die Maxime der Aneignung fremden Eigentums nicht mitentschieden; ihre (positive) Beantwortung wird vielmehr stillschweigend vorausgesetzt. Im Falle der Unwahrhaftigkeit dagegen läßt die Anwendung des kategorischen Imperativs keine unbeantwortete Frage nach dem Seinsollen einer konkret geschichtlichen Institution übrig. Man kann hier nicht sagen, daß die Frage nach der inhaltlichen Bestimmtheit der Wahrhaftigkeitsnorm – die Frage, ob Wahrhaftigkeit als Gesetz sein soll oder nicht – durch die Anwendung des kategorischen Imperativs nicht mitbeantwortet würde. Woran liegt das? • Im Falle der Wahrhaftigkeit ist nicht, wie im Falle der Respektierung persönlichen Eigentums, die inhaltliche Bestimmtheit der Maxime auf ein Gesetz bezogen, zu dem sich eine geschichtlich264 Apel, "Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (II)", in: Funkkolleg Bd. 1, bes. 127ff, vgl. 124ff. 182 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 konkrete Alternative (etwa: Verbot jeden Privateigentums) vorstellen läßt. Will man - analog zur Institution des Privateigentums - die Institution namhaft machen, auf die die Maxime der Wahrhaftigkeit als mögliches Gesetz bezogen ist, so muß man auf die sprachliche Kommunikation verweisen. Aber diese ist keine Institution unter anderen – möglicherweise alternativen – Institutionen; sie ist vielmehr, wie wir früher gezeigt haben, die Metainstitution aller menschlichen Institutionen.265 Anders ausgedrückt: Sprachliche Kommunikation enthält die normativen Bedingungen der Möglichkeit aller Begründung und Rechtfertigung von Institutionen – des Privateigentums so gut wie des Gemeineigentums usw. Im Falle der Wahrhaftigkeitsmaxime verhält sich daher tatsächlich alles so, wie K ANT es im Falle der vollkommenen oder unerläßlichen Pflichten unterstellt: die Möglichkeit eines Gesetzes, das auf ihrer Verneinung beruhen würde, ist nicht ohne Selbstwiderspruch denkbar. Ein Gesetz im Sinne der verallgemeinerten Maxime der Unwahrhaftigkeit würde nämlich die sprachliche Kommunikation, und damit das Denken bzw. die Vernunft, aufheben. Doch was haben wir mit diesem Argument gezeigt? Wird durch das Beispiel der Wahrhaftigkeitspflicht der Formalismus der Kantischen Vernunftethik gegen HEGEL wieder ins Recht gesetzt? - Ja und nein! Ja – insofern als mit Bezug auf die Wahrhaftigkeitspflicht gezeigt werden konnte, daß zumindest in diesem Falle die Anwendung des kategorischen Imperativs auf ein Gesetz verweist, das im Sinne KANTS unabhängig von allen empirischen Inhalten möglicher Zwecksetzungen – insofern auch unabhängig von den konkret-geschichtlichen Institutionsnormen im Sinne der ,substantiellen Sittlichkeit‘ HEGELS – intersubjektiv gültig ist. Nein – aus zwei Gründen: • HEGELS Einsicht, daß Institutionsnormen wie die des Privateigentums sich nicht aus dem kategorischen Imperativ ableiten lassen, wurde nicht widerlegt. Dieser ist also insofern als Prinzip der Normenbegründung unzureichend. • Der kategorische Imperativ wurde im Falle der Wahrhaftigkeitspflicht dadurch als zureichende Begründung erwiesen, daß wir das in ihm enthaltene formale Prinzip der Verallgemeinerbarkeit bereits ansatzweise im Sinne der transzendentalpragmatischen Kommunikationsethik umgedeutet haben. Wir konnten zwischen KANT und HEGEL nur dadurch vermitteln, daß wir zwischen zwei Typen von Gesetzen bzw. Institutionsnormen unterschieden haben: den geschichtlich-konkreten 265 Vgl. dazu Apel, "Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft", in: Funkkolleg Bd. 1, S. 52. 183 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Institutionsnormen, auf die HEGEL seinen Begriff der ‚substantiellen Sittlichkeit’ des ,objektiven Geistes‘ gründet, und der Metainstitutionsnorm der wahrhaftigen Kommunikation. Nur mit Bezug auf die letztere – und nicht mit Bezug auf jedes ohne Selbstwiderspruch denkbare Gesetz – konnten wir zeigen, daß sie unmittelbar aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann. Inwiefern aber liegt darin eine Umdeutung des kategorischen Imperativs? Liegt nicht in der Auszeichnung der Metainstitutionsnorm der wahrhaftigen Kommunikation gegenüber allen konkreten Institutionsnormen gerade eine Bestätigung des Kantischen Formalismus: der Gebundenheit der intersubjektiven Gültigkeit des Sittengesetzes an die Abstraktion von allen empirischen Inhalten? Ja und nein, denn: • einerseits ist das allgemeine Gesetz, das durch die Maxime der Unwahrhaftigkeit sich selbst aufheben würde, gewiß formal im Vergleich zu allen konkreten Institutionsnormen; es bezieht sich auf die formalen Bedingungen aller normativen Gesetzmäßigkeit im Bereich menschlicher Angelegenheiten; • andererseits aber hat es dennoch einen (nichtempirischen) Inhalt, der über die formallogische Norm des zu vermeidenden Widerspruchs zwischen Sätzen (A und Nicht-A) hinausgeht. Denn der ethische Sinn des Verbots der Unwahrhaftigkeit kann (im Unterschied zum formallogischen Widerspruch zwischen Sätzen) nur in bezug auf die verallgemeinerte Gegenseitigkeit als Gesetz einer idealen Kommunikationsgemeinschaft erläutert und ausgeführt werden. Zwar würde derjenige, der die Maxime des Lügens zum allgemeinen Gesetz erheben wollte, sich selbst im Akte der Gesetzgebung widersprechen – ähnlich wie derjenige, der mit Wahrheitsanspruch behaupten wollte: ,Ich lüge immer‘. Aber dieser – pragmatische – Selbstwiderspruch zeigt nur, daß die Wahrhaftigkeitsnorm als moralische Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation zugleich eine formale Bedingung der Möglichkeit widerspruchsfreier Selbstverständigung im einsamen Denken ist. (Tatsächlich können wir nicht nur – mit WITTGENSTEIN – sagen, daß ein Kind die Sprache – und damit das Denken – nicht erlernen könnte, wüchse es in einer Lebensform auf, in der in der Regel Lüge und Wahrheit nicht zu unterscheiden wären. Wir wissen auch aus der empirischen Psychopathologie, daß ein Mensch unter solchen Bedingungen seine Identität als Vernunftwesen verlieren muß. Von hier aus scheint mir nun der eigentliche Sinn des Kantischen „Formalismus" (d.h. der von ihm geforderten Besinnung auf die Form eines sich nicht selbst aufhebenden moralischen Gesetzes bzw. gesetzgebenden Willens) deutlich zu werden. Es handelt sich hier nicht – wie von HEGEL und vielen 184 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Kant-Interpreten aus naheliegenden Gründen unterstellt wurde – um einen Rückgang der Moralbegründung auf das vormoralische Gesetz des zu vermeidenden Widerspruchs der formalen Logik. Es handelt sich vielmehr um einen Rückgang auf das ,Faktum der Vernunft‘ (KANT) im Sinne des immer schon notwendigerweise von uns anerkannten Prinzips der verallgemeinerten Gegenseitigkeit der konsensualen Kommunikation. Dieses Prinzip – und nicht einfach ein logisch begründbares Prinzip der Verallgemeinerung – bestimmt für den Bereich der normativen Gesetze der Menschenwelt die Form der (moralischen und rechtlichen) Gesetzmäßigkeit überhaupt. Es verhält sich daher nicht so, wie man, wiederum aus naheliegenden (d. h. auch von KANT selbst nahegelegten) Gründen, meinen könnte: daß nämlich die Gegenseitigkeit der menschlichen Interaktion erst auf der Ebene des Rechts – der wechselseitigen Einschränkung der Willkür im Sinne erzwingbarer Freiheitsgesetze – zu berücksichtigen sei, während im angeblich ,vorkommunikativen‘ Bereich der Moralität ein prinzipiell einsamer und insofern autonomer Vernunftwille sich das formale Gesetz des kategorischen Imperativs gäbe. Der kategorische Imperativ ist vielmehr selbst schon die Verinnerlichung (Internalisierung) des Prinzips der verallgemeinerten Gegenseitigkeit, und nur als solche hat er einen – weder bloß empirischen noch bloß formallogischen – normativen Inhalt, den jeder Einzelne, der denkt (und insofern Mitglied der unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft ist) notwendigerweise immer schon anerkannt hat. Daß der Gedanke der verallgemeinerten Gegenseitigkeit (Reziprozität) den nichtempirischen Inhalt des kategorischen Imperativs bilden kann, das wird von KANT selbst im Falle der sogenannten „unvollkommenen" Pflichten gegen andere – wie zum Beispiel der Pflicht, anderen in der Not zu helfen – hinreichend deutlich gemacht. Denn er sagt hier von der entgegengesetzten Maxime: ‚[...] obgleich es möglich ist, daß nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte: so ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Prinzip als Naturgesetz allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen [ereignen] können, wo er anderer Liebe und Theilnehmung bedarf.‘266 Angelsächsische Interpreten – so etwa Marcus SINGER und auch Lawrence KOHLBERG – haben sich stets mit Vorliebe an diese Illustration des kategorischen Imperativs gehalten und sie, im Lichte des verallgemeinerten Gegenseitigkeitsprinzips, mit der "Goldenen Regel" des Neuen Testaments 266 KANT: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Akademie Textausgabe. Bd. IV, S. 423. 185 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 zusammengebracht. Dies scheint mir – trotz der Vorbehalte KANTS gegen die ,Goldene Regel‘267 – berechtigt zu sein; sofern man nur berücksichtigt, daß der Wille zur verallgemeinerten Gegenseitigkeit nicht von der Sorge um das eigene Wohlergehen abhängig gemacht werden darf, wie dies im vorkonventionellen Gegenseitigkeitsdenken (KOHLBERGS Stufe 2) und auch im populären Verständnis der ,Goldenen Regel‘ geschieht. Ein solches Verständnis, das den Sinn der Kantischen Prinzipienethik völlig verfehlen würde, wird aber erst dann völlig überwunden, wenn man auch schon die Rede KANTS von der Denkbarkeit oder Nichtdenkbarkeit eines allgemeinen Gesetzes auf ein Gesetz der verallgemeinerten Gegenseitigkeit bezieht. Zumindest an einer Stelle hat KANT dies selbst klar zum Ausdruck gebracht: ‚Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst sich in Ansehung aller Gesetze [...] zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können [...], im gleichen, daß diese seine Würde (Prärogativ) vor allen bloßen Naturwesen es mit sich bringe, seine Maximen jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als gesetzgebenden Wesens [...] nehmen zu müssen.‘268 Im Sinne unserer kommunikationsbezogenen (transzendentalpragmatischen) Umdeutung des Kantischen Ansatzes ist aber nun Folgendes zu ergänzen: Die im kategorischen Imperativ ausgesprochene Forderung, daß man seine Maximen ,jederzeit aus dem Gesichtspunkte seiner selbst, zugleich aber auch jedes anderen vernünftigen als gesetzgebenden Wesens‘ nehmen müsse – dieses Gesetz der verallgemeinerten Gegenseitigkeit aller Vernunftwesen ist nichts anderes als die formalabstrakte Verinnerlichung einer konsensual-kommunikativen Verfahrensnorm. Sie besagt, daß in jedem Fall der Normenbegründung bzw. -rechtfertigung (Legitimation) die Gesichtspunkte aller Betroffenen auf dem Wege zwangloser Argumentation (durch ,praktischen Diskurs‘) zum Konsens zu bringen sind. Von dieser Verfahrensnorm haben wir im transzendentalpragmatischen Letztbe- gründungsargument269 gezeigt, daß sie immer schon von jedem, der ernsthaft argumentiert, anerkannt (und insofern autonom gewollt!) sein muß. Die Verfahrensnorm der Normenbegründung durch konsensuale Kommunikation bezeichnet also die vollständige und grundlegende Form jenes Gesetzes der Menschenwelt (des Kantischen ,Reichs der Zwecke‘), dessen intersubjektive Gültigkeit niemand ohne pragmatischen Selbstwiderspruch durch eine entgegenstehende Willensmaxime verneinen kann. Für den Einzelnen bedeutet dies, daß er sich nach Möglichkeit an der Konsensbildung über 267 A. a. O. , S. 430, Anmerkung. A. a. O. , S. 438. 269 Vgl. Kuhlmann, Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?, in: Apel, Böhler, Rebel, Funkkolleg Bd. 2, S. 572-604. 186 268 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 problematische Gegenseitigkeitsansprüche – und insofern über situationsbezogene Normen – beteiligen soll. Und selbst wo dies nicht möglich ist, soll er nach Möglichkeit seine einsame Handlungsentscheidung an einer konsensfähigen Norm orientieren. Man könnte meinen, im letzteren Falle liefe doch alles wieder auf das im kategorischen Imperativ empfohlene Gedankenexperiment hinaus. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Das vom kategorischen Imperativ anbefohlene Gedankenexperiment für die Gewissensorientierung des Einzelnen kann nämlich das ideale Konsensbildungsverfahren, an dem sich der Einzelne nach Möglichkeit beteiligen soll, immer nur unzureichend ersetzen. Denn es kann die Interessen (die „Gesichtspunkte" der möglichen Gesetzgebung) aller Anderen bestenfalls im Sinne eines konventionellen Vorverständnisses vorwegnehmen, nicht aber zur argumentativen Ermittlung (Explikation) und Vermittlung dieser Interessen beitragen. Selbst die internalisierte Verpflichtung, die mögliche Konsensfähigkeit einer konkreten Gesetzesnorm im Gedankenexperiment vorwegzunehmen, beinhaltet daher strenggenommen bereits mehr als der Kantische Sinn des kategorischen Imperativs; denn sie erkennt im Unterschied zu diesem ihre Abhängigkeit von der ethischen Grundnorm der Normenbegründung durch konsensuale Kommunikation an. Insofern ist in ihr der methodische Solipsismus – in diesem Fall: die Unterstellung der Selbstgenügsamkeit des vernünftigen Willens in seiner vorkommunikativen Vereinzelung – überwunden. […] In der Studieneinheit 17 behauptet Herr HÖFFE, daß die Orientierung an der Grundnorm der konsensualen Kommunikation in einen logischen Zirkel führt. Dabei hat er meines Erachtens die von mir unterschiedenen Stufen der Begründung bzw. der Anwendung der Grundnorm nicht klar auseinandergehalten.270 Er stellt zu Recht Folgendes fest: ‚Nicht ein Diskurs unter gewissen idealen Bedingungen, sondern der Maßstab zur Begründung eben dieser Bedingungen als der Idealitätsbedingungen stellt die erste Aufgabe einer philosophischen Moralbegründung dar.‘ Insoweit besteht – entgegen der Annahme von Herrn HÖFFE – völlige Übereinstimmung zwischen ihm und der „Diskurstheorie" der Ethik. Eben deshalb wurde von uns zunächst die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Grundnorm konsensualer Kommunikation vorgeführt,271 weil der Diskurs nur unter bestimmten normativen Bedingungen als höchstes Moralkriterium gelten kann (H ÖFFE , a. a. O.). 270 Höffe, "Der Standpunkt der Moral: Utilitarismus oder Universalisierbarkeit?", in: Apel, Böhler, Rebel, Funkkolleg Bd. 2. 271 Kuhlmann: "Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?", in: Apel, Böhler, Rebel, Funkkolleg Bd. 2. 187 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Allerdings wird in der von uns vorgeführten Letztbegründung eine Grundnorm aufgewiesen, die – im Unterschied zum „kategorischen Imperativ“ – von vornherein den idealen Diskurs als höchstes Kriterium der Begründung situationsbezogener Normen beinhaltet. Darin liegt ein erster Punkt, an dem sich die Vertreter des klassischen Kantianismus von uns unterscheiden. Ein zweiter Punkt liegt jedoch in folgendem: Aus dem Umstand, daß der praktische Diskurs der konsensual-kommunikativen Begründung situationsbezogener Normen bereits normative Idealitätsbedingungen voraussetzt, folgt für uns keineswegs, daß die eigentliche Letztbegründung dieser Idealitätsbedingungen vor-kommunikativ sein muß bzw. kann. Es bedarf hier vielmehr nur der Unterscheidung zwischen dem inhaltlich orientierten praktischen Diskurs und dem argumentationsreflexiven Diskurs.272 Die zentrale These der transzendentalpragmatischen Weiterführung und Umbildung des Kantischen Ansatzes besagt allerdings, daß die Struktur der sprachgebundenen Argumentation (und damit die immer schon anerkannte Struktur einer idealen Kommunikationsgemeinschaft der argumentativen Konsensbildung) für das Denken nicht hintergehbar ist. Deshalb ist für uns allerdings auch der reflexive Aufweis der Grundnorm, die als Metanorm den Maßstab der Idealitätsbedingungen des praktischen Diskurses abgeben muß, in zweifacher Weise: hinsichtlich der Sinnkonstitution der Grundnorm und hinsichtlich der Überprüfung ihrer Geltung, dem Apriori der konsensualen Kommunikation unterworfen. Die Letztbegründung des Maßstabs beruht eben auf der Selbstreflexion des argumentativen Diskurses273 – mag diese auch faktisch im einsamen Denken vollzogen werden. Sie beruht also nicht auf einem prinzipiell einsamen Denken, das hinter die Norm der Konsensbedürftigkeit des Argumentierens zurückgehen könnte. Darin liegt unsere Zurückweisung des methodischen Solipsismus.274“ Soweit Karl-Otto Apel.275 272 Für eine Einführung dieser Unterscheidung: D. Böhler, „Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis“, Funkkolleg Studientexte, Band 2, S. 331ff. Differenziert inzwischen von: D. Böhler u. H. Gronke, „Diskurs“, in: Hist. Wörterbuch d. Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, bes. S. 811ff. 273 Vgl. K.-O. Apel, in: Ders. (Hg): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt 1976, S. 123. Vgl. auch Ders.: „Warum transzendentale Sprachpragmatik?“ In: H. M. Baumgartner (Hg): Prinzip Freiheit. Freiburg/München 1079, S. 13-43. 274 Vgl. K.-O. Apel: Transformation der Philosophie. Frankfurt 1976, Bd. 2, Teil II. 275 K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?“, in: Funkkolleg Studientexte Bd. 2, S. 616-622, 1. Abs. 188 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 5.3 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit Kritisch ergänze ich, daß es bei der Überwindung des methodischen Solipsismus in der Ethik wie in der Politik darauf ankommt, die verschiedenen Ebenen der Konsensbedürftigkeit des Argumentierens auch hinsichtlich der konkreten Situationsdiskurse genau zu unterscheiden. Konsensbedürftig ist hier zweierlei: zunächst ist es die eigentliche Situationsermittlung als Interpretation und Beschreibung der Lage mit besonderer Berücksichtigung der Ansprüche der Betroffenen; sodann wäre zu prüfen, ob das Resultat des, auf dieser Verständigungsbasis geführten, Normenbegründungsdiskurses ebenfalls zustimmungswürdig ist, ob es einen strikt argumentativen Konsens ermöglicht und verdient. Bei der situationsgezogenen Konkretion oder Anwendung des Moralprinzips stehen prima facie zwei verschiedene Verfahrensschritte an: Situationsinterpretation und situative Normenbegründung. Beide müssen einen argumentativen Konsens verdienen. Im Falle der Situationsinterpretation hat diese Konsenswürdigkeit primär die Form einer Verständigungsgegenseitigkeit, wohingegen der konkrete Normenbegründungsdiskurs einer Geltungsgegenseitigkeit bedarf. Wie anders sollte man die normativ ethische Gretchenfrage, wann eine Handlungsweise als moralisch richtig gelten dürfe, und wann eine Norm als moralisch verbindlich anzuerkennen, mithin prinzipiell zu befolgen sei, differenziert beantworten können? 5.3.1 Die Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft Wenn du zurückgehst auf dich als Denkenden/Sprechenden > Diskurspartner, erkennst du geschichtliche Bedingtheiten (a) und unbedingt Gültiges/Verbindliches (b). K.-O. Apels Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft, diskurspragmatisch expliziert (i. S. von Böhlers aktueller Dialogreflexion) 1. Reale Kommunikationsgemeinschaft Sinnkonstitution oder Welt-Erschlossenheit (W. v. Humboldt: „Weltansicht“) durch Sprache als geschichtlich bildsamer Sinnhorizont (a) und als kommunikativer Metainstitution, die Verständigung, mithin auch Prüfung, ermöglicht (b): (a) Geschichtliche Situierung in einer „Lebenswelt“ (Husserl) und „Geworfenheit“ (Heidegger) in vorgegebene Ausgangsbedingungen des Daseins mit dem basalen Interesse an Daseins- bzw. Selbsterhaltung (Heidegger: „Sorge“) und begrenzender Perspektivität bzw. Subjektivität (b) Tendenz zur kritischen Transzendierung von (a): Sinnverständigung (auch als Konkretion des Sinnhorizonts einer Sprache) schließt Ansprüche auf virtuell universale Geltung ein: auf Verständlichkeit der Rede, Wahrhaftigkeit der Absicht, Wahrheit der Beschreibung und Richtigkeit der Aufforderung/Norm (Apel: „Logosauszeichnung des Menschen“). Kraft dieser Geltungsansprüche sind Menschen zugleich Mitglieder einer 189 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 2. Idealen Kommunikationsgemeinschaft Einlösbar sind Geltungsansprüche durch oder in Bezug auf Argumente in einem kognitiven Kontext (wie z.B. Erfahrung, Beobachtung); und zwar bei Erfüllung einer Reihe von vorgängigen Dialogversprechen, die man bereits durch Übernahme der Rolle eines Diskurspartners implizit abgegeben hat; z.B. die Versprechen der - gegenseitigen Anerkennung als gleichberechtigter Argumentationspartner = als Geltungsansprucherheber oder –prüfer -> mit Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde; - Achtung/Anerkennung der Instanz einer unbegrenzten, strikten Argumentationsgemeinschaft als Geltungsinstanz aller faktischen Kommunikationsbeiträge. Aus (1) und (2) lassen sich zwei grundlegende regulative Prinzipien für eine langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen ableiten: In allem Tun und Lassen soll es darum gehen, 1. das Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen und 2. in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft gleichsam zu verwirklichen. Die Rede von Verwirklichung ist hier jedoch mißverständlich, weil sie aus der Geltungslogik in die Utopie springt (als könne der utopische Zustand einer idealen Kommunikationsgemeinschaft ein Handlungsziel sein) und unvereinbar mit dem Sinn einer „regulativen Idee“ als einer Diskursperspektive und eines Metakriteriums der Gültigkeit von Diskursbeiträgen. Wir „verwirklichen“ jedoch die Idee der idealen Argumentationsgemeinschaft im Diskurs insoweit, als wir die Rolle des Diskurspartners ausfüllen und als es uns einzig um sinnvolle, geltungsfähige Argumente zur Sache geht. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist eine regulative Idee, die als Geltungsidee eine indirekte Orientierung für das Handeln, nämlich als letzthinnige Richtungsbestimmung gibt. Das, was zu ihrer Befolgung unabdingbar nötig ist, erschließt sich durch eine aktuelle Reflexion im Diskurs auf den Diskurs, nämlich die Einlösung der vier Geltungsansprüche und der (zumindest) sechs Dialogversprechen. 190 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags / Normen der Diskurspartnerrolle Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. verständlich als Beitrag zu einem argumentativen Dialog ist eine Rede, ein Gedanke als Einlösungsversuch von: vier Geltungsansprüchen (a) einlösbar durch: Selbstverantwortung Selbst- und Mitverantwortung erfüllbar durch: Selbstverantwortung Selbstund Mitverantwortung a1) Anspruch auf eine bestimmte, intersubjektiv nachvollziehbare Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks im Kontext → Widerspruchsfreiheit es Ausgesagten a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt Glaubwürdigkeit der Interaktions-Bereitschaft (Voraussetzung für Andere, sich auf Kommunikation mit N.N. einzulassen) a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit der Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: 2) vorgebracht und geprüft werden kann. a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Gerechtigkeit von Handlungsweisen oder Normen, woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können (Gerechtigkeitsidee); konstitutive Bedingung für Kommunikation überhaupt teils konstitutive Bedingung, teils regulative Idee mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b) Sinngeltung b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also sich um widerspruchsfreie und sachkundige Dialogbeiträge zu bemühen b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen Argumente und betroffenen Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) im Auge zu behalten und nach möglichen besseren Argumenten zu suchen, b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner zuzuerkennen und ihre Würde zu achten: Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde, b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft, also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher Diskurse, b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können, b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die Umsetzung der Diskursergebnisse in die alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder. diskursbezogene regulative Ideen mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen 191 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 5.3.2 Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit als Verbindlichkeitsbedingungen von Normen und Geltungsbedingungen von Handlungen bzw. Beschlüssen In einer thematisch ganz anders angesetzten Teamdiskussion des „Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik“, der ›live‹ veranstalteten „10. Kollegstunde“, ergab sich zu meiner Überraschung eine Kontroverse zwischen den Philosophen Manfred Riedel und Otfried Höffe auf der einen sowie Karl-Otto Apel und mir auf der anderen Seite über den zureichenden Ausgangspunkt des Denkens im allgemeinen (Philosophieren) und das Nachdenken über Handeln und Richtighandeln (Handlungstheorie und normative Ethik) im besonderen: Ist dieser grundsätzlich in der kommunikativen Gegenseitigkeit von Verstehens- und Argumentationssubjekten, also im Diskurs als argumentativem Dialog, zu suchen? Oder ist es richtig, bei einer Person bzw. bei dem einsamen Denker anzusetzen? Kann einer alleine eine zutreffende Situationserkenntnis sowie eine richtige Handlungsnormierung erbringen, ohne daß er dabei auf Kommunikation mit anderen angewiesen wäre und ohne daß er unbedingt die Verständigung mit Betroffenen suchen sollte? Letzteres unterstellen etwa Kant, der Kantianismus und der Personalismus.276 In der Diskussion wurde den Beteiligten mehr oder weniger klar, daß nicht allein ihre Verständigungsschwierigkeiten und ihre sachlichen Dissense mit dieser Frage zusammenhingen, sondern auch das moralphilosophische Geltungsproblem. Ich meine das Problem: „Wann kann eine Handlungsweise als moralisch richtig bzw. eine Norm als moralisch verbindlich gelten?