Unbenannt 1

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Wie kam es zum
Völkermord an
den Juden im
NS-Regime?
Antisemitismus – Ein Überblick
Judenfeindschaft im Altertum – 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr.
Das Volk Israel sah sich von frühesten Anfängen an als Fremdkörper in einer feindlichen Umwelt,
gegen die es sich behaupten musste. In den vorderasiatischen Hochkulturen der Antike wurde das
Judentum jedoch erst seit der Entstehung des Königreichs Israel um 1000 v. Chr. als politische Größe wahrnehmbar.
Dessen Gebiet besetzten wechselnde Großreiche häufig, darunter
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Ägypter
Assyrer
Babylonier
Perser
Meder
Makedonen
Römer
Deren Politik richtete sich auf politische Einheit und Zusammenhalt ihres Reiches, so dass sie die
Religionen der unterworfenen Völker zum Teil bestehen ließen.
Das Judentum lehnte den Polytheismus, Synkretismus und die orientalischen Gottkönigskulte aufgrund seines Glaubens an den einzigen Schöpfergott ab. Es verstand sich als von diesem Gott erwähltes Volk mit einem Auftrag für alle übrigen Völker (Gen 12,3). Dies machte gläubigen Juden die Teilnahme an den Kulten der umgebenden Völker unmöglich. Besonders die mehrfach exilierten Juden konnten ihre Identität nur in Abgrenzung von den ihnen übermächtig erscheinenden Fremdkulten
ihrer Umgebung bewahren.
Die gewaltsame Deportation der Oberschichten war eine übliche Methode antiker Großreiche, eroberte Länder zu befrieden und sich einzuverleiben. Die Assyrer deportierten erstmals 733 v. Chr.
6.000 Einwohner aus dem Nordreich Israel, 722 v. Chr. nochmals ca. 27.000 aus dem Reststaat Samaria. Damit endete Nordisraels Existenz als Staat. 586 v. Chr. zerstörten die Babylonier unter Nebukadnezar II. Jerusalem mitsamt seinem Tempel und führten die gesamte Führungselite aus dem
Reich Juda nach Babylon.
Im Babylonischen Exil entstanden eine Reihe jüdischer Siedlungen, die auch nach Beendung der
babylonischen Herrschaft und Rückkehrerlaubnis des Perserkönigs Kyros II. (539 v. Chr.) bestehen
blieben. Auch in Ägypten war seit 586 eine jüdische Gemeinde aus Flüchtlingen entstanden, deren
Mitglieder als Söldner der Perser um 550 v. Chr. die Erlaubnis eines eigenen Tempelbaus in Elephantine erhielten.
Nach der Rückkehr aus dem Exil hatten Esra und Nehemia um 450 v. Chr. die Absonderung von
den anderen Völkern zur Grundlage des neuen jüdischen Staates gemacht, um die eigene kulturelle
Identität nicht zu verlieren. Diese Absonderung von der synkretistischen Umwelt erzeugte Misstrauen gegenüber den Juden, aber auch ihre gesellschaftliche Spaltung. Während das einfache Volk am
Gesetz Esras und Nehemias festhielt, öffneten sich besonders Kreise der Oberschicht für die hellenistische Kultur.
Das um 150 v. Chr. entstandene Buch „Ester“ berichtet von einem Ausrottungsversuch aus der Perserzeit:
Danach soll Staatsminister Haman seinem König Ahasveros um 472 v. Chr. nahegelegt haben
(Est 3,8f. EU):
„Es gibt ein Volk, zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Ländern deines Königreichs, und ihr Gesetz ist anders als das aller Völker, und sie handeln nicht nach des Königs Gesetzen.
Es ziemt dem König nicht, sie gewähren zu lassen. Gefällt es ihm, so lasse er verfügen, dass man
sie umbringe. Dann werde ich 10.000 Zentner Silber abwiegen […] und in die Schatzkammer des
Königs bringen lassen.“
Demnach ging es um eine Bereicherung am Besitz der Juden, die mit ihrer Fremdartigkeit und angeblichen Auflehnung gegen Staatsgesetze gerechtfertigt wurde. Eine außerbiblische Bestätigung
dieses Plans fehlt; die sonst recht zuverlässige damalige jüdische Geschichtsschreibung könnte die
Angriffe von Antiochos IV. in die Perserzeit zurückprojiziert haben. Dann würde der Bericht eine
nachpersische Feindseligkeit gegen das Judentum im Gefolge der makkabäischen Aufstände spiegeln. Das Buch „Esther“ machte den Juden am Rande des Verlustes ihrer religiösen und kulturellen Identität Mut, indem es von einem früheren, gescheiterten Versuch berichtet, das Judentum zu vernichten. Dieses Schicksal konnten wie damals Esther mutige Juden abwenden.
Alexander der Große schuf mit seinen Eroberungen das Großreich Makedonien, das sich lange vom
Bosporus bis zum Indus erstreckte. Darin wurden überall neue Handelsstädte gegründet, in denen
sich auch Juden ansiedelten.
Charakteristisch für die makedonischen Herrscher war wie für die Perser eine Akzeptanz der kulturellen Traditionen der unterworfenen Völker:
Eine stabile Zentralherrschaft war nur durch die Kooperation mit den örtlichen Eliten, vor allem die
Priesterschaft möglich. Das wurde durch den Polytheismus ermöglicht, der für alle antiken Großreiche kennzeichnend war. Danach wurden fremde Götter unter neuen Namen in das eigene Pantheon
integriert.
Im Orient waren ethnisch organisierte Gruppen in fremder Umgebung eine häufige und prinzipiell
akzeptierte Erscheinung (Politeuma). Sie waren vom guten Willen der Obrigkeit abhängig und verhielten sich politisch überwiegend loyal zu den dortigen Herrschern. Juden waren in den aufstrebenden Städten des Mittelmeerraums als belebender Wirtschaftsfaktor meist beliebt und wurden privilegiert, um sie zum dauerhaften Ansiedeln zu bewegen.
Sie behielten ihre eigenen religiösen Traditionen, lehnten die Vielgötterei und Gottesbilder ab und
hielten ihre Gebräuche wie
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die Sabbatruhe
Reinheitsgesetze
jüdische Speisegesetze
fest.
Dies wurde in der kosmopolitischen multikulturellen Umgebung in der Regel respektiert. Jüdische
Handelsprivilegien führten unter Umständen aber zu Spannungen mit der übrigen Stadtbevölkerung, die ebenso „fremdbeherrscht“ lebte. Dann konnten sie den Schutz ihrer Herrscher verlieren, da
diese die Konflikte zugunsten ihrer Machtsicherung möglichst ersticken mussten.
Während die klassische griechische Philosophie vom Judentum noch keine Notiz nahm, kam es in
der jüdischen Diaspora zu einem regen geistigen Austausch. Griechische Denker wie Theophrastus
und Megasthenes sprachen mit Hochachtung vom Judentum und sahen in dessen Streben nach einer
von Gottes Geboten bestimmten Lebensführung große Übereinstimmung zu ihrem Denken. Umgekehrt betrachteten auch jüdische Theologen Pythagoras und Platon als legitime Schüler von Moses.
Nach Alexanders Tod 323 v. Chr. zerbrach sein Großreich, und es kam zu Nachfolgekriegen. Die
Seleukiden versuchten ihre Macht durch stärkere Hellenisierung zu sichern.
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das Festhalten der Juden an ihren Bräuchen
die wachsende Bekanntheit ihrer Religion
wirtschaftliche Privilegien von Juden
politische Konflikte mit Juden
erzeugten und verstärkten nun eine verbreitete religiöse und kulturelle Ablehnung des Judentums.
Die nicht nur religiös-kulturellen, sondern vor allem auch sozialen Auseinandersetzungen spitzten
sich immer weiter zu, bis die „Pro-Hellenisten“ ihre Gegner ausschalten wollten, indem sie den seleukidischen König Antiochos IV. Epiphanes 168 dazu bewogen, die jüdische Religion zu verbieten
und die Hellenisierung der jüdischen Gesellschaft zu vollenden. Antiochos gilt daher im damals entstandenen Buch „Daniel“ als Erzfeind und „Gotteslästerer“, da er Israels Religion habe vernichten
wollen (Dan 7,25 EU).
Tatsächlich provozierte das für die in religiöser Hinsicht toleranten hellenistischen Herrscher einmalige Religionsedikt des Antiochos einen Volksaufstand:
Nach verlustreichen Kämpfen (175–164 v. Chr.) gelang es Judas Makkabäus, die seleukidischen Truppen aus Jerusalem zu verjagen.
Die erfolgreichen Aufstände der Makkabäer schufen ab 167 v. Chr. wieder eine relative staatliche
Unabhängigkeit Israels, so dass sich die Beziehungen zwischen jüdischen Diasporagemeinden und
dem Kernland intensivierten. Anders als andere Minderheiten erreichten die Juden unter den Seleukiden fortan vielerorts Befreiung von der Pflicht zur Verehrung lokaler Gottheiten und das Recht,
eine Tempelsteuer an die Jerusalemer Priester zu zahlen. Zugleich wurde das Judentum eine missionierende Religion, deren Gemeinden viele Proselyten gewannen und so wuchsen.
Aus den Nachfolgern des Judas Makkabäus ging das Königshaus der Hasmonäer hervor, das Judäa
rund 100 Jahre lang staatliche und religiöse Autonomie sichern konnte. Infolge der Unabhängigkeit
wuchs die Judenfeindschaft unter den Griechen des Ostens. Viele Gelehrte sahen den Zerfall des Seleukidenreiches nicht als Folge seiner inneren Schwäche an, sondern machten den „Verrat“ Judäas
im Zusammenspiel mit dem übermächtigen Rom verantwortlich. Die expansive Politik der Hasmonäer, die mit Zwangsjudaisierungen verbunden war, verschlimmerte das Bild der Juden unter den
Griechen. Sie übernahmen ägyptische Vorwürfe und entwickelten sie weiter, um die Juden bei den
neuen Herren in Rom zu diffamieren und einen Keil zwischen die Verbündeten zu treiben.
Als das Römische Reich den Mittelmeerraum eroberte, gab es überall in der damals bekannten Welt
jüdische Enklaven außerhalb Israels.
Besonders große Diasporagemeinden gab es seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. in
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Antiochia (Kleinasien)
Damaskus (Syrien)
Alexandria (Ägypten)
Rom
Die Römer übernahmen die ägyptisch-griechische antijüdische Polemik gegen die Juden nahtlos
von ihren griechischen Lehrern:
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Cicero
Seneca
Quintilian
Juvenal
griffen Motive daraus auf und verbreiteten sie.
Man kannte jüdische Sitten wie die Beschneidung kaum und bewertete sie als „barbarisch“. Bei Tacitus etwa hieß es zudem, Juden seien „den Göttern verhasst“ und „den übrigen Religionen entgegengesetzt“. Auch der Vorwurf des „odium humani generis“ – Hass auf alle Menschen – wurde stereotyp.
Das unterschied diese antijüdische Polemik von der sonstigen römischen Verachtung der „Barbaren“. Darum spricht man hier von einem antiken Antijudaismus in Roms Bildungsschicht des 1. Jahrhunderts. Dieser verschärfte sich nach den Niederlagen der Juden in Judäa.
64 v. Chr. eroberte Pompeius Judäa für die Römer. Diese schützten anfangs die Privilegien der Juden in ihrem Reich. Doch mit dessen Ausdehnung mussten sie ihre Herrschaft stärker zentralisieren.
Rückhalt dafür gewannen die römischen Kaiser oft nur, wenn sie sich das Wohlverhalten einiger
Völker erkauften und auf deren Wünsche eingingen. Diese „Toleranz“ ging mit der Durchsetzung
des Kaiserkults einher, den Juden nicht ohne religiöse Selbstaufgabe anerkennen konnten.
