Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe Frauen- und Geschlechtergeschichte In den Lehrplänen und Rahmenrichtlinien wird die Berücksichtigung mädchenspezifischer Themen festgeschrieben und der gleichberechtigte Umgang sowie die Gleichwertigkeit der Geschlechter postuliert. Ist es noch notwendig und zeitgemäß, im Geschichtsunterricht Wert auf die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu legen? Oder werden die Lehrpläne und die Forderungen der Didaktikerinnen schon lange in Materialien für die Schule umgesetzt? Realität Männer und Frauen sind gleichberechtigt! Dieser Satz steht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das 1949 in Kraft trat. Eigentlich sollte er das Ende eines langen Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung einläuten, aber weit gefehlt. Frauen werden auch heute immer noch aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt und müssen stets in allen Bereichen des Lebens um Gleichberechtigung kämpfen. Glücklicherweise gibt es aber immer mehr Männer und Frauen, die einsehen, dass nur in einem gleichberechtigten Nebeneinander der Geschlechter die Gesellschaft weiterleben kann. Auch die Schule sollte hier - so steht es in allen Lehrplänen und Rahmenrichtlinien - ihren Beitrag leisten! Was kann das Fach Geschichte leisten Das Fach Geschichte kann einiges tun, das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler zu wecken, zu schärfen und sie zu einem gleichberechtigten Umgang miteinander anzuhalten. Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann auch in der Gegenwart leben und für die Zukunft lernen. In den neuen Schulgeschichtsbüchern gibt es glücklicherweise immer mehr Seiten, auf denen auch Frauen erwähnt werden, doch von einer Geschlechtergeschichte sind wir noch weit entfernt, da sie kaum im Bewusstsein der Lehrenden an Universitäten und Schulen ihren Platz gefunden hat. Diejenigen, die sich dafür interessieren und im Geschichtsunterricht Geschlechtergeschichte praktizieren wollen, stoßen auf das Problem, dass sie zu wenig Material finden und dass ihnen der theoretische Hintergrund fehlt. Mit diesem Beitrag möchte ich versuchen - ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit - die "Lücke" für interessierte LehrerInnen zu schließen. Frauen und Geschlechtergeschichte - ein Thema für die Schule! Was ist Frauen- und Geschlechtergeschichte ? Frauengeschichtsforschung gibt es in großem Ausmaß erst seit den 70er Jahren. Die Tradition der modernen Geschichtswissenschaft als akademische Disziplin ist bereits 250 Jahre alt. Das große Verdienst der Frauengeschichtsforschung lag darin, die Hälfte der Menschheit, die permanent ignoriert, übergangen oder stillschweigend einbezogen wurde, aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen (Lerner, Gerda: Frauen finden ihre Vergangenheit, S. 14/15). 1 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe Sex und gender Gleichzeitig gelang es der Frauengeschichtsforschung die Aufmerksamkeit auf die Dimension von sozialem und biologischem Geschlecht zu lenken. Im Englischen lässt sich dieser Unterschied besser erklären mit "gender" = soziales Geschlecht und "sex" = biologisches Geschlecht.(Gerda Lerner prägte 1968 den Begriff "gender", der später von anderen Frauenforscherinnen erweitert, differenziert und konkretisiert wurde.)So entwickelte sich der Begriff "gender" zu einer neuen Kategorie der Frauengeschichte und steht heute gleichberechtigt neben den anderen Kategorien wie Klasse, Rasse, Ethnizität und Herkunft. Das besondere an der Kategorie "gender" ist, dass die sowohl die weibliche als auch die männliche Rollenzuschreibung aufzeigt, die irgendwann ihre Begründung im biologischen Geschlecht "sex" fand. Mit dieser hat sie jedoch in letzter Konsequenz wenig zu