3-476-02058-4 Stenzel, Einführung in die spanische Literaturwissenschaft/2. Auflage © 2005 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de) I. Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft In diesem Buch sollen die spanische Literatur als Objektbereich wie die Literaturwissenschaft als Gesamtzusammenhang der zu ihrer Erforschung entwickelten Überlegungen und Verfahren behandelt werden. Beide Gegenstände mögen auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinen, dass ihre Darstellung keine einleitenden Erläuterungen zu benötigen scheint. Der interessierte Leser wird sich vielleicht fragen, warum es überhaupt begriffsgeschichtlicher, historischer und theoretischer Ausführungen über diese Begriffe, ihre Entstehung, Bedeutung und Reichweite bedarf, bevor ihm die inhaltlichen Informationen, Zusammenhänge und Erklärungen geboten werden, die er in einer Einführung vor allem sucht. So verständlich dieses Anliegen jedoch ist, so wichtig ist es, es mit der Einsicht zu verbinden, dass die Literaturwissenschaft, ebenso wie ihr konkreter Objektbereich selbst, ein Produkt historischer Veränderungen ist. Das, was wir von der Literatur erwarten, die Erkenntnisse, die die Literaturwissenschaft über sie zu vermitteln vermag, können nur im Bewusstsein dieser historischen Bedingtheit sinnvoll dargestellt und erarbeitet werden. Schon seit dem Ende des 19. Jh.s hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, der zufolge Natur- und Geisteswissenschaften sich nicht nur in ihren Gegenstandsbereichen, sondern auch in ihren Verfahren grundsätzlich voneinander unterscheiden (vgl. I.2.1). Im Gegensatz zu der vor allem auf die Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten ausgerichteten Erforschung der Natur, sind die Geisteswissenschaften am Verstehen von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gegenständen oder Zusammenhängen interessiert. Der Begriff des Verstehens ist für die Verfahren aller Geisteswissenschaften und damit auch für die Literaturwissenschaft grundlegend. Mit diesem Begriff wird die Position des Wissenschaftlers zu einem wesentlichen Bestandteil der Begriffsbildung und des daraus resultierenden Erkenntnisprozesses. Anders als dies in den Naturwissenschaften der Fall ist, gehen seine historische und gesellschaftliche Situation, die daraus resultierenden Interessen und Fragen in die Konstruktion des Untersuchungsfeldes wie in die Bedeutung ein, die dessen einzelnen Faktoren zugewiesen werden. Angesichts dieser auch für die literaturwissenschaftliche Forschung geltenden Grundlagen wird verständlich, warum es kein unveränderliches Verständnis des Gegenstandes ›Literatur‹ und keine ein für allemal feststehenden Verfahren seiner Erforschung geben kann. Die Aneignung der Literatur wie auch die unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen, die zu ihrer Analyse entwickelt worden sind und werden, sind als Produkte und Bestandteil gesellschaftlicher Praxis historischen Veränderungen unterworfen. Diese historische Relativität bestimmt auch die unterschiedlichen Standpunkte der Wissenschaftler wie die daraus resultierenden Versuche, verallgemeinerbare Kriterien für eine Abgrenzung des Gegenstandsbereichs Literatur zu entwickeln. 2 Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft In diesem Kapitel werden deshalb die folgenden allgemeinen Fragen dargestellt und diskutiert: Wie ist der Gegenstand ›Literatur‹ historisch entstanden und welche Bedeutung hat er? Wie kann die Literaturwissenschaft ihren Gegenstandsbereich abgrenzen? Welche Bedeutung hat der sogenannte hermeneutische Zirkel für literaturwissenschaftliche Analysen? Mit welchen Fragestellungen und Methoden strukturiert und untersucht die Literaturwissenschaft ihre Gegenstände? In welcher Weise ordnet die Literaturwissenschaft ihre Einsichten in den Gegenstand und wie verallgemeinert sie ihre Erkenntnisse? Wie haben sich Selbstverständnis, Gegenstandsbereich und Methoden der Literaturwissenschaft historisch entwickelt und verändert? Dabei kann es nur darum gehen, die wichtigsten Grundlagen darzustellen und einige Grundprobleme zu erörtern, die sich aus der Abgrenzung des Gegenstands ›Literatur‹ sowie aus einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihm ergeben. Die in den Literaturhinweisen zu diesem Kapitel aufgeführten Einführungen in die Probleme einer theoretischen und praktischen Begründung der Literaturwissenschaft behandeln diese allgemeinen Fragen ausführlich und in zum Teil sehr unterschiedlicher Perspektive. Sie