Myoarthropathien des Kausystems: VI - Die

Werbung
Praxis
Myoarthropathien des Kausystems:
VI - Die Kaumuskulatur.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse
Hans J. Schindler, Jens C. Türp
Abb. 1: Verlauf der Kaumuskeln zwischen Schädel und Unterkiefer
Indizes: Motorische Einheiten, Muskelfasertypen, heterogene Aktivierbarkeit, Biomechanik,
Okklusionsschienen.
Die Kaumuskeln unterscheiden sich in Mikromorphologie, Histochemie und Elektrophysiologie
deutlich von der Muskulatur der Extremitäten
und des Rumpfes. Auch die motorische Kontrolle
des Kausystems zeigt Charakteristika, die bei
der übrigen Skelettmuskulatur nicht vorhanden
sind. Die Kenntnis dieser Besonderheiten hilft,
die pathophysiologischen Hintergründe der
Entstehung und der Therapie von Kaumuskelschmerzen besser zu verstehen.
Die Kaumuskulatur
Die Bewegungen des Unterkiefers werden
im Wesentlichen durch die Kaumuskulatur 1
bewirkt. Diese setzt mit sieben paarigen
426
Einzelmuskeln am Unterkiefer an. Die
Funktion der betreffenden Muskeln ergibt
sich aus der Kenntnis ihrer Wirkungslinien,
d.h. ihres dreidimensionalen Verlaufs von
Ursprung zu Ansatz (Tab. 1).
Der individuelle Muskel ist aus einer Vielzahl von Muskelzellen aufgebaut, die aufgrund ihrer kontraktilen Proteine (Aktin,
Myosin) aktiv Kraft entwickeln können.
Die elastischen Eigenschaften vor allem der
extrazellulären Bindegewebsmatrix sorgen
darüber hinaus bei passiver Dehnung für
eine Spannungsentwicklung und Rückstellkraft in der Muskulatur.
Die außergewöhnliche Verbindung der
Mandibula mit dem Schläfenbein über die
beiden Kiefergelenke erlaubt dem Unterkiefer mit Hilfe der neuromuskulären Kon1
Die suprahyoidale Muskulatur wird als „akzessorische Kaumuskulatur“ nicht getrennt betrachtet, sondern ebenfalls zu den Kaumuskeln gerechnet.
ZAHN PRAX 8, 9, 426-430 (2005)
Praxis
Tab. 1: Wesentliche Funktionen der Kaumuskulatur
Sonderform
der Muskulatur: Die
menschliche
Kaumuskulatur
trolle ein Bewegungsrepertoire, das im Vergleich zu den anderen großen Gelenken des
menschlichen Körpers einzigartig ist. Diese
Sonderstellung des Kauapparates hat im
Laufe der Evolution dazu beigetragen, daß
sich die Kaumuskeln in ihrer Mikromorphologie, Histochemie und Elektrophysiologie deutlich von der Muskulatur der Extremitäten und des Rumpfes unterscheiden.
Aber auch die motorische Kontrolle des
Kausystems zeigt Besonderheiten, die bei
der übrigen Skelettmuskulatur nicht zu finden sind [4].
Makroskopische Morphologie
der Kaumuskulatur
Betrachtet man den Frontalschnitt des Kopfes in Abbildung 1, so sind die ausgeprägten
Abwinkelungen der drei Schließmuskeln
Temporalis, Pterygoideus medialis und
Masseter zum Schädel und auch zueinander
zu beachten. Diese Angulationen gestatten
es den Muskeln, zusammen mit der nahezu
horizontalen Ausrichtung des Pterygoideus
lateralis eine Vielfalt von Kraftvektoren im
Bereich der Okklusion zu generieren. Eine
solche Konfiguration individueller Muskeln in Bezug zu einem Knochenelement
(in diesem Fall dem Unterkiefer) ist im
muskuloskelettalen System des menschlichen Körpers einmalig.
Bei näherer Betrachtung des Frontalschnitts
durch die wichtigsten Kaumuskeln ist eine
weitere Besonderheit zu erkennen, nämlich
ZAHN PRAX 8, 9, 426-430 (2005)
die durch Sehnenspiegel vielfach unterteilte
(kompartimentierte) multiple Fiederung
von Masseter, Temporalis und Pterygoideus
medialis [9]. Diese Fiederung wiederholt
gewissermaßen, so könnte man es interpretieren, innerhalb des einzelnen Muskels die
Angulationen der individuellen Muskeln
zueinander. Eine derart strukturierte Muskulatur bezeichnet man als „komplexe“
Muskulatur. Sie zeichnet sich durch ein
hohes Kraftpotential und eine ausgeprägte
feinmotorische Kapazität aus. Im Gegensatz dazu sind Pterygoideus lateralis und
Digastricus durch eine einfache Struktur gekennzeichnet. Diese beiden Muskeln müssen während der funktionellen Kieferbewegungen keine hohen Kräfte entwickeln und
sie haben bei ihrer Kontraktion in der Regel
wenig Widerstand zu überwinden.