tun wie das folgende Beispiel zeigt: Das biologische Geschlecht bestimmt zwar die Frauen zur Geburt von Kindern, jedoch in keiner Weise zu ihrer Erziehung. Diese Rolle erhielten die Frauen ausschließlich vom männlich dominierten Gesellschaftssystem zugewiesen, das einfach die biologische Seite des Gebärens als Begründung heranzog. Frauengeschichte: Gefahr der Gettosierung Nachdem die Frauen zunächst die Autonomie ihrer Geschichte in Opposition zur Männergeschichte stellten, was sie als nötige Abgrenzung sahen, erkannten sie bald die Gefahr der Ghettoisierung. Um diese zu vermeiden wählten sie den Ansatz der Geschlechtergeschichte. Frauengeschichte aber bleibt notwendig, da die weibliche Geschichte immer noch nicht ausreichend aufgearbeitet ist. Mit jeder Arbeit zur Frauengeschichtsforschung kommt ein vernachlässigtes Stück Geschichte ans Licht und die Geschichtsschreibung rückt in die Nähe einer Universalgeschichte, die im Grunde eine Geschlechtergeschichte ist. Solange Frauen aus vielen Bereichen der Historie ausgeschlossen sind, können wir nicht von einer Universalgeschichte reden. Geschlechtergeschichte - Gleichwertigkeit trotz Unterschiedlichkeit Hier werden Geschlechterbeziehungen dargestellt und damit Konflikte, Rollenzuschreibungen, Feinseligkeiten und Interessensgegensätze aufgezeigt. Außerdem werden die Geschichtsereignisse aus dem Blickwinkel von Frauen und Männern betrachtet (und nicht wie bisher aus rein männlicher Sicht). Neue Kategorien wie Sexualität, Reproduktion, Rollenzuschreibungen und weibliches Bewusstsein ergänzen die alten Kategorien von Krieg, Leistung, Eroberung etc. Die "gender-studies" zeigen auf, wie die Gesellschaft Weiblichkeit und Männlichkeit festlegt. Dabei wurde und wird die biologische Verschiedenheit nicht wertneutral gesehen, sondern diente und dient dazu, die eine Hälfte der Menschheit zu unterdrücken und auszubeuten. Die Geschlechterforschung plädiert für Gleichwertigkeit trotz Unterschiedlichkeit! Denkanstöße: Warum Geschlechtergeschichte Geschlechtergeschichte ist der Idealfall der Geschichtsschreibung, nämlich die Synthese traditioneller Geschichtsschreibung und der Frauengeschichte. 1. Geschlechtergeschichte ist Universalgeschichte: Erst mit der lebensweltlichen Erfahrung von Frauen erhält die Geschichtswissenschaft ihren Objektivitätsanspruch. In der Geschlechtergeschichte treten die unterschiedlichen Emotionen und Erfahrungen von Frauen und Männern auf, werden verglichen und aufeinander bezogen. Ihre elementaren Erlebnisse stehen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses: Geburt und Tod, Jugend und Alter, Familienleben und Geschlechterrollen (vgl. Becher, Ursula in: Niemetz, Gerold: Vernachlässigte Fragen der Geschichtsdidaktik, S. 67). Die verschiedenen Aspekte 2 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe ihres Lebens finden in der gleichen Weise Niederschlag wie ihre geschlechtsspezifischen Interaktionen. Geschlechtergeschichte ist die Darstellung der weiblichen und der männlichen Geschichtssicht. Sie legt die Beziehungen zwischen Männern und Frauen offen, zeigt die Differenz der Geschlechter inklusive ihrer Rollenzuschreibungen und weist auf den historischen Hintergrund hin. Ausschlaggebend ist, dass beide Geschlechter eher handelnde Subjekte als Opfer von Strukturen sind. Dieser Ansatz schließt die positive und wesentliche Bedeutung weiblicher Aktivität in der Geschichte ein, hinterfragt aber gleichzeitig auch ihr Tun. Frauen spielten eine wesentliche Rolle bei der Unterstützung der Männer ihrer eigenen Klasse, Rasse, Ethnie und Religionszugehörigkeit, wenn es um die Aufrechterhaltung der Macht ging (vgl. Lerner, Gerda: Frauen suchen ihre Vergangenheit, S. 11). Deshalb ist es nötig, die Beziehungen der Geschlechter in jeder Gesellschaft zu untersuchen und die praktizierten Rollen wahrzunehmen und zu studieren. 