“ Dieses moralische Geltungsproblem ist zugleich ein elementares Legitimationsproblem moderner Gesellschaften, zumal moderner Rechtsstaaten. Es strahlt aus auf rechtlich-politische Entscheidungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren. Denn in seinem Lichte stellt sich die politisch ethische und rechtsethische Frage, welche Form diese Verfahren haben sollten: Sollen sie die monologische Form einer reinen Expertise oder die tendenziell dialogische einer öffentlich partizipatorischen Urteilsfindung haben? Sind hier die Gutachten, Analysen und Interpretationen von Experten zureichend – oder bedarf es einer möglichst kommunikativen Einbeziehung der Betroffenen usw.? Zur Verdeutlichung der Kontroverse, vor allem aber, um das moralphilosophische Geltungsproblem lösen zu können, machte ich seinerzeit – in der Philosophie herrschte noch der methodische Solipsismus vor, und in der Politik bzw. Politikberatung die Expertenherrschaft 276 Nachdruck der Diskussion in: Apel, Böhler, Kadelbach (Hg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik, Frankf. a. M. (Fischer Tb) 1984, Bd.1, S. 247-270. Zusammenfassung und Kommentar in: Funkkolleg Studientexte Bd. 1, S. 269-277. 192 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 bzw. eine Technokratie – den Vorschlag, moralische Verbindlichkeit als eine letztlich dialogische Gegenseitigkeit zu begreifen. Und ich pointierte diesen kommunikationsethischen Ansatz durch die These, daß die Basis der Gegenseitigkeit eine „Verständigungsgegenseitigkeit“ sein müsse, die den Akteur kommunikativ an den Betroffenen binde: durch ernsthaftes Bemühen um Verständnis von dessen Situation, und zwar auf dem Wege der Verständigung mit den Betroffenen. Erst zuhören, dann – und zwar möglichst gemeinsam – die Situation deuten! In einer solchen zuhörenden Verständigung, in einem aktiv hermeneutischen Verfahren liege die notwendige, wenngleich nicht schon hinreichende Bedingung für die Geltungsfähigkeit und einsehbare Verbindlichkeit einer moralischen Norm: Keine Geltungsgegenseitigkeit ohne Verständigungsgegenseitigkeit.277 Die Konkretion des Richtungssinns der moralischen Grundnorm „Zu verallgemeinernde Gegenseitigkeit“ oder genauer: „Zustimmungswürdigkeit für alle möglichen Diskurspartner“ verlangt demnach bereits auf der idealisierenden Legitimationsebene – Apel spricht hier von dem Begründungsteil „A“ der Diskursethik – ein zumindest vierstufiges, nicht wie Apel annimmt, zweistufiges, Verfahren der Normenbegründung. Und dieses Verfahren kann erst die prinzipielle Richtungs- und Orientierungsfrage beantworten. Denn fürs Erste geht es um die Grundsatzfrage, die sich unter Absehung von möglichen Realisierungsschwierigkeiten, von möglichen Erkenntnis- bzw. Wissensgrenzen oder auch amoralischer und U. U. antimoralischer Widerstände, folgendermaßen stellt: ›Was wollen und sollen wir, die wir als Diskurspartner fragen und suchen, (angesichts der Situation X, zumal der moralischen Konfliktsituation X) eigentlich? Und was sollen wir daher möglichst anstreben?‹ Diese Richtungsfrage auf der Begründungsebene A läßt sich angemessen, so meine These, allein vierstufig beantworten und nicht etwa schon mit einem zweistufigen Begründungsverfahren; sondern in dieser Aufstufung: A 1. und A 2. Die Grundstufen von A bestünden in der Begründung des moralischen Prinzipiengehalts und dessen kriteriologischer Formulierung als Moralprinzip. A 1. Hier stünde zuerst eine diskurspragmatische bzw. –grammatische Rekonstruktion derjenigen normativen Gehalte an, welche Sinnbedingungen des Diskurses sind, 277 Vgl. meine Erwägungen zur Überwindung des methodischen Solipsismus bzw. zu Struktur und Gehalt des Moralprinzips: einsehbare Verpflichtung auf Verständigungs- und Geltungsgegenseitigkeit. In: Funkkolleg Studientexte, Bd. 1, S. 269-277, bes. 270-272; 274, 275. op. cit., Bd. 2, S. 429f. und zumal op. cit., Bd. 3, S. 858 – 870. 193 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 so daß sie die Rolle von Diskurspartnern tragen und die Metainstitution des argumentativen Diskurses selbst (als Geltungsinstanz) bestimmen. Die Zusammenfassung dieser normativen Gehalte zu einem Prinzip führt zu dem Dialogmoralprinzip ‚D’. A 2. Da sich eine solche Diskursgrammatik bloß in theoretischer Einstellung, geleitet von Interpretations- und Bewertungsperspektiven, erarbeiten läßt, kann sie fehlerhaft sein. Daher bleibt die einsichtige Verbindlichkeit ihrer normativen Ergebnisse zweifelhaft. Um einen solchen Zweifel – vorausgesetzt er wird als konkrete Zweifelsthese gegenüber einer bestimmten normativen Sinnbedingung vorgebracht, so daß eine rationale Prüfung möglich ist – ausräumen und dadurch die Verbindlichkeit erweisen zu können, bietet sich das sokratisch sinnkritische Verfahren einer aktuellen Dialogreflexion an: Im Dialog mit dem Skeptiker prüfen die Beteiligten, ob sich die Bezweiflung der allgemeinen Verbindlichkeit der rekonstruierten Dialognorm X mit der Diskurspartnerrolle des Skeptikers und der Diskutierbarkeit seiner These im Rahmen eines argumentativen Diskurses vereinbaren läßt oder nicht. Wenn nicht, dann ist der Zweifel ein sinnloser Diskursbeitrag; d.h. aber, daß sich die Verbindlichkeit von X nicht sinnvoll bezweifeln läßt, daß also X verbindlich ist. Darauf kommen wir zurück. Einstweilen geben wir Rechenschaft über das Erreichte, indem wir unser Schema zur normativen Rekonstruktion in Erinnerung rufen und es hinsichtlich der Verbindlichkeitsprüfung durch ein neues Schema ergänzen, und zwar gemäß der Berliner Diskurspragmatik, da Kant und Habermas hierzu keinen Verbindlichkeitserweis erbringen. 194 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien: I Normative Rekonstruktion nach Kant nach Habermas nach der Diskurspragmatik Frage: Worauf soll die Rekonstruktion antworten? Was kann ohne Einschränkung für gut gehalten werden? Was nehmen wir in Anspruch, wenn wir praktische Diskurse führen? Gibt es etwas, das uns alle, insofern wir überhaupt etwas geltend machen wollen, im vorhinein verpflichtet? Gegenstand: Was wird rekonstruiert? ethisches Urteil und seine Voraussetzungen moralisch-praktischer Diskurs und seine Voraussetzungen Diskurs (Denken, etwas geltend machen) und seine Sinnvoraussetzungen überhaupt Adressatenkreis: An wen richten sich die Resultate der Rekonstruktion? Status der Resultate: „Methode“ der Vergewisserung absoluter Verbindlichkeit der Resultate: alle Menschen, die moralisch sein wollen und die eine faktische Urteilspraxis gemein haben alle möglichen Diskurspartner (Dp) - können fehlerhaft sein, - können fehlerhaft sein, - keine allgemeine Sollgeltung, weil naturalistischer Fehlschluß - transzendieren die bloße Faktizität einer Urteilspraxis als regulative Ideen – aktuelle Dialogreflexion, demonstriert, warum wir moralisch sein wollen und sollen 195 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zur Begründung moralischer Metanormen/Prinzipien: II Verbindlichkeitsprüfung bzw. –erweis Frage: Ist absolute Verbindlichkeit der Resultate möglich? Status der Resultate nach Kant nach Habermas nach der Diskurspragmatik – – aktuelle Dialogreflexion, fragt, warum wir (als Dp) moralisch sein wollen und sollen – – – ihr normativer Gehalt ist argumentativ unhintergehbar: absolut verbindlich als Prinzip – i. S. einer regulativen Idee – Kohärenzkritik und Erweiterung möglich Methode – – Reflexion in dem je geführten Dialog auf interne Diskursbedingungen Gegenstand – – Verpflichtungen, die wir als Dp nicht sinnvoll in Zweifel ziehen können 196 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 197 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Damit wäre die Begründung des Moralprinzips vollzogen. Was bliebe, wäre die situative Konkretion: Was sollen wir, die wir das Moralprinzip wollen, in der Situation ‚S’ anstreben? Welche Bemühungsrichtung sollen wir hier einschlagen? A 3. Die Situationsorientierung setzt ein mit einer Verständigung über die Situationsbedingungen, welche die möglichen Betroffenen anhört und so einbezieht, daß ihnen eine gewisse, wenngleich unter Diskursvorbehalt zu stellende – die Betroffenenaussagen müssen sinnvoll und zutreffend (wahr) sein – Priorität eingeräumt wird. Im Blick auf die, eine Verständigungsgegenseitigkeit gewährleistende, Situationsinterpretation ist dann der idealisierende „praktische Diskurs“ (Habermas) zu führen. A 4. Im praktischen Diskurs geht es um die verallgemeinerbare bzw. logisch universale Geltungsgegenseitigkeit einer bestimmten Handlungsweise oder Norm als Antwort auf die idealisierend gestellte, weil durchgängig konsensual-kommunikative Verhaltensweisen voraussetzende, Frage: „Was sollen wir eigentlich, bei angenommenen Verhaltensweisen guten Willens (s.o.) aller Beteiligten, tun, wenn in der Situation folgende Interessen/Werte und Realisierungsbedingungen (z.B. Knappheit von gewünschtem X) zu berücksichtigen sind?“ Diese Gerechtigkeitsfrage kann aber, weil sie von idealen Verhältnissen zwischen Menschen, die sich an die Diskurspartnerrolle halten, ausgeht, lediglich die moralische Richtung des Handelns erschließen, um deren Einhaltung wir uns auch unter non-idealen Verhältnissen – etwa im Sinne egoistischer und systemfunktionalistischer Selbstbehauptung – bemühen sollen. Offen läßt sie die andersartige, nämlich moralstrategische oder verantwortungsethische, Frage, wie diese Bemühung unter non-dialogischen Bedingungen werden kann und darf.278 Diese vier Schritte sind unabdingbar, um die moralische Primärfrage zu beantworten, wann wir für eine Handlungsweise bzw. eine Situationsnorm hinsichtlich ihrer Absicht, ihrer Intention und damit hinsichtlich des Willens der Akteure die beanspruchte und zu fordernde Geltungsgegenseitigkeit erreicht haben. Vor dem Hintergrund Kants gesagt: Erst wenn diese vier Schritte zurückgelegt bzw. diese Verfahrensstufen überschritten sind, erst dann dürfen wir, strenggenommen, behaupten, daß in einer bestimmten Maxime moralisch guter, weil universal zustimmungswürdiger, Wille verkörpert ist. 198 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Das, was wir bis hierher diskursethisch geleistet hätten, wäre also nicht mehr und nicht weniger als eine Diskurs-Gesinnungsethik. Wir hätten uns einer idealisierenden, insofern durchaus kontrafaktischen Geltungsgegenseitigkeit A für eine Situation vergewissert. Doch wovon wir dabei abgesehen haben, das sind die Folgen-Verantwortungsprobleme unter den nicht idealen, sondern mehr oder weniger nonmoralischen Handlungsbedingungen in realen Gesellschaften und unter den mehr oder weniger eingeschränkten Erkenntnisbedingungen; d.h. in realen, endlichen, mehr oder weniger argumentativ geführten Diskursen sowie im Blick auf die unprognostizierbare ökologisch soziale Welt. Abstrahiert haben wir damit von den Herausforderungen, die Max Weber, Karl-Otto Apel und Hans Jonas als Desiderata benannt haben. 5. Hier tut sich eine neue Urteilsebene auf, die Herausforderung einer moralstrategischen bzw. verantwortungsethischen Urteilsbildung. Dafür hat Apel die Idee einer realistisch geschichtsbezogenen Begründungsebene „B“ der Diskursethik ins Spiel gebracht. Wie verdinglichend Apels Redeweise von „Teilen“ der Ethik auch ist; es kommt darauf an, die spezifische Fragestellung zu erkennen, der sich die moralisch Urteilenden und Suchenden hier aussetzen müssen. Denn, provisorisch und roh ausgedrückt, steht in moralischen Konfliktsituationen nicht bloß die Validierung und Gewichtung von Maximen auf dem Spiel, sondern die Frage: „Welche Strategien sowohl zur situativen Kompensation als auch zur langfristigen Veränderung moralrestriktiver Handlungsbedingungen oder kognitiv restriktiver Diskursprobleme sind noch mit dem Dialogmoralprinzip verträglich, so daß sie die Zustimmung aller als Diskurspartner verdienen?“ Wer so fragt, der sucht nach der verantwortungsethischen Geltungsgegenseitigkeit B. Er denkt realitätsbezogen verantwortungsethisch. Erst mit dieser Fragestellung kann eine situationsbezogene Handlungs-, Maximen- und Normenbegründung ihren Abschluß finden. Eine Zwischenbilanz zieht das folgende Schema. Es setzt die allgemeine Prinzipienebene (Stufe 1 und 2) voraus und führt die Aufgaben der situationsbezogenen Handlungsorientierung und Normenbegründung vor Augen: 278 Zur quasidialogischen Bestimmung von Handlungsweisen als Antworten auf Situationen: D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Ffm 1985, bes. S. 247ff., 285ff. und 149ff. 199 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Wann kann eine Handlungsweise als moralisch richtig und eine situationsbezogene Norm als moralisch verbindlich gelten? Situationsermittlung (Sit. E) Notwendige Bedingungen: Verständigungsgegenseitigkeit Struktur und Medium Kommunikative Erfahrung Sinnkriterium Geltungskriterium Dialogpragmatische bzw. performative Widerspruchsfreiheit (der Beiträge zur Zustimmungswürdigkeit der SitInterpretation mit gewisser Priorität der Betroffenen Sit. E) Andere anhören, ihre Ansprüche und Situationen intern verstehen „Das Votum X ist ein sinnvoller, prüfbarer Diskursbeitrag.“ „Für die Sit-Int. X sprechen – auch aus Betroffenensicht – die meisten Indikatoren“ Handlungsnormierung Hinreichende Bedingungen: Geltungsgegenseitigkeit A und B A: für Diskursteilnehmer als Partner im Diskurs B: für D.partner als Beurteiler einer Strategie (Str) in Lebensund Systemwelt. Struktur und Medium Verallgemeinerbare Gegenseitigkeit durch Komm. Erfahrung i. S. idealer Situationsübernahme Prinzipienbezogenes (Pb) Geltungskriterium Zustimmungswürdigkeit (Zw.) bei idealer Diskurspartnerschaft mit Bezug auf unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft Dialogmoralprinzip („D“): „Bemüht euch um die Argumente und die Handlungsweise/Norm, die bei vorausgesetztem guten Willen der Beteiligten aufgrund der Prüfung aller Argumente zur Situation die Zustimmung aller als D.partner verdienen.“ Pb. und moralitäts-folgenbezogene Geltungskriterien 1) zwe. Sit.- und Folgeneinschätzung 2) zwe. Erfolgsfähigkeit der Kandidaten für eine Sit-Str 3) zwe. Moralverträglichkeit der vorgeschlagenen Sit-Str: 3.1) als konterstrategische Abhilfe/Notmaßnahme unter Vorbehalten oder aus Sicht des regulativen Ideengehalts von „D“ 3.2) als möglichst revisions-fähiges Moment einer moral.Langzeitstr. (zur Verbesserung der Handlungsbedingungen u. Überwindung der moral. Vorbehalte) Dialogmor. Verantwortungsprinzip („V“): „Bemüht euch um die SitStr und Langzeitstr., die aufgrund der Prüfung aller Argumente zur Situation die Zustimmung aller als D.partner verdienen.“ 200 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 6 Was heißt moralische Mitverantwortung für die Zukunft in der hochtechnologischen Zivilisation? Als im Jahre 1972 Europa und darüber hinaus die Industriegesellschaften der nördlichen Halbkugel vom Club of Rome die erste drastische Warnung vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals teils kapitalistischen, teils staatssozialistischen) technologischen Zivilisation erhielten, waren die Philosophen, die die Ethik hatten verkümmern lassen, auf die neuen Verantwortungsprobleme sehr schlecht vorbereitet. An der New School for Social Research in New York jedoch und an der Universität des Saarlandes waren zwei, durchaus komplementäre, Denker bereits dabei, eine Prinzipienethik der solidarischen Menschheitsverantwortung zu entwerfen: Karl-Otto Apel und Hans Jonas, ein rationaler Postkantianer und ein metaphysischer Postaristoteliker, beide auch Postheideggerianer. Vielleicht darf ich hier eine persönliche Bemerkung einflechten. Da mich in meiner Schulzeit seit Mitte der fünfziger Jahre die Gefahren der Atomversuche und die des atomaren Wettrüstens zwischen Ost und West umgetrieben hatten, suchte ich im Studium nach einer Ethik der Menschheitsverantwortung. Diese Suche führte mich von Albert Schweitzer und der „Ethik“ Dietrich Bonhoeffers samt seinen Briefen aus der Haft, über Paul Tillichs „Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus“ schließlich zur Hoffnungsmetaphysik Ernst Blochs und zum revisionistischen Marxismus um Sartre, Benjamin und die alte Frankfurter Schule. Doch konnte ich auf keiner dieser Stationen meinen Durst nach Prinzipieneinsicht und nach einer orientierungskräftigen „Theorie-Praxis-Vermittlung“, wie ich damals noch linkshegelianisch und ohne diskurspragmatische Sinnkritik sagte, wirklich stillen. Auch die bedeutenden Marxismusrevisionen und Rekonstruktionen des Historischen Materialismus, die zwischen Existentialismus und „Frankfurt“ erblühten und durch Jürgen Habermas ein kommunikationstheoretisches sowie hermeneutisches Profil erhielten, erschienen mir je länger desto mehr faszinierende Halbheiten zu sein, Aporien und Reflexionszerstörungen des Marxismus überdeckend. Die Kritik am marxistischen Dogmatismus und das zunehmende Gespür für den latent antiemanzipatorischen, ja latent totalitären Charakter des „Historischen“ sowie des „Dialektischen Materialismus“ brachte mich einerseits in die Nähe Kants, andererseits in die der Hermeneutik Gadamers. So war es eine befreiende und konsequente Horizonterweiterung, als ich in den späten sechziger Jahren dem hermeneutisch-pragmatischen Postkantianer Karl-Otto Apel begegnete. Nach 201 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Fertigstellung meiner radikal marxkritischen Dissertation279 hatte ich das Glück, an seinem Saarbrücker Lehrstuhl als Assistent zu arbeiten. Später, als er schon in Frankfurt und ich in Berlin lehrte, konnte ich ihn dann zur Mitarbeit in der Teamleitung des „Funkkollegs Praktische Philosophie/ Ethik“280, 1980/81, gewinnen. In Kooperation und Auseinandersetzung mit zahlreichen Fachkollegen wie Hans Albert, Hermann Lübbe und etwa Robert Spaemann, dessen Ethik der von Schweitzer und Jonas benachbart war, sowie mit Rechts-, Sozial- und Geisteswissenschaftlern wie Erhard Denninger, Iring Fetscher und Hans Paul Schmidt, entwarfen wir eine kommunikative Prinzipienethik: eine zugleich erkenntnistheoretische und moralphilosophische Antwort nicht allein auf die materiale Herausforderung der ‚ökologischen Krise’, sondern auch auf die geistige Herausforderung des herrschenden Rationalitätsverständnisses. Ich meine die Vorherrschaft eines zweckrationalen bzw. formaltheoretischen Rationalitätsbegriffs und die damit vermachte Prinzipienunfähigkeit der westlichen Moderne. Vor diesem Hintergrund differenzierten wir, zusammen mit Wolfgang Kuhlmann, die transzendentalpragmatische Begründung der Diskursethik, zu der Apel schon 1967 den entscheidenden Schritt getan hatte. In seinem Göteborger Vortrag „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik“281 hatte Apel eine „Paradoxie der Problemsituation“ konstatiert, die in der „modernen, erdumspannenden Industriegesellschaft“ den Geist der Zeit durchherrsche. Denn einerseits bedürfe es angesichts der ökologischen Gefahren und der Möglichkeit eines atomaren Krieges offenbar „einer universalen, das heißt für die menschliche Gesellschaft insgesamt verbindlichen Ethik“. Andererseits sei jedoch die „philosophische Aufgabe einer rationalen Begründung allgemeiner Ethik noch nie so schwierig, ja aussichtslos gewesen [...] wie im Zeitalter der Wissenschaft“, weil die Idee intersubjektiver Geltung durch das szientistische Konzept einer „normativ neutralen oder wertfreien ‚Objektivität‘“ blockiert werde.282 Der andere Prinzipiendenker, der andere weiße Rabe unter den Philosophen, Hans Jonas – persönlich lernte ich ihn erst 1990 auf der von Apel initiierten und von Audun Ofsti organisierten, norwegischen Konferenz „Ecology and Ethics“ kennen – hatte 1966 eine Naturphilosophie veröffentlicht, die ihn zum Postulat einer Ethik der Natur und deren ontologisch-metaphysischer Begründung führte, ohne daß er dabei schon ein Problembewußtsein 279 D. Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und ‚Theorie-Praxis-Vermittlung’, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1. Aufl. 1971, 2. korr. Aufl. 1972. 280 K.-O. Apel, D. Böhler, K. Rebel (Hg.): Funkkolleg Praktische Philosophie/ Ethik: Studientexte, 3 Bde. Neuauflage: Weinheim und Basel: Beltz Verlag, 1984. 281 Ausgearbeitet und publiziert in: Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 358-435. 202 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 der möglichen ökologischen Zerstörung oder Gefährdung der Menschenwürde durch Biotechnologie entwickelt hätte. Doch dieses Bewußtsein erwuchs ihm, als ihn 1967 die American Academy of Arts and Sciences in Boston um „philosophische Reflexionen über Experimente mit menschlichen Subjekten“ bat und er eine Kritik der Harvard-Definition des Todes als Gehirntod vorbrachte. Hier vertrat er die Maxime, daß es „kein absoluteres Recht gebe als das eines Menschen auf seinen Körper und daß niemand das Recht auf ein Organ eines anderen Menschen besitze“.283 Die Beobachtung, daß „die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen“ der technologischen industriellen Zivilisation, etwa „die Verschmutzung der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten“284 unermeßlich sind, führte Jonas zu der Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen „nach Maßstäben unserer irdischen Umwelt ... enorm gestiegen ... und ein Zustand erreicht worden ist, in dem beinahe alles möglich scheint“285. Daran schloß sich ihm die Einsicht an, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht auch die Verantwortung des Menschen größer werde, daß es nunmehr eine Verantwortung für die Umwelt, für die Zukunft und für die Menschenwürde gebe. Das war der Keim seines bescheiden betitelten aber groß angelegten „Versuchs einer Ethik für die technologische Zivilisation“, des 1978 erschienenen Werkes „Das Prinzip Verantwortung“.286 Hans Jonas‘ ontologisch-wertphänomenologische Ethik und Karl-Otto Apels kommunikationsbezogene „Transformation der Philosophie“, sind nicht allein von einer situationserhellenden Geistesgegenwart, sondern provozieren den relativistischen Zeitgeist und die prinzipienresignative Philosophie auch zu erneuter Begründungsanstrengung. Wozu? Meine diskurspragmatische Antwort lautet: Wir können und sollten demonstrieren, daß Vernunft – nunmehr begriffen als die kommunikative Tätigkeit des Erhebens und Prüfens von Geltungsansprüchen – an sich selber praktisch ist: fähig zu moralischer Orientierung und Verbindlichkeit. In diesem Sinne gilt ein Gutteil der Arbeit an meinem Lehrstuhl und am Berliner Hans Jonas-Zentrum der Auseinandersetzung mit dem intuitionsbezogenen, metaphysischen Denken von Jonas einerseits und der kommunikationsbezogenen 282 Ebd., S. 359. Hans Jonas, Erinnerungen, hrsg. v. Ch. Wiese, Frankfurt a.M.: Insel, 2003, S. 317. Der Vortrag erschien als „Philosophical Reflections on Experiments with Human Subjects“ in: Daedalus 98 (1969), S. 219-247. 284 So Jonas in dem Gespräch „Erkenntnis und Verantwortung“, in: Böhler/ Brune 2004 (s. oben Fußnote 1), S. 451: „Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.“ (S. 450) 285 Ebd., S. 452 f. 286 Erschienen in Frankfurt am Main, Insel Verlag. 283 203 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Transzendentalphilosophie Apels andererseits. Der Berliner Ansatz einer sokratischen Diskurspragmatik und dialogbezogenen Verantwortungsethik nimmt Grundgedanken der beiden komplementären Ansätze auf, um sie (nach kritischer Prüfung) zu präzisieren und weiterzuentwickeln. Im Folgenden wenden wir uns zunächst den Antworten zu, die Jonas und Apel auf die hochtechnologische Gefahrenlage gegeben haben (6.1), skizzieren ihre Begründungsansätze (6.2) und gehen dann zu der dramatischen Verantwortungsfrage über, vor die sich Politik und Ethik heute – aber wohl auch in alle Zukunft – gestellt sehen, die Frage der „Risiko“Verantwortung (6.3). Wer die Situationsanalyse von Jonas’ Verantwortungsbuch durchdenkt, kommt, wie mir scheint, unabweislich zu der Einsicht, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagiert haben, beschönigend und verfälschend sind. Man denke nur an den Begriff „ökologische Krise“. In Wahrheit leben wir aber nicht in einer bloßen „ökologischen Krise“; denn der dramatische Zustand einer Krise hat ein Ende und ist dann vorüber. Wir befinden uns vielmehr in einer hochtechnologischen Zivilisation, die ein neues Entwicklungsniveau der Menschheit darstellt, hinter das sie vermutlich nicht mehr zurück kann. Dieses neue Zeitalter ist permanent gefährlich: Von nun an können die wissenschaftlichen Innovationen mehr zerstören, als sich im Einzelnen prognostizieren und sowohl gegenüber künftigen Generationen als auch gegenüber der Idee der Menschheit und dem Prinzip der Menschenwürde verantworten läßt. Kurzum: Wir befinden uns in einer Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft. Das Ausmaß ihrer Gefahrendramatik wird ‚Normalität’. Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Fortdauer „echten menschlichen Lebens auf Erden“ in Frage stellen. So wies Jonas auf die kumulativen Effekte hin, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend verschlechtern oder gar zerstören. Die Diskussionen des Hans Jonas-Zentrums gehen deshalb davon aus, daß wir weder in einer bloßen „ökologischen Krise“ noch in einer „Risikogesellschaft“ leben, sondern in der kapitalistisch-dynamischen technologischen Gefahrenzivilisation, deren weitreichende Zerstörungen und Zerstörungspotentiale neue, stets zu erneuernde Verantwortungs-Engagements und Verantwortungs-Institutionen erfordern. 204 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 6.1 Jonas versus Diskursethik – zwei Antworten auf die wissenschaftlichtechnologischen Herausforderungen der praktischen Vernunft Begleitet von moralischer Furcht um den Menschen, machte sich Hans Jonas auf, die neuartige kollektive Verantwortung für die Möglichkeit oder aber die Vernichtung einer Zukunft zu denken: einer Zukunft, welche nicht allein schieren Gattungserhalt gewährleiste, sondern genügend Raum lasse für die Verantwortungsfähigkeit der Menschen und die daran haftende menschliche Würde. In der Verantwortungsfähigkeit für die unmittelbaren Folgen und die Zukunftsfolgen sieht Jonas offenbar – so liest es sich mehr zwischen den Zeilen und aus dem Kontext als in der Explikation – das moralische Kriterium für die Würde des Menschen, den Anspruch auf seine Ebenbildlichkeit Gottes. Diesen zugleich moralischen und theologischen Bezug setzt der Verantwortungsdenker, charakteristisch für seine metaphysische Ethik und Seinslehre verknüpfende Denkweise, an den Schluß seines Werkes „Das Prinzips Verantwortung“. Er pointiert dabei, daß seine Ethik eine „nichtutopische Ethik der Verantwortung“ sei: die Grundlegung der Alternative sowohl zu der faktisch utopischen Dynamik, die unsere hochtechnologische Zivilisation antreibe, als auch zu dem marxistischen Utopismus, der in seinem engen Bund mit der Technik eine ›eschatologisch‹ radikalisierte Version dessen darstelle, wohin ganz uneschatologisch der weltweite technologische Impuls im Zeicehn des Fortschritts ohnehin unterwegs ist.