Mikroskopische Morphologie
der Kaumuskulatur
Blickt man noch tiefer in diese Muskulatur
hinein, so sind weiter Besonderheiten zu erkennen, nämlich eine sog. Gruppierung
der Muskelfasern (-zellen) einzelner motorischer Einheiten zu kleinen Faserbündeln
(Faszikeln) [10] (Abb. 2a).2 Eine solche Anordnung der Muskelfasern auf engstem
Raum ist eine physiologische Eigenheit der
Kaumuskulatur, die beim Extremitätenmuskel als pathologisches Zeichen gewer2
Eine motorische Einheit besteht aus einem Motoneuron und allen
von ihm gesteuerten Muskelzellen / Muskelfasern.
427
Praxis
2A
2B
Abb. 2: Schematische Darstellung motorischer Einheiten im Muskelquerschnitt.
A: Gruppierung der motorischen Einheiten in der Kaumuskulatur;
B: Mosaikmusterartige Anordnung der Muskelzellen unterschiedlicher motorischer Einheiten in den
Extremitäten am Beispiel des M. biceps brachii
tet würde, nämlich als Folge einer fehlgeleiteten Re-Innervation nach Muskelläsionen.
Betrachtet man zum Vergleich den Bizeps brachii als
Vertreter des einfachen Extremitätenmuskels, so erkennt man sofort, daß hier die motorischen Einheiten
ganz anders aussehen: sie sind im Stile eines Mosaikmusters eng miteinander verflochten (Abb. 2b) und
erstrecken sich darüber hinaus über weite Bereiche
des Muskelquerschnittes. Auch zeichnet sich die
Muskulatur der Extremitäten durch deutlich größere
Faserdurchmesser aus.
Muskelfasereigenschaften
Zu den strukturellen Besonderheiten der
Kaumuskulatur gesellen sich weitere Eigenheiten. Im Wesentlichen lassen sich in
der quergestreiften Muskulatur drei Fasertypen differenzieren. Sie werden entsprechend ihrem Gehalt an myofibrillärer ATPDie Kaumusase (verantwortliches Enzym für die Konkulatur
traktionsgeschwindigkeit) und mitochonzeichnet sich
drialem Enzym (verantwortlich für die Ausdurch besondauer) als sog. S-, FR- und FF-Fasern [2]
dere Möglichgekennzeichnet (Tab. 2). In der Extremität
keiten der
sind die drei Fasertypen relativ gleichmäßig
Kontraktion
über den Muskelquerschnitt verteilt, und
aus
die motorischen Einheiten setzen sich aus
gleichen Fasertypen zusammen.
Betrachten wir die Kaumuskeln, so lassen
sich im Vergleich zur Extremitätenmuskulatur fundamentale Unterschiede erkennen.
Die Verteilung der Fasertypen ist heterogen;
es dominieren die S-Fasern. Auch die diversen Muskelregionen (z.B. tiefe, oberflächliche resp. anteriore, intermediäre und posteriore Bereiche in Masseter und Temporalis)
lassen unterschiedliche Verteilungsmuster
428
erkennen, d.h. die relativen Anteile der Fasern variieren zwischen den Regionen [3].
Darüber hinaus sind die S-Fasern in der
Kaumuskulatur elektrophysiologisch nicht,
wie zu erwarten, langsame Fasertypen, sondern schnell zuckende Fasern [7].
Doch nicht genug: Gehen wir bis in die
Ebene der kontraktilen Elemente und betrachten uns das Myosin, so sind ebenfalls
Besonderheiten im Vergleich zur Extremität
zu entdecken. Es werden hier nämlich
Myosine gebildet (Myosin-Isoforme), die
in den Extremitäten überhaupt nicht vorkommen. Zudem findet man motorische
Einheiten und einzelne Muskelfasern, die
aus sehr unterschiedlichen Myosin-Isoformen bestehen [6], d.h. aus Myosinen, die
sich in ihrem Kontraktionsverhalten voneinander unterscheiden. Dieser in den Extremitätenmuskeln unbekannte Sachverhalt
in Verbindung mit der heterogenen Faserverteilung verleiht der Kaumuskulatur ein
schier unerschöpfliches Repertoire an Kontraktionseigenschaften.