2. Alltagsgeschichte hängt eng mit der Geschlechtergeschichte zusammen Beide Ansätze sind eine Geschichte der unterprivilegierten Bevölkerungsschichten. In den Strukturen des Alltags liegt ein Reiz, den es zu erkunden gilt, weil diese Strukturen zu einer anderen Einordnung, zu ungewohnten Zusammenhängen, zur neuen Beurteilung von Sachverhalten und zur Relativierung mancher historischer Tatsachen führen (vgl. Löhr Brigitte: Frauen in der Geschichte, Band 2, S. 8). Alltagsgeschichte ist aber auch ein Teil der Frauengeschichte, nämlich in den täglichen Wiederholungen des Immergleichen, das sich fernab von den ökonomischen und politischen Entscheidungsprozessen der großen Politik abspielt. Dazu passt hervorragend eine Bemerkung von Bertholt Brecht: "Über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt, wird nicht in der Küche entschieden" (Bert Brecht, zitiert nach Kuhn, Annette in: Frauen in der Geschichte Band 1, S. 243). 3. Geschlechtergeschichte bezweifelt die bisherigen Rollenzuschreibungen In der Geschlechtergeschichte wird sowohl der weibliche als auch der männliche Blickwinkel aufgegriffen. Sie stellt dar, dass Frauen und Männer stets geschichtliche Ereignisse unterschiedlich erlebten und erleben durften - eine wichtige Sichtweise. Bei der Untersuchung von Frauenbiographien werden Strukturen der Geschlechterbeziehungen aufgedeckt. Ein Schlüssel für die Rolle der Frau, die in der abendländischen Gesellschaft vorwiegend in private Bereiche verwiesen wurde liegt im sogenannten "Liebespatriarchat" (vgl. Kaschuba/Fuchs in Köhle-Henziger: Geschlecht. Macht. Arbeit., S. 93): Frauen unterstützten und unterstützen Männer, Brüder und Väter und sind so unreflektiert am Herrschafts- und Machtgehabe der männlichen Bevölkerung beteiligt. Diese verinnerlichte und unbewusste Haltung muss in Frage gestellt werden. Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die aber nicht als Begründung für die Unterdrückung der Frauen dienen dürfen. Frauen und Männer sollen ihre Räume frei wählen dürfen und nicht aufgrund ihres biologischen Geschlechts von irgendwelchen Bereichen ausgeschlossen werden. Das biologische Geschlecht darf weder als Begründung für Bevorzugung noch für Benachteiligung stehen. Bisherige Rollenzuschreibungen müssen angezweifelt werden. Im Mittelpunkt stehen Frauen und Männer mit ihren Gedanken, Gefühlen, Idealen, Ideen und Taten. Die Verhaltensweisen der Geschlechter sollen reflektiert werden. 4. Geschlechtergeschichte - ein Thema für Jungen und Mädchen 3 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe Durch andere Quellen und neue Aspekten der Geschichte fühlen sich beide Geschlechter angesprochen und finden gleichzeitig Anregung, ihr Verhalten, ihre Rollen und ihr Umfeld kritisch zu überdenken, zu hinterfragen und eventuell zu verändern. Werden Quellen von Männern und Frauen befragt, dann kommt endlich das zum Tragen, was Frauengeschichtsforscherinnen schon lange fordern: Die Antworten auf die Frage, was Frauen taten, als die Männer das machten, worüber wir reden. Darüber hinaus kann untersucht werden, wie Frauen ihre eigenen Taten und die der Männer interpretieren. In der Geschlechtergeschichte reflektieren Männer ihre Männergeschichte und erkennen bei der Auseinandersetzung damit die Fragwürdigkeit der bisherigen Geschichtssicht. Gleichzeitig bietet sie den Frauen die Möglichkeit, aus der Nichtexistenz herauszutreten und zum Subjekt zu werden, weil das gesamte Beziehungsgefüge zwischen Männern und Frauen betrachtet und gründlich überdacht wird (vgl. Dehne, Brigitte in: Niemetz, Gerold: Vernachlässigte Fragen der Geschichtsdidaktik). 