Karl-Fritz Daiber Religionsdefinitionen in ostasiatischen

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Karl-Fritz Daiber
Religionsdefinitionen
in ostasiatischen, vornehmlich konfuzianischen Kontexten
Überlegungen vor und nach der Tagung „GOTT ODER GESELLSCHAFT – Im
Spannungsfeld von Theologie und Soziologie“, Loccum, 2. – 4. September
2011
Für Gabriele Arndt-Sandrock und Gerhard Wegner
zum 4.September 2011
„Konfuzianische Kontexte“ meint konfuzianisch geprägte Gesellschaften, damit
politische Systeme, Systeme von Organisationen und alltagsweltliche
Interaktionszusammenhänge, die durch Traditionen des Konfuzianismus
geprägt, bzw. mitgeprägt sind.
Ich beschränke mich in diesem Zusammenhang auf die Volksrepublik China,
Vietnam und Südkorea und schließe konfuzianische Kontexte ein, die
chinesische Minderheiten entwickelt haben, hier speziell in Indonesien und den
Philippinen.
Meine Frage lautet: Wie wird in diesen Gesellschaften Religion verstanden? Es
geht mir also um Definitionen mit sozialer Bedeutsamkeit, zugleich um
Definitionen mit Machtcharakter. Ich setze voraus, dass der Vorgang des
Definierens im gesellschaftlichen Zusammenhang ein Machthandeln ist und
sich von daher verstehen lässt: Der gesellschaftliche Gebrauch des Begriffes
definiert ihn. Die Verwendung des Begriffs Religion erschließt seine Bedeutung.
Karl Popper vertritt die These, es gebe überhaupt nur Gebrauchsdefinitionen
(Karl R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund
von Manuskripten 1930 – 1933, 2. verbesserte Auflage, Tübingen 1994, 366f.,
zitiert nach Wikipedia: Definition, S. 4).
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Von daher interessieren mich die politischen Definitionen von Religion in
konfuzianischen Kontexten, die Definitionen im Rahmen der Selbstdarstellung
von konfuzianischen Organisationen, bzw. Selbstdarstellungen von Einzelnen
und Gruppen in alltagsweltlichen Zusammenhängen. Ich beschränke mich auf
ausgewählte Beispiele.
Die Darstellung umfasst vier Teile:
Religion und Glaube - die Unterscheidung in der UN-Menschrechtsdeklaration
und in der Verfassung Indonesiens,
Religion in konfuzianisch geprägten politischen Kontexten: Vietnam und China,
Religion im Verständnis
Südkorea,
konfuzianischer Organisationen: Indonesien und
Religion in der Lebenswelt einer katholisch- konfuzianischen Familie.
Religion und Glaube - die Unterscheidung in der UN-Menschrechtdeklaration
und in der Verfassung Indonesiens
Moderne Staatsverfassungen beziehen sich mit einiger Regelmäßigkeit
hinsichtlich ihres Grundverständnisses individueller Freiheiten auf die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, durch die Vereinten Nationen am
10. Dezember 1948 verabschiedet. Die mögliche Verwirklichung der
Menschenrechte legitimiert und begrenzt geradezu staatliches Handeln auf der
Ebene eines grundlegenden Wertekonsenses. Im Rahmen der Menschenrechte
formuliert die Resolution in Art. 18 das Recht der Religionsfreiheit:
„Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: dieses
Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung (religion or
belief) zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung
(religion or belief) allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder
privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“
Was ist in diesem Zusammenhang mit Religion gemeint? Und was mit dem
englischen Begriff „belief“, den die mir vorliegende zitierte deutsche
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Übersetzung (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Wikisource,
15.09.2011) einmal mit „Überzeugung“, dann mit „Weltanschauung widergibt?
Entsprechend der deutschen Übersetzung meint dies so etwas wie
„nichtreligiöse Daseinsdeutung“. Aber wann ist eine solche religiös und wann
nichtreligiös, wer und was entscheidet darüber? Zumindest muss bei denen,
die die Resolution formuliert haben, eine Vorstellung von Religion vorhanden
gewesen sein.
Es
ist
anzunehmen,
dass
der
Begriff
Religion
in
diesem
Entstehungszusammenhang durch das Ensemble der großen Religionen
abgedeckt war: Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus, nicht
immer aber doch immer wieder auch der Konfuzianismus. Es handelt sich
gewissermaßen um einen gängigen Religionsbegriff des politischen Systems,
unter anderem gefördert von Veranstaltungen wie den großen
Weltausstellungen, insbesondere der in Chicago 1893, wo ein erstes
Weltparlament der Religionen Vertreter von zehn Religionen zusammenführte:
Buddhisten, Jainas, Zoroastrier, Taoisten, Konfuzianer, Schintoisten, Juden,
Christen und Muslime (U. Tworuschka, 1893 – 1993: Weltparlament der
Religionen in Chicago – Chicago, 11. – 28. September 1893, RIG3/TworuChicago_1893, aktualisiert 03.12.08), nicht eingeladen waren Vertreter der
amerikanischen Urreligionen, der Bahai und der Spiritisten. So der einschlägige
englischsprachige Wikipedia-Artikel.
Das Religionsverständnis der politischen Akteure wird oft auch einfach nur
durch deren lebensweltliche Erfahrungen hervorgebracht. Für Helmut Schmidt
etwa füllt heute sich der Begriff Religion wesentlich durch das Christentum, den
Islam und das Judentum, durch und durch europäisch gedacht (Helmut Schmidt
2011, Religion in der Verantwortung, Berlin: Propyläen, an vielen Stellen der
Vorträge, etwa 199f.). Das weite Feld unsichtbarer Religion, vagierender
Religion, Bricolagereligion, fluider Religion, ja Zivilreligion oder politischer
Religion spielt in politischen Kontexten keine Rolle, allenfalls eine marginale
Rolle.
Was aber besagt nun die Unterscheidung von „religion“ und „belief“ in der
Erklärung der Menschenrechte speziell für Ostasien?
In der drei Jahre vor dieser Erklärung formulierten Verfassung des
unabhängigen Indonesien findet sich in der englischen Übersetzung die
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Unterscheidung von Religion und Glauben ebenfalls, möglicherweise das erste
Mal in einem Verfassungstext.
Zunächst spricht die Präambel davon, dass Indonesiens Unabhängigkeit sich
dem allmächtigen Gott verdankt und diese Unabhängigkeit im
Unabhängigkeitswillen des indonesischen Volkes grundgelegt ist.
Sie entfaltet sodann als Staatsgrundlage die fünf Prinzipien der sogenannten
Pancasila. Das Staatswesen Indonesiens ist begründet
on a belief in the One and Only God,
just and civilised humanity,
the unity of Indonesia,
and democratic life led by wisdom of thoughts in deliberation amongst
representatives of the people,
and achieving social justice for all the people of Indonesia.