Funktionelle Eigenschaften der
Kaumuskulatur
Die Frage, die sich an dieser Stelle zwangsläufig stellt lautet: Hat diese komplexe Architektur der Kaumuskeln eine funktionelle
Entsprechung? Diese Frage ist mit einem
eindeutigen „Ja“ zu beantworten. Die Entsprechung ist die sog. heterogene Aktivierbarkeit (= differenzierte Aktivierbarkeit)
ZAHN PRAX 8, 9, 426-430 (2005)
Praxis
Tab. 2: Unterschiede zwischen dem S-, FR- und FF-Fasertyp
der komplexen Kaumuskulatur [1]. Unter
dieser Eigenschaft versteht man die Tatsache, daß der Verband der Motoneuronen,
der einen individuellen Kaumuskel versorgt, in Subgruppen unterteilt ist, die kleiEin Vorteil
ne Bereiche oder sog. funktionelle Kombei der
Nahrungszer- partimente des Muskels selektiv kontrollieren können. Dies gestattet bei unterkleinerung:
schiedlichen motorischen Aufgaben sowohl
Die Kaueine zeitlich als auch eine im (relativen) Ermuskeln
können ihre regungsniveau differenzierte Aktivierung
der diversen Muskelregionen (KompartiWirkungslinie variieren mente). Prinzipiell läßt sich der individuelle
Muskel so als Einheit verschiedener eigenständiger kleinerer Muskeln verstehen, die
verschieden gerichtete Kraftvektoren entwickeln können.
erung der Kontraktion wird dabei so bewerkstelligt,
daß die Motoneuronen, die unterschiedliche Größe
und damit auch unterschiedliche Reizschwellen besitzen, entsprechend der Reizstärke der einlaufenden
Signale sequentiell erregt werden; also die kleinen
Motoneuronen vor den großen. Da die motorischen
Einheiten gleichmäßig über den Muskelquerschnitt
verteilt sind, kommt es auf diese Weise zu einer homogenen Aktivitätssteigerung des Muskels [5].
Bedeutung der differenzierten
Aktivierbarkeit für die Physiologie und Pathophysiologie der
Kaumuskulatur
Dieser Form der Aktivierung steht in der Extremität
(als wesentlichem Prinzip) die sog. homogene Aktivierung gegenüber. Bei der homogenen Aktivierung
erhalten alle Motoneuronen eines individuellen Muskels den gleichen synaptischen Input, d. h. identische
Informationen von den Steuerorganen. Die Feinsteu-
Die physiologische Bedeutung der heterogenen Aktivierbarkeit ist darin zu sehen,
daß der individuelle Kaumuskel durch dieses Kontrollprinzip seine Wirkungslinie sowohl in anteroposteriorer als auch in mediolateraler Richtung variieren kann. Dieser
Vorteil kommt besonders bei der Nahrungszerkleinerung zum Tragen, bei der eine präzise Orientierung des Kraftvektors in Bezug
A
B
Abb. 3: Funktionsmusteränderungen in der Kaumuskulatur (M. masseter
schematisch). A: Verteilung der aktiven Muskelregionen in Interkuspidation;
B: Aktivitätsverteilung nach Lageveränderung des Unterkiefers
ZAHN PRAX 8, 9, 426-430 (2005)
429
Praxis
zum Nahrungsbolus notwendig ist. Darüber
hinaus kann diese Eigenschaft aber auch die
Ätiologie begrenzter Muskelläsionen (Mikrotraumata, lokale Erschöpfung) einleuchtend erklären, da eine differenzierte Aktivierung von diskreten Muskelregionen das
Entstehen von lokalen Überlastungen eher
plausibel macht als die homogene Aktivierung eines ganzen Muskels [11]. Regionaler
Muskelschmerz findet auf diese Weise eine
stichhaltige Erklärung (Abb. 3).
Bedeutung der differenzierten
Aktivierbarkeit für die Therapie von Muskelschmerzen
Die regionalen Aktivierungszustände in den
individuellen Kaumuskeln, wie sie z. B. bei
Muskelkontraktion in maximaler Interkuspidation zu beobachten sind, werden durch
eine Änderung der Kieferrelation (z. B.