Die jüdische Religion war als „religio licita“ (zugelassene Religion) - bis auf kurzfristige Ausnahmen - vom Kaiserkult befreit. Im Jahr 6 n. Chr. hob Augustus die Privilegien der Juden auf, gestattete
„nationalistischen“ Kreisen Hetze gegen sie und Beraubung ihres Eigentums. Kaiser Tiberius verfügte 19 die Vertreibung der Juden aus Rom und später die Einsetzung des Pontius Pilatus zum Statthalter Judäas. Dieser provozierte die Juden gleich beim Amtsantritt mit Kaiserstandarten im Jerusalemer Tempelbezirk. Sein brutales Durchgreifen gegen jede antirömische Regung wurde vom antijüdischen Berater des Kaisers, Lucius Aelius Seianus, gedeckt.
38 folgte mit kaiserlicher Duldung ein großes Pogrom an den Juden in Alexandria:
Ihre Synagogen wurden zerstört, viele wurden gefoltert und massakriert, der Rest wurde verjagt.
Darauf reagierten die Diasporajuden im römischen Reich mit verstärkter Abgrenzung:
Sie verweigerten die Tisch-, Ehe- und Kult-Gemeinschaft mit Andersgläubigen vor Ort.
Das sahen diese wieder als Beweis dafür, dass Juden (wahlweise) arrogant und elitär, primitiv und
rückständig seien.
41 wollte Caligula seine Kolossalstatue im Tempel aufstellen lassen. Das hätte zum Krieg geführt.
Er wurde vorher ermordet. Sein Nachfolger Claudius versuchte die wachsenden Spannungen vergeblich zu mildern.
Es folgten drei Aufstände der Juden gegen die Römer:
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der Jüdische Aufstand 66 bis 70
der Aufstand in Alexandria 115 bis 117
der Bar-Kochba-Aufstand 132 bis 135
Der erste jüdisch-römische Krieg endete mit der Zerstörung des Tempels und der Tempelstadt durch
die Römer, nach dem dritten verloren die Juden auch noch ihr Recht auf Wiederansiedelung in Jerusalem und die relative staatliche Autonomie. Die Provinz Judäa wurde in „Palästina“ umbenannt
und direkter römischer Verwaltung unterstellt. Ihre Bewohner waren großenteils ermordet, vertrieben oder verhungert. Die restlichen Juden wurden im ganzen Römischen Reich zerstreut. Die Römer
wollten die Aufständischen vernichten und künftige Aufstände verhindern, hatten aber damit nicht
vor, alle Juden auszurotten. Es ging ihnen um Machtsicherung und Unterdrückung jüdischer Glaubenstraditionen, aus denen die Rebellion hervorgegangen war.
Im ersten Jahrhundert lassen sich auf jüdischer Seite grob drei Reaktionsmuster unterscheiden:
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Anpassung und Apologetik: Gebildete Historiker und Philosophen wie Flavius Josephus und
Philo von Alexandria verteidigten das Judentum gegen andere hellenistische und römische
Schriftsteller.
politisch-religiöser Widerstand: Die Zeloten übten strikte Absonderung gegenüber „Heiden“,
d.h. Nichtjuden, Hass auf jüdische Kollaborateure und gewaltsame Selbstverteidigung mit
Attentaten und Bereitschaft zum Martyrium (zum Beispiel kollektiver Suizid in Massada).
Dem entsprachen Rache- und Machtphantasien in der jüdischen Apokalyptik, zum Beispiel
Dan 7,26f. EU.
Konsolidierung, Bewahrung und Weiterentwicklung der eigenen Traditionen: So entstanden
im 1. Jahrhundert aus der Halacha (mündlichen Tora-Auslegung) und Mischna (Sammlung
rabbinischer Toraauslegungen) die bis heute zentralen religiösen Schriften des Judentums:
der Babylonische und der Jerusalemer Talmud.
Während das Urchristentum sich als Teil des Judentums verstand und die biblische Erwählung Israels zum Volk Gottes anerkannte, grenzte sich das um 100 zur eigenen, überwiegend aus Nichtjuden
bestehenden Religion gewordene Christentum zunehmend gegen das Judentum ab und übernahm
dazu auch die traditionellen ägyptisch-römischen antijüdischen Stereotype. Während die ägyptische
Polemik gegen die Exodustradition sich leicht als Verzerrung der Bibel widerlegen ließ, entzog die
frühe christliche Theologie den jüdischen Apologeten diese Basis. Sie behauptete mit dem Erscheinen des Messias Jesus von Nazaret eine Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen zu besitzen,
die Israels Heilserwartung überholt und beendet habe. Daher sei die Erwählung zum Volk Gottes
nun auf die übergegangen, die an Jesus Christus glauben.
Als die Juden ihr Glaubenszentrum in Jerusalem verloren hatten, wurde aus dieser innerjüdischen
Abgrenzung bald eine antijudaistische Theologie, die gegenüber Römern auch auf die hellenistischrömische Polemik gegen Juden zurückgriff.
Nun bekamen diese Zerrbilder ein neues Fundament:
Israel wurde grundsätzlich jeder eigene Zugang zum Heil abgesprochen.
Die Alexandriner hatten die Juden vertrieben, weil die „Seuche“ ihres Erwählungsbewusstseins sich
nicht mit ihren hellenistisch-kosmopolitischen Vorstellungen vertrug:
Die christliche Theologie ging dagegen den Weg der völligen theologischen Enteignung Israels. Damit war der Grund gelegt für die kontinuierliche Judenfeindlichkeit im christlichen Europa.
Dies führte in der Antike nicht sofort zur Ausgrenzung der Juden, wohl aber zu einer Veränderung
der Lage des Diasporajudentums:
Nun sahen sich die Juden im römischen Reich nicht nur einem feindlichen Staat, sondern auch einer
konkurrierenden Religion gegenübergestellt, die dieselben religiösen Traditionen für sich beanspruchte wie sie selbst, diese aber gegen das Judentum wendete.
Dennoch versuchten die verschiedenen christlichen Kaiser teils die römische Rechtstradition zu bewahren und erließen auch Schutzvorschriften für Juden. Dies wurde nötig, weil die jüdischen Gemeinden nach der Konstantinischen Wende als früher teilweise rechtlich privilegierte Minderheit
nun mehr und mehr an den Rand gedrängt, verachtet und ausgegrenzt wurden. Der Antijudaismus
ist eine Fortentwicklung.
Antijudaismus im Mittelalter – 500 bis 1500
Während des Mittelalters verschärfte sich der Ton. Mönche und Wanderprediger hetzten offen gegen Juden, die Bevölkerung ließ sich manipulieren. Die Vorwürfe und Verdächtigungen den Juden
gegenüber dienten sowohl zur Stärkung der eigenen Religion als auch, um Schuldige für scheinbar
Unerklärliches - wie etwa die Pest - zu finden.
Antijüdische Empfindungen wurden aber auch genutzt, um wirtschaftliche Vorteile daraus zu ziehen. Denn Juden durften ihr Einkommen oft nur mit Handel oder Geldgeschäften verdienen. Einen
Juden zu ermorden, dem man Geld schuldete, brachte häufig auch einen nachhaltigen Schuldenabbau mit sich.
Einen dramatischen Wendepunkt in der Geschichte des Antijudaismus markierte das Gesetz der
"Reinheit des Blutes" 1449 im spanischen Toledo. Das Gesetz entstand aus der Furcht heraus, die
erfolgreichen, ins Christentum konvertierten Juden, seien von Geburt an, also "im Blut" andersartig.
Die Schmähschriften des Reformators Martin Luther um 1540, in denen er die Juden als Volk der
Lügner bezeichnete und "folgerichtig" deren Ausrottung forderte, hatten enormen Einfluss auf den
späteren Antisemitismus:
"Ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes, durchteufeltes Ding ist's um diese Juden, so diese 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück (...) sind."
Darüber hinaus vertrat er die Auffassung, Juden seien ihrem Wesen nach Parasiten und Verschwörer.
Er forderte, ihre Synagogen, Schulen, Häuser, Besitz und Schriften zu zerstören und fügte hinzu:
"Wenn ich könnte würde ich sie (...) in meinem Zorn mit dem Schwert durchbohren".
Noch ein paar Jahre zuvor hatte er moniert, die Juden würden "unchristlich" behandelt.
Frühantisemitismus während der Aufklärung – 1500 bis 1789
Naturwissenschaftlicher und sozialer Fortschritt veränderten seit dem Westfälischen Frieden von
1648 allmählich die Einstellung zur jüdischen Minderheit. Aus dem Naturrecht leitete die aufgeklärte Philosophie die Gleichberechtigung aller Bürger ab. Als deren Bedingung bzw. Ziel galt die Überwindung des irrationalen Aberglaubens des Antijudaismus ebenso wie die des „Judaismus“. Damit
drängte das aufstrebende Bürgertum den kirchlichen Einfluss auf die Gesellschaft zurück, übernahm
aber zugleich einen Großteil der tradierten antijüdischen Denk- und Verhaltensmuster.
Schon die englischen Deisten bekämpften den Offenbarungs- und Wunderglauben des Judentums,
hauptsächlich um so das orthodoxe Christentum zu unterhöhlen. Auch Voltaire (1694–1778) lehnte
beide Religionen von Grund auf ab. Er geißelte Juden in seinem Werk wiederholt u. a. als „betrügerische Wucherer“, „diebische Geldverleiher“, „Abschaum der Menschheit“ mit angeborenen negativen Eigenschaften. Trotzdem verteidigte er auch ihre Gewissensfreiheit und protestierte gegen damalige religiöse Verfolgungen.
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) schrieb, „der Jude“ sei „ein unersättlicher, habgieriger
Betrüger, besessen von einem skrupellosen Handels- und Schachergeist“, amoralisch, gerissen, hinterhältig und schmarotzerhaft. Er halte sich für viel zu intelligent, sei aber „ausgesprochen anpassungsfähig, nutzlos und schädlich für die Umwelt“, ein Beispiel des Bösen und Minderwertigen. Er verglich Juden in seinen Sudelbüchern öfter mit Sperlingen, die damals als schlimme Flurschädlinge
galten und massenhaft bekämpft wurden. Andererseits trat er für befreundete Juden ein.
Immanuel Kant (1724–1804) nannte in Tischgesprächen Juden „Vampyre der Gesellschaft“. Sie seien „durch ihren Wuchergeist seit ihrem Exil in den nicht unbegründeten Ruf des Betruges… gekommen“ seien. Obwohl er biblische Grundgedanken der Tora in seinem Sittengesetz vernunftgemäß
entfaltete und die rabbinischen Traditionen kaum kannte, hielt er das Christentum für sittlich überlegen, grenzte es scharf gegen das Judentum ab, verlangte von Juden die Abkehr von biblischen Ritualgesetzen und ein öffentliches Bekenntnis zur ethischen Vernunftreligion. Erst dann könnten sie
Anteil an allen Bürgerrechten erhalten.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) hielt die Juden für „verdorben“, „ehrlos“ und „amoralisch“,
aber durch Erziehung zu bessern. Er deutete ihre Diaspora-Situation als Unfähigkeit zu einem eigenen Staatsleben und prägte den oft zitierten Satz, Juden seien seit Jahrtausenden „eine parasitische
Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen“. Er forderte die Abkehr von ihrer Religion als Voraussetzung für ihre nationale und kulturelle Integration.
John Toland (1670–1722), englischer Freidenker, sprach sich als Erster ausdrücklich für eine rechtlich-kulturelle jüdische Emanzipation aus. In Deutschland kämpfte vor allem Moses Mendelssohn
(1729–1786) für die Anerkennung seiner Religion, die er zugleich von innen liberalisieren und über
sich selbst aufklären wollte (Haskala). Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729–1782) rief
1749 in seinem Lustspiel „Die Juden“ dazu auf, die anachronistischen Vorurteile gegen sie aufzugeben. In seinem Drama „Nathan der Weise“ (1779) forderte er die gegenseitige Toleranz der drei monotheistischen Religionen, deren subjektive „Wahrheit“ objektiv unbeweisbar sei. Die Hauptfigur
trägt Mendelssohns Züge und setzte ihm ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781); auch den „jüdischen Kinderglauben“ an Tora und Talmud wollte er damit „überwinden“.