ermöglichen eine weiterführende und kritische Auseinandersetzung mit den hier umrissenen Fragen (vgl. Arnold/Detering 1996, Bürger 1978, Eagleton 1994, Eco 1973, Krauss 1968, Nünning 1998 und 2004). Auch wenn die hier dargestellten Zusammenhänge und Überlegungen immer wieder mit konkreten, auf Spanien bezogenen Beispielen veranschaulicht werden, vermitteln sie vor allem einen Einblick in Voraussetzungen, Grundbegriffe und theoretische Problemfelder der Literaturwissenschaft. Das danach folgende Kapitel zu den Grundlagen der Textinterpretation wie auch der daran anschließende kultur- und literaturgeschichtliche Überblick bauen zwar in vieler Hinsicht auf die hier umrissenen Fragen auf, sind jedoch auch in sich selbst verständlich. 1. Was ist Literatur? Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 1.1 Der Begriff ›Literatur‹: Entstehung und Verwendung Ein erster Einblick in die Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs ›Literatur‹ ergibt sich aus der Etymologie und der Geschichte des Wortes im Spanischen. Wir gehen dazu von der Definition aus, die sich in einem maßgeblichen Wörterbuch findet. Literatura Del lat[ín]. litteratura. 1. [f.] Arte que emplea como instrumento la palabra. Comprende no solo las producciones poéticas, sino también las obras en que caben elementos estéticos, como las oratorias, históricas y didácticas. I.1 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 3 2. [f.] Teoría de las composiciones literarias. 3. [f.] Conjunto de las producciones literarias de una nación, de una época o de un género. La LITERATURA griega; la LITERATURA del siglo XVI. 4. [f.] Por ext[ensión], conjunto de obras que versan sobre un arte o ciencia. LITERATURA médica. LITERATURA jurídica. (Auszug aus dem Diccionario de la lengua española der Real Academia Española, 22. Auflage, 1992/95) Das lateinische Wort litteratura bezeichnet zunächst entsprechend seiner Herkunft (es ist abgeleitet aus littera = der Buchstabe) alle in der römischen Gesellschaft verbreiteten Texte. Im Spanischen – wie in anderen romanischen Sprachen – wird das aus dem Lateinischen abgeleitete Wort literatura erst relativ spät, etwa seit dem Ende des 17. Jh.s verwendet. Eines der ersten bedeutenden spanischen Wörterbücher, das von Covarrubias (1611), enthält das Wort noch gar nicht. In der ersten Auflage des Wörterbuchs der Real Academia Española, dem sogenannten Diccionario de autoridades (1726–1739, vgl. III.5.1) erscheint es dann mit der Definition »conocimiento y ciencia de las letras«. Der Begriff letras, auf den diese Definition von literatura verweist, wird im Diccionario de autoridades seinerseits erläutert als »las ciencias, artes y erudición«. Diese seit dem 16. Jh. für Texte aus allen Wissensbereichen verwendete Bezeichnung bezieht sich (häufig mit einem wertenden Zusatz als »buenas letras« verwendet) auf eine aus dem Humanismus der Renaissance (vgl. III.4.1) stammende Konzeption von Gelehrsamkeit und Bildung. In dieser kam den als ästhetisch gewerteten Texten noch keine Sonderstellung zu. Vielmehr wurden sie in ein allgemeines Feld des Wissens eingeordnet, in dem weitere Grenzziehungen nicht erforderlich erschienen. Gegenüber diesem weiten Bedeutungsbereich, der das gesamte Schrifttum umfasst, umreißt die eingangs zitierte Definition des Wortes literatura ein heute vorherrschendes eingegrenztes Verständnis des Gegenstands. Sie gibt zunächst als Kern seiner Bedeutung den Kunstcharakter an, der den als ›Literatur‹ bezeichneten Texten zu Eigen sein soll (»arte«, »elementos estéticos«). Diese Begriffsbestimmung wird dann auf eine theoretische (2) und (national-) historische Dimension (3) übertragen. Erst als Ausweitung (»por extensión«) dieser Bedeutung wird schließlich eine verallgemeinernde Definition eingeführt (4), die die ursprüngliche Wortbedeutung aufgreift. Sie überträgt den Begriff ohne die Implikation ästhetischer Qualität auf eine größere Menge von Texten, die inhaltlich vage bestimmten künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen angehören (»conjunto de obras que versan sobre un arte o ciencia«). Die Begriffsgeschichte von literatura zeigt, dass das Wort erst seit dem 18. Jh. mit einer Bedeutung verwendet wird, die den eingangs zitierten Definitionen entspricht. Seine moderne Bedeutung hat sich dann im 19. Jh. in Spanien wie in allen europäischen Ländern durchgesetzt. Diese historische Entwicklung verdeutlicht, dass eine Eingrenzung der Bedeutung des Begriffs die geschichtliche Voraussetzung für seinen heute vorherrschenden