“ 287 Jonas‘ leitendes und ihr innerstes Motiv ist „die Hütung des ›Ebenbildes‹“: „das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit.“288 Diese Moralperspektive entnimmt er der biblischen Schöpfungstheologie. Diese Beerbung motiviert auch seine evolutionäre Metaphysik des Geistes und der Freiheit.289 Verschiedentlich treffen wir in seinem Werk auf Spuren einer spekulativen Theologie.290 Gleichwohl habe ich seinen moralphilosophischen Ansatz – und ich hoffe zu Recht – stets im Sinne einer autonomen säkularen Ethik der Mitverantwortung für das Schicksal der Menschengattung und für die Möglichkeit der Verantwortung interpretiert291. Ich verstehe sie als Prinzipienethik, deren normativer Gehalt Kriterien und Orientierung für das Moralische insgesamt teils enthält, teils unterstellt. Nur dann nämlich, wenn Jonas’ Idee eines Prinzips der Zukunfts-Verantwortung sich 287 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 390. A.a.O., S. 392, 393. 289 Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankf. a. M.: Insel, 1992, S. 209-255. 290 Ebenda und z.B.: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, in: a.a.O., S. 190 ff. 288 205 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 hinsichtlich allgemeiner moralischer Kriterien erläutern und als integrales Moment eines logisch universalen, rational einsehbaren Prinzips der Moral begründen läßt, nur dann ließe sich mit ihrer Hilfe auch die moralische Diskussion in der technologischen Zivilisation zulänglich orientieren. Ist eine solche, zugestandenermaßen kritische, Beerbung angemessen? Und welche Argumentationen müßte sie entwickeln, wenn sie Jonas’ moralisches Ansinnen unwiderleglich gültig und dessen normativen Gehalt als intersubjektiv verbindlich, erweisen will? Darum geht es in der Berliner Auseinandersetzung mit Hans Jonas zuallererst. Allerdings hat Jonas sein Werk „Das Prinzip Verantwortung“ manchmal in Richtung einer bloßen Ergänzungsethik oder Notstandsethik umschrieben292. Häufig wird er sogar ausschließlich in diesem Sinne interpretiert, wiewohl eine solche Auslegung weder Jonas’ Verbindung von Ethik und Ontologie293 gerecht werden dürfte, noch gar seiner Berufung auf den Menschenwürdegrundsatz in „Technik, Medizin und Ethik“. Jedenfalls teilen er und die diskurspragmatisch begründete Verantwortungsethik die Auffassung, daß der Ethik infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrschen, nunmehr eine ganz neue Stunde geschlagen hat: Alle Menschen seien selbst – irgendwie – mitverantwortlich dafür, daß und wie in Zukunft eine Menschheit möglich ist. Und die Philosophie stehe nunmehr vor der Aufgabe, diese – verglichen mit aller traditionellen Ethik – ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden Ungefähren, jenem „Irgendwie“, zu befreien. Das heißt aber: Die Philosophie ist einmal zu der Begründungsaufgabe herausgefordert, die Verbindlichkeit einer noch nie dagewesenen, und zwar kollektiven Verantwortung zu erweisen. Zum anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben, nämlich sowohl die situative Konkretion des Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen neu zu denken als auch Strategien für deren Realisierung und Durchsetzung in der Gesellschaft zu entwickeln und auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen. Für Kant stand die Konkretion des Moralprinzips, also dessen, was idealiter als moralisch bzw. gerecht zu gelten hat, im Mittelpunkt; so aber, daß er sie vorkommunikativ und bewußtseinsidealistisch als Test von Willens-Maximen leisten wollte: als gedankenexperimentelle Anwendung des Kategorischen Imperativs durch das einsame Subjekt. 291 In diesem Sinne: D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung: Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist“, in: EWD-3, S. 34ff, bes. S. 45ff. 292 Vgl. H. Jonas: Prinzip Verantwortung, S. 26f. 293 Dazu V. Hösle, „Ontologie und Ethik bei Hans Jonas“, in: Böhler (Hg.), E.Z., S. 105ff. 206 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Ohne an dem darin enthaltenen methodischen Solipsismus Anstoß zu nehmen, hat Max Weber den Ansatz einer bloß innermoralischen und insofern idealistischen Orientierung des „reinen Willens“ als unzureichend kritisiert: als Perspektive einer „Gesinnungsethik“, die sich blind mache für die möglichen unverantwortlichen Folgen eines unmittelbar moralgetreuen Verhaltens inmitten einer „ethischen Irrationalität der Welt.“294 In der Tat sehen sich der realistische Ethiker und der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, da die reale Welt Dilemmata der „schmutzigen Hände“ (Sartre) und der möglichen „Schuldübernahme“ (Weber und Bonhoeffer) bereithält. In diesem Sinne hat Karl-Otto Apel den Anstoß Max Webers als eigenständiges, geschichtsbezogenes Begründungsproblem ‚B‘ der Ethik pointiert. Im Umkreis des Berliner Jonas-Zentrums wird es sowohl kontrovers diskutiert295 als auch wirtschaftsethisch präzisiert.296 Meines Erachtens sind mindestens zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen Realisierungsfragen vom Typ B zu unterscheiden: einerseits die moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Barrieren und Widerstände gegen eine moralische (das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm mit welcher Strategie überwunden werden müssen bzw. sollen, und andererseits die moralkonservative Bewahrungsfrage, welche ethischen Traditionen, Institutionen und lebensweltlichen Intuitionen dem Dialog-Moralprinzip entsprechen, so daß sie nach Möglichkeit bewahrt bzw. entwickelt werden sollten. Es ist nützlich von dieser verantwortungsethischen Perspektive einen Blick auf die Diskursethik zu werfen. Auch sie geht von der gleichsam intrinsisch moralischen Konkretionsaufgabe aus. Auch sie will, insofern wie Kant, vom abstrakt Prinzipiellen zu Leitlinien möglichen Handelns kommen, die eine moralisch verbindliche Orientierung für konfliktträchtige Handlungssituationen geben. Heute bedarf es hierzu zuallererst eines begrifflichen und methodischen Rahmens für die moralische Konkretion der neuen Zukunfts-Verantwortlichkeit. Apel spricht von der Anwendung des Moralprinzips vermittels idealisierender Diskurse. Das 294 Max Weber, „Politik als Beruf“, in: Ges. Polit. Schr., bes. S. 549ff. Vgl. einerseits Böhler, „Idee und Verbindlichkeit“ in: EWD-3, bes. S. 63ff, 199ff und K.-O. Apel, „Diskursethik als Ethik der Mitverantwortung vor den Sachzwängen“ in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001, bes. S. 74ff. Andererseits M. Werner, Diskursethik als Maximenethik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, bes. S. 199ff, 237ff. 296 So von Th. Bausch: „Unternehmerische Verantwortung im Lichte universalistischer Prinzipienethik“, in: Steinmann u. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus. Philosophische Grundlagenprobleme des interkulturellen Managements, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998, S. 322-347. Ferner Th. Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik. EWD-4, Münster: LIT, 2002, (zit. EWD-4), S. 58ff und Teil III. Weiterführend: Falk Schmidt, „Eine EWD-Perspektive der Wirtschaftsethik angesichts der Schulpositionen von Karl Homann und Peter Ulrich“, in: Bausch, Böhler, Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral. EWD Bd. 12, Münster (LIT) 2004, S. 85-101. 295 207 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 wäre – nach einem geleisteten Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips als dem Begründungsschritt A 1 – der Konkretionsschritt A 2 der Diskursethik. Und wenn Habermas von ‚praktischen Diskursen‘ spricht, denkt er, bei realistischem Lichte besehen, an nichts anderes; denn er hat dabei stets die kontrafaktische Unterstellung gemacht, alle würden sich als Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten – auf argumentativen Konsens gerichtet und mit dem guten Willen, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher konnte er durchgängig auf „allgemeine (sic!) Normenbefolgung“297 und reine Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte von ‚D‘ für die reale Handlungsorientierung differenziert hätte. Das aber hatte Apel mit seinem, allerdings unglücklich so genannten „Ergänzungsprinzip“ im Sinn. Denn als universalistisches Moralprinzip verlangt das Prinzip ‚D‘, welches zur Bemühung um zustimmungswürdige Argumente und Vorschläge verpflichtet, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen entgegenstehen.298 In der realen Lebenswelt müssen wir damit rechnen, daß moralische und bereits rechtliche Normen gerade nicht allgemein befolgt, sondern auch egoistisch bzw. partikular interessiert unterlaufen oder aber aus Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z. B. angesichts einer Notlage) dispensiert oder uminterpretiert werden. In der gesellschaftlichen Systemwelt kommt hinzu, daß sie umgebogen oder neutralisiert bzw. konterkariert werden können durch die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ‚Sachzwang-Macht‘ gesellschaftlicher Subsysteme (wie Recht, Politik, Wirtschaft). Jedenfalls kanalisieren und modifizieren zahlreiche Institutionen die normativen Gehalte durch ihre Routinen und Mechanismen. Auf der anderen Seite hat die geistige und institutionelle Entwicklung der neuzeitlichen, zumal der modernen Gesellschaften rechtsstaatliche Institutionen der Beratung und des öffentlichen Rechts hervorgebracht, die m.E. geradezu als Realisierungsbedingungen kollektiver Verantwortung gelten dürfen. Jedenfalls müßten verantwortungsethische Strategien auch gesellschaftspolitisch verantwortbar sein, so nämlich, daß sie an solche Institutionen schonsam anknüpfen, statt sie etwa revolutionär zu gefährden. Daraus ergeben sich verschiedene moralpraktische Aufgaben, die bei Jonas zwar z.T. anklingen, aber weder als eigenständige Aufgaben differenziert noch begründungslogisch geklärt und aus dem Moralprinzip abgeleitet werden. 297 Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 53-126, bes. S. 103. 208 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Gemäß der eben getroffenen Unterscheidungen wäre zunächst, im Blick auf Lebenswelt und Gesellschaft, zu fragen: Welche faktischen ethischen Orientierungen – man denke an religiös ethische Intuitionen und Traditionen aber auch an Konventionen, rechtsstaatliche Institutionen – werden dem Moralprinzip gerecht, so daß sie bewahrt und entfaltet werden sollten? Das wäre der moralkonservative Schritt B 1 des Verantwortungsdiskurses. Angesichts der „ethischen Irrationalität“ und auch der Nonmoral, die in Gesellschaften bestehen kann, stellt sich freilich die kritische Aufgabe, moralischen Perspektiven gegen allerlei Widerstände zum Erfolg zu verhelfen. Zunächst ginge es darum, in situationsklärenden Diskursen und in zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition spricht hier, seit Aristoteles, fälschlicherweise bloß von „Klugheit“ – moralische Durchsetzungsstrategien zu suchen, die dreierlei leisten müssen: Sie sollen zunächst genau und daher hermeneutisch kommunikativ die besondere Situation berücksichtigen (Situationsdifferenz!),299 außerdem sollen sie erfolgsfähig sein. Das wäre die Fragestellung einer moralstrategischen Diskursstufe B 2. Hinzu kommen sogleich die strategiekritischen Aufgaben, in moralischen Diskursen zu prüfen, ob die entwickelten Strategien wirklich mit dem Moralprinzip vereinbar, also moralisch verantwortbar sind: dienen sie in der Tat dem Erfolg des Moralischen? Und konkret: Lassen sie sich einbetten in eine langfristige moralische Strategie zur Verbesserung der Handlungsbedingungen? Das wären die beiden prinzipienbezogenen und darum eigentlich verantwortungsethischen Fragestellungen, die ich als die Diskursstufen B 3 und B4 einzuführen vorschlage. Die verantwortungsethischen Diskursstufen klären die Fragen, dessen sich eine zukunftsverantwortliche Prüfung und Entscheidung stellen muß: B1 Welche Institutionen, Traditionen, Motivationen sind zu hüten? B2 Welche Strategien können gegebene Widerstände gegen Zukunftsverantwortlichkeit überwinden? B3 Welche dieser Strategien sind zumutbar, verantwortbar und moralverträglich? B4 Kann die vorgeschlagene Strategie Teil einer langfristigen moralischen Verbesserungsstrategie sein? 298 Dazu die Klärung von: H. Gronke, „Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik“, in: A. Dorschel, M. Kettner u.a. (Hg.), Transzendentalpragmatik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 273ff, bes. S. 232ff. 209 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Auch für die verantwortungsethischen Fragen spielt, wie wir sahen, das Moralprinzip die letztlich entscheidende, kriteriale Rolle. Nichts geht ohne ein Moralprinzip mit Kriterien zur rationalen Abwägung jener Folgelasten, welche eine Strategie für die durchaus verschiedenartigen „Betroffenheitslagen“ und die recht „komplexen Entwicklungspfade“ der Gesellschaften (M. Werner)300 und für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter einer Gesellschaft nach sich ziehen kann. Daher wäre die Fassung des Moralprinzips als eine Norm, welche bloß geböte, die Vernichtung der Menschheit zu vermeiden, ganz unzureichend. Es bedarf, wie Apel und Werner betont haben, mehr als eines puren Bewahrungsprinzips und mehr als einer bloßen Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu nicht gewisse Ansätze? Leistet er nicht für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des Moralprinzips einen wichtigen Beitrag durch seinen phänomenologischen Umgang mit ethischen Intuitionen? Hätte die Transzendentalpragmatik davon nicht zu lernen? Jonas antwortet zunächst auf die äußeren Herausforderungen der praktischen Vernunft, die mit den von der technologisch-kapitalistischen Zivilisation verursachten Gefährdungen der Menschheit und der Natur gegeben sind. Die transzendentalpragmatischen Diskursethiker geben eine verwandte Gefahrenanalyse, wenngleich sie das demokratische Erfordernis einer – möglichst auf öffentlicher Verständigung mit den Beteiligten und Betroffenen beruhenden – differenzierten Situationsanalyse Herausforderungen eine betonen. zeitgeist- und Außerdem sehen sie zivilisationstypische mit den innere, äußeren nämlich rationalitätstheoretische und fundamentalphilosophische Herausforderung, verbunden: eine „Selbstparalyse der Vernunft“ (Apel) bzw. der universalistischen Verantwortung. Paralysiert wodurch? Durch die moderne Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität. Daraus ergeben sich unterschiedliche Ansätze, deren wichtigste Pointen ich hier zunächst vorstelle. Jonas’ Analyse der äußeren Herausforderung der praktischen Vernunft führt ihn zunächst zu einer Erweiterung ihres traditionellen Horizonts, die sich gut mit den von Karl-Otto Apel seit 1967 bzw. 1973 verwendeten Termini für die drei Auswirkungsdimensionen menschlichen 299 Dazu meine Hermeneutik der Differenzen in: Rekonstruktive Pragmatik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, (zit.: Rekonstruktive Pragmatik), bes. S. 143-163; 247-268, 309-347. 300 Werner, Micha H. (2003b): Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie? In: W. E. Müller (Hrsg.): Hans Jonas: Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik. Stuttgart (W. Kohlhammer) 2003, S. 227-243, hier S. 233f. Ders., Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung. In: M. Düwell, K. Steigleder (Hrsg.): Bioethik – eine Einführung. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003, S. 41-56, hier S. 43f. 210 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Verhaltens in der technologischen Zivilisation301 – Mikro-, Meso- und Makrodimension – erläutern läßt. 1. In der traditionellen Ethik ist die Dimension der ethischen Probleme räumlich und zeitlich eingeschränkt gewesen, nämlich auf das Verhalten in Gemeinschaften und zwischen Personen, also auf eine soziale Mikro-Dimension konzentriert gewesen – eine Nächstenethik. Zudem gab es das stets prekäre Verhältnis zwischen Staaten und Völkern, die politische Meso-Dimension. Allerdings hat man die internationalen Beziehungen lange Zeit entweder als moralisch neutralen oder doch am Rande der Moral gelegenen Ausnahmetatbestand der (als quasi natürlich angesehenen) Selbstbehauptung von Stämmen und Völkern betrachtet und so aus der Ethik ausgeklammert. Im Dreißigjährigen Kriege, angesichts des Blutterrors der konfessionellen Bürgerkriege, wurden sie eigens zum Thema der Ethik und des Völkerrechts gemacht – vor allem dank Hugo Grotius.302 Dennoch galten sie auch seither in erster Linie als Sache der Staatsräson,303 also der Klugheit der Staatsmacht. Im 20. Jahrhundert hat jedoch sowohl die technologische Kriegsführung – zumal durch Massenvernichtungsmittel vom Gas bis zu modernsten ABC-„Waffen“ – als auch die massenhafte friedliche Verwendung von Hochtechnologien in Lebenswelt und Gesellschaft völlig neue Faktoren „in die moralische Gleichung“ eingeführt, um mit Jonas zu sprechen. Als erstes dieser neuartigen Faktoren gibt „Das Prinzip Verantwortung“ die hochtechnologische „Unumkehrbarkeit im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung“ an.304 Daraus, daß die Wirkungen des hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens kaum noch räumlich und zeitlich eingrenzbar sind, ergebe sich eine neue Verantwortungsdimension, die zumal ökologische Makro-Dimension. In der Tat können heute und inskünftig zahlreiche Wirkungen menschlichen Verhaltens die ganze Erde, ja die Öko- und Biosphäre, betreffen. Erstmals auch können sie dermaßen gravierend sein, daß sie die Existenz der Gattung Mensch nicht allein in Mitleidenschaft ziehen sondern diese selbst gefährden. Jetzt steht die Menschheit vor der bis dato unbekannten Herausforderung Zukunftsverantwortung.305 Das Unheimliche dieser Herausforderung rührt auch daher, daß zahlreiche Nebenwirkungen des technisch zivilisatorischen Kollektivverhaltens einen „kumulativen Charakter“ haben, wie Jonas betont: „gewisse Wirkungen addieren sich, so 301 Karl-Otto Apel, Transformation , S. 359-361. Ders., „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: Ders., Böhler, Kadelbach (Hg.), Funk-Kolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt/M. (Fischer-TB), 1984, hier: S. 49-69. 302 H. Grotius, De iure belli ac pacis, ed. W. Schätzel, Tübingen 1950. 303 Vgl. F. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München/ Berlin (Oldenbourg) 1929. 304 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 27. 305 Vgl. D. Böhler u. R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, 2.Aufl. Münster (LIT) 1993. 211 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was schon getan ward.“ Demgegenüber rechnete „alle herkömmliche Ethik [...] nur mit nichtkumulativem Verhalten“.306 In diesem Sinne hat auch Apel 1980 in dem erwähnten Funkkolleg sowohl die noch nie dagewesene Makrodimension menschlicher Handlungsfolgen als auch das Ineinandergreifen der drei Auswirkungsdimensionen des Handelns in der High-Tech-Zivilisation zu Bewußtsein gebracht: „Es zeigt sich […], daß ethische Probleme in der Gegenwart in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auftreten: - in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben; - in einem Mittel oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, die etwa Gruppeninteressen oder Nationalinteressen vertreten, und - in einem Groß- oder Makrobereich der solidarischen Verantwortung für das einheitliche Lebensinteresse der menschlichen Gattung in der Gegenwart und in der Zukunft. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu ethischen Problemen des Makrobereichs, also der weltweiten Dimension menschlicher Verantwortung, zu werden. So wird zum Beispiel das scheinbar private IntimsphärenProblem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen […] über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde. Und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung, die früher vielfach als außermoralisch angesehen wurden – nehmen auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an: eine Dimension, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann.“307 2. Die Einsicht, daß ethische Probleme nunmehr in drei Wirkungsbereichen zu suchen sind, bedeutete einen ethikumwälzenden Schritt bei dem Versuch, den Gegenstand menschlicher Verantwortung zu vermessen. Doch war dieser Schritt kaum getan, als Hans Jonas ihn bereits überholte. Denn schon bei Erwerb jener Einsicht spürte der philosophische Biologe und 306 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 27. Apel, „Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft“, in: Ders. u . a. (Hg), FunkKolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Ff. a. M. (Fischer Tb) 1984, S. 50 und: ders. in: Funkkolleg: Studientexte, Bd. 1, S. 18. 307 212 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Medizinethiker Jonas, daß sich auch eine neue Tiefendimension der moralischen Verantwortung auftut: eine Verantwortung für grundlegende Moralideen und insgesamt für das Menschenbild. Der gewaltige Technologiefortschritt gefährde nämlich das Menschenbild und substantielle Moralbegriffe wie ›Menschenwürde‹ und ›Autonomie‹, weil er bereits die menschliche Natur und deren Zukunft manipulieren und sie durch allerlei genetische Manipulation, z. B. durch Klonierung, tiefgreifend verändern könne. „Ob wir dazu das Recht haben, ob wir für diese schöpferische Rolle qualifiziert sind, ist die ernsteste Frage, die dem plötzlich im Besitz solch schicksalhafter Macht sich findenden Menschen gestellt sein kann. Wer werden die >Bild<-Macher sein, nach welchen Vorbildern, und auf Grund welchen Wissens? Auch die Frage nach dem moralischen Recht, mit künftigen menschlichen Wesen zu experimentieren, stellt sich hier. Diese und ähnliche Fragen, die eine Antwort verlangen, bevor wir uns auf eine Fahrt ins Unbekannt einlassen, zeigen aufs eindringlichste, wie weit unsere Macht des Handelns uns über die Begriffe aller früheren Ethik hinaustreiben.“308 Achtundzwanzig Jahre nachdem Hans Jonas seine Mahnungen „mit Furcht und Zittern“309 vorgebracht hat, dramatisiert sich einerseits die ökologisch-klimatische Verfassung: zahlreiche Probleme der Makrodimension sind gefährlicher denn je – die Ausdünnung der Ozonschicht, die zunehmende Erwärmung und das Abschmelzen der Pole, der Wassermangel und die Verschlechterung der Wasserqualität, die Zunahme der Weltbevölkerung und des Welthungers – und manche Zivilisationsfolgelasten – wie die Belastung durch Feinstaub – sind noch hinzugekommen. Andererseits spitzt sich auch jene „ernsteste Frage“ zu; denn die von Jonas skizzierte Tiefendimension einer Verantwortung für den begrifflichen Rahmen der Verantwortung, mithin für die kognitive Realisierbarkeit der Moral, ist mittlerweile gesellschaftlich virulent. Werden doch heute grundlegende Moralbegriffe wie Menschenwürde und verbreitete religiöse Moralintuitionen wie Ehrfurcht vor dem Leben – ganz im Einklang mit einem utilitaristischen und liberalistischen Zeitgeist – faktisch zurückgestellt, relativiert und partikularen Interessen (wie Kinderwunsch kinderloser Paare) oder individuellen Heilungswünschen bei bislang unheilbaren Krankheiten untergeordnet. Es ist dies eine Relativierung allgemeiner Güter erster Ordnung, nämlich von moralischen Diskursgütern, die wir zur Selbstverständigung und zur Realisierung praktischer Vernunft benötigen, wie unser Organismus sauberer Luft zum Atmen bedarf. 308 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 52f. 309 Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, in: ders.: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Stuttgart Reclam 2004, S. 26, vgl. S. 24ff. 213 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Heute wird das allgemeine Diskursgut „Achtung der Menschenwürde“ dadurch eingeschränkt oder faktisch umdefiniert, daß es entweder gegen besondere Güter, wie es die Lebensinteressen einzelner sind, oder gegen grundsätzlich partikulare Güter wie das Gesamtinteresse der pharmazeutisch-technologischen Industrie abgewogen wird, oder daß es solchen Nahinteressen faktisch untergeordnet wird. Abwägen läßt sich nur prinzipiell Gleichwertiges, nicht aber ein Gut erster Ordnung gegen eines der zweiten Ordnung. Andernfalls es überhaupt keine erste Ordnung, keine Prinzipien- und Kriterienebene gäbe; also auch keinen Bezugspunkt für begründete Abwägungen. (Am Beispiel der Menschenwürde müssen wir auf das Verhältnis Diskursgüter versus Interessengüter zurückkommen, weil die Reichweite des Diskursgutes „Menschenwürde“ umstritten ist.) Überlegungen dieser Art zeigen an, wie die neuartigen äußeren Herausforderungen der technologischen Zivilisation, die wir landläufig und verharmlosend, ja fälschlich „ökologische Krise“ genannt haben, unversehens in innere Herausforderungen der praktischen Vernunft übergehen. Karl-Otto Apel war es, der diese Unterscheidung getroffen und einen begrifflichen Rahmen zur Diagnose dieser geistigen Herausforderungen vorgelegt hat; eine Strukturanalyse des Zeitgeistes der modernen westlichen Zivilisation. Darauf werden wir noch eingehen. 3. Zunächst blicken wir mit Hans Jonas auf den Erkenntnisbezug des moralischen Urteils, wie ihn die ethische Tradition des Abendlandes angesetzt hatte. Hier herrschte eine ausgesprochene Naivität vor. Sowohl die Aristotelisch-Thomasische Tradition der Wertethik des guten Lebens als auch die normative Ethik seit Kant gingen ganz selbstverständlich von folgender Voraussetzung aus: da die sittlichen Probleme aus dem ‚mir‘ jeweils vertrauten „Nahkreis des Handelns“ entspringen, kann ‚ich’ auch jeweils aufgrund ‚meines‘ alltagsweltlichen Erfahrungswissens und ‚meines‘ common sense hinreichend erkennen, was moralisch richtig oder praktisch gut ist; eines Wissenserwerbs und einer Beteiligung an Diskursen zur Erkenntnis der Handlungssituation bzw. der Handlungsfolgen bedarf es weiter nicht.310 Demgegenüber pointiert Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt „lauter präzedenzlose Situationen“ schaffe, für die „die Lehren der Erfahrung ohnmächtig“ seien, woraus er die Konsequenz zieht: „Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht [...], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.