Von den wichtigen Theoretikern der Aufklärung erkannte nur Montesquieu (1689–1755) das Judentum in seiner Eigenart an.
Der Dominikaner Ludwig Greinemann verband erstmals Juden und Freimaurer, indem er 1778 in
einer Predigt in Aachen behauptete
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Pontius Pilatus
Herodes Antipas
Judas Ischariot
seien Mitglieder einer Freimaurerloge gewesen, die heimlich die Ermordung Jesu geplant habe.
Rassistischer Antisemitismus – 1789 bis 1917
Am Vorabend der Französischen Revolution definierte Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) in seiner einflussreichen Kampfschrift „Was ist der Dritte Stand?“ den Begriff der Nation als Gesamtheit
aller Bürgerlichen im Gegensatz zu den privilegierten Ständen von Adel und Klerus. Für die Revolutionäre von 1789 galten für alle Landesbewohner die gleichen Menschenrechte.
Zur Nation konnte jeder gehören, der sich zu den Prinzipien
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Freiheit
Gleichheit
Brüderlichkeit
bekannte.
Auf diese demokratische Definition reagierten andere Staaten wegen und nach der französischen
Besetzung mit einer ethnischen, exklusiven Auffassung von Volk und Nation als einer „Abstammungsgemeinschaft“. Diese grenzte sich nicht gegen die privilegierten Stände, sondern gegen die Franzosen und alle Fremden ab, besonders die Juden.
In Deutschland sahen viele den angestrebten deutschen Nationalstaat schon vor 1848 als „Organismus“ und verbanden mit diesem biologischen Sprachbild oft Kritik an „Volksschädlingen“ und unproduktiven „Schmarotzern“. Diese Verachtung bezog sich (wie auf die „Wucherer“ im Mittelalter)
weiterhin vor allem auf Juden.
So forderte der Berliner Justizrat Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer (1773–1838) zu Beginn der
preußischen Emanzipationsdebatte 1791 ihre Vertreibung. Seine 1791 anonym erschienene Schrift
„Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden“ löste heftige Debatten in Berlin aus. Weitere Hassschriften Grattenauers folgten (u. a. 1803: „Wider die Juden“), bis der Staat diese verbot.
Der Berliner Schriftsteller Friedrich Buchholz (1768–1843) warnte 1803 („Jesus und Moses“) vor
der langwierigen „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden und bedauerte, dass man sie zu seiner Zeit
nicht mehr vertreiben könne. Gleichwohl erörterte er diese Möglichkeit öffentlich ausführlich.
Sie blieb ständiges Drohmittel, um die Assimilation der Juden zu beschleunigen und ihre Religion
möglichst bald verschwinden zu lassen.
Deutsche Nationalisten lehnten die jüdische Emanzipation ab und sahen darin eine Bedrohung bisheriger Privilegien. So warnten Hartwig von Hundt-Radowsky, Friedrich Rühs u. a. seit 1812 vor
einer bevorstehenden jüdischen Weltherrschaft der einst unterdrückten, nun angeblich bevorteilten
Minderheit der Juden über die christliche, insbesondere die „germanische“ Welt.
Auch
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der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)
der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852)
der Völkerkundler Ernst Moritz Arndt (1769–1860)
waren Nationalisten und Judenfeinde, deren Ideen vom deutschen Volkstum rassistische Antisemiten später aufgriffen.
So schrieb Arndt zur Westwanderung russischer und polnischer Juden:
„Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, dass sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch
deswegen nicht, weil sie ein durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so
sehr als möglich von fremdartigen Bestandteilen rein zu erhalten wünsche. […] Ein gütiger und gerechter Herrscher fürchtet das Fremde und Entartete, welches durch unaufhörlichen Zufluß und Beimischung die reinen und herrlichen Keime seines edlen Volkes vergiften und verderben kann. Da
nun aus allen Gegenden Europas die bedrängten Juden zu dem Mittelpunkt desselben, zu Deutschland, hinströmen und es mit ihrem Schmutz und ihrer Pest zu überschwemmen drohen, da diese verderbliche Überschwemmung vorzüglich von Osten her nämlich aus Polen droht, so ergeht das unwiderrufliche Gesetz, dass unter keinem Vorwande und mit keiner Ausnahme fremde Juden je in Deutschland aufgenommen werden dürfen, und wenn sie beweisen können, dass sie Millionenschätze bringen.“
Während die meisten Regierungen Juden im Interesse aller Bürger langfristig integrieren wollten,
ließen Provinzstädte ihre Vertreibung weiterhin oft zu. Dazu aktivierten gebildete Frühantisemiten
gern „Volkes Stimme“.
Der Völkerkundler Friedrich Rühs (1781–1820) z. B. schrieb in einem anti-jüdischen Traktat 1816:
„Könne man die Juden nicht zur Taufe bewegen, dann bleibt nur ihre Ausrottung.“
Dem stimmte der Philosoph Jakob Friedrich Fries zu:
„Fragt doch einmal Mann vor Mann herum, ob nicht jeder Bauer, jeder Bürger sie als Volksverderber und Brotdiebe haßt und verflucht. Die „Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler“ muss ihre betrügerische Tätigkeit aufgeben oder der Staat muss sie dazu zwingen, da andernfalls ihre gewaltsame Vertreibung unausweichlich ist.“
Er forderte, sich von der „jüdischen Pest“ zu befreien.
Fries rief 1817 die bei der Gründung der Urburschenschaft auf dem Wartburgfest 1817 anwesenden
Studenten zu einer Bücherverbrennung auf. Dabei wurde auch die Schrift „Germanomanie“ des jüdischen Autors Saul Ascher, die den deutschnationalen Verfolgungswahn kritisierte, mit dem Ruf
„Wehe über die Juden!“ ins Feuer geworfen.
Heinrich Heine schrieb 1821 in seiner Tragödie „Almansor“ seine oft zitierte, jedoch nicht auf das
Wartburgfest 1817 bezogene Vorhersage:
„Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“
Zur Bücherverbrennung auf dem Wartburgfest äußerte er sich 1840 wie folgt:
„Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen!“
Im Jahre 1817 schrieb Kriminalrat Christian Ludwig Paalzow einen Dialogroman „Helm und Schild“, der die Argumente für und wider das jüdische Bürgerrecht auf einen Juden (Helm) und einen
Christen (Schild) verteilte und letzteren rhetorisch siegen ließ. Er verwies im Munde Schilds auf die
angeblich zu starke Vermehrung, politische Unzuverlässigkeit und Neigung zur Rebellion der Juden
aufgrund ihres Messiasglaubens. Ihre Gewerbefreiheit werde ihnen die ökonomische Macht über
die Mehrheit zufallen lassen. Daher müsse man sie rechtzeitig vertreiben, wenn sie nicht freiwillig
gingen. Der Schaden durch ihren Verlust sei geringer als der Nutzen, sie los zu sein.
1821 veröffentlichte Hartwig von Hundt-Radowsky den „Judenspiegel“. Darin propagierte er u. a.
den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, um weitere jüdische Nachkommen zu
verhindern, und zuletzt Ausrottung und Vertreibung aller Juden. Auch Heinrich Eugen Marcard forderte 1843 in Minden mit einer Petition ihre „Vertilgung“.
Hermann von Scharff-Scharffenstein schrieb 1851 in seiner Schrift „Ein Blick in das gefährliche Treiben der Judensippschaft“:
„Das aber bildet eben den Grundcharakter dieser Nation, daß sie allem eigenen und fremden Staatsleben sich feindlich entgegenstellen und wie Parasiten an alle Völker sich anklammern, ohne diesen
anders zu lohnen, als indem sie dieselben zu Grunde richten…Die Juden wollen die Herrschaft über
Deutschland, ja über die ganze Welt erlangen. Deshalb werden sie nicht gehen, denn ‚hier‘ können
sie wie Vampyre das Blut der Christen saugen und in Palästina finden sie keine.“
Wie viele andere Autoren verwendete er die Tiermetaphern
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der Spinne, die ihr Netz um die Welt spinnt
des Blutegels
der gefräßigen Heuschrecken
für Juden.
Seit 1830 kamen Aversionen gegen gebildete, meist konvertierte jüdische Schriftsteller und Künstler dazu, deren angebliche „Charaktermängel“ und fehlende „nationale Volkskunst“ sie zu einfallslosem Plagiatoren- und Epigonentum zwinge.
So schrieb Richard Wagner gegen die als Konkurrenten empfundenen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und Giacomo Meyerbeer:
„Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung, ist nicht das Werk einzelner, sondern einer geschichtlichen Gemeinsamkeit: Nur wer unbewußt in dieser Gemeinschaft aufgewachsen ist, nimmt
auch an ihren Schöpfungen teil.“
Der Gymnasiallehrer Eduard Meyer schrieb gegen Ludwig Börne:
„Börne ist Jude wie Heine, wie Saphir. Getauft oder nicht, das ist dasselbe. Wir hassen nicht den Glauben der Juden, wie sie uns glauben machen möchten, sondern die häßlichen Besonderheiten dieser Asiaten, die nicht mit der Taufe abgelegt werden können: die häufig auftretende Schamlosigkeit
und Arroganz bei ihnen, die Unanständigkeit und Frivolität, ihre vorlautes Wesen und ihre häufig
schlechte Grundeigenschaft.“
Er forderte Börne auf, sich nicht Deutscher zu nennen, da nicht der Geburtsort, sondern die „deutsche Gesinnung und Vaterlandsliebe“ darüber befinde und diese ihm fehle.
In Hamburg wurden Juden 1830 und 1835 wie schon 1819 vom Jungfernstieg vertrieben. Angeregt
durch Sensationsberichte über die „Damaskusaffäre“ 1840 lebte auch die Ritualmordlegende wieder
auf und führte in einigen Orten – u. a. Geseke, Oettingen, Thalmässing – zu teilweise monatelangen
Ausschreitungen gegen Juden. Dabei wurden erneut Hetzrufe wie „Hepp, Hepp, Jude verreck!“ und
„Schlagt die Juden tot!“ laut. In Mannheim führte ein Regierungsbeschluss, eine Judenpetition für
Gleichstellung zuzulassen, zu Krawallen gegen Juden der Stadt. 1848 zerstörten Bauerngruppen in
Leiningen im Taubertal Wohnungen von Juden, die sie als Gläubiger ansahen. In Baisingen verjagten bewaffnete Bauernknechte jüdische Bewohner mit dem Ruf „Geld oder Tod!“ aus ihren Häusern
und nötigten vorübergehend 230 Juden des Ortes zur Flucht. Sie versuchten, die Gemeinderäte zu
erpressen, den Juden das Bürgerrecht zu nehmen, das die Allmende-Nutzung einschloss.
Im Verlauf der Märzrevolution 1848/49 kam es besonders in süd- und ostdeutschen Regionen und
etwa 80 Städten, darunter
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Berlin
Köln
Prag
Wien
zu schweren antijüdischen Exzessen.
Neben Zerstörung von Kreditbriefen und Schuldenakten wurden dabei immer wieder Vernichtungsdrohungen laut, sowohl von Seiten aufständischer Bauern wie antirevolutionärer Bürger. Beide gaben den Juden für Not und Revolution die Schuld.
1853 unterschied Arthur de Gobineau mit dem Aufsatz „Die Ungleichheit der Rassen“ Arier von angeblich minderwertigen semitischen und negriden Rassen.
1858 begründete Charles Darwins Aufsatz „Über die Entstehung der Arten“ die Evolutionstheorie
und moderne Genetik mit den Prinzipien
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Variation
Vererbung
Selektion
Der „Kampf ums Dasein“ führt zu einer Auslese der dem Überleben angepasstesten Arten.
Dies übertrugen Rassisten auf die Völkergeschichte:
Sie sei als ewiger Kampf zwischen höheren und niedrigeren Rassen zu deuten.
Das ermöglichte Antisemiten, die „Judenfrage“ mit pseudobiologischen Argumenten als Rassenproblem zu propagieren.