5. Die Gesellschaft, die Männer Ernährern macht braucht "Hausfrauen" Die Gesellschaft, die von den Männern fordert, die Welt zu sichern, Wohlstand zu erwerben und zu beschützen, zu kämpfen, um die eigenen Bedürfnisse zu sichern, braucht Frauen, die zu Hause bleiben, Kinder aufziehen, das Gut verwalten und Rekreation zu bieten. Diese Leistungen werden jedoch unterschiedlich bewertet! Die Leistung des Mannes wird über die der Frau gestellt, statt zu begreifen, dass das eine ohne das andere überhaupt nicht möglich ist (vgl. Polster, Miriam: Evas Töchter Frauen als heimliche Heldinnen, Köln, 1994, S. 85). Das hängt damit zusammen, dass in unserer Gesellschaft der geldliche Lohn die Anerkennung für jede Arbeit ist. Hausarbeit, Kindererziehung und Rekreation wird, abgesehen von keinerlei geldlicher Entlohnung, nicht einmal in Geschichte und Gesellschaft gewürdigt. Die Geschlechtergeschichte gewährleistet diese Würdigung, weil sie die Betrachtungsweisen, Standpunkte, Taten, Emotionen und Erlebnisse beider Geschlechter zu gleichen Teilen berücksichtigt und dadurch die lange geforderte Objektivität und Multiperspektivität in der Geschichte sichert. Die Rolle der Mutter wird betrachtet, ohne sie zu idealisieren oder herabzusetzen. An diesem Punkt sei auch darauf verwiesen, dass die Frauen selbst in ihrem eingeschränkten Bereich politisch tätig werden konnten, oft hervorgerufen durch das Bedürfnis, persönliche oder allgemein drückende Verhältnisse zu verändern. Ein Beispiel aus der Kolonialzeit Amerikas aus dem häuslichen Bereich: Frauen boykottierten britischen Tee und Stoffe, indem sie nach Ersatz suchten und selbst Textilien herstellten (vgl. Polster, Miriam: Evas Töchter Frauen als heimliche Heldinnen, S. 147). 6. Von der Notwendigkeit, der Gemeinschaft der Geschlechter Geschlechtergeschichte verdeutlicht die Notwendigkeit, dass die Geschlechter eine Gemeinschaft bilden müssen, weil sie einander zum Überleben benötigen. Männer boten Schutz und jagten, Frauen sammelten und sorgten für die Nachkommen. Männer zogen in den Krieg und die Frauen hielten zu Hause das Leben, die Wirtschaft am Laufen, erzogen die Kinder und versuchten in Extremsituationen eine gewisse Normalität aufrecht zu halten. Männer machten Karriere in Politik und Wirtschaft, was nur ging, weil sie Frauen hatten, die ihnen den Rücken freihielten. Frauen wiederum konnten sich der Kindererziehung widmen, weil die Männer die ökonomische Versorgung ermöglichten. ... Deshalb ist es einfach notwendig, beide Geschlechter zu gleichen Teilen in der historischen Darstellung zu berücksichtigen. Frauen und Männer schufen zu allen Zeiten und in allen Epochen Zivilisation und Kultur. 4 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe Geschlechtergeschichte in der Schule Geschichte hilft bei der Identitätsfindung, jeder Mensch fragt nach seiner Vergangenheit und seiner Herkunft. Beides braucht er, um seine Identität zu bilden, sich ihrer zu vergewissern und in der Gegenwart Halt zu finden. Gleichzeitig gewinnt er dabei auch Perspektiven für die Zukunft. Geschlechtergeschichte interessiert Jungen und Mädchen Der Geschichtsunterricht muss also für beide Geschlechter konzipiert sein, die Handlungsspielräume beider Geschlechter untersuchen und behandeln und so Identifikationsmodelle für Mädchen und Jungen liefern. Oft bekunden Mädchen seltener Interesse an Geschichte als Jungen. Das liegt nicht an den kognitiven Differenzen, sondern an den unterschiedlichen Präferenzen bei der Darstellung von Geschichte. Unterschiedliches Geschichtsinteresse Mädchen besitzen ein deutliches Interesse an Alltagsgeschichte und sind personenbezogener, romantischer, sensibler und auf innere Werte ausgerichtet. Jungen dagegen legen Wert auf Herrschaftsgeschichte, Kriege und berühmte Persönlichkeiten. Bodo von Borries führt dies nicht auf