Jeder nach seiner Facon – die Entwicklung der

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Jeder nach seiner Facon – die Entwicklung der religiösen Vielfalt in
und um Berlin
Religiöse Vielfalt ist in unserer Region keine Neuigkeit, genauso wenig wie in manchen der Regionen,
aus denen Sie hierhergekommen sind. Wenn wir etwa 300 Jahre zurückgehen und an einem
Sonntagmorgen in Potsdam, der damaligen Hauptstadt für Berlin und Brandenburg stehen würden,
dann würden wir dem damaligen preußischen König Friedrich Wilhelm I. begegnen.
Er wurde „Soldatenkönig“ genannt, weil er eine große Zahl von Soldaten aus vielen Ländern Europas
mit dem Versprechen hoher Löhne und der Möglichkeit, ihren Glauben entsprechend ihrer Religion
und Sprache ausüben zu können, hierher lockte.
So könnten wir an diesem Sonntag vor 300 Jahren französische evangelische Gläubige in
französischer Sprache ihre Gebete singen hören. Ein katholischer Priester würde die katholische
Liturgie in Deutsch, Ungarisch, Französisch, Polnisch und Portugiesisch singen. Ein russischorthodoxer Priester würde mit seiner Gemeinde aus russisch-orthodoxen Soldaten und ihren Familien
und einem russisch-orthodoxen Chor Gottesdienst feiern. Und wir würden muslimische Soldaten aus
einem Haus des Königs aus dem Koran rezitieren und miteinander beten hören. Nur die jüdischen
Gläubigen mussten ihr Gebet außerhalb der Stadt in einem Privathaus am See abhalten, weil sie
damals keinen Gottesdienst offiziell in einer Synagoge feiern durften, aber praktisch toleriert wurden.
Wenn wir nun in unsere Gegenwart zurückkehren, dann finden wir eine große Vielfalt von Religionen
in unserer Gegend, mehr als 300 verschiedene Glaubensgemeinschaften gibt es hier.
Die evangelische Kirche hat seit 1990 ein Drittel ihrer Mitglieder verloren, aber sie ist immer noch
die größte Glaubensgemeinschaft in Berlin mit 600000 Mitgliedern. Die katholische Kirche und die
muslimischen Gemeinden haben jeweils etwa 300000 Mitglieder. Die jüdische Gemeinde, die
aufgrund der Drohungen immer Polizeischutz vor der Türe haben, hat etwa 20000 Mitglieder.
Eine weitere große Gruppe sind die orthodoxen Kirchen und die Evangelischen Freikirchen, die
insgesamt etwa 200000 Mitglieder haben.
So gehören von den etwa 3 500 000 Bewohnerinnen und Bewohner Berlins etwa insgesamt 1 500
000 einer der drei abrahamitischen Religionen an. Außer ihnen verstehen sich aber noch viele andere,
wie Buddhisten, Aleviten, Bahais, Sikhs, Hindus als religiöse Menschen. Etwa 1 500 000 Menschen
gehören keiner Religion an, von ihnen haben jedoch in einer Umfrage im Jahr 2011 etwa 750 000
gesagt, dass sie wohl an eine höhere Macht glauben, aber sich nicht zu einer bestimmten Religion
zugehörig fühlen.
1.
Erste Phase der Pluralisierung: Von 1670 bis 1740
Es waren vor allem vier Gründe, die die preußischen Könige damals ermutigten, Menschen aus
anderen Religionen die Erlaubnis zu geben, nach Berlin zu kommen. Vorher waren hier lange
Jahrhunderte die germanischen Religionen vorherrschend, dann bis 1540 die römisch-katholische
Kirche und von 1540 bis 1670 gab es nur evangelische Kirchen.
– Der erste Grund war das Interesse an einer größeren Bevölkerungsanzahl: Nach dem 30-
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jährigen Krieg zwischen evangelischen und katholischen Gläubigen in Europa waren gerade
hier in der Gegend von Berlin mehr als die Hälfte der Bevölkerung gestorben und der König
brauchte Menschen, die hier leben und arbeiten.