So schrieb der österreichische Kulturhistoriker Friedrich von Hellwald (1842–1892) 1872 in einem
Zeitungsartikel, Juden seien aus Asien eingewanderte Fremdrassige; dies würden Europäer „instinktiv“ spüren. Das sogenannte Vorurteil gegen Juden sei also durch zivilisatorischen Fortschritt nie zu
überwinden. Als Kosmopolit sei der Jude dem „ehrlichen Arier“ an Schläue überlegen. Von Osteuropa aus grabe er sich als Krebsgeschwür in die übrigen europäischen Völker ein.
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Ausbeutung des Volkes sei sein einziges Ziel
Egoismus und Feigheit seien seine Haupteigenschaften
Selbstaufopferung und Patriotismus seien ihm völlig fremd
Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden überhöhten Antisemiten den rassischen zum welthistorischen Gegensatz:
„Arier“ galten als zur Weltherrschaft berufen, „Semiten“ als ihre zur Unterlegenheit bestimmten
Konkurrenten, die gleichwohl zur Zeit noch über die Arier herrschten.
Der Nationalökonom Eugen Dühring (1833–1921) begründete dies mit seinem populären Buch
„Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ (1881), das eine Art Bibel für Antisemiten wurde.
Er erklärte die „Selbstsucht“ und „Machtgier“ der Juden als unveränderbare Erbanlage und verband
damit antichristliche und antikapitalistische Motive:
Die Bibel sei eine vom „Asiatismus“ durchtränkte Religionsurkunde. Juden seien „Drahtzieher“ der
Krisenphänomene und sozialen Missstände der Industrialisierung.
Als einer der Ersten sprach er von einer „Endlösung“. Da diese vorläufig nicht möglich sei, solle
man die Juden wieder in Ghettos zwingen und dort überwachen.
Ziel aber bleibe:
„Der unter dem kühlen nordischen Himmel gereifte nordische Mensch hat die Pflicht, die parasitären Rassen auszurotten, wie man eben Giftschlangen und wilde Raubtiere ausrotten muss!“
Diese seit dem Mittelalter bekannten Sprachbilder der Entmenschlichung passten die Antisemiten
der wissenschaftlichen Sprache der
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Bakteriologie
Mimikry-Theorie
Rassenlehre
an.
Juden wurden immer mehr nicht nur mit
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Blutsaugern
Krebsgeschwüren
Schmarotzern
Seuchen
Ungeziefer
Volksschädlingen
wuchernden Schlingpflanzen
verglichen, sondern identifiziert.
Stand im mittelalterlichen Aberglauben hinter ihnen der Teufel, also eine letztlich unbesiegbare dämonische Macht, so wurde es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt denkbar, sich dieser
„menschlichen Viren“ radikal zu entledigen.
Das verschloss Juden jede Möglichkeit, sich sozial anzupassen. Denn auch getaufte Juden blieben
nun Juden, die von Vorfahren mit jüdischer Religion abstammten, egal ob und wie lange ihre Vorfahren schon Christen waren. Damit war die Religionszugehörigkeit für Antisemiten nur noch als pseudobiologisches Merkmal wichtig, das Judesein zum unentrinnbaren Schicksal machte.
Die Juden zugeordneten negativen Erbanlagen erschienen durch keinerlei
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Erziehung
Bildung
Integration
Emanzipation
veränderbar.
So wurde ihre völlige Vertreibung oder Vernichtung in ganz Europa als einzig realistische „Lösung
der Judenfrage“ nahegelegt.
Der Rassismus untermauerte auch sonst die Ablehnung fremder Völker nach außen und ethnischer
oder anderer Minderheiten nach innen. So wuchs parallel zum Antisemitismus in ganz Europa die
Fremdenfeindlichkeit. In Deutschland richtete sich diese z. B. gegen „Zigeuner“ oder Sorben.
Darwin distanzierte sich 1880 von diesem politischen Missbrauch seiner Theorien. Nach seinem
Tod 1882 wurden diese jedoch immer stärker rassistisch umgedeutet. Man redete nun von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“ und zählte auch „Halb“- oder „Viertel“-Juden zum Judentum, während die „arische Rasse“ immer stärker zur einheitsstiftenden Idee wurde. Deren „Notwehr“ gegen
die Juden wurde als Naturgesetz dargestellt.
Damit wurde das Recht des Stärkeren gegenüber Natur- und Menschenrecht deterministisch legitimiert.
So forderte z. B. Paul de Lagarde (1827–1891) in „Juden und Indogermanen“ 1887 die Einheit von
„Rasse und Volk“ unter Ausschluss des Judentums.
Er beklagte, dass in Berlin mehr Juden lebten als in Palästina, und forderte, „dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten“:
„Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bacillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.“
Auch Wilhelm Marr verwendete 1879 das Bild von den Jesusmördern und sprach kulturpessimistisch von einem Sieg des Judenthums über das Germanenthum, wobei er die Juden als eigene Rasse
darstellte.
1899 forderte Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in seinem Buch „Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts“ als Erster die „Reinheit der arischen Rasse“ gegen „Vermischung“. Das Buch las Kaiser Wilhelm II. persönlich seinen Kindern vor und empfahl es als Lehrstoff für die Kadettenschulen.
Der Erste Weltkrieg überlagerte zunächst die innenpolitischen Fronten, der Burgfriede band alle Parteien in vermeintlich „patriotische Pflichten“ ein.
1914 vereinte der Reichstagsabgeordnete Ferdinand Werner beide Antisemitenparteien in der Deutschvölkischen Partei (DVP).
Innenpolitisch verlangte diese
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die Ausweisung der Jude
einen Grenzschluss für osteuropäische Einwanderer
eine rassistische Neuordnung der Gesellschaft
Sie agitierte so stark gegen den Burgfrieden, dass die Behörden viele ihrer Presseorgane zensierten.
Außenpolitisch verlangte sie
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weitreichende Eroberungen, die Deutschland zur Hegemonialmacht Europas machen sollten
mit anderen rechtsradikalen Parteien einen „Siegfrieden“ als einzig akzeptables Kriegsziel
Seit 1917 führte ihr Parteiorgan „Deutschvölkische Blätter“ ein Hakenkreuz.
1916 verstärkten Alldeutscher Verband und DVP ihre antisemitische Hetze:
Juden seien Schieber, die sich am Handel mit knappen Lebensmitteln bereicherten, und Drückeberger, die sich häufiger krankmeldeten an der Front als Nichtjuden. Darauf ordnete Kriegsminister
Hohenborn für den 1. November 1916 eine Judenzählung im ganzen Heer an.
Als diese statistische Erhebung einen hohen Anteil jüdischer Frontsoldaten, darunter zehn Prozent
Freiwilliger, ergab, hielt das Ministerium die Ergebnisse bis 1919 geheim. Die Regierung blockierte
Beförderungen von Juden in Staatsämtern und ihre Ernennung zu Offizieren und erörterte Pläne zu
ihrer „Aussiedlung“.
Artur Dinter, Vorläufer der späteren „Deutschen Christen“, schrieb 1917 den Bestseller „Die Sünde
wider das Blut“. Darin verband er antisemitische Stereotype mit körperlichen Zuschreibungen.
Heinrich Pudor rief ab 1917 zu Gewalt gegen Staatsvertreter auf, die für ihn die absehbare Kriegsniederlage und kommende „Judenrepublik“ verkörperten. So gewannen Pogromhetze und Gewalt gegen Juden bald nach dem Kriegsende an Boden.
Verschärfung des Antisemitismus in der Weimarer Republik – 1918 bis 1933
Die tiefgreifende Umbruchphase nach dem Krieg begünstigte Vorstellungen des einflussreichen Alldeutschen Verbands, der nach eigenen Angaben Juden als "Blitzableiter für alles Unrecht" zu benutzen gedachte. Antisemitische und völkische Gruppierungen wie der "Deutschvölkische Schutz- und
Trutzbund" mit über 200.000 Mitgliedern nahmen nach dem Ersten Weltkrieg an Zahl und Mitgliederstärke rasch zu.
Vor allem aus dem Mittelstand und dem Bildungsbürgertum rekrutierten antisemitische Organisationen ihre Mitglieder und Anhänger. Die Angst vor vermeintlich überlegener jüdischer Konkurrenz
verfestigte besonders bei Kleinhändlern, Ärzten und Anwälten eine intensive Judenfeindschaft. Ihrem Hass gegen die Weimarer "Judenrepublik" ließen sie freien Lauf. So wird die einst stolze und
kämpferische Germania als willfährige Person dargestellt, der es gleich ist, was um sie herum geschieht. Sie nimmt die Fesseln des Versailler Vertrags ebensowenig wahr wie das zerbrochene Schwert und die am Boden liegende Krone. Unbeachtet von ihr reibt sich der den westlichen Kapitalismus darstellende assimilierte Jude zufrieden die Hände, während sich die durch Bart und Hut als
Ostjude erkennbare Figur bereichert. Auf zahlreichen Bildern als "Schieber" und "Kriegsgewinnler"
karikiert, waren vor allem ostjüdische Zuwanderer in den ersten Nachkriegsjahren Objekte antisemitischer Propaganda in Deutschland und Österreich. In ihrem fremdartigen Erscheinungsbild entsprachen die orthodoxen osteuropäischen Juden weitaus mehr dem traditionellen jüdischen Klischeebild als die größtenteils assimilierten deutschen. Nach Kriegsende gehörte es zu den gängigen Forderungen nationaler Kreise, die Einwanderung weiterer Ostjuden nach Deutschland zu verhindern,
da sie gleichermßen für die wirtschaftliche Not und die revolutionären Erschütterungen verantwortlich gemacht wurden.
Für die rechte Agitation war es nach Kriegsende nicht schwer, mit Rosa Luxemburg und Karl Radek
ostjüdische Revolutionäre als "Sendboten des jüdischen Bolschewismus" vorzuweisen, die "dauernd
die Massen zum Klassenkampf und Bürgerkrieg" aufriefen. Die Juden galten als Trägergruppe revolutionärer Unruhen schlechthin. Unterstützung fand die verbreitete These einer jüdisch-bolschewistischen Revolution in ihrem Erscheinungsbild stark jüdisch geprägten Münchner Räterepublik. Auch
die Weimarer Republik galt als von Grund auf jüdisch. Ihre führenden Repräsentanten wurden als
"jüdische Novemberverbrecher" diffamiert, die dem internationalem Judentum und dem westlichen
Kapitalismus in die Hände spielten. Ein Opfer solcher Propaganda wurde im August 1921 der katholische "Judengenosse" Matthias Erzberger, der als Unterzeichner des Waffenstillstands am 11. November 1918 wie kaum ein zweiter Politiker gehasst wurde. Geradezu als Provokation und nationale Schmach empfanden viele Deutsche die Einsetzung des ersten jüdischen Reichsaußenministers
Walther Rathenau im Februar 1922. Dem vielgesungenen Vers "Knallt ab den Walther Rathenau,
die gottverdammte Judensau" ließ die rechtsextreme Organisation Consul (OC) mit der Ermordung
Rathenaus im Sommer 1922 Taten folgen. Der jüdische Sozialist Maximilian Harden, Herausgeber
der politischen Wochenzeitschrift "Die Zukunft", überlebte kurze Zeit später schwerverletzt ein Attentat.
Gelenkt wurden die antisemitischen Aktivitäten von "vaterländischen" Politikern, die mit den demokratischen Reformen vom Herbst 1918 einen Teil ihrer Privilegien verloren hatten und nun im Kampf gegen Republik und Demokratie bedenkenlos antisemitische Vorurteile schürten.
So verpflichtete ein 1920 im Parteiprogramm neu aufgenommener Passus die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zum Kampf gegen die "Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit". In München ging im Februar 1920 aus der völkisch-antisemitischen Deutschen Arbeiterpartei
(DAP) die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) hervor, dessen "Führer" Adolf
Hitler von einem rohen Sozialdarwinismus und einem rassistischen Weltbild geprägt war.