die Hormone - also auf die "differences of sex", sondern auf die "differences of gender" zurück (vgl. Borries, Bodo von in: Frauen suchen ihre Geschichte Band 1, S. 14-22.) Nach seinen Untersuchungen sind Mädchen weniger stolz, aber unsicher, sowie optimistisch, konservativ, modernitätskritisch und nahbereichsbezogen. Sie ergreifen Partei für die Unterdrückten und tendieren zu verbaler Konfliktlösung. Ihre Medien- und Methodenvorlieben bestehen aus Erzählungen, historischen Romanen und Spielfilmen. Jungen dagegen lieben historische Quellen und Schulbücher. Damit stehen sich fiktionale und dokumentarische Medien gegenüber.Bei dieser Untersuchung fehlt die Überlegung warum das so ist. Eine mögliche Erklärung wäre,, dass in den fiktionalen Medien Frauen vorkommen. Ob Mädchen ebenfalls Interesse für dokumentarische Medien bekunden würden, handelten diese von und über Frauen, wäre ein Versuch wert und kann mit der Geschlechtergeschichte erprobt werden. Mehr Heldinnen Allerdings benötigt man zur Identitätsstärkung von Mädchen nicht nur Alltagsgeschichte, sondern auch "große Frauen" in politischen und wirtschaftlichen Macht- und Führungspositionen. Dabei wird deutlich, wie kontrovers das Verhältnis von Frauen und Politik ist und dass ihre Geschichte eher den Ausschluss von Politik und Macht ist als deren Partizipation. Dazu ist nun wieder Frauengeschichte notwendig, damit überhaupt Frauen aus dem Dunkel ans Licht geholt werden. Die Mädchen bekommen also ihre "Heldinnen", parallel zu den "Helden" der Jungen. Damit ist der Bogen zur Geschlechtergeschichte geschlagen, denn sie gibt den weiblichen und männlichen Pol wieder, spricht Mädchen und Jungen an und berücksichtigt die Medien- und Methodenvorlieben beider Geschlechter. Kriterien und Chancen für den Geschichtsunterricht Was macht den geschlechtergeschichtlich orientierten Geschichtsunterricht aus? Folgende Kriterien für Texte und Medien im Geschichtsunterricht sind wünschenswert: 5 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe • Alltagsleben und Einzelfälle sichtbar machen • Abstraktion im Lernprozess leisten, d.h., die gewonnenen Einsichten auf andere Bereiche übertragbar machen • Lernprozesse anregen, indem Halbfabrikate geboten werden. Brüche und Lücken lassen und keine Fertigware darstellen • Prima sind Quellen aus dem Alltagsleben verschiedener Schichten, die verglichen werden können und die so eher die Lebenswirklichkeiten der SchülerInnen abdecken • Differenzierte Fragestellungen zu lebensweltlichen und biographischen Texten. Chancen 1. Bewusste Auseinandersetzung mit Geschlechterbeziehungen und Rollenzuweisungen und ihrer Funktion. 2. Entdeckung vielfältiger Bilder und Vorbilder von Frauen und Männern in der Geschichte. 3. Klischeehaften Vorstellungen wird entgegengewirkt, denn an Negativbeispielen lässt sich ebenfalls lernen, stellt man die richtigen Fragen: Wie war es damals? Wie ist es heute? Finde ich das Verhalten der Personen gut/ schlecht/ paradox...? Würde ich ebenso oder anders reagieren und warum? Dabei wird das eigene Rollenverhalten zumindest theoretisch reflektiert und kann im günstigsten Fall eine Verhaltensänderung bewirken. 4. Geschlechtsrollenzuweisungen werden als historisch und gesellschaftlich determiniert erkannt. 5. Legt der Geschichtsunterricht Strukturen offen, z.B. Rollenzuweisungen in der Familie (Frau: Kochen und Putzen; Mann: Versorger), dann wird die Reflexion der persönlich erlebten Gegenwart möglich. Kritisch lassen sich aber Geschlechterstereotypisierungen nur betrachten, wenn Kenntnisse der gesellschaftlichen Strukturen bestehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Frauenarbeit, die oft so behandelt wird, als sei sie eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Dabei besteht sie seit es Menschen gibt in unterschiedlicher Form. Sonst glauben SchülerInnen, Männer wären stets berufstätig gewesen, während Frauen bis ins 19. Jahrhundert nichts anderes getan hätten, als den Haushalt zu führen. Und das galt wiederum nur für den bürgerlichen Haushalt des 19. Jh. Dieser avancierte zum großen Vorbild für die Arbeiterinnen, weil sie unter ihrer Doppelbelastung litten und das "bequeme" Leben einer bürgerlichen Frau herbeisehnten. 