(The 1945 Constitution of the Republic of Indonesia. As amended by the First
Amendment of 1999, the Second Amendment of 2000, the Third Amendment
of 2001 and the Fourth Amendment of 2002, Unofficial translation: www.usasean.org/Indonesia/constitution.htm-45k 31.07.2008. Kursivsetzung für
diejenigen Textteile, die in Englisch und Bahasa Indonesia vorgelegt sind.
Kursivsetzung durch KFD).
Der Gottesbezug realisiert sich dem Text folgend unterschiedlich, jedoch immer
in der Gestalt jeweils „eines Glaubens“ an den einen und einzigen Gott,
präzisierend muss man hinzufügen, wie er der muslimischen und christlichen
Tradition entspricht.
In Kapitel 9, Artikel 29 der Verfassung wird das Thema Religion und
Religionsfreiheit noch einmal aufgenommen. Dort ist formuliert:
(1) The State shall be based upon the belief in the One and Only God.
(2) The State guarantees all persons the freedom of worship, each according to
his/her own religion or belief
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(http://indonesia.ahrchk.net/news/mainfile.php/Constitution/22?print=yes
01.08.2008).
Während Absatz 1 die nichtislamische, aber religiöse Staatsgrundlage benennt,
formuliert Absatz 2 das Prinzip der Religionsfreiheit: Freiheit des
Gottesdienstes für jeden, seiner eigenen Religion oder seines eigenen Glaubens
entsprechend.
In den folgenden Jahrzehnten wurde der Begriff Religion zunächst dergestalt
definiert, dass er die staatlich anerkannten „Religionen“ meinte, den Islam als
Mehrheitsreligion, das katholische Christentum und als dritte Religion das
protestantische Christentum. Als vierte Religion kam der Buddhismus hinzu, als
fünfte der Hinduismus. Voraussetzung dafür, dass Buddhismus und Hinduismus
als Religionen gelten konnten, Religionen im Sinne der öffentlich anerkannten
Religionen, war ihre Umgestaltung in Richtung monotheistischer Religionen,
Religionen, deren Verehrung göttlicher Mächte sich auf einen „allmächtigen“
Gott hin gruppierte. Der Staat nahm demnach erheblichen Einfluss auf die
Religionsgestalten selbst. Seine Definition von Religion bildete das Leitbild der
Religionsentwicklung.
Mit Glauben wurden in der indonesischen Religionspolitik jene Formen der
Hinwendung zu göttlichen Mächten verstanden, die neben den anerkannten
Religionen bestanden. Dabei handelt es sich um die vielfältigen Formen der
ethnisch gebunden Volksreligion, um Sondergemeinschaften der islamischen
Tradition und in wachsendem Umfang um neue Glaubensbewegungen oder
neue spirituellen Gruppierungen. Sie werden in der Regel respektiert, eben als
„Glauben“, aber nicht öffentlich anerkannt.
Der Konfuzianismus hat sich in Indonesien seit Ende des 19. Jahrhunderts zu
einer organisierten Glaubensgemeinschaft entwickelt. Gottheit ist der
Himmelsgott, Konfuzius ist sein Prophet, siegreiche Helden werden als Heilige
verehrt. Nach und nach hat sich eine Priesterschaft herausgebildet, ein
konfuzianischer Schriftkanon wurde festgeschrieben, die Gemeinden als
Mitgliederorganisationen geführt. Dieser religiöse Konfuzianismus hatte damit
im Grunde alle Voraussetzungen, als Religion anerkannt zu werden. Dass ihm
zeitweise die Anerkennung versagt worden ist, hat wenig mit Religion zu tun,
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weit mehr mit antichinesischer Politik. Seit 2006 ist der Konfuzianismus wieder
Religion, nicht mehr allein Glaube.
Die indonesische Entwicklung ist meines Erachtens ein Lehrstück für das
Faktum politischer Religionsdefinition, auch ein Lehrstück für „Glauben“ als
„Gegenmodell zu „Religion“. Im asiatischen Kontext meinen die Begriffe, auch
der UN-Deklaration, etwas anderes als die deutsche Übersetzung von Artikel 18
anvisiert.
Religion in konfuzianisch geprägten politischen Kontexten: Vietnam, China
und Südkorea
Vietnam
Während das Religionsverständnis des indonesischen Staates zunächst nur
dargestellt worden ist, um die Anfänge der Unterscheidung von Religion und
Glauben in politischen Zusammenhängen zu konkretisieren, handelt es sich
jetzt, bei der Darstellung der Situation in Vietnam, um einen Staat, der
„konfuzianischen Kontext“ unmittelbar repräsentiert, weil Vietnam über eine
große konfuzianische Tradition verfügt. Dies erklärt sich aus jenen Phasen der
vietnamesischen Geschichte, während deren das Land chinesischer
Vasallenstaat war. Heute besteht die Tendenz zu einer scharfen Abgrenzung
zur Volksrepublik China bei einer erstaunlichen Vergleichbarkeit der politischen
Institutionen.
Das religiöse Feld, auf das sich die politischen Institutionen beziehen, ist in
Vietnam höchst plural. Um dem Rechnung zu tragen, sprechen die ins Englische
übersetzten offiziellen Dokumente von „belief and religion“ (und zwar seit
1999: Nguyen Minh Quang 2005, Religious Issues and Government Policies in
Vietnam, Ha Noi: The Gioi Publishers, 125f.). Öffentliche Glaubensäußerungen
dürfen zwar den Zielen des kommunistisch-sozialistischen Staates nicht
widersprechen, aber eine Abgrenzung gegenüber „feudalistischem
Aberglauben“, wie dies zum Teil in China noch der Fall ist, findet nicht mehr
statt. Im Gegenteil, die älteren traditionellen Glaubensformen sind unter der
Bedingung, dass sie im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften praktiziert
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werden, respektiert. Nguyen Minh Quang beschreibt “belief” and “religion”
folgendermaßen:
„Belief belongs to conscience, sentiments and thought. Religion covers a wider
range which includes both activity and organization“(126).
Mit dem Begriff “belief” sieht er den individuellen Charakter religiöser
Lebensäußerungen abgedeckt, mit dem Begriff der “religion” den ihrer sozialen
Entfaltung, speziell ihrer Organisierbarkeit.
Dass die Unterscheidung materialiter Unterschiedliches meint, geht aus der
Verordnung über „Glaube und Religion“ der Nationalversammlung hervor. In
ihrem Eingangsteil (1.3) werden eine Reihe grundlegender Definitionen
vorweggestellt:
„ ‚Belief-related activity‘ means an activity expressing respect for, and worship
of ancestors, remembrance and glorification of persons having rendered
meritorious services to the country and/or communities, worship of gods,
saints and traditional symbols and other activities related to folk belief,
symbolizing fine historical cultural values, and social ethics.”
