Hadronenund Kernphysik Status und Perspektiven 2012 Inhalt Hadronen- und Kernphysik Status und Perspektiven 2012 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 3 Hadronen- und Kernphysik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 4 Quarks, Hadronen, Kerne – die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums . . . . . . . . . . . . . . Seite 8 Atomkerne – Bausteine unserer Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 12 Kerne und Sterne – die Entstehung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 14 Hadronen, Kerne und fundamentale Symmetrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 16 Hadronen – starke Verbindungen der Quarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 18 Kernmaterie unter extremen Bedingungen – von der „Ursuppe“ zu Neutronensternen . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 20 Beschleuniger – Großgeräte der Hadronen- und Kernphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 22 Instrumente der Hadronen- und Kernphysik – Hochtechnologie für Forschung und Anwendung . . . . . . . . . . Seite 24 FAIR – ein internationales Beschleunigerzentrum für die Grundlagenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 26 Methoden der Hadronen- und Kernphysik in Wissenschaft, Medizin und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 28 Ausbildung in der Hadronen- und Kernphysik Wissenschaftlicher Nachwuchs für Forschung und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 30 Vorwort Auf der Suche nach einer Erklärung dafür, “was die Welt im Innersten zusammenhält”, spielt die Hadronen- und Kernphysik eine zentrale Rolle. Unter Hadronen versteht man alle Teilchen die aus Quarks bestehen und durch die Starke Kraft gebunden sind, wie zum Beispiel die Kernbausteine Proton und Neutron. Die Starke Kraft ist neben der elektromagnetischen Kraft, der Schwachen Kraft und der Gravitation eine der vier Grundkräfte der Natur. Die Hadronen- und Kernphysik befasst sich also mit den fundamentalen Kräften zwischen den elementaren Bausteinen der Materie. Sie erforscht, wie sich Quarks und Gluonen zu Nukleonen zusammensetzen und wie diese sich wiederum zu Atomkernen vereinigen. In diesem Zusammenhang treten viele grundlegende Fragen auf: Warum existieren die Quarks nicht isoliert? Warum ist die Masse eines Nukleons um ein Vielfaches größer als die Masse seiner Bausteine? Wo liegen die Grenzen der Stabilität der Atomkerne? Ein wichtiges Forschungsgebiet innerhalb der Hadronen- und Kernphysik befasst sich mit der zentralen Bedeutung der Starken Kraft für die Entwicklung des Universums vom Urknall bis hin zur Entstehung der schwersten Elemente. Von entscheidender Bedeutung ist sie auch für die Struktur von Neutronensternen und die Dynamik von Supernova-Explosionen. Hadronen- und Kernphysiker suchen nach neuen Teilchen der Starken Wechselwirkung und erforschen die Rolle von fundamentalen Symmetrien in der Natur, wie der von Materie und Antimaterie. Die Hadronen- und Kernphysik erlebte in den letzten zwei Jahrzehnten eine Renaissance, die ganz wesentlich auf den Forschritten der Beschleuniger- und Experimentiertechnik sowie auf dem verstärkten Einsatz von Hochleistungsrechnern beruht. Dadurch wurden Präzision, Empfindlichkeit und Signifikanz der gewonnen Daten dramatisch verbessert. Dies hat auch dazu beigetragen, Querverbindungen zur Kosmologie, Astrophysik und Teilchenphysik herzustellen und zu vertiefen. Eine tragende Rolle spielt hierbei der hochqualifizierte naturwissenschaftlich-technische Nachwuchs, der seine Ausbildung im Rahmen der Grundlagenforschung erhält. Deutschland gehört zu den führenden Nationen in der Hadronen- und Kernphysik. Dies spiegelt sich in hervorragenden, zum Teil einzigartigen Forschungsanlagen wider, an denen Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker zusammenarbeiten. Das im Bau befindliche internationale Beschleunigerzentrum „Facility for Antiproton and Ion Research“ (FAIR) in Darmstadt