“311 Wir sehen uns also dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, uns bestmögliches Folgenwissen zu beschaffen. 310 311 Ebd., S. 23 ff. Ebd., S. 28. 214 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Freilich gelangt Jonas sogleich zu einem ernüchternden Resultat, dessen wissenschaftstheoretischer Gehalt auch zu den Einsichten Karl R. Poppers gehört312: ein Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, mithin auch das Folgenwissen für die geschichtliche Welt und für die Biosphäre der Erde, könne nie das der exakten bedingten Prognose sein, weshalb es stets unzulänglich bleibe. Aus dieser Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ergibt sich ein scheinbar paradoxes Ausgangsproblem der Verantwortungsethik, das Jonas herausgearbeitet hat. Eine Ethik der Zukunftsverantwortung müsse zweifellos als Wissensethik angelegt sein; so aber, daß sie von vornherein die Wissensgrenzen berücksichtigt, um Verantwortungsrichtlinien für die unvermeidlichen RisikoEntscheidungen bei Unsicherheit begründen zukönnen. „Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik“313. Vor diesem Hintergrund entwickelt Jonas seinen Imperativ der Zukunftsverantwortung – als ein Prinzip der Vorsicht – aus Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche gegenüber „der zukünftigen Menschen und im Blick auf die Idee der Menschheit“ als Geltungsinstanz. Freilich meint Jonas, daß diese Geltungsinstanz eigentlich im Sein selber liege. Über diese heikle Ineinssetzung von Sein und Sollen, Gegenstand der Verantwortung und Instanz der Verantwortung müssen wir noch nachdenken … Doch gehen wir zunächst auf die, schon für sich genommen ungewöhnliche, Pflicht des Wissens zurück, die Jonas gleichzeitig mit der Diskursethik in die Moralphilosophie einführt. Herauszuarbeiten, was das bedeutet, war eines der Anliegen, denen sich der Name und die Idee „Diskursethik“ verdankt – hier als genitivus subiectivus: Ethik für Diskurse bzw. für das Verhalten von uns als Denkenden, als Teilnehmern an Diskursen. Zugrunde liegt die Überlegung, daß eine Ethik für die moderne Zivilisation das naturwissenschaftliche und technologische aber auch das sozio-ökologische Wissen sogleich einbeziehen müsse, wenn sie denn zu einer situationsbezogenen moralischen Urteilsbildung anleiten will. 312 Vgl. Karl R. Popper, „Naturgesetz und theoretische Systeme“, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität, Tübingen: Siebeck/Mohr, 1964. Auch in Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln: Kiepenheuer, 4. Aufl. 1967. 313 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 28. 215 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Auf besagter konkreten Ebene ist eine ebensowohl interdisziplinäre wissenschaftliche wie betroffenenbezogene unabdingbar, die sich an der regulativen Idee der Verständigungsgegenseitigkeit bemißt. Mit dieser Situationsermittlung muß die Gewinnung konkreter situativer Normen verknüpft werden, und zwar als interdisziplinärer Diskurs aufgrund von Argumenten und Informationen. Erforderlich ist hier eine Verbindung von theoretisch empirischen Diskursen, die auch wissenschaftlich distanzierend bzw. objektivierend, aber primär verständigungsorientiert klären, wie eine jeweilige Situation zu interpretieren sei, mit praktisch moralischen Diskursen, welche zunächst der Prinzipien- oder Richtungsfrage nachgehen, was wir tun sollen, d.h. wozu wir eigentlich verpflichtet sind, wenn die Situation X als gegeben angenommen werden kann. 4. Die „Frankfurter Schule“ hat seit Max Horkheimer pointiert, daß die innere bzw. geistige Herausforderung der technologischen Zivilisation zu einem Gutteil aus ihrer formalistischen und zweckrationalistischen Verkürzung des Vernunftbegriffs erwächst: Aus der einst umgreifenden, das Dasein im Sein orientierenden Vernunft sei eine bloß instrumentelle Rationalität geworden.314 Darauf antwortet die Transzendentalpragmatik gänzlich unmetaphysisch, indem sie die implizite Moral der Wissenschaften aufdeckt. Ist es doch moralisch hoch bedeutsam, daß der Rationalitätskern der wissenschaftlich-technologischen Zivilisation, das theoretisch-empirische Wissen als wahrheitsfähiges Wissen, nur in der zugleich universalistischen und dialogischen, daher moralisch geladenen, Form eines argumentativen Diskurses geltend gemacht werden kann. Moralisch gehaltvoll ist die Diskursform, weil sie die Logik der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit aufgrund einer zwiefachen Anerkennung hat: vorausgesetzt ist sowohl die intersubjektive Anerkennung aller möglichen Diskursteilnehmer als gleichberechtigter Argumentationspartner wie auch die meta-institutionelle Achtung des argumentativen Diskurses als letzthinniger Instanz für Gültigkeit. Insofern setzt auch ein Naturwissenschaftler voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte Diskurspartner mit gleichen Diskursrechten anerkennen soll und von vornherein auch will. Denn er selbst ist es ja, der mit dem wissenschaftstragenden Geltungsanspruch denkt und forscht, seine Ergebnisse seien wahr und verdienten daher die freie begründete Anerkennung jedes kompetent verfahrenden Prüfers bzw. Kritikers. Dieser Anerkennungsanspruch setzt umgekehrt den guten 216 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Willen voraus, jeden möglichen kompetenten Kritiker als gleichberechtigten Diskurspartner zu achten. Der kognitive Geltungsanspruch enthält eine Gerechtigkeitsverpflichtung. Schon diese Gerechtigkeitspräsupposition, nämlich die vorausgesetzte Anerkennung der Pflicht zur Diskursgerechtigkeit, zeigt an, daß die Herausarbeitung der Diskussionsform des Wissens moralisch von Belang ist. Darauf läuft Apels Königsargument (von 1967/1973) hinaus, das eine Kommunikationsethik der Logik bzw. der Wissenschaft gegen die szientistische und zweckrationalistische Entmoralisierung der Vernunft geltend macht: eine Kommunikationsethik im Rücken des empirisch-theoretischen Gegenstandsbezugs der Naturwissenschaften. Durch Reflexion auf die, im Rücken der empirischen und theoretischen Wissenschaftsarbeit wirksame Pragmatik der Geltungsansprüche kommt eine Diskursethik ins Spiel. Denn aus der diskurspragmatischen Dimension der wissenschaftlichen Forschung als Geltendmachen von Hypothesen und Theorien, als Kritisieren und Diskutieren dieser, ergibt sich eine implizite Ethik für Diskurspartner. So konnte Apels Idee einer transzendentalpragmatischen Aufdeckung des zwiefachen Kommunikationsaprioris315 und das Programm einer Rekonstruktiven Pragmatik316 sokratisch-kantisch an Karl R. Popper anschließen, ohne dessen Existentialismus bzw. Dezisionismus teilen zu müssen. Popper vertritt in normativen Fragen, in Sachen der Normenbegründung bzw. der Gültigkeit moralischer Normen, einen konsequenten Dezisionismus – womöglich noch konsequenter als Max Weber, dessen Position er gewissermaßen aktualisiert und zuschärft: Der Geltungsstatus von Normen sei der einer „moralischen Entscheidung“; und diese bestimmt Popper im Kontext des zweiten Bandes seiner Offenen Gesellschaft als eine letztlich irrationale Wahl oder als Ausdruck eines „Glaubens“.317 Dort erörtert er die Entscheidung für die Moral der Wissenschaft oder des, seinerseits undogmatisch bzw. kritisch verstandenen Rationalismus – also etwa dafür, „auf kritische Argumente zu hören und von der Erfahrung zu lernen“ sowie „durch Argument und durch sorgfältiges Beobachten zu einer Art Übereinstimmung zu gelangen“.318 Es ist diese Einstellung – immerhin die der Rationalität oder, wie er auch emphatisch sagen kann, die der Vernunft – von der Popper sagt, daß sie „auf einem irrationalen Entschluß oder auf dem Glauben 314 Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, FfaM (Fischer 1967). K.-O. Apel, „Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion“, in: ders. Transformation II, S. 311ff, bes. 327ff. Ders., „Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Grundlagen der Ethik“, ebd., S. 358ff. 316 Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, Kap. II und VI. 317 K. R. Popper, Falsche Propheten. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Bern (Francke) 1958, S. 284ff. Vgl. derselbe, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I; Der Zauber Platons, Bern (Francke) 1957, bes. S. 96ff. 318 Popper, op. cit., Bd. II, S. 276. 315 217 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 an die Vernunft beruht.“319 Deshalb kann er „die rationalistische Einstellung“ geradewegs „einen irrationalen Glauben an die Vernunft“ nennen.320 So ist der „kritische Rationalist“ davon überzeugt, daß man „an die Stelle einer transzendentalen Begründung seines normativen Wissenschaftsprinzips einen ›act of faith‹ des einzelnen Wissenschaftlers setzen müsse: Der Wissenschaftler müsse sich als einzelner im Sinne einer – logisch gesehen – arationalen Wahl für die Regeln der kritischen und moralgeladenen Institution Wissenschaft allererst entscheiden. Nun ist zweifellos eine >willentliche Bekräftigung< (Apel) der Norm kritischer Prüfung erforderlich, wenn man sich wirklich wissenschaftlich verhalten will321. Aber das ist eine Sache der persönlichen Motivation und Selbstkontrolle; sie betrifft nicht die Geltung und Rechtfertigung, sondern die konkrete Realisierung des kritischen Prinzips. Popper meint mehr und anderes: Er kann den Grund für die Verbindlichkeit der Norm kritischer Prüfung nur in der freien Entscheidung der einzelnen sehen. Er vertritt also in geltungslogischer Hinsicht gleichsam einen Wissenschafts-Existentialismus. Dieser stimmt mit der Hauptthese des spätliberalistischen, nämlich bloß kontraktualistischen, Demokratieverständnisses überein, daß bereits das Faktum der freiwilligen Anerkennung der demokratischen Spielregeln der zureichende Grund für deren Verbindlichkeit sei. Hier wie dort tritt an die Stelle praktischer Vernunft die ihrerseits nicht begründbare und hinsichtlich ihres Status nicht vernünftige Entscheidung für etwas, das doch als das Vernünftige in Anspruch genommen wird.“322 Hier liegt der analoge Selbstwiderspruch in der szientistischen Wissenschaftsbegründung und einer bloß vertragstheoretischen Demokratiebegründung. Beide können nicht argumentativ einholen, was sie in Anspruch nehmen: einsichtige Verbindlichkeit.323 Fassen wir das Argument zusammen: Die Zurückführung des rationalen Diskursverhaltens auf eine arationale Entscheidung ist unzutreffend. Zwar bedarf es immer wieder einer Willensanstrengung, einer Art Entscheidung für die Praktizierung der wissenschaftlichen Selbstkritik, Achtung der Kritiker usw. Doch haftet dieser Quasientscheidung nichts bloß Arationales, gar Irrationales an, wie Popper annimmt. Denn sie ist allein „eine willentliche Bekräftigung“ jener Anerkennungsnormen und Rationalitätsmaßstäbe, die den argumentativen Diskurs tragen und die jeder Diskursteilnehmer durch seine Teilnahme daran, z.B. jeder 319 A. a. O., S. 285. A. a. O., S. 284 u. 285. 321 So K.-O. Apel, Transformation, Bd. 2, S. 411f. 322 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, S. 358. 323 Zur Pointierung dieser Verbindlichkeitsaporie der bloßen Vertragstheorien seit Hobbes, die Apel, Böhler und Habermas herausgestellt haben, vg. Böhler u. Rähme, „Konsens“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, 1998, S. 1275ff. 320 218 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Wissenschaftler durch sein Forschen implizit bereits als verbindlich vorausgesetzt hat.324 Mithin läßt sich der moralische Kern des „Kritischen Rationalismus“, Poppers Ethos des selbstkritischen Forschers in einer offenen Gemeinschaft, als angemessene Entsprechung zur intersubjektivdialogischen Form des Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis aufweisen. Das Erheben von Geltungsansprüchen schließt Moralität ein, einmal in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Diskurspartnern, zudem in Gestalt der Selbstverpflichtung auf den argumentativen Diskurs als die letzte Geltungsinstanz. 5. Wenn an der Basis der wissenschaftlichen Rationalität und in den Präsuppositionen des Argumentierens schlechthin moralische Verbindlichkeiten aufgewiesen werden können, dann ist Vernunft nicht bloß theoretischer, technischer und ökonomischer Natur, nicht ein bloßes Vermögen des Analysierens und Rechnens, sondern zugleich moralisch orientierend und apriori verpflichtend. Dann ist eine Selbsterkenntnis der Vernunft möglich, welche die moderne Selbstinfragestellung der Vernunft als praktischer, moralischer Instanz zurückzuweisen erlaubt. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht konnte Apel das moderne westliche Vernunftverständnis als Komplementarität analysieren: Einerseits werde die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das formale Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin monopolisiert; andererseits würden Wert- und Normfragen zu einem ‚act of faith‘ (Popper), einem existenziellen und eben irrationalen Entscheidungsakt subjektiviert. Diese, auch von Jonas berührte, Komplementaritätsstruktur325, von Apel geradezu als „Komplementaritätssystem“ des modernen westlichen Geistes entfaltet, erklärt die Idee einer praktischen Vernunft für obsolet und illusorisch326. Ihr zufolge ist es unmöglich, moralische Ansprüche auf der objektiven oder intersubjektiven Ebene der Vernunft, also des Erweisbaren, prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen. Es sei sinnlos, praktische Fragen wie die Frage nach dem „Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren.“327 Vernunft wird auf formale Logik plus Zweckrationalität und theoretisch-empirischen Wissenserwerb verkürzt, sie schrumpft zur „subjektiven“ und „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer). Infolgedessen fällt der 324 Dazu K.-O. Apels, Transformation der Philosophie, Bd. 2, S.??# Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 57. 326 „Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.“, in: Apel, ebd., S. 370, vgl. 361-378. Weiterentwickelt: Ders., „Die Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft in der Gegenwart“, in: Apel, Böhler, Rebel (Hg.), Funkkolleg/Studientexte, Bd. 1, S. 130-137. Vgl. Ders., Diskurs (1988), S. 26-36, 58ff. 325 219 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Anspruch der Vernunft, praktisch sein zu können, in sich zusammen. Übrig bliebe die Komplementarität von nurmehr plausibilisierbaren Moralentscheidungen versus nonmoralischen Forschungsresultaten. Denn Popper zufolge könnten auch in einer philosophischen Grundlagendiskussion „allenfalls pragmatische Zweckmäßigkeitsargumente zugunsten des Prinzips der kritischen Rationalität vorgebracht werden.“328 Zudem lasse sich „eine rationale Analyse der Konsequenzen einer Entscheidung“ durchführen, was freilich diese selbst auch „nicht rational macht“, wie Popper betont.329 327 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt a.M.: Fischer, 1967, S. 17. 328 So K.-O. Apel, a. a. O., Bd. 2, S. 412. 329 K. R. Popper, a. a. O., Bd. 2, S. 286. 220 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Abb. 1: Apels Analyse der technologischen und liberalen Zivilisation als Komplementaritätssystem Auf der einen Seite ... steht die (von Max Weber an Hand des neuzeitlichen Säkularisierungs- / Rationalisierungsprozesses beschriebene) Entwicklung von zweckrationalen Standards im weitesten Sinne mit ihren (z.B. von Jürgen Habermas untersuchten) Sub- und Nebenformen – der wissenschaftlich-technischen Rationalität einer am Erfolg kontrollierten Naturbeherrschung, – der ökonomischen Rationalität des effizienten Mitteleinsatzes bei vorgegebenen Zwecken, – der strategischen Rationalität wechselseitiger Instrumentalisierung zu je eigenen Zwecken, – der pragmatischen Verfahrensrationalität der öffentlichen Willensfeststellung per Mehrheitsbeschluß usw. Auf der anderen Seite ... steht eine Verdrängung aller moralischen Wert- und Normgesichtspunkte in den Bereich des rational nicht Fassbaren, des Irrationalen, eine Entwicklung, die sich gesellschaftspolitisch in der Privatisierung der moralischen Urteilsbildung und philosophisch in der Strömung des Existentialismus niedergeschlagen hat. komplementär sind diese Seiten insofern, als a) alles, was in den Bereich des Irrationalen fällt, im Bereich des Rationalen nicht vorkommt und umgekehrt, andererseits aber b) die Annahme eines Bereichs des Irrationalen Voraussetzung für den Bereich des Rationalen ist und umgekehrt: der Wissenschaftler, der im Labor seine erfolgskontrollierten Experimente durchführt, muß, indem er experimentiert, moralische Wert- und Normfragen aus dem Blickfeld nehmen (methodologische Werturteilsenthaltung); der Existentialist, der sich in der außergewöhnlichen Situation einer „Ur-Entscheidung für/gegen Vernunft“ wähnt, setzt selbstverständlich voraus, daß die Welt um ihn herum weiterhin „funktioniert“ und dieses „Funktionieren“ anhand von Rationalitätsstandards zu erklären ist. Mit jener kritischen Analyse des Geistes der liberalen technologischen Zivilisation kann Apel die Frage beantworten, die Jonas offen läßt. Es ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen moralische Ansprüche möglicher Betroffener, etwa zukünftiger Generationen, prinzipiell mißachtet werden können – eben bei Voraussetzung der bloß instrumentellen Vernunft und ihrer Komplementarität zur Moral als bloßer Entscheidungssache der Individuen. 6. Von jener Subjektivierungsgefahr, letztlich Beliebigkeitsgefahr der Ethik ist Jonas durchdrungen. Das motiviert ihn zu einem metaphysischen Ansatz, der nochmals eine substanzielle, nämlich objektive Vernunft im emphatischen Sinne einer quasi-aristotelischen theoria denken will, die den Wert des Seins aus diesem selbst „vernehmen“ will. Dieser vormoderne „Übergang vom Sein zum Sollen“330 will das „Prinzip der Ethik“ aus der „Natur des Ganzen“, nämlich aus dem im Menschen gipfelnden Leben begründen, – und insofern aus dem, 330 Jonas, Erinnerungen, 2003, S. 322. Ders., Prinzip Verantwortung, S. 92ff und 153ff. 221 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 „was die Theologie als ordo creationis zu bezeichnen pflegte.“331 So formulierte Jonas programmatisch im Epilog zu seiner evolutionären Ontologie des Lebendigen: „Organismus und Freiheit“. Zuvor hatte er jedoch unmißverständlich klargemacht, daß er nach Nietzsches Proklamation des Todes Gottes und nach Heideggers „Sein und Zeit“ denkt. Denn er vertritt nicht etwa objektivistisch eine Ontotheologie, derzufolge Gott das Sein selbst bzw. der Grund des Seins sei und auch als dieses principium des Seins objektiv erkennbar sei, sondern er nimmt die Immanenz der Welt, die Endlichkeit des Lebens und die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins ernst. Darin ist er so konsequent, daß er in seinem spekulativen Mythos eines möglichen Schöpfergottes die Idee dieses Gottes selbst jenen Bestimmungen und insofern das Transzendente der Immanenz unterwirft.332 Auf diese Weise entsubstantialisiert Jonas seinen metaphysischen Ansatz und verbindet ihn mit dem methodischen Atheismus, der den modernen Wissenschaften zugrundeliegt und der vom nachkierkegaardschen Existentialismus, am schärfsten von Sartre, ausgesprochen wird.333 Dazu stimmt es, daß er auch Heideggers mystisch-ontotheologische „Kehre“ als Flucht vor der Kritisierbarkeit des Gedachten und vor der Rechtfertigungsaufgabe des Denkens verwirft.334 7. Es ist zunächst dieser ontologisch-teleologische Ansatz – Jonas selbst nennt ihn mit Vorliebe „metaphysisch“ und „ontologisch“ –, der seine Philosophie von Anbeginn in die Prinzipiendimension bringt und die ihn auch moralische Probleme von daher denken läßt. Dementsprechend hat er die Verantwortung für die Fortexistenz der Menschheit ausdrücklich auch als innermoralische Verantwortung für die Möglichkeit von Verantwortung und Moral bestimmt.335 Genau dazu paßt sein Rückgriff auf die biblisch priesterschriftliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (1. Buch Mose, 1,26f), aus der er die moralische Substanz des Menschenwürdegrundsatzes bezieht, die er auch in „Das Prinzip Verantwortung“ geltend macht. Dort schreibt er nämlich, es sei um die „Hütung des Ebenbildes“ zu tun. Kurzum, Jonas 331 Jonas, „Epilog – Gnostizismus, Existentialismus und Nihilismus“ (zuerst als „Gnosis und Nihilismus“ in: Kerygma und Dogma) 1960, S. 165-171. 332 Jonas, Philosophische Untersuchungen, bes. S. 190-197, 243-247. 333 Jonas, Erinnerungen, S. 93. Ders., Gespräch mit H. Koelbl, in: H. Koelbl (Hg.), Jüdische Portraits, Frankfurt am Main, (Fischer TB) 1998, S. 170, Sp. 2. 334 Jonas, „Heidegger und die Theologie“, in: Böhler/Brune, 2004, S. 39 – 58, bes. S. 54f. 335 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 215, 186. Ders., „Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden“, in: Fatalismus wäre Todsünde, Münster (LIT) 2005, hier S. 96. 222 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 vertritt keineswegs nur die Perspektive einer Bewahrung der Gattung, auf die Apels in diesem Punkt ganz unpräzise Kritik ihn hat einschränken wollen.336 Allerdings fragt sich, was Jonas zum Begründungsproblem, d.h. zu einem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Ethik beiträgt. Auch kann man fragen, ob überhaupt ein Verantwortungsprinzip der aussichtsreiche Kandidat für die Bestimmung des grundlegenden Moralprinzips sein kann, und wenn ja, wo ein solches Prinzip gleichsam zu lokalisieren ist – primär im Sein oder primär im Dialog? Jonaskritisch stellt sich schließlich die Frage, welche differenzierenden Kriterien bzw. moralischen Gehalte (etwa Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Kommunikationsfreiheit?) intern mit dem Verantwortungsprinzip verbunden sind – besser: als mit ihm verwoben aufgewiesen werden können. Jenen Fragen könnte sich auch ein ‚Ergänzungsethiker‘ nicht entziehen, um so weniger dann, wenn er den Jonasschen Anspruch hat, für das Ganze bzw. für die Menschheit und ihre Umwelt wie auch zu der Menschheit als einem kollektiv betroffenen und kollektiv agierenden Subjekt zu sprechen. Wenn er sich wirklich diese Fragen stellt, so wird er die „doppelte Vereinfachung“ zurücknehmen müssen, die in den Kollektivierungen der vielerlei Beteiligten zu der jetzt lebenden Menschheit und den sehr unterschiedlichen Betroffenen zu der künftigen Menschheit steckt. Micha Werner hat darauf mit Recht hingewiesen337. Die hier nötigen Differenzierungen sind Diskursdifferenzierungen und ergeben sich als solche mit innerer Logik, wenn man das Verantwortungsprinzip aus dem Dialogprinzip entwickelt durch Rückgang auf das Sich im Diskurs Verantworten. Eben das ist der komplementäre nicht-metaphysische Prinzipienansatz der Berliner Diskurs- und Dialogpragmatik: eine sokratische Ethikbegründung durch rationale Beweisführung und sinnkritische Tests, von deren Stichhaltigkeit sich jeder – auch der ex professo Ungläubige, der skeptische Diskursteilnehmer, dem wir mit keiner bloßen Glaubensannahme kommen können – reflexiv überzeugen kann. Von jener Härte, von jener intersubjektiven Gültigkeit und Verbindlichkeit sind Jonas’ Antworten ersichtlich nicht. Eine spekulativ theologische Antwort, die er auch versucht hat,338 336 Apel, „Verantwortung heute...“ in: ders., Diskurs (1988), S. 179ff, vgl. auch das Gespräch mit Apel in: Apel und Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 97ff. Demgegenüber: Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 89, 94, 97 und 392f. 337 M. Werner, 2003b, S. 227ff, hier S. 234 und 240. 338 Jonas, „Materie, Geist und Schöpfung“, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankf. a. M.: Insel, 1992, S. 209-255. 223 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 kann es, wie er als nachkantischer Denker in aller Schärfe einräumt, ohnehin nicht sein – auf diesem Felde sind in der Tat einzig sinnvolle Vermutungen möglich339. 6.2 Jonas’ metaphysischer Begründungsversuch, Kants „Faktum der Vernunft“ und das dialogische Zugleich von Freiheit und Verantwortlichkeit In seiner letzten Begründungsstudie bringt Jonas seinen „Versuch einer ‚metaphysischen Deduktion‘ der Verantwortungsethik“ ins Spiel340. Er geht hier seinen schon vor dem „Prinzip Verantwortung“ eingeschlagenen metaphysisch ontologischen Begründungsweg weiter – so aber, daß er dabei einerseits die Geltungsskepsis gegenüber dieser metaphysischen Begründung selbst artikuliert, während er andererseits eine sokratisch kantische Lesart ermöglicht und dadurch einen nicht metaphysischen Begründungsweg öffnet: einen strikt argumentations- bzw. diskursreflexiven Verbindlichkeitserweis, der sich als ein solcher durch kein sinnvolles Argument mehr hintergehen ließe, also letztgültig wäre. Inwiefern? Nun, Jonas geht offenbar auf den Seinsboden und Geltungsboden zurück, auf dem auch jeder Skeptiker als etwas denkender und etwas wollender Mensch selbst schon steht. In einer, wenngleich implizit gelassenen, sokratisch transzendentalen Denkfigur, die Kant herausgestellt hat und sich auch auf die EpochéArgumentation Edmund Husserls abbilden läßt, geht Jonas nämlich zurück auf das, was alle Denkenden und Wollenden bereits als Fähigkeit mitbringen und was sie als Verpflichtung nicht (mit sinnvollen Argumenten) in Zweifel ziehen können: Es ist dies die ethische Befähigung zur Verantwortung, welche die kognitive und moralische Fähigkeit in Anspruch nimmt, Gründe zu erkennen und in Bezug darauf – also in Freiheit – eine bestimmte Verantwortlichkeit zu übernehmen, anstatt sich anderen Dingen zuzuwenden und ein Eigeninteresse zu verfolgen. Das Verantwortung-Haben-Können setzt die kommunikative Freiheit des Prüfens von Gründen voraus und damit ein mögliches Sollen, die Erkenntnis nach Anerkenntnis einer Pflicht. Zwar unvorsichtig und in einer unscharfen Begrifflichkeit aus traditioneller Ontologie und existentialer Ontologie, die z.B. kein Konzept der kommunikativen Freiheit hat entwickeln können, denkt der Metaphysiker Jonas in diese nichtmetaphysische Richtung. So hat ihn auch Hans-Georg Gadamer interpretiert, als dieser ihm seine „Metaphysische Deduktion“ mit der Bitte um Beurteilung vorlegte. Dazu gleich. 