“’Religious organization’ means a group of people who believe in one and the
same system of religious dogmas, canon laws and religious rites, which is
organized according to a given structure recognized by the State.” Daraus folgt:
“’Religious activity’ means the dissemination and practice of religious
doctrines, canon laws, religious rites, and organizational administration of
religion.”
Definiert werden schließlich die lokalen Einheiten der organisierten Religionen
als “grassroots religious organizations” und „religious associations“, Vereine
innerhalb der religiösen Organisationen (Nguyen Minh Quang 2005, 178f.).
Die Definitionen lassen erkennen, dass insbesondere der Katholizismus das
Modell einer religiösen Organisation abgibt, das dann in der Rechtsentwicklung
auch für die anderen „großen“ Religionen verbindlich gemacht wird,
„Beliefs“ sind dagegen soziale Glaubensformen, die in diesem Sinne nicht
organisierbar sind. Ihre Basis bilden eh schon vorhandene soziale Einheiten, vor
allem Familien, Verwandtschaften, Dorfgemeinschaften, nicht organisierte
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Kultteilnehmer oder Ethnien als Träger gemeinsamer religiöser
Überzeugungen, zum Teil dem Spektrum dessen zuzurechnen, was als Religion,
nicht als Glaube verstanden wird (Theravada-Buddhismus, protestantische
Minoritäten, teilweise auch der Caodaismus, eine Neureligion. als
Mehrheitsreligion in einzelnen Provinzen). Besonders hingewiesen wird in
diesem Zusammenhang auf die Ahnenverehrung und die Verehrung, auch
kultische Verehrung, großer Persönlichkeiten. Hier lässt sich der Konfuzius-Kult,
auch der Ho-Chi-Minh-Kult nahtlos einfügen. Insbesondere lassen sich die
animistischen und schamanistischen Traditionen des Landes, wie sie nicht
zuletzt in den Dörfern gepflegt werden, dem anerkannten und politisch
geschützten
religiösen
Feld
zuordnen.
Verglichen
mit
den
Verwaltungsvorschriften für Religion in der Volksrepublik China zeigt die
vietnamesische Lösung eine relativ hohe Flexibilität der Religionsdefinition.
Restriktiv ist allerdings, wie in China, die Notwendigkeit der Ausbildung
organisatorischer Strukturen durch die großen Religionsgemeinschaften
(Konfuzianische Transformationen, 170 – 174).
China
Die Volksrepublik China anerkennt fünf Religionen: Taoismus, Buddhismus,
Islam, Katholisches Christentum und Protestantisches Christentum, letztere
werden, wie etwa auch in Indonesien, Vietnam und Südkorea, als je
eigenständige Religionen verstanden.
Die Anerkennung setzt die Organisierbarkeit voraus. Die staatlich an erkannten
religiösen Organisationen haben sich seit der Gründung der Volksrepublik
herausgebildet. Katholisches und protestantisches Christentum verfügen über
zwei Organisationen. Um die in den anerkannten Religionen
zusammengeschlossen Einheiten (Kirchengemeinden, Tempelgemeinden,
Klöster, auch Schulen) liegt ein weites, unüberschaubares, mehr oder weniger
geduldetes Feld nicht anerkannter religiöser Gemeinschaften. Oberstes
staatliches Aufsichtsgremium ist das Nationale Büro für religiöse
Angelegenheiten. Die Partei verfügt parallel dazu über eine eigene Dienststelle
für Religion. Wissenschaftliche Untersuchungen zur Religion werden in der
Religionsabteilung der Akademie der Sozialwissenschaften durchgeführt, aber
auch im Nationalen Büro für religiöse Angelegenheiten wird theoretisch über
Religion nachgedacht. Ein Beispiel hierfür ist eine Analyse von Ye Xiaowen,
9
Direktor des Nationalen Büros für religiöse Angelegenheiten, die er 2001 in
Hongkong vorgetragen hat (Ye Xiaowen 2001: China’s Religious Retrospect and
Prospect: www.china.org.cn/english/features/45466.htm . Neuer Abruf
02.09.2011).
Folgt man Ye Xiaowen, so wurden in der sozialistischen Ära die religiösen
Gemeinschaften, die zuvor von der halbfeudalen und halbkolonialen
Gesellschaft geprägt waren, reformiert, und zwar zu gereinigten
Organisationen mit ausschließlich religiösen Zwecken, die als solche Funktionen
im Gesamt der sozialistischen Gesellschaft einnehmen konnten.
Hintergrundthese bleibt die marxistische Dechiffrierung von Religion als
Produkt der die Menschen deformierenden gesellschaftlichen Verhältnisse und
damit die Vorstellung von der Selbstauflösung von Religion mit der
fortschreitenden Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft. Solange die
Religion besteht, ist sie aber auch Gegenstand marxistischer Forschung, die sich
ihrerseits mit dem Theorierepertoire der westlichen Religionssoziologie
auseinandersetzt (Zhuo Xinping 2000, Das Verständnis von Religion im heutigen
China, Aktuelle China Nachrichten, Nr. 41, vom 01.03.2000, 1-9). Damit die
bestehende Religion funktional eingeordnet und kontrolliert werden kann,
werden die Organisationen der anerkannten Religionen gebildet. Sie
repräsentieren und vertreten „wirkliche Religiosität“.
Doch wie ist „wirkliche Religiosität“ näher zu bestimmen?
Eine erste Entscheidung, die allein schon durch den Begriff „Religion“ getroffen
wird, bezieht sich auf die Abgrenzung zwischen Religion und Nichtreligion.
Religion, im Chinesischen „zongjiao“, ist zunächst nur auf die buddhistische
Lehre angewandt worden und hat sich von dort aus, nicht zuletzt unter dem
Einfluss auch der Suche nach einer Übersetzung für den westlichen
Religionsbegriff, ausgeweitet (Zhuo Xinping 1988, Theorien über Religion im
heutigen China, Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang, 25-29). Jedenfalls sind Lehre
und Lehren, sowie Verehrung, wie sie im Ahnentempel geschieht, für die
chinesische Fassung des Begriffs konstitutiv. Sowohl von der Etymologie her
wie von den westlichen Einflüssen auf den sich bildenden Begriff aus entsteht
die Anwendung auf Phänomene institutioneller Religion, auf relativ klar
abgrenzbare Religionsgestalten. Von vorn herein schwer fassbar sind diffuse
Religionsausprägungen, etwa Religion aus dem Gesamtbereich der
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Volksreligion mit Familien- oder Ortsbezug. Zum Bereich der Nichtreligion
gehören also gerade traditionelle Formen chinesischen religiösen Lebens.