wird weltweit eine Spitzenstellung in der Hadronen- und Kernphysikforschung einnehmen und zur Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandorts Deutschland beitragen. Im Jahre 2000 wurde auf Anregung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) das Komitee für Hadronen und Kerne (KHuK) als Interessensvertretung und Sprachrohr der Community gegründet. Dem KHuK gehören für eine Amtszeit von jeweils zwei Jahren zwölf Mitglieder an, die verschiedene Forschungsgebiete und Gremien repräsentieren. Eine zentrale Aufgabe des KHuK ist die Organisation eines kohärenten und konstruktiven Diskussionsprozesses zu Status und Perspektiven der Hadronen- und Kernphysik in Deutschland. Daraus ergeben sich Empfehlungen an die Politik hinsichtlich der zukünftigen Forschungs- und Förderungsschwerpunkte des Gebietes. Die vorliegende Broschüre dokumentiert die im Dezember 2010 verabschiedeten Empfehlungen zusammen mit einer allgemeinverständlichen Darstellung der Forschungsschwerpunkte und der grundlegenden Fragestellungen der Hadronen- und Kernphysik. Oktober 2011 Komitee für Hadronen und Kerne (KHuK) Die im Rahmen der Hadronen- und Kernphysikforschung entwickelten experimentellen Methoden finden eine breite Palette von Anwendungen in Medizin, Technik und anderen Wissenschaftsgebieten. Viele Entwicklungen in der Beschleuniger- und Detektortechnologie, Mikroelektronik und im „High Performance Computing“ erfolgen in enger Zusammenarbeit mit der Industrie und sorgen somit für einen unmittelbaren Technologietransfer von der Forschung zur Anwendung. Status und Perspektiven 2012 3 Hadronen- und Kernphysik in Deutschland Definition des Arbeitsgebietes Die Community Die Hadronen- und Kernphysik sucht nach einem grundlegenden und quantitativen Verständnis der Atomkerne und ihrer Bausteine, der Protonen und Neutronen. Letztere sind wie alle Hadronen aus Quarks und Gluonen aufgebaut, die als die elementaren Bausteine der Materie angesehen werden. Die deutsche Hadronen- und Kernphysik hat historisch eine der Führungsrollen in diesem Forschungsgebiet inne. Sie ist motiviert und wissenschaftlich optimal positioniert, auch in Zukunft eine zentrale Rolle zu spielen. Die Faszination, die von diesem Forschungsgebiet ausgeht, beruht auf der Vielzahl von Phänomenen, welche die Starke Kraft verursacht. Verblüffend ist zum Beispiel die große Vielfalt von stabilen und instabilen Atomkernen. Ebenso überraschend ist die Tatsache, dass sich Quarks und Gluonen offenbar nicht als freie Teilchen beobachten lassen, sondern im Innern der Hadronen eingeschlossen sind (Confinement). Eine der zentralen Aufgaben der Hadronenphysik besteht darin, die innere Struktur der Hadronen aufzuklären. Hierbei besteht eine enge Verzahnung zwischen Experimenten und theoretischen Beschreibungen mit dem gemeinsamen Ziel, die effektiven Eigenschaften der Hadronen aus den elementaren Eigenschaften der Quarks und Gluonen und ihrer Wechselwirkung abzuleiten. Die Kernphysik untersucht den Aufbau der Atomkerne. Diese werden vor allem im Innern von Sternen synthetisiert und bestimmen die Masse der sichtbaren Materie im Universum. Das detaillierte Studium der Kernkräfte führt zu Erkenntnissen über astrophysikalische Abläufe wie die Elementsynthese im Universum und die Struktur von Neutronensternen. Die Hadronen- und Kernphysik umfasst daher alle Aspekte stark wechselwirkender, zusammengesetzter Teilchensysteme. Mit den beschriebenen Schwerpunkten hat das Gebiet im letzten Jahrzehnt eine signifikante und faszinierende Neuorientierung erfahren. Dies spiegelt sich weltweit in neuen Forschungsprojekten und in dem Bau wirkungsvoller und von innovativen technischen Konzepten getragenen Beschleunigeranlagen wider. 