Gebrauch darstellt. Die zunächst unspezifische Bezeichnung für Texte aller Art verändert ihre Bedeutung durch die Einführung einer Auswahl aus der Gesamtmenge der Texte. Damit wird in einer historischen Entwicklung die begriffliche Abgrenzung erst vorgenommen, die für die Gegenstands- 4 Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft bestimmung der Literaturwissenschaft grundlegend wurde und bis heute ist (zur Begründung dieser Literaturbegriffe vgl. I.1.2). Allerdings gab es in Spanien bereits seit dem 15. Jh. eine traditionelle Begrifflichkeit, die dieser Gegenstandsbestimmung vergleichbar ist, nämlich die der Dichtung. Es handelt sich dabei um ein Wortfeld, in dessen Zentrum mit poesía oder poema Begriffe stehen, die bis zum 18. Jh. als Bezeichnungen für alle Formen der Dichtung verwendet wurden. Dieses Wortfeld bezieht sich jedoch ausschließlich auf Texte in Versform (als »obra o escrito compuesto en verso« wird poesía im Diccionario de autoridades definiert). Es verliert seit dem 16. Jh. dadurch seine allgemeine Reichweite, dass es eine Vielfalt neu entstehender ›literarischer‹ Texte in Prosa (vor allem den Roman) nicht erfassen kann. Ohne die Begriffsverschiebungen zwischen poesía und literatura näher zu untersuchen, kann man festhalten, dass es erst durch einen Wandel der Textproduktion zu einer Neuordnung der Bezeichnungen für die Art von Texten kommt, die nun zunehmend als ›literarisch‹ bewertet werden. Das Wort literatura und das zugehörige Wortfeld bezeichnen mit ihrer Einschränkung auf als ästhetisch bedeutsam eingestufte Texte nun ein Feld von Texten, das dasjenige der poesía in seiner traditionellen Bedeutung einschließt, es gleichzeitig aber ausweitet. In dieser Entwicklung verliert dann der Begriff poesía weitgehend seine Funktion, Verstexte aller Art zu bezeichnen, und wird in seiner Bedeutung auf den Bereich der Lyrik eingeschränkt. Diese knapp skizzierte Wortgeschichte zeigt, dass der Begriff literatura keine eindeutig definierbaren oder gar unveränderlichen Eigenschaften bestimmter Texte bezeichnet. Die Unterschiede, die die eingangs dieses Abschnitts zitierte Definition von literatura aus der neuesten Ausgabe des Wörterbuchs der Real Academia Española von seiner Begriffsbestimmung in der ersten Ausgabe dieses Wörterbuchs (dem Diccionario de autoridades) trennen, verweisen auf den Prozess der Wertung und Ausgrenzung, in dem sich der heute gebräuchliche Literaturbegriff herausgebildet hat (vgl. I.1.2). Was Literatur sein soll, wird in dieser historischen Entwicklung zunehmend dadurch bestimmt, dass bestimmten Texten besondere ästhetische Qualitäten zugeschrieben werden. Damit wird eine Ausgrenzung der Literatur aus der Menge all der Texte vorgenommen, die zwar (so lautet noch die Bestimmung aus dem Diccionario de autoridades) zu Wissen und Bildung beitragen, denen aber jene Qualitäten nicht zuerkannt werden. Wenn also heute nach dem Merkmal der ästhetischen Qualität bestimmte Texte der ›Literatur‹ zugerechnet werden, so kann diese Einordnung keine verallgemeinerbaren Kriterien für die Definition dessen begründen, was ›Literatur‹ sein soll. Die Einordnung von Texten als ›Literatur‹ hängt einerseits von der gesellschaftlichen Funktion ab, die ihnen zugeschrieben wird, andererseits von sich aus dieser Funktion ergebenden Anforderungen an diese Texte und Werturteilen über sie. Die Abgrenzung von literarischen und nichtliterarischen Texten, in der den literarischen Texten wegen ihrer ästhetischen Qualitäten eine Sonderstellung zugewiesen wird, ist somit das Ergebnis eines bestimmten gesellschaftlichen Umgangs mit Texten. Noch grundsätzlicher könnte man mit Stephen Greenblatt, einem Vertreter des new historicism (vgl. I.2.2), darauf verweisen, dass die Verwendung unseres heutigen Begriffs ›Literatur‹ eine sozialgeschichtlich bedeutsame Vorgeschichte hat. In I.1 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 5 dieser wurden durch den Umgang mit Texten begründete allgemeine gesellschaftliche Grenzziehungen errichtet. Anhaltspunkte für diese Vorgeschichte des Begriffs ›Literatur‹ finden sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Dort wurde bei der Bildung und Abgrenzung einer gesellschaftlichen Elite der kulturellen Fertigkeit des Lesens und Schreibens sowie der Beherrschung des Lateinischen, der damals universellen Sprache der Gebildeten, eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Dabei ging es jedoch nicht um den Inhalt von Texten, sondern um die grundsätzliche Fähigkeit, »Zugang zu einem besonderen, das