Nun gibt es auch Formen von institutioneller Religion und damit verbunden
praktizierter Religiosität, die mit dem Religionsbegriff jedenfalls erfasst werden
könnten, weil sie das Kriterium der Lehre und einer sich abzeichnenden
Organisationsbildung erfüllen. Im westlichen Sinne handelt es sich um Kulte,
Sekten, religiöse Bewegungen. Auf diese Phänomene wird in der Rechts- und
Verwaltungssprache der Begriff Religion nur zögerlich, wenn nicht sogar
überhaupt nicht angewandt. Sie gelten nicht als Religion, sondern als
Aberglaube. Bereits begrifflich wird also unterschieden: Religion meint
anerkannte Religion, normale Religion, richtige Religion und somit auch legale
Religion. Aberglaube meint illegale Religion, Nichtreligion. Und der Souverän
definiert, was als Religion und. als Nichtreligion zu gelten hat.
Charismatische Gemeinschaften, in denen etwa körperliche Heilungen als
Manifestationen religiöser Wirklichkeit verstanden werden, gelten als Gruppen,
die in nichtreligiöse Lebensbereiche eingreifen, deshalb für die Gesellschaft
gefährlich sind, und somit unter den Begriff falsche Religion, Aberglaube, fallen.
Diese Unterscheidung ist nicht neu in China, selbst nicht in der europäischen
Geschichte. Die Zuordnung zum einen oder anderen Bereich ist jedenfalls der
politische Akt eines Souveräns. Was Religion ist, wird politisch entschieden und
damit definiert.
Die Unterscheidung von Religion und Glauben innerhalb des religiösen Feldes
findet sich in China in religionspolitisch relevanten Texten nicht. Die harte
definitorische Trennung von Religion und Aberglaube wird im sich
pluralisierenden China wachsende Schwierigkeiten bereiten, dient aber der
politisch gewollten Beschränkung der Religionsrechte im Sinne der UNDeklaration,
bei
gleichzeitiger
verfassungsrechtlich
anerkannter
Religionsfreiheit. Das in der Öffentlichkeit bekannteste Beispiel einer neuen
religiösen Bewegung, die in China nicht anerkannt, vielmehr verfolgt wird, ist
die 1992 entstandene Gruppierung Falun Gong, nach offizieller chinesischer
Meinung Nichtreligion, schlechte Religion, böse Sekte, eben Aberglaube, auch
„häretische Sekte“ (so Kristin Kupfer 2008, in: König/Daiber (Hg.), 260 – 266.
Dort auch eine amtliche Definition von „religion“ und „superstition“, 263. Im
Blick auf Falun Gong kommt Thomas Heberer zur These, FG sei keine Religion,
11
sondern am besten mit den Begriffen Heilsgemeinschaft und Kult zu fassen,
Heberer 2008, in König/Daiber (Hg.), 289 – 281. Hier setzt sich das chinesische
Definitionsproblem europäisch gewendet fort).
Südkorea
Südkorea ist das wohl am stärksten konfuzianisch geprägte Land. Dies gilt in
erster Linie für lebensweltliche Prägungen. Religiös gesehen fällt die dominante
Stellung des Buddhismus und des katholischen und protestantischen
Christentums auf. Etwa die Hälfte der Südkoreaner gehört einer dieser
Religionen an. Die anderen sind nach ihrer eigenen Selbsteinschätzung nicht
religiös gebunden, faktisch sind sie es, die in Lebensauffassung und Sitte
konfuzianische Traditionen leben. Eine Minderheit verteilt sich auf kleine
religiöse Gruppierungen, insbesondere nationale Neureligionen und den
organisierten Konfuzianismus, dessen Mitgliederbestand auffallend gering ist.
Der Staat Südkorea ist im Sinne westlicher Traditionen auf die Trennung von
Staat und Religion bedacht.
Die Präambel der Verfassung enthält keinen Gottesbezug, wie etwa das
deutsche Grundgesetz, wohl aber einen Rückbezug auf die „glanzvolle“
Geschichte des Landes und seiner Traditionen, der Anfänge, die das
Erinnerungsmögliche übersteigen. Der Tangun-Mythos über die Entstehung des
koreanischen Volkes ist nicht explizit genannt, aber steht im Hintergrund der
Aussage, die so einen implizit zivilreligiösen Charakter gewinnt: Die Koreaner
sind göttlichen Geschlechts (F. Vos 1977, Religionen Koreas, Stuttgart:
Kohlhammer, 24 – 28).
An der Verfassung ist ein Zweites höchst bemerkenswert. Kapitel II formuliert
durchgängig Individualrechte des Bürgers, damit werden Formulierungen der
Präambel weitergeführt. Mit der grundlegenden Formulierung von
Individualrechten und Individualpflichten greift die koreanische Verfassung ein
westlich-nordamerikanisches Staatsverständnis auf. Kapitel II ist nicht aus
konfuzianischem Geist geboren, sondern im Anschluss an Prinzipien der
nordamerikanischen Staatsbildung und der Französischen Revolution
formuliert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind menschheitliche
Grundrechte, zu denen sich die Verfassung bekennt. Natürlich spielt die
12
Gemeinwohlpflichtigkeit eine Rolle, aber vor
Bekenntnisses zur Bedeutung des Einzelnen.
dem Hintergrund des
Innerhalb von Kapitel II formuliert Artikel 19 das Prinzip der Gewissensfreiheit,
und anschließend, damit auch verbunden, Artikel 20 das Prinzip der
Religionsfreiheit (Absatz 1). Religionsfreiheit ist Ausdruck der
Gewissensfreiheit. Dies ist am Phänomen individueller religiöser
Überzeugungen festgemacht, umschließt aber, so Interpreten der Verfassung,
das Recht der individuellen wie kollektiven Religionsausübung, sowie das Recht
der Bildung religiöser Organisationen (Ryu, Sijo, Limits on Secularism in Korean
Constitution: Im Internet zugängliche PDF-Datei von 2007, 5-6. Zum Grundrecht
der Religionsfreiheit auch Chongko Choi 1979, Staat und Religion in Korea, Diss.
Freiburg im Breisgau, 232 - 236).
Artikel 20 Absatz 2 schließt die Einrichtung einer Staatsreligion aus (vgl. USConstitution, Amendment 1) und legt im weiteren die Trennung von Staat und
Kirche fest, der Staat kann kein religiöser Staat, eine bestimmte Religion kann
nicht Staatsgrundlage sein. Organisierte Religionen handeln staatsunabhängig,
der Staat handelt nicht auf der Grundlage von Forderungen einer einzelnen
Religion, deren Vertretern er Autorität über das Staatshandeln zubilligt.
Wie in anderen Ländern so erweist sich auch in Korea in der Praxis die
Trennung von Staat und Religion als schwierig. Unbestritten ist, dass den
Religionen das Recht, im Konzert der politischen Meinungsbildung ihre Stimme
zu erheben, zugebilligt ist, unbestritten ist auch, dass die Religionsausübung an
die gesetzliche Rahmenordnung gebunden ist, unbestritten ist ebenso, dass der
Staat
religiöse
Organisationen
unterstützen
kann,
sofern
der
Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt wird, unbestritten ist deshalb, dass in
privaten Schulen, die vom Staat subventioniert sind, Religionsunterricht erteilt
werden kann, selbst wenn dies in öffentlichen Schulen verboten ist,
unbestritten ist, dass der Staat religiösen Rechtspersönlichkeiten
Steuerbefreiung gewähren kann, unbestritten ist, dass dort, wo staatliches
Handeln massiv in das Leben der Einzelnen eingreift und Freiheitsrechte
beschränkt werden, religiöser Glaube und seine Praxis nicht behindert werden
dürfen (Problem der Gefängnisseelsorge und der Militärseelsorge).