Der zweite Grund war das Interesse an einer wirtschaftlichen Entwicklung: Der König wollte
belgische Spezialarbeiter für eine moderne Waffenproduktion und die französischen
Textilexperten für einen neuen Typ der Textilproduktion. Die französischen Hugenotten
stellten damals innerhalb kurzer Zeit ein Viertel der Bevölkerung Berlins.
Der dritte Grund, den ich schon erwähnte, war, dass der König eine große Zahl tapferer und
loyaler Soldaten wollte, um damit auch seine politische Macht immer weiter zu vergrößern.
Der vierte Grund, der oft mit Stolz erwähnt wird, ist das sogenannte Toleranzedikt von 1685,
in dem der Herrscher den in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgten Protestanten zusagte,
dass er sie aufgrund des gemeinsamen christlichen Glaubens als Schwestern und Brüder
willkommen heißen würde. Er versprach ihnen Land und Materialien, damit sie sich eigenen
Häuser, Schulen und Kirchen bauen konnten. Er befreite sie für einige Jahre von den Steuern
und gab ihnen Ämter und Verantwortung in seiner Regierung.
Wenn wir diese großzügigen Bedingungen für die französischen evangelischen Glaubensflüchtlinge
in Berlin zum Beispiel mit der Situation jüdischer Gläubiger zur damaligen Zeit vergleichen, sehen
wir, dass die 50 jüdischen Familien, die nach ihrer Vertreibung aus Berlin und Brandenburg etwa 100
Jahre vorher, jetzt 1670 wieder kommen durften, unter viel schwierigeren Bedingungen um ihr
Überleben kämpfen mussten. Sie mussten hohe Extrasteuern bezahlen, sie durften zunächst keine
Synagoge bauen, Sie hatten nicht die vollen Bürgerrechte und sie mussten für viele Dinge noch bis
ins 19. Jahrhundert Extragebühren bezahlen.
Jedoch wurde dann schließlich doch Anfang des 18. Jahrhunderts die erste größere jüdische
Gemeindesynagoge nach dem Vorbild der Amsterdamer Zentralsynagoge errichtet. Die erste größere
katholische Kirche nach der Reformationszeit, die bis heute bestehende Hedwigs Kathedrale, wurde
mit einem Kuppeldach gebaut statt mit 2 Türmen, wie die katholische Gemeinde es gewünscht hatte.
Der preußische König nahm sich dagegen das Pantheon für alle Götter in Rom als Architekturvorbild
für diese Kirche.
So sehen wir in dieser ersten Phase eine große Anzahl verschiedener Religionen und wir sehen, dass
demografische, militärische, ökonomische und religionsphilosophische Gründe dafür wichtig waren,
dass sich eine religiöse Vielfalt entwickelte. Ihr religiöser und rechtlicher Status war nicht gleich,
aber alle hatten das Recht und die Möglichkeit, ihren Glauben zu praktizieren. Und manche
preußische Könige waren sehr große Förderer und Unterstützer von religiöser Vielfalt.
2. Zweite Phase religiöser Vielfalt von 1848-1918
In dieser zweiten Phase der Entwicklung religiöser Vielfalt änderte sich die sozioökonomische
Situation grundlegend: In Berlin wurden große Industrieunternehmen wie Siemens oder AEG
gegründet und diese Fabriken benötigten Tausende von Arbeitern und sie benötigten Wohnungen für
diese Arbeiter, die erst noch gebaut werden mussten. Darüber hinaus wurde Berlin 1871 die
Hauptstadt des neuen deutschen Kaiserreichs und so kamen aus vielen Ländern Studierende,
Diplomaten, Geschäftsleute, Touristen und eben auch Arbeiter nach Berlin. Ein weiterer Grund für
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eine religiöse Öffnung war das Interesse, neue politische Verbündete aus Ländern mit einer anderen
Religion zu finden.
Ein sichtbarer Ausdruck der neuen Situation von großer Toleranz damals war der Bau der Neuen
Synagoge in der Oranienburger Straße. Ihre Einweihung 1866 war ein großes gesellschaftliches und
mediales Ereignis, weil sie mit vielen teuren Materialien und den neuesten technischen
Entwicklungen gemäß gebaut worden war. Ihr maurischer Architekturstil war damals große Mode
und erinnerte an die Zeit des guten Zusammenlebens der Religionen in Spanien. Außerdem gab es
damals eine innerjüdische Debatte, dass der gotische Kirchenbaustil nicht für Synagogen angewendet
werden sollte.