Gegen den grassierenden Antisemitismus, wie ihn beispielsweise auch Dietrich Eckart in seiner Wochenschrift "Auf gut deutsch" verbreitete, wurde von Regierungsseite zu wenig getan. Immer wieder wurden zur Niederschlagung linker Aufstandsversuche Freikorps eingesetzt, die sich offen zum
Antisemitismus bekannten. Bei der Abwehr von Antisemitismus waren die jüdischen Organisationen wie der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" oder der überkonfessionelle
"Verein zur Abwehr des Antisemitismus" weitgehend auf sich selbst gestellt. Der Vorsitz des "Vereins zur Abwehr des Antisemitismus" fiel 1921 mit Georg Gothein auf einen führenden Politiker der
DDP. Von nationalen Politikern als "Judenpartei" verhetzt, trat die von vielen Juden gewählte und
vertretene DDP als nahezu einzige Partei in Deutschland dem Antisemitismus entschieden entgegen.
Projüdische Verbände oder Zeitungen wie die "Freie Meinung", deren Leitartikel in scharfer Form
antisemitische Tendenzen angriffen, stießen in der Weimarer Republik auf wenig Resonanz. Eine
antisemitische Publizistik ergoss sich in Form von mehreren hundert Zeitschriften, Broschüren und
Büchern über das Deutsche Reich. Mit Inbrunst beteiligte sich der 1923 von Julius Streicher gegründete "Stürmer" an judenfeindlichen Kampagnen. Hohe Auflagen erreichte das antisemitische Hetzblatt vorzugweise durch Skandalgeschichten mit sexuellem Hintergrund. In nahezu jeder Ausgabe
berichtete die Wochenzeitschrift ausführlich über Vergewaltigungen, Mädchenhandel und andere
Verbrechen, die Juden angelastet wurden.
Vor allem das "verjudete Berlin", in dem etwa ein Drittel der Juden in Deutschland lebten, galt als
"Pestbeule des Reiches", wo eine avantgardistische Kunst und Kultur blühte, die von der konservativen Kultur- und Modernitätskritik als undeutsch, dekadent und "typisches Judenprodukt" bewertet
wurde.
Größte Aufmerksamkeit erregte dabei vor allem der "zersetzende Intellektualismus" jüdischer Schriftsteller wie
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Lion Feuchtwanger
Kurt Tucholsky
Erich Mühsam
Ernst Toller
Alfred Döblin
Verdammt wurden jüdische Maler wie
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Max Liebermann
John Heartfield
Regisseure wie
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Max Reinhardt
Ernst Lubitsch
Als Maßnahme gegen die als "entartet" angeprangerten Kulturbeiträge gründete der Nationalsozialist Alfred Rosenberg, der sich zu Beginn der 1920er Jahre mit den antisemitischen Schriften "Die
Spur der Juden im Wandel der Zeit" und "Das Verbrechen der Freimaurer" einen Ruf in der völkischen Szene erworben hatte, 1929 den "Kampfbund für deutsche Kultur".
Durch Vermittlung von Alfred Rosenberg und Dietrich Eckart hatte Adolf Hitler zu Beginn seiner
politischen Laufbahn die bedeutendsten Schriften rassistisch-antisemitischer Literatur wie "Die Sünde wider das Blut" von Artur Dinter (1876-1948) kennengelernt. Mit pornographischem Einschlag
beschrieb der 1917 erschienene Roman die abnormale Sexualität eines Juden, des systematisch "unberührte blonde Jungfrauen" schwängerte. Die populäre Hetzschrift Dinters trug bei Teilen der deutschen Bevölkerung entschieden zur Vertiefung antisemitischer Angstvorstellungen vor "Bastardisierung" und systematischer Zersetzung der "arischen Rasse" bei. Die Legende der jüdischen Weltverschwörung verbreiteten die "Protokolle der Weisen von Zion" wie keine zweite Schrift. Die ersten
120.000 Exemplare waren 1919 binnen kurzer Zeit vergriffen. Bis 1933 erschien die Schrift in 33
Auflagen. Durch die hohe Zahl von Ausgaben auch in zahlreichen anderen Ländern wurden die Protokolle zu einer der weitverbreitetsten und einflussreichsten Schrift des modernen Antisemitismus.
Die Kernaussagen der "Protokolle der Weisen von Zion" und "Die Sünde wider das Blut" verarbeitete Hitler 1924 ausführlich in "Mein Kampf". Er systematisierte darin seine Theorien von Antibolschewismus, Sozialdarwinismus und vom "Lebensraum". Den Kampf gegen die "jüdische Weltdiktatur" stellte Hitler in das Zentrum seiner politischen Mission. Seine Vorstellungen von der Bekämpfung der Juden, die er als "Maden im faulenden Leibe", "Pestilenz" und "Blutegel" titulierte, griff
Hitler in radikalisierter Form im Ende 1926 erschienenen zweiten Band von "Mein Kampf" auf.
In der Parteipropaganda und auf Wahlkundgebungen der NSDAP spielte der Antisemitismus zu Beginn der 1930er Jahre hingegen kaum eine Rolle. Die ohnehin an judenfeindliche Parolen gewöhnten Wähler suchten in Zeiten der Präsidialkabinette, der Weltwirtschaftskrise Auswege aus der politischen und ökonomischen Krise. Im Schatten der Zunahme politischen Straßengewalt häuften sich
ab 1930 aber die Übergriffe der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) auf jüdische Geschäfte
und Bürger. Am Abend des jüdischen Neujahrsfests kam es am 12. September 1931 auf dem Berliner Kurfürstendamm zu schweren antisemitischen Krawallen. Laut Polizeibericht waren es an die
500 SA-Leute, die unter Sprechchören "Deutschland erwache - Juda verrecke" Gewalt gegen zufällig angetroffene Juden oder jüdisch aussehende Passanten verübten. Kampagnen gegen dieses Gewaltniveau verhallten zumeist ergebnislos. Zwar hatte sich bereits im Vorfeld der Reichstagswahl 1930
die "Liga für Menschenrechte" herausgefordert gefühlt, einen von zahlreichen Künstlern, Schriftstellern und Politikern unterzeichneten Aufruf gegen die "Kulturschande des Antisemitismus" zu organisieren. In einer nicht abreißenden Kette wechselseitiger und häufig tödlich endender Überfälle
von SA und Rotem Frontkämpferbund (RFB) wurde judenfeindliche Gewalt von der Öffentlichkeit
allerdings als bloße Randerscheinung wahrgenommen. Auch eine Serie nationalsozialistischer Terroranschläge gegen Synagogen und andere jüdische Einrichtungen änderte daran wenig. Für die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich waren diese antisemitischen Gewaltakte hingegen der Auftakt für jene Verbrechen und Diskriminierungen, die sie schon bald nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten durch das NS-Regime erfahren mussten.
Ausgrenzung und Völkermord im Dritten Reich – 1933 bis 1945
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 fanden alle jüdischen Emanzipationsbestrebungen in Deutschland ihr Ende. Die Nationalsozialisten konzentrierten sich nach
ihrer Machtübernahme im abgestimmten Zusammenspiel von Terror und Propaganda zwar zunächst
auf die Ausschaltung der politischen Opposition, doch ihre Politik zielte von Anfang an auf die rasche Ausgrenzung der Juden aus allen Gesellschafts- und Lebensbereichen im Deutschen Reich.
Sie hofften anfangs, die "Judenfrage" durch "freiwillige" jüdische Auswanderung und Vertreibung
zu lösen. Insgesamt wurden im "Dritten Reich" etwa 2.000 antijüdische Gesetze oder Ergänzungsverordnungen erlassen.
Die erste Welle staatlichen Terrors gegen Juden setzte im Frühjahr 1933 ein.
Ende März begann unter großem Propagandaaufwand die Vorbereitung einer Boykottaktion gegen
jüdische
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Geschäfte
Warenhäuser
Anwaltskanzleien
Arztpraxen
Während des "Geschäftsboykotts" vom 1. April entlud sich der von der NSDAP seit Jahren geschürte Hass auf Juden. Zugleich machte die Aktion deutlich, dass die jüdische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit von der NS-Führung nicht als Teil des deutschen Volks betrachtet wurde. Doch die meisten
der rund 525.000 Juden in Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt noch der Auffassung, die antisemitischen Ausschreitungen und Übergriffe wären Teil der Jahrhunderte langen Verfolgung und würden sich nach der "nationalen Siegeseuphorie" der Nationalsozialisten wieder legen.
Dass der Boykott am 1. April den Übergang zur staatlich gelenkten Verfolgung und Vertreibung markierte, zeigte sich jedoch in den folgenden Wochen. Mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums" vom 7. April, durch das Beamte "nicht arischer Abstammung" in den Ruhestand versetzt wurden, fand die rassistische Ideologie der Nationalsozialisten erstmals Eingang in ein
Reichsgesetz. In schneller Folge wurde der "Arierparagraph" auf andere Berufsgruppen übertragen
und ermöglichte den "legalen" Ausschluss von Juden aus dem Öffentlichen Dienst, den Freien Berufen sowie aus Universitäten und Schulen. Am 10. Mai 1933 folgte die Bücherverbrennung. Als
Höhepunkt der Kampagne "Wider den undeutschen Geist" verbrannten Studenten in vielen deutschen Universitätsstädten "undeutsches Schrifttum".
Das Gesetz zur Reichskulturkammer vom 22. September machte schließlich jede Betätigung von
Juden an nichtjüdischen Kultureinrichtungen unmöglich. Diese erste Welle massiver Ausgrenzung
und Unterdrückung nach der Machtübernahme 1933 veranlasste vor allem politisch verfolgte und
jüngere Juden zur Auswanderung. Die meisten blieben jedoch trotz Verfolgung, Repressalien und
antijüdischer Propaganda in Deutschland. Nach dem Ausschluss aus vielen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens begannen jüdische Organisationen im Herbst 1933 mit dem Aufbau einer
jüdischen Selbsthilfe.
Einen radikalen Einschnitt in das Leben der Juden in Deutschland brachten die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ von 1935, die Juden zu Menschen minderen Rechts stempelten. Um die "Reinhaltung" der "arischen Rasse" für alle Zukunft zu sichern, stellten die Gesetze Eheschließungen sowie
den als "Rassenschande" bewerteten außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Nichtjuden und
Juden unter Strafe. Abhängig gemacht wurde die Zugehörigkeit zur "jüdischen Rasse" von der Konfession der Großeltern. Die Nürnberger Gesetze definierten Menschen als "Volljude" oder "Halbjude", von denen sich viele zeit ihres Lebens nicht als Juden empfunden hatten. Auch sie wurden nun
Teil der ausgegrenzten jüdischen Gemeinschaft und Opfer von Rassentheorien, die ein grundlegendes Element nationalsozialistischer Weltanschauung bildeten. Ideologisch orientierten sich die Nationalsozialisten an einer bereits im 19. Jahrhundert aufkommenden, aber wissenschaftlich unhaltbaren
völkischen Rassedefinition. Juden galten aus nationalsozialistischer Sicht als die Angehörigen der
bedrohlichen "Gegenrasse" und als Verschwörer sowohl hinter dem westlichen Kapitalismus als auch hinter dem sowjetischen Kommunismus.
Die NS-Propaganda schilderte immer wieder, wie das "internationale Judentum" die Weltherrschaft
an sich reißen wolle, was gleichbedeutend sei mit dem Untergang des deutschen Volkes.
Nach dem "Anschluss" Österreichs im März 1938 erreichte der nationalsozialistische Antisemitismus eine neue Qualität. Innerhalb kürzester Zeit wurden alle antijüdischen Bestimmungen des "Altreichs" auf Österreich - nunmehr als Ostmark bezeichnet - übertragen. Besonders forciert wurden in
Österreich Auswanderung und Vertreibung. Dafür zuständig war Adolf Eichmann, der in Wien die
"Zentralstelle für jüdische Auswanderung" organisierte. Die Erfahrungen, die Eichmann in Wien bei
der Vertreibung der Juden sammelte, wurden nur wenig später im ganzen Deutschen Reich umgesetzt. Um den Druck auf die jüdische Bevölkerung zu verstärken und deren Bereitschaft zur Auswanderung zu steigern, wurden im Frühsommer 1938 in Berlin die Geschäfte jüdischer Inhaber beschmiert und im Zuge der Aktion "Arbeitsscheu Reich" gegen "Asoziale" und "Kriminelle" zahlreiche
Juden willkürlich verhaftet.