339 Jonas, Philosophische Untersuchungen, bes. S. 190f u.ö. Dazu Böhler, Laudatio, in: Böhler und Neuberth (Hg.), HZV, S. 28ff. 340 Jonas, Brief an H.-G. Gadamer, 9. Nov. 1985, in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. 224 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 In dem, ursprünglich 1984 für einen Vortrag verfaßten Manuskript „Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik“ entwickelt Jonas ein Argument, das Überzeugungskraft gewinnt, wenn man es reflexiv wendet: als Reflexion mit dem Skeptiker darauf, daß er selbst wie alle Menschen eine Moralfähigkeit mitbringt, deren Verpflichtungssinn man als Denkender, als Diskurspartner, nicht sinnvoll in Zweifel ziehen kann. Allerdings versteht Jonas das Argument weniger sokratisch reflexiv denn ontologisch metaphysisch. Es hat folgenden, intuitiv ansprechenden Grundgedanken: „Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zu Freiheit. Sie ist die Bürde der Freiheit eines Tatsubjekts: Ich bin verantwortlich mit meiner Tat als solcher (ebenso wie mit ihrer Unterlassung), und das gleichviel, ob jemand da ist, der mich – jetzt oder später – zur Verantwortung zieht. Verantwortung besteht also mit oder ohne Gott, und natürlich erst recht mit oder ohne einen irdischen Gerichtshof.“341 An diesem Punkt beende ich das Zitat, weil bis hierhin eine sokratische Rekonstruktion des Arguments aussichtsreich sein dürfte, wohingegen die anschließende ontologische Ableitung der Instanz, des >Wovor< der Verantwortung, aus deren Gegenstand, einem werthaften Sein, sich dagegen sperrt, ja letztlich sinnwidrig ist. Denn sie macht die sokratische Beurteilungsinstanz, den argumentativen Dialog, in dem man sich zu verantworten hat, abhängig von der doch allererst zu beurteilenden (bzw. hinsichtlich des Grades ihrer Verantwortungswürdigkeit zu bewertenden) Sache. Damit ignoriert sie den Geltungsprimat des argumentativen Dialogs, den Sokrates entdeckt hat und durch dessen Berücksichtigung die Philosophie zum Anwalt der Vernunft und Kritik geworden ist. Und damit läuft sie Gefahr, einen logischen Zirkelschluß (petitio principii) zu begehen, indem sie allein aus (interpretierten) Tatsachen des Seins den normativen Gehalt eines moralischen Sollens ableiten will. Eine ontologische Begründung läßt außer Acht, daß der Ontologe (durch die ontologische Interpretation) eben das in die Seinstatsachen hineingelegt haben mag oder hat, was allererst zu begründen wäre: den normativen Anspruch einer unbedingten Verantwortungspflicht hinsichtlich des menschlichen Seins. Allein, wenn jenes Begründungsmanöver unbemerkt und der Skeptiker daher stumm bliebe, könnte eine solche ontologisch metaphysische Begründung 225 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Erfolg haben. Richtig wäre sie auch dann nicht. Sie mag zwar faktischen Konsens erzielen, aber keinen rein argumentativen Kommunikationsgemeinschaft Konsens. Akzeptanz Sie finden; könnte in einer bloßen realen aber in einer solchen realen Kommunikationsgemeinschaft, in der einzig sinnvolle Argumente zählen, so daß in ihr die ideale Argumentationsgemeinschaft ein Stück weit verwirklicht ist, wäre jene Begründung chancenlos, weil sie als Erschleichung des zu Erweisenden durchschaut würde. Wir stoßen damit auf die Unterscheidung von bloßem faktischem und rein argumentativen Konsens oder von Überredung versus Überzeugung. Diese Unterscheidung ist, wie zuletzt Alberto Damiani demonstriert hat, untrennbar verwoben mit der transzendentalpragmatischen Grunddifferenz von idealer Kommunikationsgemeinschaft.342 Argumentationsgemeinschaft Apel hatte sie 1973 mit seiner und realer Dialektik des Geltungbeanspruchens eingeführt: Mit jedem Anspruch auf (mögliche) Wahrheit einer Behauptung oder auf (mögliche) Legitimität einer Aufforderung haben wir uns in unserer realen Kommunikationsgemeinschaft von vornherein an die Geltungsinstanz einer idealen Argumentationsgemeinschaft adressiert. Nun zurück zu Jonas. In einer gewissen selbstkritischen Distanz zu seinem ontologisch metaphysischen Begründungsversuch, an dem er gleichwohl hing, sandte er das besagte Vortragsmanuskript mit der Bitte um Rat an Hans-Georg Gadamer. Denn bei ihm könne er, obzwar nicht auf Zustimmung zu diesem metaphysischen Versuch, so doch auf „Verständnis für dieses Wagestück“343 rechnen. In seiner Antwort344 geht Gadamer nicht auf die Verlagerung bzw. Einbeziehung der Geltungsinstanz der Verantwortungspflicht in deren Gegenstand, des „Wovor“ in das „Wofür“ der Verantwortung ein. Diplomatisch umschifft er damit den (zu vermutenden) Dissenspunkt, ob sich ein moralisches Sollen allein aus einem interpretierten Sein herleiten lasse. Statt dessen legt er dem Metaphysiker ein kantisches Selbstverständnis nahe: Kommt Jonas’ „metaphysische Deduktion“345 einer Pflicht zur (Mit-)Verantwortung für „die Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ nicht überein mit Kants quasi-sokratischem Rückgang auf ein moralisches Grundfaktum der Vernunft? 341 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 130f. A. Damiani, „Die Verbindlichkeit des argumentativen Dialogs. Zur transzendentalpragmatischen Differenz zwischen ‚Überzeugen’ und ‚Überreden’“, in: Böhler/Kettner/Skirbekk (Hrsg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. FfM: Suhrkamp 2003. ; vgl. ders., „Die Idee der letzten Meinung in der sinnkritischen Argumentationstheorie“, in: Burckhart/Gronke (Hrsg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 163 – 178. 343 H. Jonas, Brief an H. G. Gadamer vom 9. Nov. 1986. In: Böhler/Brune (Hrsg.), 2004, S. 480. 344 ???# 342 226 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 „Im Grunde folgen ja auch Sie Kant, wenn Sie von der Gegebenheit der Verantwortung reden: das ist das Vernunftfaktum der Freiheit.“346 Gadamer stellt Jonas also in die Wirkungsgeschichte Kants, insofern dieser das Verallgemeinerungsprinzip durch die Annahme begründet, die moralische Autonomie sei mit der Einsicht in das Sittengesetz verwoben und daß diese Gleichursprünglichkeit das unhintergehbare „Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt“.347 Freilich führt, was Gadamer übergeht, der bloße Rückgang auf die Verantwortungsfähigkeit schon bei Kant in einen naturalistischen Fehlschluß348. Das ist jedenfalls der Fall, wenn man diese Fähigkeit wie Jonas als „ursprüngliches Erfahrungsdatum“ ansetzt.349 Vielmehr müßte man zeigen, daß wir nicht allein die Erfahrungstatsache >Menschen haben die Fähigkeit zur Verantwortung< voraussetzen müssen, sondern daß wir auch die Verbindlichkeit eines Moralprinzips als einer Grundnorm voraussetzen dürfen. Erst wenn sich deren Verbindlichkeit erweisen läßt, kann uns zwanglos die Einsicht zuteil werden, daß wir zur Verantwortung für die Gewährleistung moralfähigen menschlichen Seins unbedingt verpflichtet sind. Bloß aus Tatsachen kann nicht die Gültigkeit einer moralischen Verpflichtung folgen. Eben das hatte Karl Popper gewissermaßen zum Neuanfang der Praktischen Philosophie in seinem großen Emigrationswerk in Erinnerung gerufen.350 Eine Generation später hat Karl-Otto Apel diese begründungstheoretische Einsicht differenziert und im Blick auf Jonas’ neue Problemstellung weitergeführt. Er pointiert, daß und warum eine Begründung der Verantwortungspflicht (für das bedrohte menschliche Sein) allein aus der bewertenden Interpretation dieses Seins nicht sticht: „Das moderne Prinzip, daß ein moralisches Sollen nicht (allein!) aus einem Sein hergeleitet werden kann, hat niemals besagt, daß die Tatsachen des Seins der Welt und des Menschen für die inhaltliche Bestimmung von moralischen Normen ohne Bedeutung wären. Es besagt vielmehr: Die Tatsachen des Seins können dann, und nur dann, für die Begründung situationsbezogener Einzelnormen bedeutsam werden, wenn wir schon auf eine moralische Grundnorm zurückgehen können, in deren Licht die Tatsachen des Seins (und in diesem Zusammenhang auch die möglichen Zwecke, Folgen und Nebenfolgen unserer Handlungen) 345 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 138, ebenso im Brief an Gadamer v. 9. November 1985, a. a. O. , S. 480. 346 H.-G. Gadamer, Brief an H. Jonas, vom 21. April 1986, a. a. O. , S. 481. 347 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1787, S. 55ff. 348 So Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluß bei Kant“, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg i.B., 1972, Bd.1, S. 113-130. Wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, S. 277-295. 349 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139. 350 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 96ff. 227 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 beurteilt werden können. Ohne diese Grundnorm wäre keine verbindliche Bewertung der Tatsachen möglich. An dieser Grundsituation hat nun, wie mir scheint, auch die ökologische Krise – oder, allgemeiner gesagt, die Herausforderung der ethischen Verantwortung durch die technisch erweiterte Wirkungsmacht des menschlichen Handelns in der Gegenwart – nichts geändert. Es ist richtig, daß das Wissen um die Situationsbedingungen und die möglichen Folgen von Handlungen heute eine qualitativ neue Bedeutung für die Ethik gewonnen hat. Das liefert ein zusätzliches Argument zugunsten der Verantwortungsethik überhaupt gegenüber einer Gesinnungsethik, welche die Frage ‚Was soll ich tun?’ ohne Berücksichtigung der voraussehbaren Handlungsfolgen, rein aufgrund eines Wissens um die Form des gesetzmäßigen Willens, glaubt beantworten zu können. Doch daraus folgt keineswegs, daß es nun möglich oder nötig sein könnte, die Normen oder Pflichten des Handelns selbst allein aus dem Wissen um die Tatsachen des Seins herzuleiten. Es ist gewiß einleuchtend, daß dem Menschen heute angesichts seiner gesteigerten technischen Macht (des Bewirken-Könnens) eine entsprechend erweiterte moralische Verantwortung für seinesgleichen – insbesondere für die nächsten Generationen – und sogar für die Natur (als natürliche Umwelt) zufällt. Aber es ist ebenso klar, daß diese neue Sollenspflicht nicht ohne logischen Zirkel allein aus den Tatsachen des Seins herzuleiten ist. Wollte man sie – mit Aristoteles und der Stoa – auf die teleologische Bestimmung des Seins der Natur zurückführen, dann setzte man sie im metaphysischen Verständnis des Seins der Natur schon voraus. Denn aus der unterstellten Tatsache: daß etwa alles Lebendige nach Selbsterhaltung, alle Tiere nach Lust und alle Menschen nach Glück streben, folgt keineswegs, daß ich für die Erfüllung dieses Strebens irgendwie verantwortlich bin. Man könnte insofern angesichts der ökologischen Krise genausogut die Konsequenz ziehen: ‚Nach mir die Sintflut!’ oder ‚Rette sich, wer kann!’. Erst wenn ich, neben den Tatsachen der Natur, noch ein deontologisches Prinzip, eine Grundnorm im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit der Ansprüche aller Menschen als Vernunftwesen, voraussetzen kann, ergibt sich die Verantwortungspflicht im Sinne von Jonas.“351 Die Gefahr eines logischen Zirkels, und zwar einer petitio principii nach Art des ontologischen Gottesbeweises, der aus der Essenz des Gottesbegriffs (wozu das notwendige Sein Gottes gehört) auf die tatsächliche Existenz Gottes schließt, hat Jonas selbst diskutiert. Diesem „logischen 351 K.-O. Apel, „Ist die philosophische Letztbegründung auf die reale Praxis anwendbar?“ In: Ders. u.a. (Hg.), Funkkolleg Studientexte, Bd. 2, S. 628. 228 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Zirkeltrug“ will er entgehen, indem er die begriffliche ‚Essenz‘ des „ursprünglichen Erfahrungsdatums“ expliziert, daß Menschen die Fähigkeit zur Verantwortung besitzen: „Eben diese zugrundeliegende Erfahrungstatsache rettet unser Argument vor dem logischen Zirkeltrug des berühmten „ontologischen Beweises“ für das Dasein Gottes: daß aus dem bloßen Gottesbegriff, worin notwendige (nichtkontingente) Existenz wesentlich einbegriffen ist – aus der begrifflichen ‚Essenz’ also –, die tatsächliche Existenz sich notwendig ergibt. Im Gegensatz dazu ist die Verantwortungsfähigkeit, auf der unser Argument sich aufbaut, zuerst einmal als Tatsache in der Erfahrung gegeben; und wenn aus deren Essenz dann Weiteres abgeleitet wird, darunter auch die Pflicht zur Perpetuierung ihrer eigenen Existenz, so ist dies zwar ein Schluß von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz. Also ist unser Argument kein leeres. Aber es ist auch kein Beweis. Denn es ist an gewisse unbewiesene, axiomatische Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt ‚Werte an sich’ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.“352 Jonas ist allemal ein Philosoph, dem die, von Kant als Selbstverpflichtung der Vernunft ausgezeichnete, Tugend der Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist. So zieht er aus seinem Selbsteinwand folgende Konsequenz: „Letztlich kann mein Argument nicht mehr tun, als vernünftig eine Option begründen [...]. Besseres habe ich leider nicht zu bieten.“353 In seinem Brief an Gadamer schließt er damit, daß er allerdings glaube, über dieses „Wagestück“ nicht mehr „hinauszukommen (was zwar nötig wäre).“354 Einerseits räumt Jonas damit ein, die Komplementarität des modernen westlichen Geistes nicht überwunden zu haben – eine bloße Option gehört auf die subjektiv existenzielle Seite der Komplementarität – und mithin sein Begründungsziel, die Subjektivität in Wert- und Normenfragen aufzuheben, verfehlt zu haben. Andererseits weist jedoch – darauf macht Gadamer aufmerksam – die Richtung seines Gedankens über die ontologisch metaphysische Denkweise und eine bloße metaphysische Option hinaus. Inwiefern? Sowohl ohne Gefahr der petitio als auch ohne naturalistischen Fehlschluß läßt sich Jonas’ Intuition aufnehmen und – in zwei Schritten – zwingend neu denken: zuerst durch eine Rekonstruktion von Voraussetzungen des argumentativen Dialogs, sodann durch eine aktuelle 352 353 Jonas, Philosophische Untersuchungen, S. 139. Ebd., S. 140. 229 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Dialogreflexion. Darunter verstehe ich einen strikt dialogreflexiven, im Diskurs mit einem Skeptiker geführten, Erweis einer ursprünglichen und unhintergehbaren Anerkennung von Verantwortungspflichten. ›Ursprünglich‹ kann man diese Anerkennung nennen, weil sie zugleich mit dem Ins-Spiel-Bringen der eigenen Freiheit verwoben ist; und als argumentativ unhintergehbar muß sie gelten, weil sie bereits dem etwas Denken und etwas Geltendmachen zugrunde liegt: eine Sinnbedingung des Denkens als Selbstgespräch und Gespräch. Doch zunächst zu dem ersten, validierungsbedürftigen Begründungszug, der Rekonstruktion: Kommunikative Freiheit, die wir in Anspruch nehmen, indem wir etwas Eigenes ins Spiel bringen (etwa ‚meinen‘ Gedanken über Freiheit jetzt), und responsorische Verantwortung, die wir anerkennen, indem wir Anderen gegenüber etwas zur Geltung bringen, sind von vornherein an dem logischen und ontologischen Ort verwoben, an dem wir von beiden immer schon Gebrauch gemacht und die Anerkennung beider immer schon mitvollzogen haben. Dieser Ort ist der Dialog. Im Dialog machen wir von unserer Freiheit unvermeidlich Gebrauch, indem wir Ansprüche auf Geltung für das, was wir vorbringen, erheben. Diese kommunikative Freiheit können wir jedoch nur in dem Maße ins Spiel bringen, als wir zur Verantwortung, nämlich zunächst für die Einlösung unserer eigenen Geltungsansprüche, bereit sind, und zwar gegenüber den Anderen, die am Dialog teilnehmen, ferner gegenüber denen, über die wir reden bzw. um deren Ansprüche es gehen mag, und schließlich vor dem argumentativen Diskurs bzw. einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft als der Instanz für die Gültigkeit aller Diskursbeiträge. Gleich ursprünglich mit ‚meiner‘ Freiheit ist im Dialog ‚meine‘ Anerkennung dessen, daß ‚ich‘ anderen mit sinnvollen Argumenten Rede und Antwort stehen können muß. So ist in der Dialogsituation die eigene Freiheit gleich ursprünglich mit der eigenen Bereitschaft, sich für das zu verantworten, was man frei äußert; bringt man es doch aus freien Stücken anderen gegenüber zur Geltung. Zu der vorweg anerkannten Bereitschaft, sich selbst für das Gesagte durch das Geben von Gründen zu verantworten, tritt die ebenfalls im vorhinein anerkannte Bereitschaft, mitverantwortlich zu sein für die Problemlösung im gemeinsamen Diskurs für ein geltungsfähiges Diskursergebnis, also für das beste Argument, und schließlich – nunmehr lebenspraktisch und diskursextern – auch darüber hinaus für die Realisierungsbedingungen des Diskurses, von denen später die Rede sein wird. 354 Jonas in: Böhler/Brune, 2004, S. 480. 230 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Der erste Begründungsschritt bestünde also darin, zu rekonstruieren, daß mit der kommunikativen Freiheit zugleich eine faktische Verantwortungsfähigkeit und die (von ‚mir’ als Diskurspartner vorausgesetzte wie auch seitens der Anderen von mir erwartete) Verantwortungsbereitschaft verwoben ist. Und zwar deshalb, weil jeder diese Bereitschaft bereits implizit anerkannt hat, in dem er überhaupt etwas zu verstehen gibt und etwas geltend macht. In einem zweiten Begründungsschritt würde dann die so rekonstruierte Kommunikationsvoraussetzung zunächst hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit bezweifelt, damit nun – im reflexiven Dialog mit dem Zweifler – die Möglichkeit dieses Bezweifelns geprüft werden kann. Wenn sich in der Prüfung herausstellt, daß der angemeldete Geltungszweifel für die konkreten Dialogpartner des Skeptikers nicht als diskutierbarer Dialogbeitrag verstehbar ist, dann kann er nicht triftig sein, dann trifft der Zweifel nicht das Sein des Zweifelgegenstandes. D.h.: dann gehört dieses Sein zum Sein des Dialogs, es ist also ein Stück des Geltungsbodens und des Seinsbodens, auf dem der Zweifelnde als Denkender und Kommunizierender selber steht. In einem reflexiv sokratischen Dialog mit dem Skeptiker zeigt sich: Eine Bezweiflung der Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Verantwortung und damit ‚meiner’ Verpflichtung zur Verantwortung für den Dialog wäre sinnlos, wäre ein performativer Widerspruch. Einen solchen Zweifel kann ‚ich‘ meinen Dialogpartnern gegenüber nicht ernsthaft vertreten. Denn ‚meine‘ Diskurspartner können nur einen solchen Zweifler verstehen und hinsichtlich seiner Dialogbeiträge ernstnehmen, der zugleich seine kommunikative Freiheit (z.B. die Freiheit, jetzt diese Zweifelsthese zu vertreten) und seine Bereitschaft zur Verantwortung in das dialogische Verhältnis sowohl einbringt als auch aufrechterhält. So muß er im Dialog dafür verantwortlich sein, daß er den Anderen sinnvolle, diskutierbare Diskursbeiträge vorlegt; Beiträge, für die er glaubwürdig, ohne Selbstwiderspruch, Rede und Antwort stehen kann. Eben das tut er nicht, wenn er dasjenige in Zweifel zieht, was er (im Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst) als gemeinsame Sinnbasis beanspruchen und voraussetzen muß. Vielleicht hätte Jonas diese dialogische (mithin geltungslogische) und zugleich ontologische (auf das Sein des Zweiflers und seiner Gemeinschaft zurückgehende) Argumentation überzeugt. Leider war ich selbst zu seinen Lebzeiten noch nicht weit genug im reflexiven Denken gekommen, um sie pointiert vorzubringen. Jedenfalls läßt sich die Kantische, Hans Jonas durch Gadamer offerierte, Lehre eines moralischen „Faktums der Vernunft“ auf diese Weise 231 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 dialogpragmatisch dechiffrieren, indem man sie überführt in eine Lehre des einsehbaren Anerkannthabens von Verantwortlichkeit und des einholbaren Realisierthabens von Freiheit auf dem gemeinschaftlichen Seinsboden und Geltungsboden des Dialogs. Den entscheidenden Anstoß zu dieser dialogischen Aufhebung von Kants nochmals vernunftmetaphysischem Versuch hat Apel 1967/1973 gegeben, als er dessen Rede vom „Faktum der Vernunft“ transzendentalpragmatisch „dechiffrieren“ wollte, indem er sie als ein, wenn auch begrifflich verunglücktes, „Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung“ rekonstruierte.355 Die von Jonas metaphysisch, von Apel transzendentalpragmatisch angenommene Unhintergehbarkeit von Freiheit und Verantwortlichkeit läßt sich also in der Tat erweisen: in einem realen Dialog mit einem Zweifler als leibhaftem Dialogpartner, kann ‚ich‘‚meinem‘ Partner demonstrieren, daß er aus dem Dialogverhältnis ausbrechen müßte, weil er dann von ‚mir‘ (und anderen möglichen Partnern) nicht mehr als glaubwürdiger Diskurspartner anerkannt werden könnte, wenn er das Verwobensein seiner Freiheit mit seinem VerantwortlichseinWollen und Verantwortlichsein-Sollen in Zweifel zieht. Geht nämlich ein solcher Dialogtest für den Zweifler negativ aus, dann ist dialogevident, daß der von dem Rekonstrukteur geltend gemachte normative Gehalt in der Tat eine Sinnbedingung argumentativer Diskurse ist – also eine wahrhaft verbindliche Grundnorm. Auf diese Weise bringt eine reflexiv sokratische Dialog- und Diskurspragmatik zwei nachkantische Errungenschaften in das Gespräch mit Jonas ein. Erstens bietet sie einen Gültigkeitstest der ethischen Intuitionen, die wir aus der Lebenswelt mitbringen. Mit Recht legt Jonas auf deren Erschließung großen Wert. Es ist der Rückgang auf allgemein einsichtsfähige Moralintuitionen, der seinem wertphänomenologischen Ansatz, durchaus im Unterschied zu dem transzendentalphilosophischen Diskursansatz Apels und zu Habermas’ verfahrensförmigem Diskursansatz, eine attraktive Konkretheit und starke Motivationskraft verleiht. Beides kann eine Vernunftethik wie die Diskursethik nur gewinnen, wenn sie – im Anschluß an Jonas – transformiert wird zu einer sokratischen Ethikbegründung durch Rekonstruktion und reflexive Prüfung jener ethischen Intuitionen, die wir als leibhafte Diskursteilnehmer a priori mitbringen und deren normative Verbindlichkeit wir als reflektierende Dialogpartner nicht ernsthaft bezweifeln können. Das wäre eine Intuitionen erschließende und prüfende Ethik des Sich-imDialog-Verantwortens. Ihr Ausgangspunkt wäre ein sinnkritischer Verbindlichkeitsdiskurs: >Welche normativen Gehalte lebensweltlicher ethischer Intuitionen mußt du – der du ein 355 Apel, Transformation II, S. 418. 232 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 glaubwürdiger Diskurspartner sein willst – als verbindlich anerkennen, um dich nicht in einen performativen Selbstwiderspruch zu verwickeln und dadurch die von ‚dir’ beanspruchte Glaubwürdigkeit zu verlieren?< Zweitens behebt die sokratisch reflektierende Diskurspragmatik Jonas’ Begründungsdefizit und Kriteriendefizit. Denn sie kann nicht nur den fehlenden Verbindlichkeitserweis seines kategorischen Imperativs erbringen, sondern integriert diesen auch zwanglos in ein letzthinniges Moralprinzip – höherrangig gegenüber jedem situativen Vermeidungsprinzip, als das Jonas’ Bewahrungsprinzip verstanden werden kann. Als letzter Geltungsboden ergibt sich dann das Prinzip des Sich (im Diskurs) Verantwortens. Dieses indiziert wiederum differenzierende Konkretionen sowohl auf der idealisierenden Ebene der Ziel- und Richtungsdiskurse („Was sollen wir eigentlich in dieser Lage anstreben?“), für die Jonas Gedankenexperimente wie das der Wette einsetzt, als auch auf der realitätsschweren Ebene moralstrategischer Diskurse; worauf ich in den Kapiteln II 4 und III 4 zurückkomme. Wenn es gelingt, diese Begründungsaufgaben und Konkretionsaufgaben praktischer Vernunft zu lösen, erst dann ist die innere Herausforderung der praktischen Vernunft durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation wirklich angenommen und die Komplementaritätsstruktur des modernen westlichen Geistes aufgehoben. Der reflexive philosophische Diskurs, der eine solche Prinzipienbegründung erlaubt – eben durch die umrissene sokratische Reflexion in einem aktuell geführten Dialog auf Sinnbedingungen eines jeden argumentativen Diskurses – ist der zweite Namensgeber der Diskursethik. Hier kommt der Begriff nämlich im Sinne des genitivus obiectivus ins Spiel. Denn die dialogpragmatische Form der Diskursethik – nicht zu verwechseln mit Habermas’ „formalpragmatischer“ bzw. „diskurstheoretischer“ Schwundstufe von Diskursethik – ist eine allgemeine Prinzipienethik. Ihre nicht metaphysische sondern dialogreflexive Begründung des Moralprinzips und der moralischen Grundnormen vollzieht sich durch Diskurs und im Diskurs. An einem solchen Begründungsdiskurs oder reflexiv philosophischen Diskurs kann jeder teilhaben; seine Resultate sind allgemeingültig, insofern sie jederzeit intersubjektiv nachprüfbar sind. In diesem zweiten Sinne bedeutet „Diskursethik“ so viel wie: Prinzipienethik aufgrund von reflexiven Dialogen im Gespräch mit dem Skeptiker, insofern er einen Zweifel an der Gültigkeit und Verbindlichkeit eines Prinzips vorbringt. Das, was nach der Prinzipienbegründung, also nach geleistetem Verbindlichkeitserweis des Prinzips der Mitverantwortung für den Fortbestand der Menschengattung und für Fortschritte in 233 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Sachen Menschenwürde und Gerechtigkeit, noch zu denken und immer wieder zu tun bleibt, ist mehr als genug: die Bewältigung der äußeren Herausforderungen der praktischen Vernunft durch die technologische Zivilisation, also die Eindämmung der Menschheits- und Naturgefährdungen – zugunsten einer „Weiterwohnlichkeit der Welt“ und zugunsten der „künftigen Integrität des ‚Ebenbildes‘“, wie Jonas mit Recht sagt.356 6.3 Welche Risiken lassen sich verantworten? Jonas’ Gedankenexperimente: die „Heuristik der [moralischen] Furcht um den Menschen“ und „das Element der Wette im Handeln“ Um angesichts der Menschheits- und Naturgefährdungen zu moralischen Handlungsorientierungen im Sinne umfassender Verantwortungspflichten zu gelangen, schlägt Jonas zwei Wege Verantwortungsintuitionen ein: die aus phänomenologische der Lebenswelt und Herausarbeitung die ethischer Durchführung von Gedankenexperimenten zu deren Prüfung. Diese „Denkexperimente“ sollen die Prinzipienfrage >Was sollen wir eigentlich tun?