Für die große Anzahl neu nach Berlin kommender katholischer Menschen wurden einige große
katholische Kirchen gebaut. In den Kirchen, zu denen vor allem polnische Katholiken kamen, gab es
eine große Diskussion, ob in ihnen in polnischer oder in deutscher Sprache Gottesdienst gefeiert und
Gemeindearbeit gemacht werden sollte. Außerdem wurden auch neue russisch-orthodoxe Kirchen
gebaut, weil die preußische Herrscherfamilie enge familiäre Beziehungen zum russischen Zarenhaus
hatte. Darüber hinaus gab es auch viele Geschäftsleute, Studierende, Touristen aus Schweden, USA,
England zum Beispiel, die eigene Gemeinden in ihrer Sprache gründeten.
Der deutsche Kaiser pflegte auch eine besondere Freundschaft zum osmanischen Reich und sie
kämpften zusammen im 1. Weltkrieg. Die Idee des deutschen Kaisers war es, dass sie den Krieg
gewinnen könnten, wenn sie die Muslime in den englischen und französischen Kolonien zum
Aufstand gegen ihre Kolonialherren motivieren könnten. Dafür wurde auch in einem
Kriegsgefangenenlager nahe Berlin vor allem für die muslimischen Kriegsgefangenen aus den
französischen und englischen Kolonien eine Moschee gebaut, ein Imam angestellt und eine
muslimische Zeitschrift in sechs verschiedenen Sprachen finanziert.
Am meisten wuchs in dieser Zeit jedoch die jüdische Gemeinde in Berlin. Sie bauten 12 neue
Synagogen mit jeweils mehr als 2000 Sitzplätzen und darüber hinaus gab es noch 70 kleinere
Synagogen. Die meisten von ihnen wurden im Nationalsozialismus oder im 2. Weltkrieg zerstört und
viele der jüdischen Gläubigen wurden ermordet.
3. Dritte Phase von 1918-1945
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges und der Revolution wurden in Deutschland die Demokratie und
die Religionsfreiheit in der Verfassung garantiert.
Dies führte auch zu neuen religiösen Gebäuden in Berlin. So wurde im Norden Berlins ein
Buddhistisches Haus gebaut, im Westen Berlins eine bis heute bestehende Moschee der Ahmadiya,
weitere jüdische Synagogen und auch eine große russisch-orthodoxe Kirche.
Leider folgte auf diese Öffnung auch für die Religionen aus aller Welt und den interreligiösen Dialog
die Zerstörung jüdischer Gotteshäuser und die Ermordung jüdischer Gläubiger im
Nationalsozialismus von 1933-1945.
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4. Vierte Phase: 1945-1989
In den 4 Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg haben wir sehr unterschiedliche Entwicklungen auf der
West- und der Ostseite, die sich bis heute auswirken.
Ein interessanter Punkt ist, dass sowohl die Amerikaner als auch die Russen nach dem 2. Weltkrieg
den interreligiösen Dialog unterstützten, indem sie interreligiöse Vereinigungen wie die Arbeitsgemeinschaft für Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie die Jüdisch-christliche Gesellschaft
gründeten. Aus ihrer Sicht waren die Kirchen und Religionsgemeinschaften einige der wenigen
Organisationen, die mithelfen konnten, den nationalsozialistischen Geist zu überwinden und die
Menschen zur Mitarbeit in der neuen Gesellschaft zu motivieren.
Vor allem nach dem Mauerbau zwischen Ost und West 1961 kamen viele katholische, orthodoxe und
muslimische Arbeiterinnen und Arbeiter aus Südeuropa nach Berlin, um hier zu arbeiten. Am Anfang
dachten alle, es wäre nur für ein paar Jahre. So gründeten sie auch für ihre Gebete und Gottesdienste
zunächst in alten Fabrikhallen, in Hinterhof- und Ladenräumen eigene kleine Gemeinden und
Kulturvereine. Erst in den 1980er Jahren kam die Idee auf, eine schöne und größere neue Moschee
auf dem Türkischen Friedhof zu bauen, der schon lange bestand.