Mit der Abschiebung von 17.000 als "polnischstämmig" bezeichneten Juden nach Polen erreichte
die antijüdische Politik im Oktober 1938 nochmals eine Verschärfung. Von den Deutschen aus dem
Land getrieben und von den Polen nicht ins Land gelassen, irrten die Abgeschobenen im deutschpolnischen Grenzgebiet umher, bevor sie auf polnischer Seite primitivste Unterkunft fanden. Der
17-jährige Jude Herschel Grynszpan, dessen Familie unter den Abgeschobenen war, verübte am 7.
November 1938 in Paris einen Mordanschlag auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Sein
Tod zwei Tage später lieferte Goebbels den Vorwand für einen "spontanen Sühneakt". In der Pogromnacht vom 9. zum 10. November ermordeten Nationalsozialisten etwa 100 Juden, steckten Hunderte von Synagogen in Brand und demolierten Tausende jüdischer Geschäfte und Wohnungen. Um
den Druck zur Auswanderung zu erhöhen, wurden rund 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager (KZ) verschleppt und nur wieder freigelassen, wenn ihre Angehörigen eine baldige Ausreise
zusicherten. Dem wegen der zerstörten Schaufensterscheiben auch "Reichskristallnacht" genannten
Pogrom folgte eine Fülle antijüdischer Maßnahmen, mit denen die Juden endgültig jeglicher Existenzgrundlage beraubt wurden.
Die jüdische Bevölkerung musste für die in der Pogromnacht entstandenen Schäden selbst aufkommen und wurde zudem zu einer "Sühneleistung" von zunächst 1 Milliarde Reichsmark verpflichtet.
Damit war das Stadium des staatlich angeordneten, offenen Raubs von jüdischem Besitz erreicht:
Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938
"legalisierte" die uneingeschränkte "Arisierung" der Wirtschaft. Sie verbot Juden den Betrieb von
Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Feilbieten von Waren aller Art. Alle
jüdischen Kapitalvermögen wurden eingezogen, Grundeigentum, Wertpapiere und Schmuck zwangsveräußert. Die Einführung einer besonderen Kennkarte mit aufgedrucktem "J" und der Zwangsvornamen "Sara" bzw. "Israel" wurde für alle Juden angeordnet.
Ihnen wurde der Besuch von
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Bibliotheken
Kinos
Theatern
Museen
Schwimmbädern
verboten.
Ab dem 15. November 1938 durften jüdische Schüler keine "deutschen" Schulen mehr besuchen.
Immer mehr Parkbänke erhielten die Aufschrift "Nur für Arier", und immer öfter war an privaten
Restaurants und Geschäften der Satz "Juden unerwünscht" zu lesen. Im Dezember 1938 wurde Juden schließlich das Autofahren und der Besitz von Kraftfahrzeugen verboten.
Der Zweite Weltkrieg verschärfte in Deutschland die Lage und die Lebensbedingungen der Juden
und anderer Menschen wie Sinti und Roma durch ihnen auferlegte Bestimmungen und Verbote noch einmal. Im Schatten der Kriegsereignisse begann im Herbst 1939 zudem die als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung unheilbar Kranker und Behinderter.
Die "Euthanasie"-Spezialisten wurden noch vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 zusammengezogen, um sich auf eine neue Aufgabe im Osten vorzubereiten:
Die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung.
Freikorps – 1918 bis 1920
Zu Beginn der Novemberrevolution 1918 verfügte der Rat der Volksbeauftragten über keine zuverlässigen Truppen in Berlin. In Absprache mit der Obersten Heeresleitung (OHL) wurden seit November 1918 aus ehemaligen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs Freikorps aufgestellt. In diesen Freiwilligenverbänden sammelten sich monarchistische und rechtskonservative Kräfte, die durch Kriegsende und revolutionären Umbruch keine Perspektive und gesicherte Zukunft mehr sahen. Die etwa 400.000 Mitglieder der rund 120 namentlich nachweisbaren Freikorps hatten vor allem aber antirevolutionäre und antidemokratische Ansichten. Die Stärke kleinerer Freikorps betrug zumeist zwischen 2.000 und 10.000 Mann. Bewaffnet waren sie mit Karabinern, jedoch verfügten die Infanterie- und Kavallerieeinheiten auch über zahlreiche schwere Maschinengewehre und Minenwerfer.
Die Garde-Kavallerie-Schützen-Division gehörte mit bis zu 40.000 Mann zu den größten Freikorps.
Während der Niederschlagung des Januaraufstands 1919 waren Angehörige der Division für die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verantwortlich. Freikorps kämpften 1919 im
Baltikum gegen sowjetrussische Truppen, und sie schlugen im Auftrag der Regierung weitere revolutionäre Unruhen und kommunistische Umsturzversuche wie die Münchner Räterepublik oder den
Märzaufstand von 1920 nieder, aber sie kämpften nicht für die parlamentarische Demokratie der
Weimarer Republik.
Bereitwillig beteiligten sich Freikorps im März 1920 am rechtsgerichteten Lüttwitz-Kapp-Putsch.
Mitglieder der Marinebrigade von Hermann Ehrhardt, die mit Walther Freiherr von Lüttwitz in Berlin einmarschiert waren und als Zeichen ihrer völkischen Gesinnung ein Hakenkreuz auf dem Stahlhelm trugen, wurden in geringer Zahl von der Reichswehr übernommen. Andere Freikorpsmitglieder fanden Unterschlupf in der von Ehrhardt gegründeten geheimen „Organisation Consul“ (OC), die
für die Ermordung führender republikanischer Politiker wie Matthias Erzberger oder Walther Rathenau verantwortich war. Auch der „Stahlhelm“ und die NSDAP rekrutierten Mitglieder aus Freikorpsverbänden, die gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrags im Frühjahr 1920 offiziell aufgelöst werden mussten.
Zahlreiche aufgelöste Freikorpseinheiten wurden im Mai 1921 noch einmal reaktiviert, um in den
Monaten vor der Teilung Oberschlesiens den Kampf gegen polnische Übergriffe wiederaufzunehmen, für den der aus Freikorps rekrutierte "Grenzschutz Ost" in Schlesien bereits 1919 mit der Parole
"Schützt die Heimat" geworben hatte.
Sturmabteilung (SA) – 1921 bis 1934
Agitation und paramilitärische Vorbereitungen für den "Freiheitskampf" der nationalsozialistischen
Bewegung gegen das System der Weimarer Republik waren Leitbilder der von Adolf Hitler angeordneten Gründung eines Wehrverbands der NSDAP im August 1921.
Die auf Hitler eingeschworene, bis 1925 aber parteiunabhängige Kampforganisation rekrutierte sich
aus ehemaligen Saalordnern der Partei und Mitgliedern aufgelöster Freikorps. Darunter befanden sich auch zahlreiche Führungsoffiziere der ein Jahr zuvor am Lüttwitz-Kapp-Putsch beteiligten rechtsextremen „Marinebrigade-Ehrhardt“.
Im November 1921 nahm die harmlos als Turn- und Sportabteilung der NSDAP firmierende Kampftruppe die Bezeichnung „Sturmabteilung“ (SA) an. Zentrum der streng hierarchisch strukturierten
SA war zu Beginn der zwanziger Jahre die "Ordnungszelle Bayern". Dort bildete die von einem völkisch-nationalistischen Gedankengut geprägte Atmosphäre einen idealen Nährboden für ihren aggressiven Antisemitismus und politischen Radikalismus.
Dieser gipfelte in unzähligen Terror- und Gewaltaktionen gegen Juden und politische Gegner, wozu
neben Mitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) vor allem die Repräsentanten
der verhassten Republik zählten.
Um die demokratische Ordnung zu stürzen, beteiligte sich die von Hermann Göring geführte SA
mit einigen hundert Bewaffneten im November 1923 am fehlgeschlagenen Hitler-Putsch. Ebenso
wie die NSDAP wurde sie daraufhin reichsweit verboten.
Die SA gliederte sich nach der Neugründung der NSDAP im Februar 1925 in die Partei ein. Ihre
Angehörigen trugen braune Uniformen mit Schaftstiefeln, Koppel und Schulterriemen sowie eine
Armbinde mit Hakenkreuz. Die politische Agitation der NSDAP ergänzte die SA als Instrument der
NS-Propaganda durch die "Eroberung der Straße". Eine durch provozierende Aufmärsche zur Schau
gestellte Stärke und Geschlossenheit der nationalsozialistischen Bewegung wirkte vor allem auf Jugendliche und junge Männer anziehend. Sie erhielten dort neben einer Grundversorgung vor allem
Anerkennung und das Gefühl einer Kameradschaft ohne soziale Schranken. Die Mitgliederstärke
der SA wuchs zwischen 1925 und 1930 von ca. 3.600 auf annähernd 60.000 Männer in 200 Ortsvereinen. In Konkurrenz zu bürgerlichen Vereinen entstanden seit 1928 mit motorisierten Staffeln, Marine- oder Reiterstürmen verschiedene Spezialeinheiten, die gezielt sozial Schwachen die Teilnahme
an einem derartigen Freizeitangebot ermöglichen wollten.
Nach der 1929 erfolgten Ablösung Franz Pfeffer von Salomons (1888-1968) übernahm Hitler ein
Jahr später persönlich das Amt des Obersten SA-Führers (OSAF). Die faktische Leitung der Dienstgeschäfte übertrug Hitler 1931 dem neu ernannten Stabschef der SA, seinem alten Kampfgefährten
Ernst Röhm. Vor dem Hintergrund des politischen Durchbruchs der NSDAP in der Reichstagswahl
vom 14. September 1930 und der anhaltenden Weltwirtschaftskrise etablierte sich die SA bis Anfang 1933 zu einer schnell wachsenden Massenorganisation mit weit über 400.000 Mitgliedern.
Bis Ende 1932 starben 94 "Braunhemden" bei blutigen Saal- und Straßenschlachten zwischen SA
und ihren Hauptgegnern, dem kommunistischen Roten Frontkämpferbund (RFB) und dem republikanischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Die Begräbnisfeiern wurden zu einem Heldenkult ausgestaltet. Gleichzeitig trieb eine Terrorwelle der SA mit unzähligen Mord- und Bombenanschlägen
die Republik an den Rand des Bürgerkriegs. Das Sprengen von Versammlungen politischer Gegner
und die eingedrillte Kampftaktik der SA, der übergangslose Ausbruch aus einer disziplinierten Marschformation in hemmungslose Gewaltaktionen, gehörten Anfang der 1930er-Jahre beinah zum alltäglichen Erscheinungsbild.
Etwa 300 Tote und über 1.100 Verletzte - so lautete die Bilanz des Wahlkampfs im Vorfeld der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932. Den Höhepunkt der blutigen Aktionen bildete der "Altonaer Blutsonntag" am 17. Juli 1932, als sich aus einem Demonstrationsmarsch der SA durch die kommunistische Hochburg eine stundenlange Schießerei mit 18 Toten entwickelte.
Der von Hitler beteuerte Legalitätskurs der NSDAP wurde von der politisch frustrierten, nach Übernahme der Staatsmacht drängenden SA erheblich in Frage gestellt.