< beantworten, und zwar vor dem Hintergrund der unvermeidlichen Risikobeladenheit menschlichen Handelns im allgemeinen und des technologievermittelten bzw. technologischen Handelns im besonderen. Es wird also – moralintrinsisch – nach richtigen, moralisch legitimierbaren Maximen gesucht, nach Richtlinien des moralischen Sollens, die als Prinzipien gelten können. Das Gedankenexperiment der „Heuristik der Furcht“ nimmt zwei, in der lebensweltlichen Sittlichkeit verankerte, Intuitionen auf: die zukunftsethisch belangvolle Intuition, daß die Bewahrung des Menschen, so wie er ist, ein lohnendes Ziel ist357, und die allgemeine Gerechtigkeitsintuition, man solle die Rechts- und Lebensansprüche der möglichen Betroffenen zur Geltung bringen, indem man deren Standpunkt einnimmt. Die erstgenannte Intuition, die der Zukunftsethik die Perspektive der Menschheitsbewahrung vorgibt, gibt den normativen Rahmen ab: jedes Risiko müsse vereinbar sein mit der Permanenz moralfähigen Lebens auf Erden. Im Hintergrund steht eine „moralische Furcht“, die „Furcht um den Menschen“ in der 356 Jonas, „Technik, Freiheit und Pflicht“, in ders.: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, 1987, S. 46 und Prinzip Verantwortung S. 393. 357 Jonas grenzt sich damit von dem metaphysischen bzw. anthropologischen Utopismus ab, wie er radikal von Ernst Bloch, die Hoffnung auf ein „Sein wie Utopie“ zum Prinzip des Daseins erklärend, vertreten worden ist. Vgl. Jonas: Prinzip Verantwortung, S. 340f,371-373,380-387. Ders., Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt a.M.: Insel, 1985, S. 298ff. Ders., Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster: LIT, 2005 (zit.: Jonas, 2005), S. 110f, 76-80 und 95. Dazu: D. Böhler, „Verstehen und Verantworten“, Einl. zu: Jonas, 2005, S. 15-18. 234 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 hochtechnologischen Zivilisation358. Wachsen die kumulativen Folgen der industriegesellschaftlich normalen Konsumpraxis und ihres Fortschritts- und „Wachstums“Gangs den sittlichen Fähigkeiten des Menschen über den Kopf und das Herz? So verbindet sich mit der anfänglichen ökologisch ethischen Furcht eine intern moralische Sorge. Denn nicht allein die ökologische Ausdehnungsdimension der hochtechnologisch vermittelten Lebenspraxis ist so gut wie grenzenlos geworden, auch die Tiefendimension der hochtechnologischen Forschung überschreitet, wie wir gesehen haben, längst jedes gewohnte ethische Maß: Die molekularbiologischen Manipulationsmöglichkeiten und Konstruktionsmöglichkeiten menschlichen Lebens überrennen die moralischen Grenzen, welche unsere ethischen Intuitionen und religiösen Vorstellungen vom Menschen als dem unantastbaren Ebenbild Gottes geachtet bzw. selbst gesetzt hatten. Hier kann einen – wie Jonas selbst immer wieder gesteht – allerdings das metaphysische Gruseln überkommen. Für die konkrete Risikobeurteilung bringt Jonas mit der „Heuristik der Furcht“ zunächst einen diskursethischen Rollentausch ins Spiel. Er nimmt den Standpunkt der Betroffenen ein, indem er den Lesern einen negativen Wert-Test vor Augen führt, der Gefühl und Dialog, jedenfalls impliziten Dialog mit den Betroffenen, verbindet. Etwa so: ‚Überlege zunächst, welche Folgen deiner Handlung dir, dessen Wollen in die Richtung des Guten geht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen Furcht einflößen würden.’ Dieses Denkexperiment provoziert die moralische Phantasie359, indem es uns, die Leser, auf die Suche nach dem moralisch (nicht etwa privat und lebensplanerisch) zu Fürchtenden schickt. Zur Begründung führt Jonas eine vertraute logische Asymmetrie in der ethischen Urteilsbildung an: Dasjenige, „was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muß die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen“.360 Vorsichtig hebt Jonas hervor, das wertethische Gedankenexperiment der vorgestellten schlechten Fernwirkungen, gleichsam das worst-case-Szenario, sei kein hinlänglicher Kompaß, sondern bloß eine erste Klärung. Ihm kommt nur der Stellenwert einer Findekunst bzw. eines brain storming zu.361. Jonas’ zweites Gedankenexperiment geht von der realistischen Einsicht aus, die Hannah Arendt im Sinne einer lebensweltlichen Anthropologie entwickelt hat362, die Einsicht, daß alles Handeln des Menschen riskant und in seinem Risiko schwer einschätzbar ist. Er pointiert dieses intuitive 358 Jonas, 2005, S. 137. Ders., Prinzip Verantwortung, S. 63-65. Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, bes. S. 15ff. und 267 ff.; dazu M. Werner, ››Kann Phantasie moralisch werden?‹‹, in: J.P. Wills, Anthropologie und Ethik, Tübingen 1997, S. 41-63. 360 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 64. 361 Ebd., S. 63 ff. 359 235 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Lebenswissen durch den Vergleich des Handelns mit einem Glücksspiel: Das Prinzip auch der neuartigen, der technologischen Handlungs- bzw. Auswirkungsdimensionen könnten wir erfahren, „wenn wir auf das Element des Glücksspiels oder der Wette reflektieren, das in allem menschlichen Handeln hinsichtlich des Ausgangs wie der Nebenwirkungen enthalten ist, und uns fragen, um welchen Einsatz man, ethisch gesprochen, wetten darf.“363 Das Gedankenexperiment der Wette ist ein zur Abhandlung stilisiertes moralisches Selbstgespräch: ein monologisch zurückgenommener praktischer Diskurs, den ein bereits moralisch orientierter und hinsichtlich der technologischen Folgendimension aufgeklärter Projektbefürworter – ein Vernunft- und Moralfreund, der seinen Kant gelesen haben mag – mit sich selbst führt. Er führt seinen Diskurs faktisch allein mit sich – aber logisch vor der Geltungsinstanz einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Diese Instanz bringt Jonas implizit ins Spiel, indem er stillschweigend das Universalisierungsprinzip Kants zum Leitfaden nimmt und seinen Vernunftfreund vermittels Selbsteinwänden nach dem besten Argument, dem die Betroffenen würden zustimmen können, suchen läßt. Komplementär zum vorausgegangenen heuristischen Denkexperiment setzt dieses gleich mit der Perspektive eines Handelnden in der technologischen Zivilisation ein, welcher weiß, daß seine Handlungen eine kaum begrenzbare Auswirkungsdimension haben können und daß eine Prognose ihrer Auswirkungen prinzipiell ungewiß bzw. unsicher bleibt.364 Hier wird also schon auf der Grundlage einer moralischen Heuristik der Furcht und eines fallibilistischen Bewußtseins argumentiert. In die, von Jonas selbst angespielte, Form des moralischen Selbstgesprächs gebracht, können wir sein Diskurs-Gedankenexperiment folgendermaßen beginnen lassen: „Du, der du Interesse an einer technischen Innovation hast, überlege dir, welchen Einsatz deine technologische Wette haben darf und stelle dir die Frage: ‚Darf ich die Interessen Anderer in meiner Wette einsetzen?‘“ Die erste Antwort ergibt sich aus der moralischen Intuition, daß „man, streng genommen, um nichts wetten darf, was einem nicht gehört“365. Allerdings erkennst ‚du‘ alsbald, daß sich jene Antwort nicht absolut nehmen läßt: Mit ihr „ließe sich nicht leben, da bei der unlöslichen Verflechtung menschlicher Angelegenheiten wie aller Dinge es sich gar nicht vermeiden läßt, daß mein Handeln das Schicksal Anderer in 362 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 71994, §§ 26-34. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 77. 364 Ebd., S. 76. 365 Ebd., S. 77. 363 236 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Mitleidenschaft zieht“.366 Infolgedessen dürftest du, wenn du daraus ein direktes Handlungsprinzip machtest, gar nicht mehr handeln. Das Risiko, die Interessen Anderer zu beeinträchtigen, gehört zu den unaufhebbaren Anfangsbedingungen menschlichen Handelns in der vielfach verflochtenen und nicht (mit Sicherheit) prognostizierbaren Welt. Hierin trifft sich Jonas ebenso mit Hannah Arendt wie mit Popper, Skirbekk367 und der Diskurspragmatik. Andererseits zeigt sich eine gewisse Berechtigung jener intuitiven Antwort, wenn folgende Qualifizierung des Wettverbots vorgenommen wird: „Der Einsatz darf nie das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen sein, vor allem nicht ihr Leben“368. Allerdings kann man hiergegen wiederum einwenden, es gebe doch Krisensituationen, in denen sich das drohende größte Übel nur durch den höchsten Einsatz, hier des Lebens Vieler, abwenden lasse; man denke nur an den Fall eines kriegerischen Angriffs, der allein durch militärische Verteidigung, mithin durch Einsatz des Lebens vieler Soldaten, abgewendet werden kann. Demnach ist also auch das neue Prinzip, das die Unverfügbarkeit des Gesamtinteresses der Betroffenen geltend macht, nicht unbedingt gültig, sondern gleichsam nur in mittleren Problemlagen – nicht aber in der Alternative Sein oder Nichtsein, welche vielmehr zur Notwehr und zum höchsten Noteinsatz berechtigt. Doch trifft das Extrembeispiel überhaupt auf denjenigen zu, der das Interesse eines technologischen Fortschritts geltend macht? Die heutigen „großen Wagnisse der Technologie“ werden doch nicht, so setzt Jonas das diskursive Gedankenexperiment fort, „zur Rettung des Bestehenden oder Behebung des Unerträglichen unternommen, sondern zur stetigen Verbesserung des je Erreichten, das heißt für den Fortschritt. [...] Also gewinnt hier, wohin der Schutz des Proviso nicht reicht, der Satz, daß mein Handeln nicht ›das ganze‹ Interesse der mitbetroffenen Anderen (die hier die Zukünftigen sind) aufs Spiel setzten darf, wieder Kraft.“369 Mit diesem Gedankenexperiment geht Jonas über seine kontemplative phänomenologische und ontologische Perspektive hinaus, indem er in der verkappten Dialogform eines argumentativen Selbstgesprächs denkt. Er argumentiert mit Pro und Contra; sein moralischer Projektbefürworter muß sich über Rede und Gegenrede verantworten. Dabei arbeitet Jonas, wenngleich er nicht aus dem Dialog denkt und sich selbst keineswegs diskursethisch versteht, im Sinne einer 366 A. a. O. G. Skirbekk, Une Praxéologie de la Modernité, Paris: Harmattan, 1999, chap. III, V, VIII. Ders., Praxeologie der Moderne, Weilerswist: Velbrück, 2002. 368 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 78. 367 237 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Grundforderung des diskursethischen Prinzips ‚D‘. Denn sein Moralfreund ist de facto sorgsam darauf bedacht, die Diskursnorm der gleichberechtigten Berücksichtigung der Interessen aller Anderen zu befolgen. Freilich leistet das diskursbezogene Gedankenexperiment der Wette zweierlei nicht: einmal gibt es nichts für die Begründung her, daß jeder und jede überhaupt unabweisbare moralische Verpflichtungen habe; zudem fehlt eine moralstrategische Fortsetzung zur Lösung von Max Webers Problem einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen in der realen, wenig moralischen Welt. Ähnlich wie Kants Gedankenexperiment des Kategorischen Imperativs oder Habermas’ Verfahrensidee eines (idealen) praktischen Diskurses bleibt auch Jonas’ Diskursexperiment der Wette gleichsam auf der idealisierenden Begründungsebene A stehen. Zu erfolgsverantwortungsethischen Kriterien einer moralstrategischen Urteilsbildung stößt es nicht vor. Was das Gedankenexperiment leistet, ist dieses: Angesichts der weltgeschichtlich neuen Situation unbegrenzter, die Gattung gefährdender Handlungsfolgen klärt und rekonstruiert es den Gehalt einer schon mitgebrachten Verpflichtungsintuition. Indem Jonas solche allgemeinen lebensweltlichen Moralintuitionen rekonstruiert und diese direkt auf die neuartige technologische Problem- bzw. Handlungssituation bezieht, gewinnt seine Verantwortungsethik eine zugleich motivierende und orientierende Kraft. Daran fehlte es, wie Wolfgang Kuhlmann frühzeitig herausgearbeitet hat, der Diskursethik bislang.370 Erstaunlicherweise hat K.-O. Apel, wiewohl er den teleologischen Verpflichtungssinn des Moralprinzips auf der Ebene B betont und wiewohl er dabei nicht nur die Herstellung fehlender Bedingungen für moralisches Handeln sondern auch die Bewahrung der bereits geschichtlich gegebenen Moralbedingungen ins Auge faßt, an dieser Stelle überhaupt kein Kooperationsverhältnis zu Jonas erkannt. Das mag auch daher rühren, daß er auf der Ebene B eine eigenständige Fragestellung, was denn das zu Bewahrende sei, nicht vorgesehen hat. Kommt es aber nicht darauf an, bereits in der Logik der verantwortungsethischen Beratungen und Erörterungen die sozialanthropologisch tiefliegenden Fürsorgeintuitionen und der ihnen eigentümlichen Umsicht samt konservativen Vorsicht zu berücksichtigen, die an der lebensweltlichen Verantwortungsinstitution der ‚Elternschaft’ und der elementarpolitischen Institution ‚Regent’ oder ‚Regierung’ haften? Sollte hier nicht die Diskursethik der Bewahrungsaufgabe besonderen Nachdruck verleihen? Sie kann das, indem sie im Lichte des 369 370 Ebd., S. 79. Vgl. W. Kuhlmann, „‘Prinzip Verantwortung‘ versus Diskursethik“ in: Böhler (Hg.), E.Z., S. 277-302. 238 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Dialog-Moralprinzips (D) nach moralischen Ressourcen fragt, die einer Annäherung an dessen regulativen Gehalt in der Praxis förderlich sind: Was ist es, das in der sozialen Welt einem Erfolg des Moralischen entgegen kommt? Woran sollte eine moralische Strategie daher behutsam anknüpfen, anstatt es in zorniger Anti-Haltung aufs Spiel zu setzen? Demzufolge läßt sich für diese Suche nach dem Erfolg des Moralischen ein erster Imperativ (B 1) der moralischen Erfolgsverantwortung angeben: ›Prüft, welche Institutionen, Traditionen und ethischen Intuitionen dem Moralprinzip (D) gerecht werden, schützt und entfaltet sie sorgsam!‹371 Wenn wir nunmehr zurückblicken, um Jonas’ und Apels Ansätze als Antworten auf die technologische westliche Moderne zu bewerten, wenn wir außerdem Apels Ansatz transformieren in ein sokratisches und intuitionssensibles Denken aus dem Dialog, dann mag sich folgendes Schema ergeben. 371 So D. Böhler, „Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil.“ In: Böhler/Brune, 2004, hier S. 139 f., 147 f. 239 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Technologische und geistige Herausforderungen der modernen Zivilisation Jonas Von Apel zum Dialog-Denken Verantwortungsprobleme durch Handlungs- und Wirkungsdivergenzen: Paralyse des Verantwortungsdenkens durch das „Komplementaritätssystem“ der westlichen Moderne: (1) technologische Wirkmacht – Ohnmacht des Folgen-Wissens, (2) Macht der Naturwissenschaften (a) zweck-rationalistisch verengt auf das moralfrei Analysierbare/Kalkulierbare, (b) Moral privatisiert und irrationalisiert als Sache – Verunsicherung (u. Bezweiflung) religiös-ethischen Normwissens. existentieller bzw. religiöser Entscheidungen, mithin werden moralische Ansprüche Künftiger nicht als Geltungsansprüche geachtet. Behebungsversuch: Aufhebungsversuch: (Moral.) Motivation durch Sensibilisierung für moral. Ansprüche zukünftiger Generationen: – „Heuristik der Furcht“ – Um was darfst du wetten? → „Prinzip Verantwortung!“ Sokratisch-sinnkritischer Rückgang auf das, was du als Dialogpartner nicht sinnvoll bezweifeln kannst, z.B. die Pflicht, alle sinnvoll im Dialog vertretbaren und begründbaren Ansprüche zu berücksichtigen Unklar: Unter welchen Voraussetzungen können moralische Ansprüche Künftiger mißachtet werden? Offen: 6.4 Verbindlichkeitserweis der Pflicht, sie zu berücksichtigen Begründung von und Motivation zu universaler und Zukunftsverantwortung → Einsicht in meine Ansprüche/Pflichten als Dialogpartner: Prinzip D Gehalte des Moralprinzips und der Sinn von ‚Verantwortung’ Wenn Jonas auf lebensweltliche ethische Intuitionen zurückgeht, tut er das als behutsamer Phänomenologe: situationsbezogen und sinnkritisch. Im Unterschied zu Ernst Blochs utopischer Metaphysik, die Jonas im sechsten Kapitel des „Prinzips Verantwortung“ einer unerbittlichen Sinnkritik unterwirft372, bezieht er sich nicht auf Wunschträume, auf Paradiesvorstellungen, auf Unsterblichkeitsphantasien etc., sondern auf konkrete Intuitionen mit normativem Gehalt. Als Phänomenologe rekonstruiert er den Anspruch eines „Du sollst!“ so, wie wir ihn in 372 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 316 ff. Unter einer Aufhebungsperspektive wird Jonas’ Utopiekritik diskutiert in H. Gronke, „Epoché der Utopie. Verteidigung des <Prinzips Verantwortung> gegen seine liberalen Kritiker, seine konservativen Bewunderer und gegen Hans Jonas selbst“, in: D. Böhler (Hg.), E. Z., S. 407-427. 240 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 archetypischen Appellsituationen mitverstehen. Kritisch gegenüber dem hier nicht auf die Voraussetzungen reflektierenden Jonas sollte man aber explizieren, was dieses Mitverstehen voraussetzt und ins Spiel bringt: Sofern wir nämlich bereits ein Vorverständnis des (logisch symmetrischen) Moralprinzips der zu verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit haben und es im vorhinein bereits anerkannt haben, verstehen wir auch gewisse asymmetrische Appellsituationen, sofern wir uns (durch idealen Rollentausch) in die Lage der ohnmächtigen Betroffenen versetzen, verstehen wir sie als Appell an unser Verantwortungsgefühl. Und wir verstehen sie dann nicht bloß in diesem Sinne; nein, wir können dann prüfen, ob es sich dabei um eine berechtigte Herausforderung unserer Verantwortungsbereitschaft für etwas handelt – nämlich für etwas, das uns seinswürdig und schutzwürdig aber ohnmächtig gegenübersteht und von unserer Handlungsmacht abhängt – so wie das Kind den Eltern gegenübersteht, in gewisser Weise aber auch die Natur der technischen Zivilisation. Das von ihm anfänglich nur vorausgesetzte „ethische Grundprinzip“ führt Jonas als „ontologische Verantwortung für die Idee des Menschen“ ein.373 Was er dabei im Sinn hat, ist „wirkliches Menschentum“374 oder „echtes menschliches Leben“, das als solches Moralfähigkeit und Verantwortungsfähigkeit einschließt. In diesem Sinne formuliert er seinen Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von Handlungssubjekten gerichtet ist (...): „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“375 Bei der Entfaltung dieses Zukunftsprinzips nimmt Jonas vor allem eine Bewahrungsperspektive ein: „Daß eine Menschheit sei“ gilt ihm als „der erste Imperativ“, den eine kollektive Prinzipienethik im technologischen Gefahrenzeitalter geltend zu machen habe.376 Ist jene Perspektive zureichend oder müßte sie durch eine moralische Emanzipations- und Entwicklungsperspektive erweitert werden? So fragte Apel kritisch auf dem Bonner Kongreß über „Zukunftsethik und Industriegesellschaft“ im Jahre 1985.377 Für eine solche Erweiterung spricht, von Jonas her geurteilt, daß er selbst in der praxisbezogenen Fortführung seines „Prinzips Verantwortung“ (1978), in „Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung“ (1985), das „echte menschliche Leben“ als das verantwortungsfähige Leben versteht, dem als solchem einzigartige Würde zukomme: Menschenwürde. Hier argumentiert er ausdrücklich vom Grundsatz der zu achtenden 373 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 91 f. Ebd., S. 89. 375 Ebd., S. 36. 376 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 90 f. 374 241 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Menschenwürde her. Damit nimmt er ein „höherrangiges Kriterium“ (M. Werner)378 als das der bloßen Gattungsbewahrung in Anspruch und verweist insofern auf ein von ihm selbst nicht erfülltes Desiderat. Es besteht darin, die Gehalte und Kriterien des neuen situationsbezogenen Prinzips einer kollektiven Zukunftsverantwortung ins Verhältnis zu dem allgemeinen Moralprinzip setzen, um so eindeutig über eine Ethik der Katastrophenvermeidung hinauszukommen, damit man (logisch universale) Kriterien für die Beurteilung verschiedenartiger gesellschaftlicher Betroffenheitssituationen zur Hand hat. Schließlich lassen sich nicht alle moralischen Konflikte auf so elementare Fragen wie die des Erhalts der Gattung oder ihrer Moralfähigkeit zurückzuführen. 6.5 Moralprinzip und regulative Ideen oder: Dialektik von Bewahrung der Gattung und Fortschritt in der Verantwortung Bereits seit 1967 für eine Ethik der solidarischen Menschheitsverantwortung eintretend379, hat Karl-Otto Apel zu jener Verhältnisbestimmung beigetragen. So warf er im Diskurs mit Jonas die Frage auf, „ob das Dasein und die Würde des Menschen durch bloßes Bewahren des jetzigen Zustandes überhaupt zu retten sind. Genauer: ist die Natur des Menschen und seiner, längst schon technisch und sozio-kulturell umgeformten, Umwelt nicht so beschaffen, daß sie ohne eine regulative Idee des technischen und des sozialen Fortschritts nicht bewahrt werden können? Ist zumal die Möglichkeit einer ethischen Bewahrung der Würde des Menschen nicht apriori an die Bedingung geknüpft, daß sie auch immer noch erst realisiert werden muß – insbesondere im Sinne einer weltweiten Herstellung menschenwürdiger sozialer Verhältnisse?“380 Worum geht es Apel? Undeutlich wird seine Intuition durch die heikle Rede von einer regulativen Idee des technischen und sozialen Fortschritts, die dem geltungslogischen Status dieses Begriffs zuwiderläuft. Dazu gleich. Halten wir zunächst immanent fest: In entschiedener Abgrenzung vom Begriff der Utopie, der sich auf einen erhofften, oft paradiesisch ausgemalten, andersartigen Weltzustand bezieht und dem praktisch das Streben nach einer solchen Welt entspricht,381, hat 377 Vgl. Th. Meyer u. S. Miller (Hg.), Zukunftsethik und Industriegesellschaft. München: J. Schweizer Verlag, 1986. Vgl. M. Werner, „Erfaßt das ‚Prinzip Verantwortung‘ die Probleme moderner Technologie?“ In: W. E. Müller (Hrsg.): Hans Jonas: Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik. Stuttgart (W. Kohlhammer) 2003, S. 235. Vgl. ders., „Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung“. In: M. Düwell, K. Steigleder (Hrsg.): Bioethik – eine Einführung, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003, S. 43f. 379 Karl-Otto Apel, Transformation II, S. 378 ff.. 380 Ders. in: Diskurs (1988), S. 184 u. 185. 381 Ders., „Ist die Ethik der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Utopie?“, in: W. Voßkamp (Hg), Utopieforschung, Frankf./Main (Suhrkamp Tb) 1985, S. 325-355 378 242 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Apel die „regulative Idee einer Realisierung der Gerechtigkeit im planetarischen Maßstab“382 als soziale Emanzipations- und moralische Fortschrittsperspektive im Sinn. Apels „Transformation“ der Vernunftphilosophie Kants in eine Diskurs- und Kommunikationsphilosophie gelangt zu einer neuen zwiefachen Sinnbestimmung der Vernunft: kommunikative Geltungsinstanz – Vernunft als argumentativer Diskurs – und kommunikative moralische Kompetenz – Vernunft als die Fähigkeit und vorausgesetzte Bereitschaft, Geltungsansprüche argumentativ und kooperativ zu prüfen bzw. einzulösen. In diesem Begründungszusammenhang, der geltungstheoretischen Grundlagenproblematik der Philosophie also, greift Apel auf Kant und Peirce zurück, indem er die kontrafaktischen Aspekte dieses Vernunftbegriffs als „regulative Ideen“ versteht. Angeregt von Charles Sanders Peirces forschungspragmatischer Kantkritik,383 orientiert er sich an Kants kritisch einschränkender Statusbestimmung der spekulativen Vernunftideen. Kritisch gegenüber dem „dialektischen Schein“ der Vernunftmetaphysik, die von Idee zu Idee spekulierte, schrieb Kant allen Vernunftideen ja nurmehr eine regulative Bedeutung für den Erkenntnisprozeß zu, nicht länger eine erkenntniskonstitutive, also Wahrheit ermöglichende Rolle.384 Im Blick darauf knüpft Apel an Peirces Idee eines argumentativen und empirisch theoretischen Konsensus an, der sich in the long run in der Forschungs- und Dateninterpretationsgemeinschaft einstellen und zu einer „ultimate opinion“ der Naturwissenschaftler (hinsichtlich ihrer Definition des Realen) führen würde. Er erläutert, daß dieses Konzept einer kontrafaktischen Gültigkeit zurückgeht „auf Kants >Vernunft<-Konzeption des ‚regulativen Prinzips’, das den Klarheitsund Wahrheitsfortschritt des sich empirisch korrigierenden Erkenntnisprozesses gerade dadurch anzuleiten vermag, daß ihm nichts Empirisches jemals vollständig entsprechen kann.“385 Aus dem Zusammenhang, in dem Kant, Peirce und Apel den Begriff eines regulativen Prinzips bzw. des regulativen Gebrauchs und der regulativen Funktion von Ideen ursprünglich eingeführt haben, erhellt eindeutig, daß wir es mit einem geltungstheoretischen Konzept zu tun haben. Natürlich läßt es sich auch auf praktische Fragen anwenden und ist in praktischen Diskursen nicht minder unentbehrlich als in theoretischen; ja es hat, wie Kant betont, selbst einen primär praktischen Sinn – aber doch als Geltungskonzept. Ein regulatives Prinzip ist und bleibt ein Prinzip der Geltung und also des Diskurses: ein ideales, kontrafaktisches Kriterium zur 382 Ebd. S. 185. K.-O. Apel, „Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik“, in: ders., Transformation. Bd. 2, S. 157-177. 384 Kant, Logik, (Jäsche), in: Werke, ed. Weischedel, Frankfurt a.M. (Insel) 1958, Bd. III, S. 522. 385 Apel, Auseinandersetzungen, S. 563. Zur Sache: A. Damiani, 2002, a. a. O. (s.o., Anm. 157). 383 243 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Beurteilung der Gültigkeit von Thesen und Handlungen, von Behauptungen und Aufforderungen bzw. Normen. Freilich kann auch ein ideales Beurteilungskriterium, wie es das Konzept des rein argumentativen Konsensus ist, durchaus einen moralischen Verpflichtungssinn haben und insofern von praktischer Orientierungskraft sein. Das ist immer dann der Fall, wenn es sich nicht ablösen läßt von moralischen Gehalten, die die Rolle des Argumentationspartners betreffen oder gar tragen. Doch ist diese Orientierungsbedeutung immer eine solche für N.N. als Diskursteilnehmer, so daß sie sich nicht in direkte Handlungsziele, gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven und dergleichen diskursexterne praktische Vorstellungen ummünzen läßt. Die Orientierungsfunktion einer regulativen Idee bzw. eines regulativen Prinzips ist strikt geltungsbezogen, daher primär diskursintern und nur insofern diskursüberschreitend und praxisanleitend, als ihr moralischer Gehalt die Diskursteilnehmer dazu verpflichtet, die Realisierungsbedingungen für argumentative Diskurse zu verbessern. Was heißt das? Es bedeutet, die gesellschaftlichen und Umweltverhältnisse diskursförderlich zu gestalten, und zwar in so hohem Maße wie nur möglich. Eben diese Fortschrittsverpflichtung ergibt sich unzweifelhaft, wenn wir uns als Denkende, d.h. als Geltung beanspruchende Diskurspartner fragen, wozu wir als solche verpflichtet sind. Dann stoßen wir nämlich auf eine Reihe von regulativen Ideen, die einen zugleich diskursinternen und diskursüberschreitenden Orientierungssinn haben. Wenn das der Fall ist, kann man von einem diskurspraktischen Verpflichtungsgehalt sprechen. Es ist das Verdienst von Horst Gronke, Apels Kategorienfehler im Gebrauch des Begriffs >regulative Idee< – als ginge es dabei um die Annäherung an einen idealen Weltzustand oder um ein diskursexternes gesellschaftliches Fortschreiten – aufgedeckt zu haben.386 Das Dialogmoralprinzip selbst, welches aus unserer Selbstreflexion als Diskurspartner hervorgeht – „Bemühe dich um das konsenswürdige Argument und die konsenswürdige Handlung!