In Südkorea gehört das Weihnachtsfest und Buddhas Geburtstag zu den
öffentlich anerkannten Feiertagen. Die Verfassungsgemäßheit des
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Festkalenders wird damit begründet, dass beide Feiertage ihren spezifisch
religiösen Charakter verloren haben, heute zur koreanischen Kultur gehören,
wie Chusok, das Erntefest, und Neujahr nach dem Mondkalender, beides Feste,
die nach wie vor in hohem Maße konfuzianisch überformt sind.
Korea kennt im Gegensatz zu Deutschland keine verfassungsrechtlich
abgesicherte religiöse Organisationsbildung. Religionen können also einen
Status wie den der Körperschaft des öffentlichen Rechts des deutschen Rechts
nicht zuerkannt bekommen. Sie sind juristisch verstanden „nichtrechtsfähige
Vereine“ (Chongko Choi 1979, 239 – 242). Wollen Religionsgemeinschaften als
juristische Person anerkannt werden, müssen sie die Errichtung einer Stiftung
oder eines Vereins beantragen, und zwar in den 1970er Jahren beim Kulturund Informationsministerium, heute beim Ministerium für Kultur- und
Tourismus. Die Antragsstellung unterscheidet sich formell nicht von der
anderer nichtwirtschaftlicher, nichtkommerzieller Stiftungen oder Vereine. Die
Unterscheidung ergibt sich nur aus dem Vereins- bzw. Stiftungszweck, der im
Antrag genannt wird. Dieser entscheidet darüber, ob das Ministerium die
Gemeinschaft der Gattung „religiöse juristische Personen“ (Chongkyo Popin)
zuordnet. Sowohl in der Gestalt des Vereins wie in der der Stiftung sind
Religionen juristische Personen im privatrechtlichen Sinne, als solche aber
staatlich registriert und anerkannt. Die Anerkennungsfähigkeit beruht nach
Choi Chongko auf drei Kriterien:
1. Der Gründungszweck muss vernünftig und durchführbar sein.
2. Die Gründung muss finanziell gesichert sein.
3. Der Satzungszweck darf andere Stiftungen nicht gefährden (240).
Beschlüsse der Leitungsgremien der religiösen Vereine und Stiftungen werden
vom Ministerium überprüft. Sie können aufgehoben werden, wenn sie
allgemeinen staatlichen Vorschriften nicht entsprechen oder im Widerspruch
zu den Ordnungen der Gemeinschaft stehen.
Genehmigungspflichtig ist die Aufhebung der Stiftung, die Umwandlung des
Stiftungszwecks, die vorübergehende Verwendung von Finanzmitteln für
nichtstiftungsgemäße Zwecke und die Übertragung von Grundstücksvermögen
auf eine andere Stiftung (241f.).
14
In Korea ist die Mehrheit der religiösen Gemeinschaften nicht beim
Ministerium registriert. (Allein die Zahl der neuen Religionen wird von Choi
Chongko 1979 mit 214 angegeben (169).) In diesem Fall bleibt eine religiöse
Gemeinschaft nichtrechtsfähiger Verein. Mehrheitlich sind die Juristen der
Meinung, dass die Rechtsnormen, die für registrierte religiöse Gemeinschaften
gelten, auch für nichtrechtsfähige religiöse Vereine in Anwendung kommen
sollten (242).
In Südkorea besteht kein Religionsministerium. Das Amt für religiöse
Angelegenheiten ist eine Abteilung des Ministeriums für Kultur und Tourismus
innerhalb der Hauptabteilung II. Dieser Hauptabteilung ist auch das Büro für
Tourismus zugeordnet, mit einem speziellen Büro für Kunstpolitik. Die
Hauptabteilung I umfasst das Amt für Grundsatzfragen, das Amt für „Cultural
Industry“, das Büro für Sportfragen und das für Bibliotheksfragen (Byungchae
Yu, Korea’s Cultural Policy, Powerpoint Präsentation, 10. November 2007, im
Internet abrufbar).
Die Einordnung im Organisationsplan der nationalen Ministerien zeigt, dass
Religion als eine Kulturäußerung aufgefasst wird, die Kunst und Sport
vergleichbar ist, auch als Ausdruck des kulturellen Erbes des Landes verstanden
werden muss. Religion ist Teil der Freizeitgesellschaft, dient der Entwicklung
kultureller Identität. Das Thema Religion spielt in der zitierten Powerpoint
Präsentation des Ministeriums keine im Einzelnen entfaltete Rolle. Damit wird
unterstrichen, dass sich der südkoreanische Staat als säkularer Rechtsstaat
versteht, für den Religion politisch keine konstitutive Bedeutung hat. Staatliche
Vorgaben für religiöse Gemeinschaften sollen sich auf das Nötigste
beschränken. Eine amtliche Definition von Religion und Nichtreligion besteht
nicht. Die Anerkennung als religiöse Gemeinschaft vollzieht sich von Fall zu Fall.
Faktisch ist das Religionsverständnis vom Religionsverständnis des
Christentums und des Buddhismus geprägt. So bestehen etwa Vorbehalte
gegen die Anerkennung des Schamanismus, weil er über keinen Kanon und
keine Mitgliederorganisation verfügt. Im Rahmen dieses politischen Kontextes
agiert auch der organisierte Konfuzianismus.
Religion im Verständnis konfuzianischer Organisationen: Indonesien und
Südkorea
15
Im Folgenden geht es um Selbstdefinitionen konfuzianischer Gruppierungen in
Südkorea und Vietnam.
Die vorausgehenden Überlegungen haben zunächst deutlich gemacht, wie
Staaten ihre Definitionsmacht über Religion und Nichtreligion in Anspruch
nehmen und ausüben, und wie Gemeinschaften darauf antworten in
Anpassung an die staatlichen Vorgaben oder durch ihre Ablehnung. Beides
hängt auch vom jeweiligen Selbstverständnis der Gruppierung ab. Dies gilt
gerade auch für neue, sagen wir einmal spirituelle Bewegungen. Da Religion in
vielen modernen Gesellschaften als Sinngebungsinstanz umstritten ist,
orientiert man sich zuweilen lieber an philosophischen oder an
wissenschaftlichen Bezugssystemen, was diese im Einzelnen auch immer
darstellen mögen.