Leben verändernden Korpus geschriebener Texte« zu haben (Greenblatt 2000, S. 24). Wer die hierzu nötigen Kenntnisse besaß, so Greenblatt, galt als »litteratus« (man muss hier wohl übersetzen: »schriftkundig«) und hatte damit die Grenze zwischen dem gemeinen Volk und der gebildeten Elite überschritten. Am Anfang des modernen Literaturbegriffs, so könnte man dieses Beispiel verallgemeinern, stehen gesellschaftlich sanktionierte Auswahlverfahren, die mit der Eignung zum Umgang mit Texten operieren. Natürlich gab es in dem von Greenblatt untersuchten kulturellen Kontext sehr unterschiedliche Grade der Lese- und Schreibfähigkeit, die weiter zu unterscheiden wären. Dennoch verweist die mit dem Prädikat »litteratus« vorgenommen Abgrenzung auf Wertungen, die mit der Kenntnis von Texten begründet werden und die beispielsweise auch mit dem modernen Begriff ›Bildung‹ noch vorgenommen werden. Das Werturteil, das bestimmte Texte als Literatur ausgrenzt, verweist also auch auf die gesellschaftlichen Praktiken, die mit diesen Texten bzw. der Fähigkeit zum Umgang mit ihnen begründet werden sollen. Daraus folgt, dass dieses Werturteil sich jedenfalls nicht unmittelbar auf die Natur oder die besonderen Eigenschaften dieser Texte bezieht. In der frühen Neuzeit finden sich viele Beispiele, die die historische Relativität einer modernen Vorstellung von Literatur verdeutlichen, deren Grundlage die ›literarischen‹ Qualitäten der Texte sind. So widmet Lope de Vega (vgl. III.4.2) 1614 eine Gedichtsammlung von Rimas sacras seinem Beichtvater und die mythologische Dichtung La Filomena (1621) einer adligen Gönnerin. Solche in jener Zeit gängigen Widmungen weisen den Texten eine vorrangig gesellschaftliche bzw. religiöse Funktion zu. Daher ist es durchaus nicht selbstverständlich, diese Gedichte als autonome ästhetische Texte zu verstehen, wie dies eine seit der Romantik gängige Vorstellung von Lyrik nahe legt (vgl. II.2.1). Das sogenannte auto sacramental, eine religiöse Form des Dramas (vgl. III.4.4), war im 16. und 17. Jh. als geistige Vorbereitung auf die Feier der Kommunion konzipiert. Auch in dieser ursprünglichen Funktion spielen also religiöse Bedeutung und Funktion dieser Texte eine entscheidende Rolle und nicht ihre ›literarische‹ Dimension, die barocke Inszenierung der Nichtigkeit weltlicher Existenz, nach der die heutige Forschung zumeist fragt. In der Gesellschaft der frühen Neuzeit gab es noch nicht jene Trennung zwischen ästhetischen Texten und Lebenswelt, die der moderne Gebrauch des Begriffs ›Literatur‹ wie selbstverständlich voraussetzt. Die historische Bedingtheit des Begriffs ›Literatur‹ sowie die mit ihm verbundenen Abgrenzungen und Wertungen sind im 19. und 20. Jahrhundert kaum noch grundsätzlich reflektiert worden. Dies liegt vor allem daran, dass der Literatur seit dem Beginn nationaler Literaturgeschichtsschreibung eine zentrale Bedeutung für 6 Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft sowie für die Begründung und Aufwertung nationaler Identität zugeschrieben worden ist (vgl. dazu I.3 und I.4). Solche Konstruktionen der Besonderheit von Literatur sind jedoch in den letzten Jahrzehnten zunehmend fragwürdig geworden. Mit der medialen Revolution der Informationsgesellschaft geht ein Bedeutungsverlust des Gedruckten insgesamt wie auch des besonderen Geltungsanspruchs der literarischen Tradition einher. Die ›literarische‹ Bedeutung eines Textes, seine mit verschiedenartigen Kriterien begründete Zuordnung zum Bereich der Literatur, kann man jedenfalls als Resultat einer Konstruktion verstehen, deren Grenzziehungen sich historisch herausgebildet haben und die von gesellschaftlichen wie von individuellen Bewertungen abhängen. Dass eine bestimmte Textmenge seit dem 18. Jh. als ›Literatur‹ abgegrenzt wird, hängt von vielen Faktoren ab. Was macht einen Text zu ›Literatur‹? Bestimmte Funktionsweisen, die ihm gesellschaftlich zugeschrieben werden. Gesellschaftliche und kulturelle Traditionen, in denen Texten als ›Literatur‹ eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird (etwa bestimmte Erwartungen an die Bildung des Individuums). Gesellschaftliche Institutionen (Akademien, Schule etc.) oder soziale Mechanismen (etwa der Buchmarkt), die Texte selektieren und werten. Bestimmte Merkmale formaler oder inhaltlicher Art, mit denen er historisch unterschiedliche Erwartungen erfüllt, beispielsweise ästhetische, philosophische oder moralische. Die historischen und individuellen Bedingungen der Rezeptionssituation, in der er aufgenommen