6. Alltagsgeschichte schafft den notwendigen Gegenwartsbezug, ohne den die beste Geschichtsstunde wenig Wirkung zeigt. In dem Moment, in dem die Heranwachsenden 6 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe erfahren, dass Geschichte mit ihrem Leben und ihrer Zukunft zu tun hat, sind sie zur Auseinandersetzung mit der Historie bereit. Unterrichtspraktische Überlegungen Geschlechtergeschichte im Geschichtsunterricht 1. Frauen und Männer in der Vergangenheit müssen sichtbar gemacht werden, damit eine Gleichwertigkeit entsteht. Das bedeutet für den Unterricht, dass berühmte Männer und Frauen behandelt werden. Es sollten verschwiegene und öffentliche Aktionen von Frauen ins Blickfeld rücken und ihnen Bedeutung zumessen werden. 2. Das Geschlechterverhältnis soll als Dimension im Geschichtsunterricht hinzukommen. Das heißt, dass die reine und oft ohne Zusammenhang betriebene Frauengeschichte im Unterricht entfällt, sondern höchstens Zwischenschritt ist. Es sollte normal sein, beide Geschlechter zu Wort kommen zu lassen. 3. Mädchen und Jungen sind im Geschichtsunterricht gleich zu beachten und einzubeziehen (siehe Borries), d.h., Unterrichtsmethoden, Fragen und Darstellungsweisen müssen auf die Geschlechter abgestimmt werden. 4. Wenn in der Schulpraxis die weibliche Sphäre aufgewertet wird, dann heißt das nicht, dass die Mädchen die traditionell weiblichen Rollen unreflektiert übernehmen, sondern die Wahl zwischen den verschiedenen aufgezeigten Möglichkeiten treffen können. Dasselbe gilt für Jungen. = Auseinandersetzung mit den bestehenden Rollen- und Verhaltensmustern, sie reflektieren und bei Bedarf verändern. Es darf auch nicht der Eindruck entstehen, dass eine Frau so sein muss wie ein Mann, möchte sie gleichwertig sein. 5. SchülerInnenfragen müssen zugelassen werden, damit sich Heranwachsende ernst genommen fühlen. Fragen bedeuten für die LehrerIn auch Anknüpfungspunkte, Voraussetzungen, Vorwissen, Zugangs- und Gestaltungsmöglichkeiten und Interesse der Jugendlichen. 6. Alle Arbeitsformen ausschöpfen: Projektunterricht, Frontalunterricht, Einzelarbeit, Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Diskussion, Freiarbeit, Interviewtechnik, Benutzung von Archiven, ... Es ist durchaus angebracht, manchmal nach Geschlechtern getrennt zu unterrichten oder Mädchen und Jungen unterschiedliche Aufgaben zu einem Themenkomplex zu stellen. Bei der Planung ist zu berücksichtigen, dass ein Teil der Klasse gegen den ungewohnten Geschichtsunterricht mit seiner neuen Geschichtsbetrachtung rebelliert. Besonders Jungen können abwertend auf "Frauentexte" reagieren. Dies ist als Chance zu nutzen, um eine Diskussion über die Wertigkeit der Geschlechter zu beginnen. Links Die hier aufgeführte Linkliste bietet eine kleine qualitative Auswahl von relvanten Internetadressen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte. Inhalt: Frauen- u. Geschlechtergeschichte in der Schule 7 Prof. Dr. Sabine Liebig Pädagogische Hochschule Karlsruhe www.frauengeschichte.uni-bonn.de Abteilung Frauengeschichte der Uni-Bonn www.frauenstadtarchiv.de Frauenlexikon http://www.uni-ulm.de/uni/fak/zawiw/carmen/frames.html Frauen im Aufbruch (19. Jahrhundert) http://www.france.diplomatie.fr/label_france/DEUTSCH/DOSSIER/femmes/01perrot.html Interview mit der Historikerin der Michelle Perrot 8