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert schwelt die Debatte darum, ob der
Konfuzianismus Philosophie oder Religion sei. Auslösung dieser Debatte war die
Einordnung der „Religion der Gelehrten“, so Matteo Ricci, als Nichtreligion. Der
mit dem Konfuzianismus verbundene Ahnenkult ist auf der Grundlage dieser
Einschätzung für Katholiken also durchaus erlaubt oder erlaubbar. Möglich war
diese Einschätzung, weil die Kultpraxis des Konfuzianismus, genauer der
Konfuziuskult, in China in den Staatskult integriert war, weil die Staatsbeamten
den Kult vollzogen, die Rolle eines konfuzianischen Priesters als eigenständige
Rolle nicht ausgebildet war. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
insbesondere seit dessen letztem Jahrzehnt, begannen sich Bemühungen zu
verdichten, den Konfuzianismus zu einer eigenständigen Institution
auszubilden, d.h. zu einer Religion mit Gemeindebildung, Priesterschaft und
Lehre. Dem konfuzianischen Denker und Politiker Kang Youwei (1858 – 1927)
(dazu: Konfuzianische Transformationen, 37 – 40) schwebte sogar vor, den
Konfuzianismus als Staatsreligion weiterzuentwickeln. Davon erhoffte er sich,
dass auch auf religiösem Gebiet der Anschluss Chinas an die Moderne gelingen
würde. Seine Anregungen fanden unterschiedliche Resonanz. Im kaiserlichen
und republikanischen China liefen alle Versuche ins Leere. Auch im
konfuzianischen Korea gelang die Umsetzung entsprechender Ansätze nicht,
allein unter den Chinesen in Indonesien begann sich mit einigem Erfolg der
religiöse Konfuzianismus als Organisation auszubilden, nicht allein nur unter
dem Einfluss von Kang Youwei.
16
Heute wird der Konfuzianismus, in Indonesien als Religion verstanden, von dem
Dachverband MATAKIN repräsentiert. Matakin meint: Hochrat für die
Konfuzianische Religion in Indonesien. Bereits der Name zeigt sie
Selbstdefinition als Religion. Ihre Strukturen orientieren sich deutlich am
Strukturmuster der christlichen Kirchen, der katholischen und der
protestantischen. Da im gesellschaftlichen Kontext die Religion hochrangige
Bedeutung hat, bedeutet der Anschluss an das öffentliche Religionssystem
einen Gewinn an sozialer Macht, damit an Einfluss durch öffentlichen
Anerkennung und Förderung.
In Korea, jetzt speziell in Südkorea, hatte sich der Konfuzianismus als
eigenständige Religion erst nach 1945 ausgebildet. Bis zum Ende des
koreanischen Kaiserreiches waren die konfuzianischen Zentren, die Akademien,
die über das ganze Land verteilt waren, staatliche Institutionen. Auch die
privaten Akademien waren staatlich gefördert. Akademien waren Lehrhäuser,
Ausbildungsstätten des Beamtenapparates und Träger des Konfuziuskults in
einem. Mit dem Ende des Kaiserreiches und dem Beginn der japanischen
Besatzung verloren diese konfuzianischen Institutionen ihre Funktion. Nach
dem Ende der japanischen Zeit entstand der Konfuzianismus als Organisation
neu. Ob es sich dabei um eine Religion handle, wurde kontrovers diskutiert und
ist unter den Konfuzianern bis heute umstritten, und dies obwohl der
konfuzianische Dachverband und seine angeschlossenen Organisationen als
religiöse Vereinigungen beim Staat registriert sind.
Der konfuzianische Dachverband trägt den Namen Sungkyunkwan. Dies war
ursprünglich der Name der Großen Staatsakademie in Seoul, die 1398
gegründet worden war. An ihr hatten die hohen Beamten studiert und ihre
Examen abgelegt. Ihr war der zentrale Konfuzius-Tempel zugeordnet. Er steht
noch heute. Ihm unmittelbar gegenüber liegt das Gebäude der zentralen
Verwaltung des konfuzianischen Verbandes sowie unmittelbar neben dem
Tempel die neue Sungkyunkwan Universität, die von Samsung finanziert wird.
Konfuzianische Studien sind dort möglich. Die Universität gehört nicht zum
Dachverband. Folgt man dessen Verfassung von 1995 umfasst der Verband drei
Unterorganisationen: die zentralen Institutionen des Verbandes, die spezielle
Sungkyunkwan Konfuzianische Kirche und die Sungkyunkwan-Stiftung. Kirche
meint die spezielle religiöse Organisation als wichtigsten Teil des Gesamt,
zugleich allerdings auch den Verband als Ganzen (Kap.1. Art 1). In dieser Form
17
besteht in Korea ein organisierter religiöser Konfuzianismus, der für sich den
englischen Begriff „church“ in Anspruch nimmt (Übersetzung von Chongko
Choi: Chongko Choi 2005 (Third printing 2007), Law and Justice in Korea –
South and North, Seoul: Seoul National University Press). Der so organisierte
Konfuzianismus ist Teil des Ensembles der registrierten koreanischen
Religionen (Konfuzianische Transformationen, 276 – 296).
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass diese Selbstdefinition unter den
Konfuzianern keineswegs unumstritten ist. Auf meinen verschiedenen Reisen
durch Korea habe ich relativ stereotyp auf meine Frage, ob denn der
Konfuzianismus Religion sei, die Antwort erhalten, der Konfuzianismus glaube
nicht an ein Leben nach dem Tod, darum sei er keine Religion. Für ihn gebe es
keine Transzendenz, kein Jenseits. Konstitutiv für Religion ist nach diesem
Verständnis der Bezug auf transzendente Wirklichkeit.
Man kann sich fragen, wie ein solches Selbstverständnis zustande kommt. Ich
vermute Folgendes: Angesichts des bis heute nicht abgeklungenen Vorwurfs
der Rückständigkeit des Konfuzianismus will man gerade durch seinen
nichtreligiösen Charakter seine Anschlussfähigkeit an die moderne
Wissenschaft herausstellen: Als Ethik ist der Konfuzianismus gerade als eine
Gestalt heute relevanter Sinngebung verstanden, wobei die dominante
europäische Rezeption des Konfuzianismus als Philosophie, speziell Ethik,
wesentliche Unterstützung leistet. Es ist nicht auszuschließen, dass die
staatliche Anerkennungspraxis zusätzliche Anreize bietet. Ihr liegt ja kein
definierter
Religionsbegriff
zugrunde,
die
Anerkennung
ist
organisationsspezifisch und lässt ein schwebendes Verhältnis zur Religion zu,
zumal hinter dem Konfuzianismus und seinen Ritualen eine lange Tradition
steht, die im Lebensalltag der Menschen vielfältig vital ist.