wird. Die folgenden Abschnitte werden diese Aspekte weiter ausführen. Das grundsätzliche Problem der Verwendung des Begriffs ›Literatur‹ besteht jedenfalls darin, dass der Sinn eines Textes durch seinen Verwendungszusammenhang erzeugt wird. Dies hat Terry Eagleton mit einem zugespitzten Beispiel verdeutlicht, das die Bewertung eines Fahrplans als ›Literatur‹ aus den Erwartungen begründet, mit denen er rezipiert wird. Auch ein Fahrplan kann ›Literatur‹ sein »Wenn ich über einem Fahrplan brüte, nicht um irgendeine Zugverbindung ausfindig zu machen, sondern um mich zu allgemeinen Überlegungen über die Geschwindigkeit und Komplexität des modernen Lebens anzuregen, könnte man sagen, dass ich ihn als Literatur lese.« (Eagleton 1994, S. 10) Auch wenn dies sicherlich alles andere als die gängige Form des Umgangs mit einem Fahrplan ist, verdeutlicht der mögliche Sonderfall einer ›literarischen‹ Fahrplanlektüre, dass es keine konstanten und objektivierbaren Faktoren gibt, die einen Text in jedem Fall zu Literatur oder Nicht-Literatur im modernen Sinne des Begriffs machen. Diese hängt vielmehr von den Annahmen über Literatur ab, die man als Literaturbegriff bezeichnet. I.1 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 7 1.2 Literaturbegriffe Zweifellos ist es so, dass die Literaturwissenschaft keinen historisch einheitlichen und objektiv definierbaren Gegenstandsbereich hat. Dennoch erscheint es nicht sinnvoll, daraus nun die Konsequenz zu ziehen, die Bestimmung ihres Gegenstands sei völlig beliebig. Angesichts der Unmöglichkeit, eine kohärente und verallgemeinerbare Definition von Literatur zu formulieren, mag zwar die Schlussfolgerung nahe liegen, dass »Literatur ist, was jeder dafür hält« (Hess/Siebenmann 1989, S. 208). Ein solcher Standpunkt, den man als radikalste Form eines relativistischen Literaturbegriffs ansehen kann, verkennt jedoch die historische und gesellschaftliche Bedeutung, die dem Begriff ›Literatur‹ bis heute zukommt. Historisch hat sich seit dem 18. Jh. ein gesellschaftlicher Konsens darüber entwickelt, was Literatur ist (oder zumindest sein soll). Auch wenn man heute die Relativität der damit verbundenen Grenzziehungen erkennen kann, hat dieser Konsens im Grundsatz noch Bestand. Er bestimmt selbst die Bandbreite individueller Geschmacksurteile, auf die das oben angeführte Zitat sich beruft. Die Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit ihrem Gegenstandsbereich bleibt bis in die jüngste Zeit bestimmt von einem wertenden Literaturbegriff, der die besondere Geltung der Literatur mit ästhetischen und moralischen, lange Zeit auch mit nationalistisch motivierten Kriterien begründet hat (vgl. I.4). In dieser Hinsicht ist die Geschichte der Entwicklung und Erforschung von Literatur immer zugleich eine Geschichte der Konstruktion und Begründung von Hierarchien. Diese werden zum einen durch die Ausgrenzung der Textsorte ›Literatur‹ aus der Gesamtmenge der Texte errichtet, zum anderen auch innerhalb der Texte, die als literarische angesehen werden. So sind in der Entwicklung des wertenden Literaturbegriffs auch Texte aus dem Bereich der Literatur ausgegrenzt oder an ihren Rand gedrängt worden, die traditionell ein hohes Ansehen genossen, wie etwa religiöse oder Erbauungsliteratur. Die Entwicklung des wertenden Literaturbegriffs führt also insgesamt zu normativen Setzungen über die ›Rangordnung‹ von Texten. In allen europäischen Literaturen sind im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte Gipfelpunkte der literarischen Entwicklung konstruiert worden, Meisterwerke, Genies und Blütezeiten, die einen literarischen Kanon bilden sollen. Damit soll eine literarische Wertordnung begründet werden, die zugleich nationale Bedeutung hat (so in Spanien insbesondere die Siglos de oro mit den Werken von Cervantes, Lope de Vega oder Calderón – vgl. III.4.1). Die Begründung, Verteidigung und Revision solcher Hierarchien haben die Literaturwissenschaft lange Zeit vorrangig beschäftigt. Die Legitimität dieser hierarchischen Ordnungen im Feld der Literatur ist im Laufe des 20. Jh.s immer wieder in Frage gestellt worden (so etwa im Kontext der literarischen Avantgarden – vgl. III.8.3). Damit ist es überhaupt erst möglich geworden, der wertenden Ordnung der Literatur eine relativistische entgegenzusetzen. Dieser liegt die Überzeugung zu Grunde, dass es keine wissenschaftlich begründbare Hierarchie von Texten geben kann, zumal keine, die überzeitlich gültig wäre. Geschichte, Begründung und Funktionen solcher Hierarchien sind vielmehr in ihrer historischen und kulturellen Bedingtheit selbst ein wichtiger Gegenstand einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft (vgl. I.3). 