Eine offene Konfrontation zwischen Partei- und SA-Führung wurde durch die Ernennung Hitlers
zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 nur vorerst vermieden. SA-Formationen feierten die Machtübernahme der Nationalsozialisten mit gewaltigen Fackelzügen und Siegeskundgebungen. In den
Wochen vor und nach der Reichstagswahl vom 5. März war die SA Träger antijüdischer Ausschreitungen und eines Straßenterrors gegen politisch Andersdenkende von einem bis dahin unbekannten
Ausmaß. In Preußen als "Hilfspolizei" mit staatlichen Vollmachten eingesetzt, wurden die willkürlich Verhafteten in "Sturmlokalen" der SA gefoltert und misshandelt. Erste "wilde" Konzentrationslager (KZ) unter Leitung der SA entstanden unter anderem in Oranienburg und Dachau.
Die auf rund vier Millionen Mitglieder angewachsene und als innenpolitischer Machtfaktor ernst zu
nehmende SA hatte nach dem Prozess der nationalsozialistischen Gleichschaltung 1934 ihre blutige
Aufgabe weitgehend erfüllt. Röhms Bemühungen um organisatorische Verselbständigung der gigantischen Parteiarmee als zukünftige Volksmiliz mit staatlichem Waffenmonopol in Konkurrenz zur
Reichswehr endeten mit der Liquidierung der SA-Führung in Folge des "Röhm-Putsches" im Juni
1934.
Zahlenmäßige Dezimierung und politische Bedeutungslosigkeit gegenüber der Schutzstaffel (SS)
kennzeichneten die SA während der folgenden Jahre. Im NS-Regime war sie vornehmlich auf vormilitärische Erziehung und als Staffage bei Propagandaaktionen reduziert.
Schutzstaffel (SS) – 1934 bis 1936
Strenge rassebiologische und weltanschauliche Auswahlkriterien bestimmten die Zugehörigkeit zur
SS. Als Verkörperung nationalsozialistischer Herrenmenschenideologie und als "Bewahrer der Blutsreinheit" sollte der "Schwarze Orden" - in Anlehnung an die schwarzen SS-Uniformen - nach dem
Willen Himmlers die Keimzelle einer nordischen Rassendominanz in Deutschland darstellen. Da sich die SS als "Sippengemeinschaft" verstand, galten die rassistischen Auslesekriterien - strengstens
überwacht vom "Rasse- und Siedlungshauptamt" - auch für die Frauen der SS-Mitglieder. Das SSIdeal eines elitären Führungsordens in bewusster Anlehnung an mittelalterliche Ritterorden dokumentierten mythologisch überhöhte Symbole wie der SS-Totenkopfring und der Ehrendolch.
Toten- und Ahnenkult sowie pseudoreligiöse Rituale in sogenannten „Weihestätten“ wie der Wewelsburg bei Paderborn oder der ehemaligen Stiftskirche in Quedlinburg dienten der Festigung eines
unauflöslichen Gemeinschaftssinns.
Ihrer herausgehobenen Machtstellung war sich die SS durchaus bewusst:
Ihr Wochenblatt "Das Schwarze Korps" galt innerhalb der gleichgeschalteten Presse als einzige "oppositionelle Zeitung", die sich nicht scheute, Missstände in der NSDAP und im NS-Regime öffentlich zu kritisieren.
Sicherheitspolizei (Sipo) – 1936 bis 1939
Nach seiner Ernennung am 17. Juni 1936 zum „Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei“
verfügte Himmler die Zusammenführung von Politischer Polizei, das heißt der Polizeiabteilungen
und -ämter, die sich bereits vor der NS-Diktatur um politische und staatsgefährdende Straftaten zu
kümmern hatten, und Kriminalpolizei zu einer Einheit mit großer Nähe zur Schutzstaffel (SS). Konkret setzte sich das neu formierte Hauptamt Sicherheitspolizei aus dem Geheimen Staatspolizeiamt
(Gestapa), kurz Gestapo genannt, und dem Preußischen Landeskriminalpolizeiamt (LKPA) zusammen. Das LKPA wurde ein Jahr später, am 16. Juli 1937, in „Reichskriminalpolizeiamt“ (RKPA)
umbenannt.
Nach der Zusammenführung waren im Hauptamt „Sicherheitspolizei“ insgesamt vier Abteilungen
untergebracht:
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das sogenannte „Hauptbüro“ (S-HB) des Chefs der Sicherheitspolizei
das Amt „Verwaltung und Recht“ (V), das neben der allgemeinen Verwaltung auch Bereiche
wie Passwesen, Ausländerpolizei oder Grenzsicherung unterhielt
das Amt „Kriminalpolizei“ (S-Kr.) mit allen Aufgaben, welche die Arbeit der Kripo betraf
das Amt „Politische Polizei“ (PP)
Himmler wies
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dem SD im Juli 1939 die Gegnerermittlung
der Gestapo die Gegnerbekämpfung
zu.
Der Eintritt von Polizeibeamten der Sicherheitspolizei in die SS wurde gefördert und erleichtert,
Zwang oder eine automatische Übernahme gab es dagegen nicht. Sie erhielten dort einen ihrem Polizeidienstgrad entsprechenden SS-Rang und wurden dem SD zugeteilt.
Sicherheitsdienst (SD) – 1939
Zu den Aufgaben des SD gehörten
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die Beobachtung gegnerischer Parteien und politischer Organisationen
die Überwachung oppositioneller Strömungen innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung
Mit Hilfe eines ausgedehnten Spitzel- und Informationsnetzes überwachte der SD die deutsche Bevölkerung. Rund 30.000 sogenannte „Vertrauensleute“ informierten den SD über alle Bereiche des
öffentlichen Lebens und lieferten Berichte über die Wirkungen der von der NS-Führung verfügten
Maßnahmen und Gesetze. Zudem gab der SD Beurteilungen über die politische Zuverlässigkeit von
Parteifunktionären und Offizieren ab, die Auswirkungen auf die Laufbahn zur Folge hatten. In Konkurrenz zu der von Wilhelm Canaris geleiteten Abwehrabteilung im Reichskriegsministerium baute
der SD als nationalsozialistische Parteiinstitution einen eigenen Auslandsnachrichtendienst auf.
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – 1939
Ende September 1939 wurden Sipo und SD im neu gegründeten Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) zusammengefasst und bildeten dessen eigentlichen Kern.
In der Gründung des RSHA am 27. September 1939 gipfelte die von Heinrich Himmler forcierte
Verselbstständigung des Gewaltapparats. Die Kompetenzen von staatlichen Organen und Gliederungen der NSDAP wurden dabei immer stärker verquickt.
An der Spitze des RSHA, das seinerseits ein Hauptamt der Schutzstaffel (SS) bildete, stand Reinhard Heydrich.
Einsatzgruppen – 1939 bis 1945
Für den geplanten Vernichtungskrieg im Osten stellte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) spezielle "Einsatzgruppen" aus Sipo und SD auf.
Beim Überfall auf Polen folgten die "Einsatzgruppen" den vorrückenden Wehrmachtsverbänden
und setzten die von Adolf Hitler angeordnete "restlose Zertrümmerung Polens" als "willige Vollstrecker" um.
Sie ermordeten
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Intellektuelle
Angehörige des katholischen Klerus
Juden
zu Tausenden.
Um die Eingliederung der westpolnischen Gebiete ins Deutsche Reich vorzubereiten, organisierten
die "Einsatzgruppen" die systematische Vertreibung der Juden aus diesen Gebieten und pferchten
sie in den Ghettos des sogenannten „Generalgouvernements“ zusammen.
Noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion wurde den häufig von promovierten Juristen kommandierten "Einsatzgruppen" die Aufgabe übertragen, "in eigener Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung Exekutivmaßnahmen" zu ergreifen.
Im Rahmen dieser Kompetenzausweitung gegenüber der Wehrmacht und gedeckt durch den "Kommissarbefehl" ermordeten die "Einsatzgruppen"
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Juden
Sinti und Roma
Kriegsgefangene
kommunistische Funktionäre
Weit über eine halbe Million Menschen wurden Opfer der als "Sonderbehandlung" kaschierten Massenerschießungen durch die vier den Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd sowie dem Armee-Oberkommando 11 zugeordneten, insgesamt 3.000 Mann zählenden "Einsatzgruppen".
Das größte Massaker begingen die "Einsatzgruppen" Ende September 1941 in der Schlucht von Babi Jar, als sie innerhalb weniger Tage fast 34.000 Juden aus Kiew ermordeten.
Den von den "Einsatzgruppen" im Osten geführten Vernichtungskrieg unterstützten verschiedene
Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie Freiwilligenverbände aus den besetzten Gebieten.
Wannsee-Konferenz – 1942
Für den 20. Januar 1942 lud der von der NS-Führung mit der "Endlösung der Judenfrage" beauftragte Reinhard Heydrich 13 Staatssekretäre verschiedener Ministerien sowie hohe Partei- und SS-Funktionäre zu einer "Besprechung mit anschließendem Frühstück" in die Berliner Villa "Am Großen
Wannsee 56-58" ein.
Thema der Konferenz war die Koordinierung der Zusammenarbeit aller an der "Endlösung" beteiligten Dienststellen. Das Protokoll der Besprechung führte Adolf Eichmann, zuständig für die zentrale Organisation der Deportationen.
Durch dieses Protokoll sind die wesentlichen Ziele und Ergebnisse der Besprechung überliefert:
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die Unterrichtung der Teilnehmer über den Plan zum Mord an den europäischen Juden
die ausdrückliche Betonung der Federführung des Reichsführers der Schutzstaffel (SS), Heinrich Himmler und Reinhard Heydrichs
Ein vorrangiges Ziel der Zusammenkunft war die Einbindung der vertretenen Institutionen in die
Planung und technisch-organisatorische Umsetzung des Völkermords. Dieser war zum Zeitpunkt
der Konferenz bereits in vollem Gang. Einsatzgruppen hatten bis Januar 1942 in Polen und in der
Sowjetunion schon über 500.000 Juden erschossen oder in Gaswagen qualvoll vergast. Nun aber setzte der NS-Staat alle Mittel ein, um den Völkermord europaweit zu koordinieren und systematisch
durchzuführen.
Die 15 Teilnehmer der Wannsee-Konferenz waren:
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Reinhard Heydrich - Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA)
Adolf Eichmann - Leiter im Referat IV B 4 ("Judenangelegenheiten") des RSHA
Heinrich Müller (1900-1945 verschollen) - Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo)
Otto Hofmann (1896-1982), SS-Gruppenführer - Rasse- und Siedlungshauptamt
Rudolf Lange (1910-1945), SS-Sturmbannführer – Sicherheitspolizei
Eberhard Schöngarth (1903-1946), SS-Oberführer – Sicherheitsdienst
Gerhard Klopfer (1905-1987), SS-Oberführer – Parteikanzlei
Wilhelm Kritzinger (1890-1947), Ministerialdirektor – Reichskanzlei
Josef Bühler (1904-1948), Staatssekretär - Amt des Generalgouverneurs in Krakau
Georg Leibbrandt (1899-1982), Reichsamtsleiter - Reichsministerium f. d. besetzt. Ostgebiete
Alfred Meyer (1891-1945), Gauleiter - Reichsministerium f. d. besetzt. Ostgebiete
Erich Neumann (1892-1948), Staatssekretär - Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan
Martin Luther (1895-1945), Unterstaatssekretär - Auswärtiges Amt
Wilhelm Stuckart (1902-1953), Staatssekretär - Reichsministerium des Inneren
Roland Freisler, Staatssekretär – Reichsjustizministerium
Zyklon B – 1942 bis 1945
„Zyklon B“ ist die Bezeichnung für ein 1922 bei der Firma „Degesch“ entwickeltes Schädlingsbekämpfungsmittel, dessen Wirkstoff Blausäure als Gas aus Pellets austritt und beim Menschen vorwiegend durch Einatmen des Gases wirksam wird, indem es nach wenigen Atemzügen die Zellatmung der Körperzellen zum Stillstand bringt (innere Erstickung).
Im KZ Auschwitz-Birkenau wurde Zyklon B vom Frühjahr 1942 an verwendet, um Lagerinsassen
und Neuankömmlinge aus den Ghettos in als Duschräume getarnten Gaskammern massenhaft und
in industriellem Umfang zu ermorden.