“ –, enthält regulative Ideen, vor allem die eines argumentativen Konsenses. Diese lassen sich aber nicht sinnvoll als direkte praktische Ziel- und Fortschrittsvorstellungen fassen, wie Apel und ich es früher getan haben. In seiner Kritik an Jonas ignoriert Apel, daß eine regulative Idee eine Geltungsidee ist, wenn er gegen Jonas die direkte praktische Entwicklungsvorstellung eines „technischen und sozialen 244 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Fortschritts“ als eine regulative Idee ins Feld führt. Das ist ein Kategorienfehler. Apels Intention jedoch, eine langfristige Emanzipationsperspektive zur Verbesserung der ökologischen Verhältnisse und der sozialen Lebensbedingungen als moralische Langzeitverpflichtung zu begründen, ja als eine unabschließbare moralische Aufgabe, hat m.E. in der Tat einen diskurspraktischen Verpflichtungsgehalt; und insoweit ist sie unabweisbar. Sie läßt sich als diskursbezogene Richtungspflicht erweisen, weil sie soviel besagt wie: >Als Diskurspartner könnt ihr nicht bezweifeln, daß ihr die Pflicht habt, euch mitverantwortlich für ökologischen und sozialen Fortschritt zur Verbesserung der Diskursbedingungen für alle Menschen zu engagieren, denn als Diskurspartner wollt und sollt ihr je schon, daß die bestmöglichen Bedingungen für Diskurse, also für Erkenntnis, Gerechtigkeit und Verantwortung realisiert werden.< Diese Richtungspflicht läßt sich nun durch zwei Ideale näher bestimmen: ‚intakte Umwelt’ und ‚Gerechtigkeit samt Menschenwürde für jeden und jederzeit’. Dazu nehmen wir das Gespräch mit Jonas wieder auf. Wenn man, wie es Hans Jonas und in seiner Nachfolge die christlichen Kirchen tun, die Bewahrung der Schöpfung postuliert, setzt man damit das Ideal einer gleichsam „intakten“ Umwelt des Menschen voraus. Angesichts einer Jahrtausende währenden Kultivierung und Veränderung der außermenschlichen Natur wissen wir, daß eine intakte Umwelt eben ein Ideal und kein real möglicher Zustand ist. Was kann also mit einer „intakten Umwelt“ gemeint sein? Zugrunde liegt die Idee einer Ökosphäre, deren Belastungsgrenzen nicht überschritten werden. Dafür zu sorgen, ist bereits eine ständige Aufgabe, kaum je ein Besitz. Zudem erfahren wir durch Umweltzerstörungen, daß eine lebensdienliche, zuträgliche Umwelt zugleich Vorbedingung für Gerechtigkeit unter den Zeitgenossen wie auch zwischen diesen und den künftigen Generationen ist. So ergibt sich diese zwiefache Bestimmung des Postulats der Zukunftsverantwortung: Ein Verhalten in Richtung auf das Ideal einer ‚intakten‘ Umwelt ermöglicht erst die Herstellung gerechter Verhältnisse im Weltmaßstab. Andererseits schließt das Moral-Ideal einer ubiquitären Gerechtigkeit und permanenten Achtung der Menschenwürde das Seins-Ideal einer ‚intakten‘ Umwelt ein. Das eine läßt sich nicht ohne das andere denken. Und beide Fernzielvorstellungen lassen sich lediglich als fortwährend sich erneuernde Aufgaben verstehen, weil sie stets über das Erreichte hinausweisen. 386 Gronke, Horst: „Die Relevanz von regulativen Ideen zur Orientierung der Mitverantwortung“. In: D. Böhler u. a. (Hrsg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003, S. 260-282. 245 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Die Dialektik zwischen moralischer Bewahrungs- und Fortschrittsperspektive läßt sich an den Verantwortungsdimensionen vor Augen führen, die im umweltethischen Diskurs hinsichtlich sozio-ökologischer Problemlagen und der Nebenwirkungen technologisch-industrieller Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Hier geht es zunächst darum, die Bedürfnisse, Interessen und Moralgüter aller Menschen, zumal die potentiellen Bedürfnisse, Interessen und Moralgüter der zukünftigen Generationen, seitens der heutigen Generationen nach dem Kriterium der Verständigungsgegenseitigkeit kommunikativ zu ermitteln, um sie auf ihre Zustimmungswürdigkeit hin zu prüfen und um diese ausschließlich diskursgerecht einzulösen. Zur Diskursgerechtigkeit gehört selbstredend auch die Verpflichtung, die Naturgüter gerecht zu verteilen. Insofern nun von einem Moralgut oder Naturgut gezeigt werden kann, daß dessen Gewährleistung zu den Realisierungsbedingungen von öffentlichen, weltweit führbaren Diskursen gehört und daß es sich dabei um eine permanente Aufgabe handelt, genau insoweit können wir hier von einer regulativen Diskursidee sprechen. Und dann haben wir es mit einer unbedingten Richtungspflicht zu tun. 246 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 247 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Verantwortung für die Permanenz moralfähigen menschlichen Lebens auf Erden Jonas’ implizite, von K.-O. Apel unklar angemahnte, soziale Emanzipations- und moralische Fortschrittsperspektive Jonas’ ausdrückliche ontologische Bewahrungsperspektive Entfaltung der Diskurs- und Moralbedingungen (samt Menschenwürde, -Rechten) für alle als Sozialwesen, Bürger und Personen Schutz, Pflege der Lebensbedingungen der Menschengattung im ökologischen Ganzen Ideal ›Gerechtigkeit und Menschenwürde für jeden und jederzeit‹ Ideal ›intakte Umwelt‹ schließt ein macht erst möglich Prof. Dr. D. Böhler © 2005 Hans Jonas-Zentrum Berlin e.V. 248 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 6.5 Verantwortung primär als Fürsorge oder primär als Rechtfertigung im öffentlichen Diskurs? Moralphilosophie und demokratischer Rechtsstaat Für eine moralische Beurteilung kommt es, weil und insofern sie einsichtige Verbindlichkeit beansprucht, darauf an, daß wir genau wissen, ob es unbedingte moralische Verpflichtungen gibt, die sich als allgemeingültige Prinzipien begründen lassen. Die Diskurspragmatik verweist darauf, daß es sich dabei allein um jene Grundpflichten handeln kann, die wir alle als Etwas Denkende und damit als Subjekte von Geltungsansprüchen gleichsam im Rücken haben. Was haben wir derart im Rücken? Interne Sinnbedingungen und externe Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse. Und wie lassen diese sich als solche erweisen? In zwei Hauptschritten einer Erhellung dessen, was wir als Teilnehmer eines Diskurses in Anspruch nehmen müssen. Da ist zunächst die theoretische Rekonstruktion interner Diskursvoraussetzungen, die unser Vorverständnis vom argumentativen Dialog und unseren Pflichten in einem solchen auf den Begriff bringt. Daran schließt sich die Validierung der Rekonstruktionsergebnisse an – die sinnkritisch sokratische Reflexion. Sie prüft, ob ‚ich’ mit einem sinnvollen Diskursbeitrag in Zweifel ziehen kann, daß einem Rekonstruktionsergebnis unbedingte Geltung zukommt, so daß es für alle möglichen Diskurspartner verbindlich ist. Nun bedarf es zweifellos gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rechtlicher und politischer Art, um die Realisierung argumentativer Diskurse außerhalb eines stillen Kämmerleins und nicht allein in einem philosophischen Seminar zu fördern. Argumentative Dialoge, die nicht in die Gesellschaft ausstrahlen und an denen sie nicht beteiligt ist, können ihren ureigensten Anspruch, den auf universale Gültigkeit, kaum umsetzen. In gewisser Hinsicht können sie ihn nicht einmal glaubwürdig erheben, wenn die Gesellschaft nicht in den Diskurs miteinbezogen wird. Immer dann nämlich, wenn die Interpretation einer gesellschaftlichen Situation oder die Ermittlung von Bedürfnissen, Interessen bzw. Wertorientierungen von Bürgern in einen Diskurs hineinspielt. In den neuzeitlichen, zumal den modernen Rechtsstaaten Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika sind Institutionen und Rechtsnormen, insonderheit Menschenrechte und Bürgerrechte, erkämpft und schließlich etabliert worden, die sowohl die Idee argumentativer Diskurse in die Gesellschaft eingebracht haben als auch die Philosophie und Wissenschaft zur Gesellschaft hin geöffnet haben. So gibt es in den modernen Systemen des Rechts, der Politik und ansatzweise auch der Wirtschaft einen Kordon von Institutionen und Foren, die den Anspruch eines argumentativen Diskurses entweder mitinstitutionalisiert haben, wie das im Verfahrens- und Prozeßrecht und schwächer in der parlamentarischen Repräsentation der Fall ist. 249 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Darin finden kulturelle und politische Grundansprüche aufgeklärter Bürger eine institutionelle Entsprechung; allen voran der Anspruch auf Öffentlichkeit der politischen Entscheidungen und auf allgemeine bürgerliche Partizipationsmöglichkeit. Hinsichtlich dieser politischen Grundansprüche und in einer gewissen Abstufung, nämlich mit kritischem Angemessenheitsvorbehalt, stellen sich der normativen Ethik die Fragen, ob damit unverzichtbare Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse in den Blick getreten sind und was das für eine Ethik der Zukunftsverantwortung bedeutet. Haben auch sie den hohen Verpflichtungswert einer regulativen Diskursidee? Dann müßten sie eingeschlossen werden in die von Jonas und der Diskursethik geltend gemachte Forderung, sowohl die Möglichkeit der Verantwortung als auch die Moralansprüche der Nachgeborenen zu respektieren. Denn jenes zukunftsethische Postulat erstreckt sich auch auf ein sensibles Engagement für die Realisierungsbedingungen von Zukunftsverantwortlichkeit. Es geht heute darum, die personalen und institutionellen Bedingungen – von der Bildung bis zum Rechtsstaat – zu bewahren und zu verbessern, die es den Zukünftigen erlauben, ihrerseits verantwortlich zu handeln. Auch Verantwortung im Sinne des Strebens nach einer möglichst intakten Umwelt setzt Verantwortungsfreiheit voraus. Das heißt aber: nicht allein Freiheit im Diskurs, sondern auch und zumal die Freiheit für alle, öffentlich Diskurse zu führen. So einleuchtend diese Einbeziehung der politischen Realisierungsbedingungen in den Gegenstand der Zukunftsverantwortung auch ist, ergeben sich hier doch erhebliche Differenzen zwischen Jonas’ ontologischer Wert-Verantwortungsethik und der Diskurs-Verantwortungsethik. Hans Jonas’ Angelpunkt ist, daß Verantwortungsfreiheit ein Sein voraussetzt, das der Verantwortung Sinn gibt. Insofern bestehe die unbedingte Pflicht, dieses Sein, nämlich die Existenz der Menschengattung als Teil der Natur und die ihr zugehörige moralische Idee der Menschheit (mit dem Kernbegriff ›Menschenwürde‹), zu bewahren. Für den Dialog zwischen Jonas’ Ethik und der Diskursethik ergeben sich daraus zwei Jonassche Anfragen an die Diskursethiker. Zunächst: Sind die Permanenz der Gattung und die Verbindlichkeit der Ideen ›Menschheit‹ und ›Menschenwürde‹ nicht unbedingte Diskursvoraussetzungen? Das würden die Diskursethiker zweifellos bejahen, denn wie sollte ein Sich-Verantworten möglich sein, das sich nicht auf diese beiden Ideen verpflichtet wüßte? Allerdings würde Jonas dann, und zwar in erfolgsverantwortungsethischer Absicht, also in einer „B“-Perspektive, die heikle Frage stellen, ob unter bestimmten Umständen nicht ein zeitweiliger Dispens der Demokratie und die Errichtung einer Diktatur sinnvoll und angemessen, ja verantwortungsethisch legitim sei, wenn in der Demokratie die Erfüllung jener beiden Verantwortungspflichten nicht durchsetzbar zu sein scheine. Wenn sich – wie der US250 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 amerikanische Staatsbürger Jonas zu beobachten meinte oder doch befürchtete – das Dilemma zwischen Zukunftsverantwortung und demokratischer Politik, die zum Interessenopportunismus neige, dramatisch zuspitze, müsse der Philosoph „durchaus den Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt.“387 Und er erläuterte: „Es wird mir immer vorgeworfen, ich wäre bereit, die Demokratie aufzugeben; aber ich würde sie mit großem Kummer verschwinden sehen und würde ausschließlich akzeptieren, daß sie zeitweilig, sagen wir mal, suspendiert würde. Im antiken Rom gab es übrigens die Diktatur als eine Institution, eine rechtliche Institution, die auf sechs Monate begrenzt war usw. Daß man nicht unter allen Umständen auf dem Wege von parlamentarischen Sitzungen etc. und von Wahlen, die sich alle vier Jahre wiederholen, immer eine Menschheitskrise meistern kann, sollte doch evident sein.“388 Diskursethiker können die Gegenfrage stellen, ob sich eine solche Notmaßnahme als erfolgsverantwortungsethische Konter-Strategie rechtfertigen läßt. Wenn ja, dann müßte sie begründungsarchitektonisch und diskursbezogen an das Moralprinzip rückgebunden sein. Ist das der Fall? Machen wir Jonas’ Argument zunächst im Sinne von Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“ stark. Jonas hat für seinen Not-Vorschlag heftige Kritik hinnehmen müssen, besonders massiv von Karl R. Popper389. Unberechtigt ist diese Kritik jedenfalls, wenn sie nicht genügend zwischen faktischer öffentlicher Meinung bzw. Mehrheitsentscheidung und normativer Rechtfertigung differenziert. Denn eine Ethik, der es um normative Legitimität und um unbedingte Verpflichtungen geht, steht und fällt damit, daß sie keinerlei faktische Übereinkunft, weder einen empirischen Konsens von Beteiligten noch gar einen Mehrheitsentscheid, als Geltungsgrund für die von der Mehrheit oder (im Extremfall) von allen, die abgestimmt haben, behauptete Verantwortlichkeit oder Richtigkeit akzeptieren darf. Erforderlich ist ein nichtrelativierbarer Maßstab, damit sich ein irgendwie zustandegekommener Konsens und erst recht eine Mehrheitsentscheidung jeweils auf die moralische Zustimmungswürdigkeit hin überprüfen läßt. Es ist die Suche nach einem Verbindlichkeitskriterium jenseits von Subjektivismus und Relativismus, die Jonas’ ontologische und intuitionistische Wertethik mit der dialogreflexiv 387 Gespräch mit E. Gebhardt, in: Ethik für die Zukunft (zit: EZ), S. 210. Vgl. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 254 f., 259-270, 302-305. 388 A.a.O., EZ, S. 211. 251 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 verfahrenden, normativen Diskursethik vereint. Beide Ansätze kommen de facto darin überein, daß der gesuchte Maßstab in dem Umkreis zu finden sein müßte, der sich mit den normativen Konzepten „Idee der Menschenwürde und des moralfähigen Menschen“ und „Verantwortung dafür, daß künftige Generationen diesen Ideen noch gerecht werden können, indem sie sich ihrerseits verantwortlich und moralisch verhalten“ beschreiben läßt. Diese beiden Konzepte enthalten eine in ihrer Verbindlichkeit unbedingte, in ihrer Erfolgsfähigkeit von vielen Bedingungen abhängige Pflicht, die die Richtung des Verhaltens angibt, der immer nachzustreben sei. Wenn die Durchsetzung kurzfristiger Nahinteressen mittels Demokratie jener Richtungspflicht erheblich zuwiderläuft, dann gehört – insoweit ihre Institutionen das zulassen – auch eine Demokratie auf den Prüfstand; entweder müßten einige ihrer Institutionen verändert werden, oder es stünde, falls die Veränderung scheitert, als ultima ratio ein zeitweiliger Dispens der Demokratie an. „Was ich [aber] mit der potentiellen Möglichkeit einer Tyrannei als äußerste Rettungsmaßnahme gemeint habe, ist einzig dem vergleichbar, was sein wird, wenn ein Haus brennt oder ein Schiff untergeht. Dann nämlich kann man keine Abstimmungen mehr machen, und dann kann man nicht die normalen Gesetzesverfahren laufen lassen, sondern es müssen gewisse Notmaßnahmen ergriffen werden, ...“390 Um für ein solches Dilemma klare Kriterien zu erarbeiten, ersetzen die Diskursethiker die unmittelbare Orientierung an den normativen gehalten des Moralprinzips, hier an Jonas’ Kategorischem Imperativ der Zukunftsverantwortung als Maxime im Sinne des Begründungsschritts A2, durch die moralstrategische B-Perspektive einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen.391 Zwar kann Jonas’ Relativierung der demokratischen Staats– und Regierungsform hinsichtlich ihrer moralischen Prinzipienstrenge einleuchten. Andererseits ist Kritik daran nicht von der Hand zu weisen, und das aus mehreren Gründen. Ein Grund liegt darin, daß Jonas die begründungslogisch zuerst anstehende verantwortungsethische Frage dessen, der eine moralische Maxime gegen Widerständigkeiten durchsetzen will, weder in seiner Demokratiekritik noch im Denkexperiment der Wette stellt: die Frage, welche Institutionen und Traditionen im jeweiligen Veränderungsfeld dem Moralprinzip gerecht werden und daher bewahrt und möglichst weiterentwickelt werden sollten. Diesen ersten Prüfauftrag der verantwortungsethischen 389 390 Vgl. das Interview mit K. R. Popper: DIE WELT, 8. Juli 1987. Ethik für die Zukunft, S. 210 f. 252 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Diskurse, gewissermaßen die Stufe B 1, überspringt Jonas. Er bezieht sein Verantwortungsprinzip unmittelbar auf mögliche Widerstände, die aus der Demokratie entstehen können. Hier ist jedoch eine Diskursdifferenzierung erforderlich, damit die Anwendung des Verantwortungsprinzips nicht rigoristisch wird, sondern sich ihrerseits verantworten läßt; so nämlich, daß nach Maßgabe verantwortungsethischer Kriterien Rechenschaft über die möglichen Folgen abgelegt wird. Ein zweiter Grund ergibt sich direkt daraus: Weil Jonas die Frage nach der moralischen Bewahrungswürdigkeit geschichtlicher verantwortungsethische Stufe Institutionen berücksichtigt, kann er nicht als einfach die eigenständige Demokratie als Mehrheitsherrschaft ins Visier nehmen, ohne den moralisch hoch relevanten rechtsstaatlichen Rahmen der Demokratie, den modernen Verfassungsstaat (mit den menschenrechtlichen Ideen der französischen und der amerikanischen Revolution), überhaupt zu würdigen. Beziehen wir die moralische Bewahrungsfrage hingegen auf den modernen Verfassungsstaat, nehmen also die Perspektive einer moralisch-politischen Erfolgsverantwortung ein, so wird klar, daß eine Demokratiekritik weithin als immanente Kritik zu üben ist: geleitet von moralischen Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats selbst. Dazu gehören Grundrechte (wie der Schutz der Menschenwürde, die Freiheit der Persönlichkeit, der Meinung, der Presse, der Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens) und Verfahrensprinzipien (wie das der Öffentlichkeit und das der formalen Revidierbarkeit von Beschlüssen), deren Kerngehalt als Moment bzw. als Realisierungsbedingung des Diskurs-Moralprinzips sogar reflexiv letztbegründbar ist. Wenn das aber der Fall ist, dann ist bei der Entwicklung einer moralischen Konter-Strategie gegenüber einem demokratischen Rechtsstaat äußerste Vorsicht geboten. Deren Grenze ist dann sofort in Sicht: die Strategie darf nicht pauschal ‚Dispens der Demokratie‘ heißen, jedenfalls nicht ‚Dispens des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats’. Nun könnte ein Demokratieskeptiker fragen, wie sich denn ein Moralitätserweis des Kernbestands der rechtsstaatlichen Demokratie antreten lasse. Die Antwort des sokratischen Diskurspragmatikers würde lauten: durch einen Rückgang auf die dialogförmige Argumentationssituation, in der sich jeder als Fragender, etwas Denkender etc. befindet – auch derjenige, der die begründete Verbindlichkeit eines Prinzips bezweifelt. Dieser Rückgang kann über eine dialogische Sinnprüfung des Zweifels – als eines Beitrags im argumentativen Dialog – 391 Dazu D. Böhler, „Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung“, in: EWD-Bd. 3, hier bes. S. 63 ff. 253 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 zum negativen Erweis der Verbindlichkeit des bezweifelten normativen Gehalts führen. Denn dasjenige, was sich in einer aktuellen Argumentation unter Diskurspartnern nicht sinnvoll bezweifeln läßt, das ist prinzipiell gültig, so daß sein normativer Gehalt als verbindlich, als einsichtige Pflicht, zu gelten hat und daher befolgungswürdig ist. In diesem Sinn zeigt die Dialog- bzw. Diskurspragmatik392, daß alle, welche überhaupt die Rolle eines Denkenden als Argumentationspartner einnehmen können – denn einzig auf die Potentialität kommt es in Geltungsfragen an –, bereits gewisse demokratisch-rechtsstaatliche Grundsätze von vornherein dadurch als befolgungswürdig vorausgesetzt haben, daß sie ernsthafte Diskurspartner zu sein beanspruchen. Denn als solche haben sie gewisse rechtsstaatliche Prinzipien (notwendigerweise) für sich selbst in Anspruch genommen und implizit anerkannt. Zu jenen Prinzipien gehört zuallererst die rechtsethische Grundnorm, die Würde, mithin die Unverletzlichkeit und (mögliche) Freiheit aller menschlichen Lebewesen zu achten.393 Hinzukommt etwa das rechtspolitische Prinzip, keine Beschlüsse und Maßnahmen in Kraft zu setzen oder anzuerkennen, die im Geheimen zustande kommen, sondern allein solche, die der öffentlichen Kritik ausgesetzt und der öffentlichen Zustimmungsfähigkeit unterworfen sind, also das Prinzip der Öffentlichkeit.394 Das Prinzip der Öffentlichkeit, und zwar in dem reichen grundrechtlichen Sinne einer zu gewährleistenden Kommunikationsfreiheit, enthält den dritten Grund einer unabweisbaren Kritik an Jonas’ Geltungseinklammerung der Demokratie. Warum? Dieses Prinzip bezeichnet auch eine Bedingung der Möglichkeit von Verantwortung, nämlich von moralischer Rechtfertigung. Denn eine zureichende Beurteilung der Handlungen Anderer ebenso wie eine wahrheitsfähige Einschätzung der Bedürfnisse bzw. Interessen Anderer ist allein in dem Maße möglich, als sie sich auf die freie Artikulation ihrer Interessen stützen kann. Wahrheitsfähig, nämlich fähig zur 392 393 394 Der Forschungsstand der Diskurspragmatik spiegelt sich in: Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, hg. v. Karl-Otto Apel und Holger Burckhart, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001; sowie Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, hrsg. v. H. Burckhart u. H. Gronke, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002; ferner in den Studien Böhlers, Brunes, Gronkes, Rähmes und Werners in: Böhler, Kettner, Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, und nicht zuletzt in: Böhler u. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. Und jüngst in meiner Studie „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners. Ein (wirtschafts-) ethischer Richtungsstoß der Berliner Diskurspragmatik und Diskursethik.“ In: EWD-Bd. 12, Münster: LIT, 2004, S. 105-148. D. Böhler: „Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung“, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht, Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 201-231. Ders., „Menschenwürde und Diskursethik“, Nachwort zu: Thomas Rusche, Aspekte einer dialogbezogenen Unternehmensethik, EWD-Bd. 4, Münster: LIT, 2002, hier S. 247 ff. Vgl. D. Böhler, „Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit“, in: Ders. u. K.-O. Apel, Funkkolleg: Studientexte, Bd. 3, Weinheim und Basel: Beltz, 1984, S. 845-886. 254 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Erkenntnis der Situation, und darauf aufbauend legitim, durch gute Gründe gerechtfertigt und in diesem Sinne ›gerecht‹, können moralische Urteile und moralische Maximen oder Normen einzig dann sein, wenn sie nicht bloß auf subjektiver Vermutung eines einsamen Gedankenexperimentators oder auf monologischer Analyse von Experten beruhen, sondern wenn sie die wirkliche Situation der betroffenen Menschen berücksichtigen; d.h. so, wie diese selbst ihre Lage und, als deren Elemente, ihre Interessen verstehen würden, sofern sie diese in der rationalen Distanz von Argumentationspartnern interpretierten. Damit sind wir abermals bei unserem Postulat einer kommunikativen Situationsermittlung, die auf Verständigungsgegenseitigkeit zielt.395 Kurzum: Ohne >Verständigungs-Gegenseitigkeit< (über die Bedeutung der Situation und der situationskonstitutiven Interessen) keine Wahrheit und Gerechtigkeit, also keine >Geltungs-Gegenseitigkeit< für moralische Urteile und für moralische Normen bzw. Handlungsorientierungen. Das ist es, was Jonas zu kurz kommen läßt, und zwar in Widerspruch zur grundlegenden moralischen Absicht seines Gedankenexperiments über „das Element der Wette im Handeln“. Diese leitende Absicht heißt nämlich „Einbeziehung der Anderen.“396 Insofern der demokratische Rechtsstaat das Prinzip der Öffentlichkeit etabliert und praktiziert, gewährleistet er eine Realisierungsbedingung für moralische Diskurse, stellt er doch den institutionellen Rahmen für eine freie Sinnverständigung mit den Adressaten moralischer Normen und den ‚Gegenständen’ moralischer Urteile bereit. Aus diesem Grunde und in dieser Hinsicht läßt sich ein Dispens der Demokratie nicht rechtfertigen. Wohl aber kann in Form einer moralischen Konter-Strategie Widerstand gegen einzelne Mehrheitsbeschlüsse und Regierungsmaßnahmen in einer Demokratie legitimiert werden. Warum kann Jonas dem Prinzip der Öffentlichkeit eine solche grundlegende Rolle nicht einräumen? Er denkt in der kontemplativen, an die antike theoria angelehnten Einstellung des Phänomenologen und Ontologen. Als traditioneller Phänomenologe und Metaphysiker, der methodisch einsam auf das menschliche Sein schaut und darin nicht allein den Gegenstand sondern zugleich die Instanz der Verantwortung findet, kann er dem Postulat einer Verständigungsgegenseitigkeit und dem republikanischen Öffentlichkeitsprinzip (als Realisierungsbedingung einer Verständigung mit Betroffenen) keine grundsätzliche Bedeutung für Erkenntnis und Moralität beimessen. Er schaut „die universale Verantwortung gegenüber 395 396 Hier: Abschnitt II 1.3. Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 78f. 255 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 allem lebendigen Sein ‚monologisch‘ aus dessen werthafter Struktur“ ab.397 „Sieh hin und Du weißt“398, wofür Du verantwortlich bist, nämlich für das schutzbedürftige, werthafte, organische Leben um Dich herum – sagt Jonas intuitionistisch: Du weißt es, so wie Eltern, die ihren schutzbedürftigen Kindern gegenüberstehen, ‚normalerweise‘ (!) wissen, daß sie ihnen Fürsorge und Vorsorge zu gewähren haben. Auf diese Weise denkt Jonas nur die eine Seite des Verantwortungsbegriffs, den werthaften Gegenstandsbezug: ein Handlungsmächtiger steht einem wertvollen, mehr oder minder handlungsschwachen Wesen gegenüber, das an die Fürsorge des Mächtigen appelliert. So kann in der Tat Verantwortungsgefühl geweckt werden und das asymmetrische, nämlich fürsorgende Handeln dessen ins Spiel kommen, der sich als verantwortlich erfährt. Gefühlsphänomenologisch und ontologisch ansetzend, nimmt Jonas allein das asymmetrische Verhältnis der Ausgangsbedingungen eines Verantwortlichen in den Blick. Einzig diese praktische und intuitive Asymmetrie sei es, die den Verantwortungsbegriff konstituiere. Trifft das zu? Recht hat Jonas als Phänomenologe, insoweit er zeigt, worin die Ausgangslage und die direkte praktische Aufgabe der Verantwortung besteht – nämlich stellvertretend, mithin fürsorgend für ein wertvolles, um seiner selbst willen schutzbedürftiges Wesen zu handeln. Diesen Verantwortungsaspekt stellt die nächste Abbildung auf der rechten Seite dar, während ihre linke Hälfte den dialogförmigen, mithin symmetrischen Rechtfertigungsaspekt veranschaulicht: Verantwortungsaspekte Rechtfertigungsbezug Fürsorgebezug symmetrisch: Sich-Verantworten im argumentativen Dialog asymmetrisch: Handlungsbedingungen und fürsorgendes Handeln S1 mit GeltungsAnspruch 397 398 S2 mit EinlösungsErwartung macht-volles Subjekt S1 ohn-mächtiges, wertvolles Vgl. Micha Werner: „Dimensionen der Verantwortung“, in: Ethik für die Zukunft, S. 332, vgl. 314-318. Gegenüber Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 235. 256 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Logisch und kommunikationspragmatisch gesehen, hat der Verantwortungsdenker Jonas Unrecht. Denn sowohl die Situation der Prinzipienbegründung, in der einer dem anderen im argumentativen Dialog demonstriert, daß man prinzipiell zur Mitverantwortung für schutzbedürftige Wesen verpflichtet sei, hat eine symmetrische Form als auch die konkrete Rechtfertigungssituation eines Verantwortlichen, der über seine Praxis befragt wird oder sich selbst Fragen stellt. So befragt, muß sie bzw. er in einem symmetrischen Dialog mit Argumenten begründen können, daß seine fürsorglich praktizierten Handlungsweisen den legitimen Ansprüchen gerecht werden bzw. gerecht geworden sind, die man im Namen seines Betreuten geltend machen kann oder die dieser – später einmal – selbst gegenüber dem Verantwortlichen vorbringen kann. Man denke z.B. an das herangewachsene Kind in seinem möglichen Diskursverhältnis zu seinen Eltern. Dann sind die Verantwortlichen gefordert, die Asymmetrie des fürsorgenden Handelns zu verlassen und sich auf die Symmetrie des argumentativen Dialogs einzulassen. Genaugenommen, ergeben sich dann zweierlei Diskurs-Symmetrien: prima facie die im engen Sinne logische oder semantisch syntaktische Symmetrie zwischen Rede und Gegenrede, als Aussagen betrachtet. Diese wird jedoch umgeben und eigentlich getragen von einer dialogpragmatischen Symmetrie, die kommunikationsethische Bedeutung hat. Denn verstehen können wir Rede und Gegenrede nicht als isolierte Sätze, sondern nur als situierte Äußerungen; situiert nämlich in dem kommunikativen Wechselverhältnis und Erwartungsverhältnis zwischen Frage und Antwort, Gründefordern und Gründegeben, Anerkennungserwartung und Anerkenntnis, wie es sich in der Interaktion gleichberechtigter Diskurspartner einstellt. Das ist die Form der Verantwortung als Rechtfertigung: das Sich-im-Dialog-Verantworten. Keine Verantwortung ohne mögliche Rechenschaft. Beide Aspekte der Verantwortung, das Rede und Antwort Stehen und das stellvertretende Handeln des Fürsorglichen sind miteinander verwoben. Das eine verlöre ohne Bezug auf das andere seinen Sinn. Das Verwobensein von Fürsorgebeziehung und Rechtfertigungsbeziehung zeigt sich schon daran, daß ‚ich’, der Fürsorgende, bei Fragen nach dem Warum meiner Handlungsweise sowohl zum ‚Gegenstand’ meiner Fürsorge als auch zu dem Fragenden die symmetrische Stellung eines Diskurspartners werde einnehmen müssen. Denn ‚ich’ komme dabei nicht umhin, sowohl dem Frager Geltungsansprüche für seine Frage (als ernstgemeint, verständlich und wahrheitsdienlich) zuzubilligen und ernsthaft, verständlich, wahrheitsbemüht darauf einzugehen, als auch meinen ‚Fürsorgegegenstand’ auf analoge Weise anzuerkennen und 257 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 mich seinen möglichen Geltungsansprüchen zu stellen. Als Diskurspartner muß ‚ich’ zur Rechtfertigung, zum Geltungsdiskurs etwa über die Art und Weise meiner Fürsorge bereit sein. Warum? Nun, ‚ich’ kann dem umsorgten Anderen nicht einerseits, in der Fürsorgerelation, den Wert eines zu Umsorgenden beimessen und andererseits, in der Rechtfertigungsbeziehung, in Zweifel ziehen, daß ich ihn als mögliches Subjekt von Geltungsansprüchen, also in der Rechtfertigungsrelation zu mir, anerkennen soll. Wer das behauptete, verstrickte sich in einen performativen Widerspruch. Hinsichtlich dieser These verlöre er seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. Die Rekonstruktion und die, soeben vollzogene, sokratische Reflexion der dialogischen Symmetrie ist moralisch bedeutsam. Daraus folgt beispielsweise: Eine autoritäre Fürsorge ist zu vermeiden. Sie kann nicht als moralisch gelten, weil ‚ich’ sie nicht mit meiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner vereinbaren kann, widerspricht sie doch der Diskursmoral. Inwiefern? Nun; einerseits habe ‚ich’ als Diskurspartner, als ernsthaft Denkender, der als solcher Ansprüche auf universale Geltung voraussetzt, z.B. auch Kinder, auch Schwerkranke etc. als mögliche Subjekte von Geltungsansprüchen implizit anerkannt, so daß ich mich ihnen gegenüber zu virtueller und einklagbarer Partnerschaftlichkeit verpflichtet habe. Und andererseits breche ‚ich’ dieses vorgängige Versprechen, indem ‚ich’ jene Menschen autoritär behandele und ihnen dadurch die Chancen beschneide, so bald wie möglich ihre Potenz zu realisieren, selbständig zu urteilen und Ansprüche geltend zu machen. An einem solchen Bruch des ursprünglichen Dialogversprechens erweist sich die Moralwidrigkeit einer Handlungsweise;399 dann mache ‚ich’ mich – hinsichtlich dieser meiner Praxis – als Diskurspartner unglaubwürdig. Soviel hier zur Begründung des Rechtfertigungsaspekts der Verantwortung und zur Einsicht in seinen moralischen Orientierungsgehalt bzw. seinen Verpflichtungssinn. Nun zurück zum Verhältnis der beiden Aspekte! Der von Jonas verabsolutierte Fürsorgeaspekt bezieht sich auf die appellative wertethische Ausgangssituation eines Handlungsmächtigen im Verhältnis zu einem wertvollen, vergleichsweise ohnmächtigen Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit von vornherein verbundenen, dialogethischen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den vollen Sinn von ‚Verantwortung’ aus. Es hieße, den Verantwortungsbegriff zu verzerren und zu verkürzen, wollte man den asymmetrischen Fürsorgeaspekt von dem symmetrischen Rechtfertigungsgesichtspunkt abtrennen. Das folgende Schema veranschaulicht das Verwobensein der beiden Aspekte. 258 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Verantwortung: Verwobenheit von Fürsorge und Rechtfertigung rechtfertigt sich praktizierte dialogische Symmetrie Subjekt 2 im Dialog anerkennt GeltungsanSubjekt 1 sprüche von bzw. für Fürsorgegegenstand als mögl. Subjekt implizite Symmetrie behandelt mögl. Subjekt als Fürsorgegegenstand 7 praktische Asymmetrie Sich-Verantworten im Dialog Zur Verantwortung gehört das Sich-Verantworten, die Rechtfertigung ggf. des Warum und des Wie, der Mittel und Wege einer Fürsorgepraxis. Vor allem muß sich der Fürsorgende konkret verantworten können gegenüber möglichen Kritikern in einem Diskurs und gegenüber den Ansprüchen des Adressaten seiner Fürsorge. Das gilt auch dann, wenn der ‚Fürsorgegegenstand’ faktisch selbst keine Ansprüche erheben aber ein „moralisches Mandat“ beanspruchen kann.400 Wenn das richtig und nicht sinnvoll bezweifelbar ist, dann kommt offenbar konkret alles darauf an, daß sich die Fürsorglichen bzw. die institutionellen und die natürlichen Verantwortungsträger ernsthaft sowie strikt diskursgemäß verantworten. Damit nun wir, die öffentlichen Diskurspartner und republikanischen Sokratiker, begründeterweise prüfen können, ob die ‚Verantwortlichen’ eben das tun, so daß wir es ihnen auch exemplarisch vormachen und sie 399 Dazu meine Einführung des Begriffs eines ursprünglichen bzw. vorgängigen Dialogversprechens in: Böhler, „Warum moralisch sein?“, in: Apel und H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung, Würzburg 2001, S. 15-68, bes. 24-41. Weiterführend: Hier III 1f. 400 Jens Peter Brune, „Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze.“ In: Burckhart u. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002, hier S. 443. 259 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 nötigenfalls kompetent dazu drängen können, müssen wir uns darüber klarwerden, was es eigentlich bedeutet, sich im argumentativen Dialog zu verantworten: Was ist dabei unbedingt zu beachten? Eine Frage, die uns alle zwiefach angeht. Sind wir doch allesamt sowohl als ‚Verantwortliche’ gefordert (in verschiedenen Rollen, seien es institutionelle, seien es natürliche, seien es freundschaftliche etc.) wie auch als Diskurspartner gefragt: vom Selbstgespräch über die Gewissenserforschung zum Diskurs mit anderen. Wenn man diese Frage stellt, ist man schon im Begriff, den verpflichtenden Orientierungsgehalt auszuschöpfen, den man voraussetzt, wenn man ernsthaft ein Selbstgespräch oder ein Gespräch führt, um ein Problem zu lösen oder herauszufinden, ob eine These zutrifft bzw. ob eine Handlungsweise als richtig gelten kann. Auf diesen Orientierungsgehalt sind wir in der vorangegangenen Vorlesung Verantwortungsbegriffs, die gestoßen, Fürsorge, als mit der wir damit den Gegenstandsbezug verwobenen des hintergründigen Verhaltensweise zusammengebracht haben, nämlich den Anderen Rede und Antwort zu stehen. Denn in einem solchen Begleitdiskurs der Fürsorge, generell aber in jedem möglichen Begleitdiskurs, ist ein weitreichender Verpflichtungsgehalt beschlossen, der zwei einzigartige Vorzüge hat, nämlich: allgemeingültig und allgemein einleuchtend zu sein. Allgemeingültig, weil er sich von keinem glaubwürdigen Diskurspartner sinnvoll bezweifeln läßt; denn jeder, der einen solchen Zweifelsversuch unternimmt, hat damit schon – uns und anderen gegenüber – die Rolle eines glaubwürdigen Partners in einem Dialog eingenommen (oder doch beansprucht), in dem nur wahrheitsfähige, rechtfertigungsfähige Argumente zählen. Also lebt er, auch indem er zweifelt, seinerseits von dem, was es bedeutet, ein Dialogpartner für Andere zu sein. Allgemein einleuchtend, schlechthin evident, ist der Orientierungsgehalt eines Diskurses, weil er von jedem bzw. von jeder und zu jeder Zeit aufgedeckt und getestet werden kann. Wie? Indem man sich im Dialog auf das besinnt, was man dem Dialog und seinen Dialogpartnern schuldig ist. Und was ist man schuldig? Alles das, was man nicht bezweifeln kann, ohne durch einen solchen Zweifel seine Glaubwürdigkeit als Dialogpartner (für die anderen Dialogpartner) aufs Spiel zu setzen und letztlich, so man auf dem Zweifel beharrt, auch zu zerstören – und damit das Dialogverhältnis. Demnach gibt es, der vernunftresignativen bzw. skeptizistischen und relativistischen Stimmung des Zeitgeistes zum Trotz, einen allgemein und rational zugänglichen Weg, verbindliche moralische Orientierung zu finden. Und es gibt eine Philosophie, die diesen Weg bahnt, indem sie das reflexiv vorführt, was alle denken und tun können: sich zu besinnen auf die 260 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 diskurstragenden Geltungsansprüche und Dialogversprechen, die wir einander als Diskurspartner im vorhinein abgegeben haben. Durch eine solche Besinnung läßt sich zunächst nachholen, was Jonas versäumt hat, um die Allgemeinverbindlichkeit seines Imperativs zu erweisen; also zu demonstrieren, daß die Mitverantwortung für die „Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, also moralfähigen echten menschwürdigen Daseins, eine unbestreitbare prinzipielle Pflicht ist. Durch Rückgang auf den argumentativen Dialog und damit auf das Sich im Dialog Verantworten ergibt sich folgendes Beweisschema: Schema des Verbindlichkeitserweises von Jonas’ Imperativ (I.V.) aus dem argumentativen Dialog/Diskurs: P1: Was unvereinbar ist mit deiner Glaubwürdigkeit als Diskurspartner, ist moralisch falsch/verwerflich.* P2: Eine Bezweiflung und Nichtbefolgung von I.V. ist damit unvereinbar.* C: Also ist die Anerkennung und Befolgung von I.V. moralisch richtig/verbindlich. * Warum? ad P1: Was du nicht als glaubwürdiger Diskurspartner, also nicht mit einem ernsthaften Diskursbeitrag bezweifeln kannst, das gilt prinzipiell (mithin moralisch verbindlich). ad P2: Die Bezweiflung zerstört deine Glaubwürdigkeit, da du zwar einerseits jetzt als unser Diskurspartner Glaubwürdigkeit für deinen Zweifelsakt und damit (a) das Recht auf Dialogteilnahme und freie Meinungsäußerung sowie (b) das Recht auf unbedrohte Existenz in Anspruch nimmst, andererseits aber eine (auch deine) Mitverantwortungspflicht für die Entwicklung der Bedingungen echten menschlichen Lebens auf Erden, mithin für die Entwicklung der Existenz- und Dialogbedingungen überhaupt, zu bezweifeln versuchst. Wer sich derart rückbesinnt auf den argumentativen Dialog, kann dadurch die Begründungsschwäche von Jonas’ gegenstandszentriertem Verantwortungsdenken ausgleichen. Zudem macht dieser Rückgang auf den argumentativen Dialog für die generelle Bedeutung von 261 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 Jonas’ Orientierungsweg einer „Heuristik der Furcht“ und eines Gedankenexperiments „der Wette im Handeln“ empfänglich. Der Ertrag seines Wegs läßt sich nun als Beweislastverteilung im Dialog interpretieren401 – als Maßgabe für den verantwortlichen Umgang mit Unsicherheit bzw. Nichtwissen in konkreten praktischen bzw. moralischen Diskursen, auch und zumal in bioethischen Diskursen. 7.1 Wo bist du? – Virtuell schon im argumentativen Diskurs. „Wo bist du?“ So ruft Gott, der Schöpfer, in der jahwistischen Schöpfungserzählung den Menschen an, (1. Mose 3, 9). Denn Adam, der Mensch, hatte sich dem Dialog mit Gott entzogen und sich schließlich vor ihm verborgen – wissend, daß er Gottes Verbot mißachtet hatte. Diese Frage wurde – eher am Rande der Philosophie, aber in emphatischer Kritik des methodischen (und z. T. sogar ontologischen) Solipsismus, den ihre neuzeitlichen Hauptströmungen von Descartes über Kant und Fichte bis Husserl verkörpert hatten – zum Losungswort Franz Rosenzweigs und Martin Bubers. In der geradezu „vesuvischen“ Krisis nach dem hochtechnisch geführten europäischen Bruderkrieg402 suchten die beiden biblisch jüdisch inspirierten Existenzund Religionsdenker – Rosenzweig war auch durch den Neukantianismus Cohens hindurchgegangen und mit Heideggers Faktizitätsanalyse des menschlichen Daseins vertraut – vor allem zweierlei: einen Ansatz diesseits der transzendentalen Subjektivitätsphilosophie, diesseits ihrer „Lehre von der Konstitution der Welt aus der Subjektivität“403, und einen existentiell ansprechenden „Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.“404 Hier wird die „Wo bist du?“-Frage nicht in dem vorgenannten Sinne gestellt, also weder religions- noch existenzphilosophisch. Vielmehr soll sie anthropologisch und sprachbezogen das in den Lebensaktivitäten meist unbemerkte, elementare Verhältnis erschließen, welches Menschen von vornherein in der Welt unterhalten. Es wird gefragt, wo ‚wir’ (logisch unvermeidlicherweise) immer schon sind: wir Menschen, jeder ein „Du“ und ein „Ich“, das sich sprechend bzw. handelnd zu „etwas“, einem Gegenstand seiner möglichen Rede, verhält. Wir 401 So in meiner Studie „In dubio contra projectum.“ Mensch und Natur im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren, Verantworten“, in: D. Böhler (hg), Ethik für die Zukunft, München 1994, S. 244-276, bes. S. 268f, vgl. S. 259ff. (Vgl. auch die frühere Fassung „Mensch und Natur: im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren, Verantworten“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft9/1991). 402 Vgl. Martin Bubers Nachwort: „Zur Geschichte des dialogischen Prinzips“, in: Ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg (Lambert/Schneider) 1973, S. 301ff., bes. S. 304-310. 403 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin (DeGruyter) 1965, S. 246. 404 M. Buber, a. a. O. , S. 307 (Selbstzitat aus Buber, Die Legende des Baalschem, 1907). 262 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 sind immer schon in Situationen, die wir, sofern wir noch oder schon oder von neuem bei Bewußtsein sind, als etwas Bestimmbares oder Bestimmtes verstehen, indem wir uns zu ihnen verhalten. Das ist unser ursprüngliches Welt- und Selbstverhältnis. Seine Bezugspunkte sind die jeweilige Situation unseres Etwas-Erlebens bzw. Etwas-Tuns und, dieser schon zugehörig, unsere ebenso sprachlich verstehende wie beurteilende bzw. bewertende Stellungnahme – so unausdrücklich, ja unvermerkt diese auch sein mag. Die hier gestellte Wo bist du?-Frage ist sprach- und erkenntnisanthropologischer Art. Der Versuch, sie zu beantworten, führt in eine „Rekonstruktive Pragmatik“, besser: in eine Diskurspragmatik.405 Ihre Auskunft ist zweistufig und lautet grob: Du bist immer schon in verstandenen Situationen oder im Handeln als einem Antworten auf verstandene Situationen, also in einem quasi-dialogischen Bezug auf Situationen (a). Dieses Quasi-Dialogische manifestiert sich darin, daß du in einem möglichen Begleitdiskurs mit Geltungsansprüchen zu deiner Handlung Stellung nehmen kannst (b). Zusammengenommen besagt die Antwort: Du bist immer schon in verstandenen Situationen und damit auch in einem impliziten, doch jederzeit explizierbaren Begleitdiskurs. Vergleichen wir diese Rekonstruktion des menschlichen Situationsbezugs mit dem Rückgriff der „Dialogiker“ auf das biblische Angeredetwerden Adams durch seinen Schöpfer, so zeigen sich Analogie und Differenz. Denn die sprachpragmatische Rekonstruktion ist keineswegs autoritativ gesetzesbezogen; auch geht es ihr nicht um die Ich-Du-Beziehung als existentielle Begegnung. Wohl aber hat auch sie ihren Ansatzpunkt in dem Zugleich von Welterfahrung und Miteinandersprechen, von Über-Etwas-Reden und Aufsichzurückgehenkönnen, insofern setzt sie ebenfalls bei der Gleichursprünglichkeit von „Teilnahme am Sein“ und „Du-Sagen des Ich“ an. Und auch ihr ist es um Verbindlichkeit zu tun; doch wird keine Glaubensentscheidung vorausgesetzt oder die Entscheidung dafür, sich als von Gott angerufen zu verstehen. Die Suche nach Verbindlichkeit muß aber über eine Rekonstruktion des Situationsbezug und der Diskursvoraussetzungen hinaus führen, weil ein Skeptiker deren Ergebnissen mit dem Fallibilismusvorbehalt begegnen kann. Erst nach diesem skeptischen Vorbehalt kommt die Wo bist du?-Frage geltungslogisch zum Zuge. Dann nämlich wird der Skeptiker (ebenso wie die anderen Diskursteilnehmer) befragt, wo er mit dieser Skepsis eigentlich stehe: ‚Bist du damit 405 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1985, V. Kapitel. 263 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 noch im Dialog der Argumente? Ist deine Skepsis gegenüber dem normativen Gehalt der diskurspragmatischen Rekonstruktion verträglich mit den normativen Gehalten deiner Diskurspartnerrolle?’ Sofern die Rekonstruktion auf Gültigkeit und Verbindlichkeit abzielt, muß ihre theoretische Erkenntniseinstellung zugunsten einer aktuell reflexiven Einstellung verlassen werden. Nicht durch eine theorieförmige Explikation läßt sich Einsicht in Verbindlichkeit gewinnen, sondern allein durch die, im Streitgespräch mit dem Skeptiker zu vollziehende, Besinnung auf das Wechselverhältnis von Situation und Begleitdiskurs, insbesondere aber auf die Sinnbedingungen des Diskurses selbst. Nur hier finden sich unwiderlegliche Argumente. Damit sind wir wieder bei dem Leitmotiv oder cantus firmus dieser Vorlesung. Und so bietet es sich an, mit dem kleinen Skeptikerdialog zu schließen, den wir schon zu Beginn der Vorlesung geführt hatten – eine vertiefende Erinnerung oder eben, mit Hegel gesprochen, „Er-innerung“. Denn vielleicht würden einige von Ihnen mir erneut entgegenhalten: O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs, sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die sich ohne Kommunikation und stumm vollziehen lassen. Zum Beispiel: wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen. P: Abgesehen davon, daß du auch dann in gewisser Weise kommunizierst, wenn du stumm bleibst aber doch etwas Bedeutsames tust, indem du Sprachzeichen und Begriffe einer Sprache beim Tun gebrauchst oder sie als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise voraussetzt, – also davon ganz abgesehen, triffst du mit diesen Beispielen nicht ins Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der Lebenswelt, zugleich immer schon im Diskurs bist. O: Nanu, das sollte mich wundern! P: Was du vorbringst, stimmt zwar auf den ersten Blick; doch auf den zweiten stimmt es allenfalls 'zur Hälfte'. Denn auch wenn du angelst, mußt du dich fragen können, ob du es jeweils richtig oder erfolgversprechend usw. anstellst, so wie du es gerade (und an dieser Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst; also mußt du mit dir in eine Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten; d.h. mit solchen, denen auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden. O: Hm. Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen? 264 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig machst, und mußt dir diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren, demonstrierst, daß du den Rechenregeln wirklich folgst, führst du einen Diskurs und löst durch dein 'Es Vormachen und die Probe Machen' den Geltungsanspruch deiner Rechenhandlungen ein. O: Das würde aber bedeuten, daß man nicht immer schon 'im Diskurs ist', sondern in einer bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein anstelle des Diskurses? P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis: die Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs; oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen der Praxis, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne aktualisierbaren Begleitdiskurs! Er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Praxis. Denn eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen, zudem mußt du deinen Vollzug der Praxis kontrollieren und kritisieren können usw. O: Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte etwas, meditiere vielleicht, bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert wer weiß was … Dann gibt es auch keinen Diskurs. P: Nun, wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es 'klappt', dann benötigst du freilich keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; er ist die geltungsrelevante Hintergrundserfüllung deiner Praxis. Analog verhält es sich mit allen anderen Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind solche, solange du sie erleben bzw. später darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Und genau das hast du soeben ansatzweise bereits getan, indem du solche Begebnisse sprachlich ausgedrückt und als etwas charakterisiert hast, das dir widerfahren kann ('ich bin in einer Stimmung oder in einer Leidenschaft, oder mir passiert etwas'), oder indem du sie als etwas bestimmt hast, was du selber unternimmst wie eine Meditation. Du selbst hast diese Beispiele schon als Verhaltensweisen charakterisiert, an die sich Diskurse anschließen lassen; und zwar von innen, aus der Perspektive der Betroffenen. Denn diese erfahren ein Widerfahrnis nur insofern und handeln selbst nur insofern, als sie sich, Stellung nehmend, zu diesem Begebnis oder zu ihrer Aktion verhalten. Dieses Stellung nehmende Sich Verhalten ist bereits ein Begleitdiskurs. O: Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs? 265 Prof. Dr. Dietrich Böhler, Materialien/Skript zur Vorlesung Sommer 2006 P: Ja, da kein Erlebnis und keine Handlung ohne eine mögliche Stellungnahme denkbar ist, trifft es zu, daß wir entweder jeweils zugleich im Diskurs sind oder betreffbar und befragbar sind als Diskursteilnehmer. Der Diskurs ist das ständige Begleitphänomen unseres Lebens, der Ort des Verstehens, des Sich Verstehens und Verantwortens. O: Und was leistet die Diskurspragmatik? P: Dreierlei. Sie rekonstruiert im allgemeinen dieses Zugleich von leben und Diskurs, im besonderen dann die normativen Sinnvoraussetzungen des Diskurses. Drittens geht sie, skeptisch und sinnkritisch, von der Rekonstruktion zur Reflexion im aktuellen Dialog auf den Diskurs überhaupt über. O: Aber wie? P: Frage dich als Argumentationspartner: Kannst du die Allgemeingültigkeit und Allgemeinverbindlichkeit einer der durch die Rekonstruktion geltend gemachten Diskurspartner-Normen in Zweifel ziehen? Oder kannst du es nicht, weil dich dieser Zweifel als Diakurspartner unglaubwürdig macht? Denn merke: das, was du als glaubwürdiger Diskurspartner nicht in Zweifel ziehen kannst, das gilt absolut und verpflichtet allgemein. Die nicht sinnvoll und diskursglaubwürdig bezweifelbaren normativen Voraussetzungen eines Diskurses sind die Grundlagen der Moral. O: Dann wäre die Diskurspragmatik die Begründung der Ethik. P: Ja, der Ethik aus dem Diskurs. O: Aber würde das nicht ganz fundamentale Fragen aufwerfen? Denn hieße das nicht sowohl, daß dann sehr viel von der Metaphysik über Bord ginge, als auch, daß der moralneutrale Vernunftbegriff zu überwinden wäre? P: Laß uns darüber, wie auch über Anschließendes, in der nächsten Vorlesung nachdenken. O: Und die hieße? P: „Metaphysik, Kritik, Kommunikation. Grundzüge europäischen Denkens.“ O: Da bin ich mit von der Partie. P: Wie schön! Dann überlegen wir weiter – Donnerstags 14-16 Uhr in Hörsaal 2. 266