8 Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft Daher fehlt es in neueren literaturwissenschaftlichen Diskussionen nicht an Versuchen, die Besonderheit literarischer Texte deskriptiv zu begründen, mit der Analyse bestimmter sprachlicher und inhaltlicher Merkmale der Texte selbst. Die Abgrenzung der Textmenge ›Literatur‹ wird dann anhand bestimmter Eigenschaften der Texte vorgenommen. Sie hat zum Ziel, die für literarische Texte charakteristischen Strukturen nicht wertend, sondern durch eine Beschreibung ihrer Unterschiede zu nichtliterarischen Texten zu erforschen. Einer solchen Sichtweise literarischer Texte liegt ein intensiver Literaturbegriff zu Grunde. Dieser steht im Gegensatz zu einem extensiven Literaturbegriff, der solche Grenzziehungen anhand von Textmerkmalen innerhalb der Menge unterschiedlicher Texte nicht für sinnvoll oder begründbar hält. Wegen der Nähe des Begriffspaars intensiv/extensiv zu dem weiter oben eingeführten Gegensatz relativistisch/wertend ist es wichtig, sich ihre unterschiedlichen Voraussetzungen vor Augen zu führen. Zwei Formen des Literaturbegriffs: normativ und klassifikatorisch Dem wertenden Literaturbegriff liegen normative Annahmen darüber zu Grunde, welche inhaltlichen oder geistigen Qualitäten Texte zu besonders wertvollen Texten (und damit zu ›Literatur‹) machen. Die Zulässigkeit solcher normativen Setzungen wird im relativistischen Literaturbegriff bestritten. Der intensive Literaturbegriff will Texte aufgrund einer Beschreibung ihrer Merkmale klassifizieren und dabei vor allem die besonderen Merkmale der Texte herausarbeiten, die als ›Literatur‹ gegenüber anderen Textsorten abgegrenzt werden sollen. Im extensiven Literaturbegriff wird eine solchen Klassifikation in Frage gestellt, d. h. es wird die Möglichkeit verneint, eine Menge von sinnvoll abgrenzbaren Merkmalen zusammenzustellen, die nur literarischen Texten zu eigen sein soll. Eine so eindeutige Unterscheidung der Grundlagen für die beiden Begriffspaare ist allerdings in der Praxis kaum möglich. Die Klassifikation von Texten als literarisch kann durchaus mit Wertungen verbunden sein. Auch eine Argumentation, die mit einem normativen Literaturbegriff arbeitet, wird häufig mit der Beschreibung von Textmerkmalen arbeiten. Wissenschaftlich sinnvoll für eine Abgrenzung des Gegenstands ›Literatur‹ ist jedoch allein eine Argumentation, die diesen deskriptiv zu erfassen versucht. 1.3 Abgrenzungen des Gegenstands ›Literatur‹: Fiktionalität und Poetizität Grundsätzlich lassen sich bei der Begründung eines intensiven Literaturbegriffs zwei miteinander verbundene Argumentationsebenen unterscheiden, die seit den 1960er Jahren vor allem von strukturalistischen und semiotischen Theorien beeinflusst worden sind (ein Überblick über deren Tendenzen und Repräsentanten findet sich in Arnold/Detering 1996, 365–408, Eagleton 1994, S. 71–109, ausführliche Darstellungen bei Lotmann 1973 und Titzmann 1977). Im Zentrum der folgenden Argumentation stehen zwei Begriffe: Mit dem Begriff der Fiktionalität soll eine besondere Art des Wirklichkeitsbezugs literarischer Texte erfasst werden. I.1 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 9 Mit dem Begriff der Poetizität oder auch der »poetischen Funktion« (so Roman Jakobson, einer der Begründer des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus) sollen sprachliche Merkmale bezeichnet werden, die für die besondere Sprachverwendung literarischer Texte charakteristisch sind. Es handelt sich in beiden Fällen um Begriffe, mit denen strukturelle und inhaltliche Besonderheiten literarischer Texte bestimmt werden. Damit sollen diese von nichtliterarischen durch Merkmale der Textstruktur unterschieden werden (eine ausführliche Darstellung der Begründung, der Verwendungsmöglichkeiten und der Probleme beider Begriffe findet sich in Arnold/Detering 1996, S. 25–51). Das besondere Verhältnis von als literarisch gewerteten Texten zur außersprachlichen Wirklichkeit wird mit dem Begriff der Fiktionalität bezeichnet (vgl. dazu auch II.4.1.2). Damit ist gemeint, dass literarische Texte eine erfundene (fiktive) Wirklichkeit entwerfen und nicht auf eine außersprachliche Wirklichkeit verweisen. Sie können deshalb auch nicht mit dem Kriterium wahr/falsch überprüft werden, das wir auf die Beurteilung faktualer sprachlicher Äußerungen anwenden. Diese können auf ihren Wahrheitsanspruch hin überprüft werden, da sie sich auf außersprachlich gegebene (reale) Zusammenhänge oder Tatsachen beziehen (oder dies zumindest behaupten). Wenn wir einen Text als literarisch lesen, gehen wir davon aus, dass er keinen Wahrheitsanspruch in Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit erhebt. Zwei grundlegende Begriffsunterscheidungen: fiktional/faktual und fiktiv/real »Fiktional steht im Gegensatz zu ›faktual‹ bzw. ›authentisch‹ und bezeichnet den Status einer Rede. Fiktiv steht im Gegensatz zu ›real‹ und bezeichnet den ontologischen Status des in der Rede Ausgesagten.