Entlastung:
durch die Inkorporation von OkklusionsEine Ändeschienen) deutlich modifiziert [8]. Dies ist
rung des
als neuromuskuläre Adaptation an die neue
Funktions„Startposition“ zu werten, die eine optimale
musters kann Kraftübertragung im Bereich der Okklusion
den Schmerz sichert. Diese „Funktionsmusteränderung“
reduzieren
als Folge von Lageveränderungen des Unterkiefers liefert eine plausible Erklärung
für die therapeutische Wirkung von Okklusionsschienen. Durch die Veränderung
regionaler Aktivierungszustände kann es
nämlich zur Entlastung überlasteter Bereiche kommen, was in Folge zu einer Erholung und damit zu Schmerzlinderung oder
Schmerzbeseitigung in diesen Muskelregionen führt (Abb. 3). Klinische Phänomene wie die therapeutische Wirksamkeit sehr
unterschiedlicher Schienentypen bei verschiedenen Kieferpositionen, aber auch von
okklusalen Einschleifmaßnahmen, sind mit
dieser Vorstellung gut zu erklären [12].
Unter dieser Sicht ist die therapeutische
Wirkung jeder okklusalen Intervention als
Veränderung der Kieferrelation und
nicht als Wiederherstellung einer vermeintlich „idealen“ Zuordnung beider Kiefer zu
interpretieren.
Fazit
Die Kaumuskulatur unterscheidet sich
in Struktur und funktionellen Eigenschaften grundlegend von der querge-
430
streiften Muskulatur anderer Körperregionen.
Die differenzierte Aktivierbarkeit der
Kaumuskulatur liefert ein einleuchtendes Modell für die Entstehung regionaler Muskelschmerzen.
Darüber hinaus wird die therapeutische
Wirkung okklusaler Interventionen auf
der Basis dieses motorischen Kontrollprinzips weitreichend erklärbar.
Dr. med. dent. Hans J. Schindler
Hirschstr. 105
D-76137 Karlsruhe
Priv.-Doz. Dr. med. dent.
Jens C. Türp
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitätskliniken für Zahnmedizin
Universität Basel
Hebelstr. 3, CH-4056 Basel
Literatur
1. Blanksma N. G., van Eijden T. M., van Ruijven L. J.,
Weijs W. A.: Electromyographic heterogeneity in the human
temporalis and masseter muscles during dynamic tasks guided by visual feedback. J Dent Res 76, 542-551 (1997).
2. Burke R. E.: The structure and function of motor units. In
Karpati G., Hilton-Jones D., Griggs R.C. (Hrsg): Disorders of
Voluntary Muscles. Cambridge University Press, Cambridge
2001, 3-25.
3. Eriksson P. O., Thornell L. E.: Histochemical and morphological muscle-fibre characteristics of the human masseter, the medial pterygoid and the temporal muscles. Arch Oral
Biol 28, 781-795 (1983).
4. Hannam A. G., McMillan A. S.: Internal organization in
the human jaw muscles. Crit Rev Oral Biol Med 5, 55-89
(1994).
5. Henneman E., Somjen G., Carpenter D.O.: Excitability
and inhibitability of motoneuurons of different sizes. J Neurophysiol 28, 599-620 (1965).
6. Korfage J.A., Brugman P., Van Eijden T.M.: Intermuscular and intramuscular differences in myosin heavy chain
composition of the human masticatory muscles. J Neurol Sci
178, 95-106 (2000).
7. Nordstrom M. A., Miles T. S.: Fatigue of single motor
units in human masseter. J Appl Physiol 68, 26-34 (1990).
8. Schindler H. J., Rong Q., Spieß W. E. L.: Der Einfluss
von Aufbissschienen auf das Rekrutierungsmuster des Musculus temporalis. Dtsch Zahnärztl Z 55, 575-581 (2000).
9. Schumacher G. H.: Funktionelle Morphologie der Kaumuskulatur. Gustav Fischer, Jena 1961.
10. Stalberg E., Eriksson P. O., Antoni L., Thornell L. E.:
Electrophysiological study of size and fibre distribution of
motor units in the human masseter and temporal muscles.
Arch Oral Biol 31, 521-527 (1986).
11. Tonndorf M. L., Hannam A. G.: Motor unit territory in
relation to tendons in the human masseter muscle. Muscle
Nerve 17, 436-443 (1994).
12. Türp J. C., Schindler H. J.: Zum Zusammenhang zwischen Okklusion und Myoarthropathien: Einführung eines
integrierenden neurobiologischen Modells. Schweiz Monatsschr Zahnmed 113, 964-977 (2003).
ZAHN PRAX 8, 9, 426-430 (2005)
Herunterladen