Religion in der Lebenswelt einer katholisch-konfuzianischen Familie: die
philippinische Familie Kuh
Definitoren von Religion sind nicht nur Staaten und religiöse Organisationen
selbst, sondern Einzelne, letzteres in wachsendem Umfang, Ausdruck auch
religiöser Individualisierung im ostasiatischen Kontext. Gegenstand meiner
Analyse ist eine Ausgabe der Analekten des Konfuzius, 1991 in Manila publiziert
18
(The Confucian Bible, Book 1, Analects 1991, ed. by John B. Khu (et al.) Metro
Manila: Granhill). Dabei handelt es sich keineswegs um eine einfache
Neuübersetzung, sondern die Ausgabe ist in mehrfacher Hinsicht ein
konfuzianisches Programm auf der Grundlage der eigenen Familiengeschichte
und der je eigenen Lebensentwürfe. Die Programmatik wird im Vorwort, in der
Einführung und in einem Epilog zum Ausdruck gebracht.
Die Analekten, Gespräche des Konfuzius, werden in Englisch und modernem
Chinesisch präsentiert. Die Herausgeber möchten den Text dadurch leichter
zugänglich und zitationsfähig machen, dass sie der Bibel folgend eine Einteilung
in Kapitel und Verse vornehmen und durch ein ausführliches Register weiter
erschließen. Das Register bietet in einem speziellen Teil die Möglichkeit, die
Lehraussagen des Konfuzius mit Texten des Christentums aus der Bibel zu
vergleichen. Die hohe Komptabilität wird vorausgesetzt.
Die Herausgeber (John B. Khu, Vicente B.K. Khu, William B.S. Khu und Jose B.K.
Khu) hatten geplant, neben den Analekten in ähnlicher Form auch drei weitere
Bücher des konfuzianischen Kanons (Das große Lernen, Maß und Mitte und
Menzius) herauszubringen. Dies ist bis heute nicht erfolgt. Ein Forscher von der
Forschungsabteilung im Chinesischen Museum Bahay Tsinoy in Manila wertete
dies als Hinweis darauf, dass das Projekt bislang erfolglos verlaufen sei.
Unabhängig davon ist die Khu-Initiative religionssoziogisch deshalb von
Interesse, weil sie Einblick gibt in den „Geist“ einer konfuzianisch geprägten
Familie philippinischer Chinesen.
Bemerkenswerterweise ist die „Confucian Bible“ das Projekt einer Familie.
Kinder, Schwiegerkinder und andere Familienmitglieder, inzwischen in
angesehen Berufen in einer ganzen Reihe von Ländern tätig, haben
mitgearbeitet. Gewidmet ist das Buch in liebendem Gedenken dem Vater und
dem Bruder. Die Mutter wird im Rahmen des Vorwortes mit einem kurzen
Hinweis gewürdigt. Wichtig ist für die Herausgeberschaft, dass niemand unter
ihnen Philosoph ist, sondern sie in technischen, ökonomischen und
medizinischen Berufen arbeiten. Es handelt sich demnach um konfuzianische
„Laien“. Damit gehört die Khu-Initiative
in einen weiteren, für den
gegenwärtigen organisierten Konfuzianismus relevanten Zusammenhang: er
wird vielfach von Nicht-Gelehrten im klassischen Sinn getragen. Das gilt für
19
Indonesien wie auch für Hongkong, wo Geschäftsleute die als religiöse
Organisation anerkannte „Akademie“ leiten.
Die Familie Khu ist ihrer Religionszugehörigkeit nach katholisch. Der Vater, in
Hongkong aufgewachsen, hat seine Kinder auf den Philippinen in katholische
Schulen geschickt. An den Wochenenden und in den Schulferien hatten sie
konfuzianische Texte zu studieren (John B. Khu a.o. (ed.) 1991, The Confucian
Bible. Book 1: Analects, Manila, Philippines: Granhill Corporation, hier: 8). Dies
war offenbar für katholische Chinesen problemlos möglich. Dafür wird die
jesuitische Tradition seit Matteo Ricci geltend gemacht, die in der „Religion der
Gelehrten“ und auch in der chinesischen Ahnenverehrung keine mit dem
katholischen Glauben konkurrierende Religion gesehen habe.
In der Einleitung gehen die Herausgeber explizit der Frage nach, ob der
Konfuzianismus eine Religion sei. Für sie zeigt der Konfuzianismus die drei
Essentials von Religion, nämlich Kult, grundlegende Texte und
Glaubensbekenntnis (12 – 19). Im Mittelpunkt steht der Mensch, der zum Edlen
gebildet werden kann. Von daher ist der Glaube im Gefolge von Konfuzius eine
humanistisch-diesseitige Religion, aber eben in dieser Ausrichtung auch wieder
Religion. Gerade die Analekten würden die spirituelle Dimension
konfuzianischen Selbst- und Weltverständnisses zeigen. Dazu werden eine
ganze Reihe von Passagen aus den Analekten angegeben (16f.). Die spirituelle
Dimension des Konfuzianismus, das ist nun charakteristisch, führe nicht zur
Gemeindebildung, durch die soziale Bedürfnisse religiös abgedeckt werden, der
Konfuzianismus sei vielmehr eine „höchst private Religion“ (15), die den
Einzelnen zur Arbeit an sich selbst nötige. In dieser Auffassung unterscheidet
sich der Konfuzianismus der Khus deutlich vom Anliegen und von der Praxis des
indonesischen religiösen Konfuzianismus, der gerade zur Gemeindebildung
geführt hat und damit auch zu Ordnungen gemeinsamer kultischer Zelebration.
Ist mit den Vorstellungen der Familie Khu der Konfuzianismus dort
angekommen, wo Ernst Troeltsch das neuzeitliche intellektuelle Christentum
stehen sah, bei einer religiösen Innerlichkeit oder Ernsthaftigkeit, die der
Sozialität nicht bedarf, die am ehesten mit der Mystik vergleichbar ist? Die Khus
formulieren ihren Entwurf knapp 100 Jahre nach Kang Youwei. In ihrer Position
deutet sich in Asien eine Verschiebung an, die in Europa weit ältere Anfänge
hat, die Verschiebung zum radikalen religiösen Individualismus. So bezeichnen
sie denn auch ihre konfuzianische Bibel als „non-theocentric code for
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concerned humans, namely, caring skeptics, considerate rationalists,
conscientious agnostics, sympathetic pragmatists, principled utilitarians,
disillusioned idealists, frustrated intellectuals and earnest administrators”
(Titelblatt und Vorwort, 11).
Diese Zielgruppen auf die Möglichkeiten des Konfuzianismus aufmerksam zu
machen, begründen die Herausgeber höchst pragmatisch mit dem
wirtschaftlichen Erfolg des konfuzianisch geprägten Ostasien, der Tigerstaaten
Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, aber auch Japans. Es sieht heute
ganz danach aus, dass auch die Volksrepublik China sich in diesem
Zusammenhang ihrer konfuzianischen Geschichte erinnert.