« (Martinez/Scheffel 1999, S. 13) Trotz der in den Poetiken (Dichtungslehren) lange Zeit vorherrschenden Forderung nach einer Nachahmung der Wirklichkeit in der Dichtung (griech.: Mimesis) wird das Problem des uneindeutigen Wirklichkeitsbezugs literarischer Texte schon seit der Antike in der (positiv oder auch kritisch gemeinten) Bewertung der Dichtung als Illusion oder Täuschung reflektiert. Dass es eine Form von Texten gibt, die nicht die außersprachliche Wirklichkeit abbilden, sondern eine sprachliche Wirklichkeit eigener Art entwerfen, ist bei der Frage nach der Bedeutung poetischer Texte schon immer thematisiert worden. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen alltäglicher und dichterischer Sprachverwendung findet sich bereits in der Poetik von Aristoteles (4. Jh. v. Chr.). Dort wird die Dichtung dadurch von der Geschichtsschreibung unterschieden, dass sie nicht das, was »wirklich geschehen ist«, sondern das, was »geschehen könnte«, auszudrücken vermöge (Poetik 1451b). Mit dieser Unterscheidung begründet Aristoteles seine Ansicht, dass die Dichtung einen höheren philosophischen Gehalt als die Geschichtsschreibung habe. Er verweist darauf, dass das Vergnügen an der Dichtung gerade dadurch entstehe, dass wir in ihr nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit einer Nachahmung möglicher Wirklichkeiten konfrontiert werden. Solche Unterscheidungen kann man systematisieren, indem man den Wirklichkeitsbezug von Texten mit dem Begriff der Referentialität erfasst. Dieser linguistische Begriff bezeichnet die Beziehung zwischen einem sprachlichen Zeichen und 10 Allgemeine Fragen: Literatur und Literaturwissenschaft dem außersprachlichen Objekt, auf das es sich bezieht. Fiktionale Texte sind nicht auf eine außersprachlich gegebene Welt referentialisierbar, da sie eine fiktive Wirklichkeit darstellen. Ihre Bestandteile referieren also auf eine nur sprachlich gegebene Welt, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat. Diese begründet auch dann eine Wirklichkeit eigener Art, wenn sie beispielsweise Elemente der erfahrbaren Lebenswelt enthält oder auf diese verweist (vgl. S. 71 f.). Faktuale Texte hingegen können auf eine Realität außerhalb des Textes referentialisiert werden, weil sie auf reale (also in der außersprachlichen Wirklichkeit vorhandene) Zusammenhänge verweisen. Dies kann durch im Text enthaltene sprachliche und inhaltliche Elemente aller Art geschehen, z. B. durch Hinweise, Aussagen, Informationen, Handlungsanweisungen, Aufrufe etc. Faktuale Texte werden auch als pragmatisch bezeichnet, da sie in Handlungskontexte integriert sind, sich auf Handlungen verschiedener Art beziehen bzw. diese zur Folge haben können. Dies gilt für ein Flugblatt ebenso wie für eine Gebrauchsanweisung, für Schulbuchtexte wie für den uns schon bekannten Fahrplan. Allerdings gilt das Kriterium der Nicht-Referentialisierbarkeit auch für viele Texte, die zwar eine fiktive Wirklichkeit entwerfen, aber doch (wie etwa mathematische und juristische Problemstellungen, Witze oder Lügen etc.) in der Regel nicht der Literatur zugerechnet werden. Außerdem bleibt das eben angesprochene Problem bestehen, dass viele literarische Texte (insbesondere Romane, vgl. II.4.1.2) auch Zusammenhänge entwerfen, die direkt oder indirekt auf außersprachliche Wirklichkeit verweisen. Daher muss man das Kriterium der Fiktionalität für literarische Texte zumindest mit den zusätzlichen Aspekten der Mehrdeutigkeit (Polysemie) und der Selbstbezüglichkeit (Autoreferentialität) verbinden. Literarische Texte, so könnte man dann argumentieren, erhalten ihre Besonderheit durch eine sie bestimmende Intensität der Verwendung sprachlicher Mittel. Diese erzeugen einerseits eine Mehrdeutigkeit der in den Texten entworfenen Sinnstrukturen und tragen andererseits dazu bei, dass das Beziehungsgefüge des Textes vor allem auf sich selbst verweist. Polysemie wie Autoreferentialität der