Auch die griechisch-orthodoxen Gläubigen bekamen schließlich eine eigene moderne orthodoxe
Kirche. Alle anderen orthodoxen Gemeinden waren lange zu Gast in evangelischen und katholischen
Gemeinden und übernahmen ab den 90er Jahren nicht mehr benötigte evangelische und katholische
Kirchengebäude. Für die katholischen Migrantinnen und Migranten wurden 16 Gemeinden in ihrer
Muttersprache. Sie übernahmen katholische Kirchen oder sich diese teilten sie sich mit deutschen
katholischen Gemeinden.
Infolge der geringen Zahl jüdischer Überlebender in Berlin, wurden zunächst nur wenige der
zerstörten Synagogen wieder aufgebaut bis 1989.
Im sozialistischen Ostteil Berlins und Deutschlands wollte die Regierung alle Religionen möglichst
aus den Köpfen der Menschen und aus dem Stadtbild vertreiben. So erlaubten sie nur ganz selten den
Bau neuer Kirchen und verweigerten auch den Bau einer Moschee, den der libysche Regierungschef
bei seinem Besuch 1978 für libysche Studierende in der DDR als Geschenk anbot.
5.
Fünfte Phase von 1990 bis 2017
Nach der Rückkehr der amerikanischen, englischen, französischen und russischen Besatzungstruppen
wurden aus deren Kirchengemeinden zivile Gemeinden.
Durch die Einwanderung vieler jüdischer Gläubiger aus Russland sind einige neue jüdische
Gemeinden gegründet worden. Allerdings kamen diese meist ohne Kenntnisse des Judentums und
mit eher konservativen Vorstellungen, so dass es zu Konflikten kam.
Durch die Zuwanderung vieler muslimischer Gläubiger aus den Kriegsgebieten im Mittleren Osten
und in Afrika wuchs die Zahl muslimischer Gläubiger und es wurden sechs neue repräsentative
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Moscheebauten errichtet, zum Teil ohne große Probleme, zum Teil nach heftigen Protesten.
Entscheidend für das Gelingen waren manchmal der Architekturstil, die Unterstützung durch die
Politik und die Verwaltung, die Organisation der Gläubigen und die Organisation der Unterstützer.
Daneben gibt es weiterhin etwa 90 kleine Moscheeräume vor allem in den Stadtteilen, in denen viele
muslimische Gläubige wohnen.
Wie nach 1919 wurden auch nach 1990 viele neue Gotteshäuser verschiedener Religionen gebaut
oder in bestehenden Bauten eingerichtet. So gibt es mehr als 60 buddhistische Zentren in Berlin, drei
größere Hindutempel, mehr als 10 orthodoxe Kirchen. Viele der mehr als 40 afrikanischen
Gemeinden feiern in evangelischen und katholischen Kirchen ihre Gottesdienste.
Auch die Zusammenarbeit der Religionen wird immer stärker. So sind mehr als 100 religiöse
Organisationen im Berliner Forum der Religionen organisiert und auch etwa so viele nehmen jährlich
an der Langen Nacht der Religionen teil, die es seit 2012 gibt. In manchen Gebäuden gibt es
gemeinsame Räume für die Religionen oder einen „Raum der Stille“ wie im Brandenburger Tor.
Gemeinsam wollen wir für die gegenseitige Verständigung, den Respekt, das Kennenlernen eintreten
und einen Beitrag leisten, dass wir in dieser Stadt friedlich zusammenleben können.
Zur Autorin:
Dr. Gerdi Nützel, Berlin 2017. Mein Büro und unser Veranstaltungsraum für die Arbeit mit
internationalen Studierenden befindet sich in der Borsigstr. 5, 10115 Berlin. Dort bin ich unter
http://www.esgberlin.de/notfonds erreichbar. Wenn Ihr zu den Veranstaltungen der internationalen
Studierenden über ihre Länder und entwicklungspolitische Themen eingeladen werden möchtet – und
diese Veranstaltungen sind für alle Interessierten offen – dann meldet Euch auf unserer Website
www.esgberlin unter Notfonds für den Newsletter an oder schaut selbst. Nächste Veranstaltung: 22.
November zu Marokko.
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