Abschließende Betrachtungen über den Nutzen von Religionsdefinitionen
Ich habe versucht, einige Zusammenhänge konfuzianischer politischer Kontexte
darzustellen, in denen der Religionsbegriff mit den Interessen staatlichen
Handelns verwoben ist, zugleich mit solchen, in denen der Begriff mit
Selbstexplikation zu tun hat, sei es organisatorischer, sei es individuellfamiliarer Selbstexplikation
Unter konfuzianischen Gelehrten ist es Brauch, in Diskussionen von Strittigem
dem Meister selbst das klärende Wort zuzuweisen. In den „Gesprächen“ sagt
Konfuzius:
„Eine Eckenschale ohne Ecken: was ist das für eine Eckenschale, was ist das für
eine Eckenschale!“
Der Schülerkommentar dazu lautet.
„Der Meister hielt sich darüber auf, dass ein Opfergefäß, das früher eckig war,
aber im Lauf der Zeit abgerundet hergestellt zu werden pflegte, noch immer
mit der alten Bezeichnung genannt wurde, die dem Wesen nun gar nicht mehr
entsprach: Ein Gleichnis für die Zustände der damaligen Zeit, die auch nichts
mehr mit den Einrichtungen der guten alten Zeit gemein hatten als den bloßen
Namen. Diese Begriffsverwirrungen waren nach Kung einer der schlimmsten
Übelstände, da ohne adäquate Begriffe der Mensch der Außenwelt hilflos und
machtlos gegenübersteht.“ (Kungfutse 1955/1989, Gespräche, Lun Yü, hg.v.
Richard Wilhelm, München: Eugen Diederichs Verlag, 79)
21
An anderer Stelle betont Konfuzius, die Richtigstellung der Begriffe sei die
Voraussetzung ordentlichen Regierens (a.a.O. 131). Klare Begriffsdefinitionen
schaffen Orientierungsklarheit. Sie zu ermöglichen ist Aufgabe des Edlen,
genauer des edlen Fürsten. Dabei geht es einerseits um Überschaubarkeit, aber
auch um die Klarheit der Definition als Klärung von Ansprüchen, etwa von
Ansprüchen, die das politische System an Religionen stellt.
Das Bild der eckigen Schale scheint aber noch eine andere Dimension
anzusprechen, nämlich die der notwendigen Adäquanz von Begriff und
wahrgenommener Wirklichkeit. Religion muss Religion sein und Nichtreligion
muss Nichtreligion sein. Die Begriffsdefinition kann nicht einfach arbiträr
erfolgen, sondern muss kommunikativ orientiert sein, Verständigung leisten.
Das Problem ist, dass über die Adäquanz von Begriff und wahrgenommer
Wirklichkeit oft nicht unstrittig entschieden werden kann. Dies ist letztlich nur
über die Entscheidung für Nominaldefinitionen möglich. Die Aussage lautet
dann: Religion soll im vorgesehenen Erkenntnis- und Handlungszusammenhang
heißen… Auch hierfür bestehen Grenzen: Die Darstellung unter einem
Allgemeinbegriff muss begründbar sein, etwa durch Beantwortung der Frage:
Warum kann Falun Gong als Religion bezeichnet werden, selbst wenn sie
politisch als „Böse Sekte“ eingestuft ist und ihrem Selbstverständnis nach allein
als eine Art Meditationstechnik gelten will? Eine entsprechende Frage kann
heute unschwer im Blick auf eine Vielzahl neuer Bewegungen gestellt werden.
Eine zweite Überlegung führt in den Bereich der Theologie hinein. Gemeint sind
die Versuche protestantischer Theologie, den christlichen Glauben als etwas zu
verstehen, das mit Religion nichts gemein hat, genauer, nichts gemein haben
darf. Religion ist schlicht Böse Religion, Ausdruck von Selbstmächtigkeit des
Menschen. Christlicher Glaube beruht dem gegenüber auf dem
Offenbarungshandeln des Dreieinigen Gottes. Er ist einmalig. Die Beschäftigung
mit den Religionen ist theologisch irrelevant. Damit ist auf Karl Barth
verwiesen, zumindest auf den jüngeren Barth und den Barth der ersten Bände
der Kirchlichen Dogmatik (Vor allem: K. Barth, Kirchliche Dogmatik I/2 (1937), 4.
Auflage 1984, § 17: Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion, 304 – 397.
Barth kann dort aber auch von der Kirche als „Stätte der wahren Religion“
sprechen). In meiner Studienzeit während der fünfziger Jahre in Tübingen war
der Begriff Religion unter Theologen ein Unwort. Es definierte Sachverhalte, die
gerade gegen den christlichen Offenbarungsglauben standen. Bedenkenswert
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ist in diesem Zusammenhang allein schon der Tatbestand, dass es ethisch
gesehen damit zum Prozess einer Entsolidarisierung mit der Welt der
Religionen kommt. Das Christentum tritt aus dem Gesamt der
Lebensäußerungen der Religionen gleichsam aus.
Die definitorische Unterscheidung von Christentum und Religion findet sich
auch in den Gefängnisbriefen von Dietrich Bonhoeffer, ab April 1944 (D.
Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gesamtausgabe 8. Band, München
1998: Kaiser, 401 – 408, Brief vom 30. April 1944). Angesichts der wachsenden
Säkularisierung hält Bonhoeffer einen Sonderweg des christlichen Glaubens für
möglich: religionsloses Christentum, Glaube im Gegensatz zu Religion. Auch
hier taucht das Begriffspaar Religion und Glaube noch einmal auf, völlig anders
verwendet als in der Religionspolitik in Ostasien.
Sowohl Barths wie Bonhoeffers Anliegen bleiben hinsichtlich ihrer Intentionen
verständlich. Die begriffliche Fassung ist indessen hoch problematisch, weil auf
diese Weise Kommunikation über den alltagssprachlich als Religion
bezeichneten Sachverhalt nicht zureichend leistbar ist. Die Begriffe erschließen
Wirklichkeit nicht mehr adäquat. So ist denn auch die Kirche
Religionsgemeinschaft geblieben und die Christliche Unterweisung
Religionsunterricht.
Runde Schalen sollte man runde Schalen nennen, und eckige eckige, meinte
Konfuzius. Jedenfalls ist das Definitionsproblem in der Wissenschaftssprache
der Theologie, der Kirchensprache wie in der Alltagssprache der
Christgläubigen kein Gegenstand der Analyse nur, keine religionssoziologische
Spielwiese nur, sondern theologische Aufgabe, zu der Religionssoziologie
geradezu drängen kann.
Nachbemerkung
Größere Teile dieses Aufsatzes basieren auf Untersuchungen, die ich an
anderer Stelle mit herausgegeben oder selbst durchgeführt habe:
Wiebke König und Karl-Fritz Daiber (Hg.) 2008, Religion und Politik in der
Volksrepublik China, Würzburg: Ergon
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Karl-Fritz Daiber 2010, Konfuzianische Transformationen – Eine religiöse
Tradition in der Moderne Indonesiens, der Philippinen, Vietnams und
Südkoreas, Berlin: LIT
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