Textstrukturen kann man mit dem bereits angeführten Begriff der Poetizität erfassen. Dieser Begriff bezeichnet eine Besonderheit literarischer Texte, die darin bestehen soll, dass in ihnen nicht die Aussagen im Vordergrund stehen, die sie möglicherweise formulieren, sondern die Wirkung ihrer sprachlichen Mittel. Die Poetizität eines Textes besteht in der Dominanz der Ausdrucksfunktion über die Mitteilungsfunktion »Während die meisten anderen Mitteilungen von der referentiellen Funktion dominiert sind, welche die Wahrnehmung der Mitteilung auf den Kontext richtet, lenkt – Jakobson zufolge – in der schönen Literatur die vorherrschende poetische Funktion die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Mitteilung in ihrer Ausdrucksgestalt (z. B. ihre Lautung, Diktion, Syntax) und bringt so ihre Selbstbezüglichkeit zur Geltung.« (Grübel: »Formalismus und Strukturalismus«, in: Arnold/Detering 1996, S. 398) Literarisch wären Texte demnach, wenn sie zum einen eine auf sich selbst verweisende sprachliche Wirklichkeit eigener Art entwerfen und wenn diese Wirklichkeit zum anderen so strukturiert wird, dass sie unterschiedliche Möglichkeiten des Ver- I.1 Literaturbegriffe und Literaturwissenschaft 11 stehens eröffnet (zur Frage der »Vieldeutigkeit« von Texten vgl. die ausführliche Darstellung von Kurz 1999, S. 85 ff.). Eine solche Abgrenzung von Literatur muss allerdings notwendigerweise die Leser/innen in die Analyse der Textstrukturen mit einbeziehen. Denn das Urteil über die Nicht-Referentialisierbarkeit, die Polysemie und die Autoreferentialität von Texten hängt von der Art ihrer Wahrnehmung und Rezeption ab. Die daraus resultierende Mehrdeutigkeit ist ein Charakteristikum des Textes, das nur in der Verschiedenheit der Rezeption (der unterschiedlichen Verstehensweisen und Deutungen) zu Tage treten kann. Literarische Texte eröffnen in dieser Sicht ein Spiel möglicher Bedeutungen, das nicht praktischen Zwecken dient. Gerade deshalb kann die Literatur Vergnügen bereiten, sie kann aber auch im Entwurf möglicher Welten die Verstehensansprüche der Leser/innen herausfordern und in Frage stellen. 1.4 Bedeutung und Funktionen des Gegenstands ›Literatur‹: Rezeption, Produktion, Wirkung Damit wird die Frage nach den durch literarische Texte eröffneten Verstehensmöglichkeiten zu einem wichtigen Kriterium für ihre Abgrenzung von nichtliterarischen Texten. Diese Sicht ist in der Theorie der Rezeptionsästhetik systematisiert worden, die literarische Texte vor allem in Hinblick auf die Möglichkeiten des Verstehens untersucht, die sich in ihrer Rezeption eröffnen (vgl. Iser 1976 und Warning 1975). Die Besonderheit literarischer Texte wird nicht allgemein bestimmt, sondern als Ergebnis einer Kommunikation zwischen Text und Leser/innen gedacht. Aus dieser Voraussetzung folgt, dass die Bedeutung literarischer Texte nicht objektiv festgelegt werden kann. Sie eröffnen durch ihre Strukturen vielmehr die Möglichkeit, in der Rezeption verschiedene Verstehensmöglichkeiten zu konstruieren. Diese Annahmen haben allerdings auch die Relativität der Ordnungskategorie ›Literatur‹ zur Folge, die ja dann (wie etwa in dem oben angeführten Fahrplanbeispiel) selbst erst aus einer bestimmten Art der Rezeption resultiert. Die Abgrenzung der Textsorte ›Literatur‹ ist im Sinn dieser Annahmen das Resultat einer bestimmten Wahrnehmung und Aneignung von Texten und nicht deren objektivierbare Eigenschaft. Zu einem wichtigen Kriterium für die Einordnung eines Textes als ›Literatur‹ könnte damit gerade seine Offenheit für unterschiedliche Möglichkeiten des Verstehens werden (ein von Umberto Eco [1973] vorgeschlagener Begriff für die Polysemie literarischer Texte). Diese Offenheit kann man im Text etwa durch die Analyse von darin angelegten ›Unbestimmtheitsstellen‹ nachweisen (zu diesem Begriff vgl. Iser 1976, S. 271 ff.), deren Sinn in der Rezeption unterschiedlich verstanden werden kann. Der strukturellen Dimension des literarischen Textes, die im vorhergehenden Abschnitt mit der Kategorie der Poetizität bezeichnet worden ist, wird damit eine funktionale Bedeutung für dessen Rezeption zugewiesen. Sie ermöglicht einen Modus der Rezeption, der literarische Texte dadurch von anderen trennt, dass sie nicht in eindeutiger Weise verstanden werden wollen oder können. Allerdings widersprechen solche Annahmen traditionellen produktionsästhetischen Auffassungen von Literatur. Für diese ist es wesentlich, literarischen Texten eine kohärente, meist vom Autor oder allgemein in ihrer Produktion in ihnen an-