Zyklon B wurde – in weitaus geringerem Maße – auch in den Lagern
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KZ Majdanek
KZ Mauthausen
KZ Sachsenhausen
KZ Ravensbrück
KZ Stutthof
KZ Neuengamme
benutzt, um Menschen zu töten.
In den meisten Vernichtungslagern wurden hierzu Motorabgase, manchmal auch reines Kohlenstoffmonoxid verwendet.
Bei Experimenten mit Giftgasen, die im kroatischen KZ Stara Gradiška durchgeführt wurden, kam
auch Zyklon B zum Einsatz.
Jean-Claude Pressac recherchierte von 1979 bis 1985 detailliert die Verwendung von Zyklon B im
Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Dabei stellte er fest:
Zyklon B wurde von der Wehrmacht und in den Konzentrationslagern in erheblichen Mengen zur
Entwesung benötigt.
Der weitaus größte Teil des Zyklon B, das nach Auschwitz gelangte, wurde tatsächlich auch dort bestimmungsgemäß zur Ungeziefer-Entwesung eingesetzt, um Läuse als Überträger von Seuchen abzutöten.
Eine prozentual geringe Menge des gelieferten Zyklon B reichte jedoch aus, um den Massenmord
an Menschen durchzuführen:
Auf warmblütige Lebewesen wirkt Blausäure schon in geringer Dosis tödlich (1/22 der Dosis für
Wirbellose). Im Prozess gegen den Geschäftsführer der Degesch, Gerhard Peters, wurde berechnet,
dass vier Kilogramm Zyklon B zur Vergasung von 1000 Menschen ausreichten.
Laut Urteilsbegründung im Prozess gegen den Geschäftsführer der Firma „Degesch/HeLi“ gilt es
als erwiesen, dass diese Sonderform dort zur Tötung von Menschen Verwendung fand.
SS-Einsatzgruppen – Warum junge Männer im Akkord morden
Es sollte ein Lob sein:
"Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn
500 daliegen oder wenn 1000 daliegen"
sagte Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 in seiner berüchtigten "Posener Rede".
Seine Zuhörer waren die rund 90 höchsten Funktionäre seiner SS, die sich zur Gruppenführertagung
versammelt hatten.
Der "Reichsführer SS" hatte Recht:
Viele von ihnen waren entweder 1941/42 selbst als Befehlshaber eines mobilen Mordkommandos
hinter der Ostfront tätig oder hatten doch mindestens die Tätigkeit dieser "Einsatzgruppen" im Rahmen ihrer Tätigkeit inspiziert.
Rund zwei Millionen Menschen, überwiegend Juden, sind Schätzungen zufolge der ungehemmten
Brutalität der Einsatzgruppen sowie ihrer Unterstützungs- und Nachfolgeeinheiten wie dem Hamburger Polizei-Reserve-Bataillon 101 zum Opfer gefallen. Das war nicht der gewissermaßen industrialisierte, wenngleich immer noch extrem grausame Massenmord per Giftgas wie in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“.
Die Opfer der Einsatzgruppen wurden vielmehr Mensch für Mensch erschossen, nach einer "Testphase" in Polen mit unterschiedlichen Methoden überwiegend von hinten durch Genickschüsse.
Zwei Millionen Mal legten überwiegend junge Deutsche ihre Karabiner oder Pistolen auf wehrlos
da stehende, oft um ihr Leben bittende Männer, Frauen und Kinder an – und drückten ab.
"Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen –
anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht"
fuhr Himmler in seiner Rede stolz fort:
"Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."
Auch heute ist unbegreiflich, wie die Täter dieser Einsatzgruppen – durch Personalrotation dienten
bei den nominell etwa 3000 Mann starken vier Einsatzgruppen in der Sowjetunion insgesamt mindestens dreimal so viele Männer – diese Grausamkeiten fast ansatzlos begehen konnten.
Die Quellenlage ist überraschend gut. Es gibt nicht nur die nahezu lückenlose Reihe der "Ereignismeldungen UdSSR", 195 Stück insgesamt mit einem Gesamtumfang von mehr als 4000 Blatt. In ihnen ist, mit Datum, Ort und konkreten Umständen, der Mord an mindestens 535.000 Menschen dokumentiert – als „Leistungsnachweis“ gewissermaßen. Die Einsatzgruppen mordeten im Akkord.
Das Unterkommando 4a etwa tötete allein am am 29. und 30. September 1941 "in Zusammenarbeit
mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments Süd in Kiew 33.771 Juden".
Doch nicht nur diese einst streng geheimen, doch seit dem Nürnberger Prozess gegen 24 Kommandeure und Mitglieder der Einsatzgruppen bekannten Dokumente belegen das Grauen. Es gibt viele
hundert Feldpostbriefe von Mitgliedern der Einheiten, außerdem Tausende Seiten Vernehmungsprotokolle aus der Nachkriegszeit.
Zum Beispiel die Hamburger Staatsanwaltschaft betrieb intensive Ermittlungen gegen frühere Mitglieder des Polizei-Reserve-Bataillons 101; zwischen 1962 und 1967 wurden insgesamt 210 von ihnen vernommen, viele davon mehrmals.
Obwohl nur gegen 14 von ihnen Anklage erhoben wurde und nur fünf zu Freiheitsstrafen verurteilt
wurden, gehören die Akten zu diesem Verfahren heute zu den wichtigsten Quellen über das Morden
der Einsatzgruppen und ihrer Unterstützungsverbände. Auch Ruzowitzky schöpft aus dem Material,
zusätzlich aus weiteren Akten der Ludwigsburger Zentralen Stellen zur Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen.
Größte Verdienste um die Frage, wie ganz normale Männer zu Massenmördern gemacht werden können, hat der kanadische Historiker Christopher Browning. Sein Buch über das Hamburger PolizeiReserve-Bataillon begründete wesentlich eine neue neue Disziplin der internationalen Zeitgeschichte mit, die Täterforschung. Denn es reicht nicht festzustellen, dass die Massenmorde stattgefunden
haben und grausam waren; das bedarf keiner Betonung. Man muss verstehen, wie sie möglich wurden.
Während der zeitweise hoch gelobte, inzwischen aber in der Versenkung verschwundene US-Politologe Daniel Goldhagen von einer Disposition der Mörder zum "exterminatorischen Antisemitismus"
fabuliert und die Holocaustforschung in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit damit um Jahre zurückgeworfen hatte, bemühen sich seriöse Forscher um psychologische Erklärungsmodelle, ohne Verstehen der Taten mit Verständnis für die Täter zu verwechseln.
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Ein zentraler Grund, warum diese Massenmorde möglich wurden, war der Gruppendruck.
Zwar drohten bei Verweigerung von Mordbefehlen keine harten Strafen – aber die Ausgrenzung aus dem Kameradschaftsverband. Es war schlicht leichter, mitzumorden als beiseite zu
stehen. Einen "Befehlsnotstand" gab es jedenfalls nicht und in den meisten Fällen nicht einmal einem fälschlich angenommenen Putativnotstand, denn es gab immer wieder Männer,
die sich verweigerten und höchstens versetzt, aber nicht bestraft wurden.
•
Entscheidend waren gruppendynamische Prozesse. Das macht es nicht besser, sondern
um so beunruhigender – denn solche psychologischen Phänomene können wieder auftreten und sind seit 1945 immer wieder aufgetreten. Die Völkermorde in Schwarzafrika,
keineswegs nur 1994 in Ruanda, oder die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren sind Beispiele dafür. Auch rund um Srebrenica lagen im
Juli 1995 mal 100, mal 500 und mal 1000 Leichen "beisammen", wie Himmler es formuliert hatte. Insgesamt zwar viel weniger als an den Tatorten der SS-Einsatzgruppen, doch für die Opfer machte das keinen Unterschied.
Das Milgram-Experiment
Das Milgram-Experiment ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in
direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen. Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ –
die eigentliche Versuchsperson – einem „Schüler“ (ein Schauspieler) bei Fehlern in der Zusammensetzung von Wortpaaren jeweils einen elektrischen Schlag versetzte. Ein Versuchsleiter (ebenso ein
Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem
Fehler erhöht werden. Diese Anordnung wurde in verschiedenen Variationen durchgeführt.
26 Personen gingen in diesem Fall bis zur maximalen Spannung von 450 Volt und nur 14 brachen
vorher ab.
Das Ergebnis des ersten Experimentes war derart überraschend, dass Milgram über zwanzig Varianten mit jeweils abweichenden Parametern durchführte. Auch andere Forscher führten Varianten durch.
In der ersten Versuchsreihe waren 65 Prozent der Versuchspersonen bereit, den „Schüler“ mit einem
elektrischen Schlag mit den maximalen 450 Volt zu „bestrafen“, allerdings empfanden viele einen
starken Gewissenskonflikt. Kein „Lehrer“ brach das Experiment ab, bevor die 300-Volt-Grenze erreicht war. In der vierten Versuchsanordnung, in der die Versuchspersonen den direkten Kontakt
zum „Schüler“ hatten, war die erreichte Volt-Stufe am niedrigsten.
Das Konformitätsexperiment von Asch
Das Konformitätsexperiment von Asch, 1951 von Solomon Asch veröffentlicht, ist eine Studienreihe, die zeigte, wie Gruppenzwang eine Person so zu beeinflussen vermag, dass sie eine offensichtlich falsche Aussage als richtig bewertet.
Eine Reihe von Personen saß an einem Konferenztisch. Der Versuchsperson, die diesen Raum betrat, wurde gesagt, es handle sich um andere freiwillige Teilnehmer an dem Experiment. In Wahrheit
waren jedoch alle Anwesenden außer der Versuchsperson Vertraute des Versuchsleiters.
Auf einem Bildschirm vor dieser Gruppe wurde eine Linie dargeboten. Neben dieser Referenzlinie
wurden drei weitere Linien eingeblendet und es war die Aufgabe der Personen, einzuschätzen, welche dieser drei Vergleichslinien gleich lang wie die Referenzlinie war. Bei jedem Durchgang war
eine der Linien deutlich erkennbar gleich lang wie die Referenzlinie.
In der Kontrollgruppe sollten die Vertrauten des Versuchsleiters ihre wahre Einschätzung in der Gruppe äußern, welche Linie die gleich lange sei. Erwartungsgemäß macht die Versuchsperson, die
mit den heimlich Vertrauten am Tisch sitzt, unter dieser Bedingung kaum Fehler (unter 1 %).
In der Experimentalgruppe fanden jeweils 18 Schätzungen statt. Während sechs dieser Durchgänge
waren die heimlichen Vertrauten instruiert, ein richtiges Urteil abzugeben (um glaubhaft zu erscheinen). Während der verbliebenen zwölf Durchgänge (zufällig unter die sechs richtigen gemischt) sollten die Vertrauten einstimmig ein falsches Urteil abgeben. Die Probanden passten sich bei etwa einem Drittel der Durchgänge trotz offensichtlicher Fehlentscheidung der Mehrheit an. Nur ein Viertel der Versuchspersonen ist unbeeinflusst geblieben, sie machten auch in den 12 manipulierten Durchgängen keinen Fehler.
Dieses Originalexperiment ist später in einer Vielzahl von Varianten repliziert worden.
Es ergab sich folgender Zusammenhang:
Je größer die Gruppe ist, desto mehr Konformität wird erzeugt.
Mit steigender Gruppengröße nähert sich die Konformitätsrate asymptotisch einer Geraden an. Wird
die Einstimmigkeit der heimlichen Vertrauten bei einem falschen Urteil aufgebrochen, da einer von
ihnen noch offensichtlicher falsch urteilt, begehen die Versuchspersonen deutlich weniger Fehler. In
diesem Fall scheinen sie sich zu trauen, ihre richtige Minderheitenmeinung zu äußern, da auch andere eine Minderheitenmeinung vertreten.
Zu einer ähnlichen Senkung der Konformitätsrate führt soziale Unterstützung:
Stimmt einer der Vertrauten der Versuchsperson zu, bestehen diese fast immer auf ihrer richtigen
Einschätzung.
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