4 Status und Perspektiven 2012 Hierzulande wird das Gebiet gegenwärtig von etwa 180 Professuren an mehr als 20 Hochschulen vertreten. Darüber hinaus bildet die Hadronen- und Kernphysik an neun außeruniversitären Forschungseinrichtungen entweder das Hauptforschungsgebiet oder einen wesentlichen Schwerpunkt. Den Wissenschaftlern stehen sowohl an den Universitäten als auch an den nationalen Forschungszentren hervorragende, zum Teil einzigartige Forschungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zusammen mit der Beteiligung an großen internationalen Projekten wie am CERN haben sie den Grundstein für die herausragende Rolle Deutschlands in der Hadronen- und Kernphysik gelegt. Damit verknüpft ist die an vorderster Front der Forschung wie auch vieler technischer Neuentwicklungen orientierte Ausbildung des wissenschaftlichtechnischen Nachwuchses. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ist zusammen mit den zuständigen Länderministerien der wesentliche Träger der Hadronen- und Kernphysik. Gemeinsam mit den Ländern finanziert das BMBF insbesondere die großen Beschleunigeranlagen und Großexperimente der Forschungszentren mit ihren in vielen Aspekten einmaligen Experimentiermöglichkeiten. Darüber hinaus vergeben die Verbundforschung des BMBF und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in erheblichem Umfang Projektmittel an wissenschaftliche Arbeitsgruppen sowie Fördermittel für universitäre Forschungsanlagen. Hadronen- und Kernphysik in Deutschland Das KHuK Zur Koordinierung der zukunftsweisenden Aktivitäten der Hadronen- und Kernphysik in Deutschland einerseits und zur effektiven Einbindung in die zukünftige internationale Forschungslandschaft andererseits hat das BMBF im Jahr 2000 das Komitee für Hadronen- und Kernphysik (KHuK) initiiert. Wenig später wurde das KHuK durch eine allgemeine Wahl innerhalb der Community konstituiert. Neben den acht gewählten Mitgliedern gehören dem KHuK vier Mitglieder kraft Amtes an, die Vertreter anderer für das Gebiet wichtiger nationaler (Verbundforschung des BMBF, DFG, Deutsche Physikalische Gesellschaft – DPG) und europäischer Gremien (Nuclear Physics European Collaboration Committee – NuPECC) sind. Die aktuelle Mitgliederliste findet sich am Ende dieses Abschnitts. Das KHuK hat es als eine der ersten und vordringlichsten Aufgaben den Status der Hadronen- und Kernphysik erhoben, daraufhin Perspektiven für die längerfristige Zukunft diskutiert und auf dieser Basis Empfehlungen für die künftige Entwicklung und Stärkung des Gebiets und der Community ausgesprochen. Die Empfehlungen des Komitees finden Eingang in die europäischen Strategiepapiere der Hadronen- und Kernphysik (zuletzt in den NuPECC Long Range Plan 2010: Perspectives of Nuclear Physics in Europe). Darüber hinaus berät das Komitee das BMBF bei förderpolitischen Entscheidungen. Liste der KHuK-Mitglieder 2010–2012: Gewählte Mitglieder: Mitglieder Kraft Amtes: Reinhard Beck James Ritman (Universität Bonn) (FZ Jülich/Universität Bochum) Vorsitzender BMBF-Gutachterausschuss und DFG-Fachkollegium Klaus Blaum (MPI Kernphysik Heidelberg) Carsten Greiner Jochen Wambach (Universität Frankfurt) (Technische Universität Darmstadt) Vertreter von NuPECC Matthias Lutz Johannes Wessels (GSI Darmstadt) (Universität Münster) Vorsitzender DPG-Fachverband Hadronen und Kerne Ulrich Ratzinger (Universität Frankfurt) James Ritman, stellv. Vorsitzender (FZ Jülich/Universität Bochum) Peter Senger, Vorsitzender (GSI Darmstadt/Universität Frankfurt) Thomas Stöhlker (GSI Darmstadt/Universität Jena) Status und Perspektiven 2012 5 Hadronen- und Kernphysik in Deutschland Empfehlungen des KHuK zur Hadronen- und Kernphysik Der wissenschaftliche Fortschritt der Grundlagenforschung wurde in der Vergangenheit und wird auch in Zukunft ganz wesentlich durch neue Experimentiermöglichkeiten vorangetrieben. Dies gilt insbesondere für die Hadronen- und Kernphysik, deren Erfolge auf innovativen technologischen Entwicklungen in den Bereichen Beschleuniger, Spektrometer, Detektoren und Datenverarbeitung basieren. Die Beantwortung der fundamentalen Fragen in der Hadronen- und Kernphysik – mit all ihren faszinierenden Implikationen für unser Verständnis der Materie auf der Erde, in Sternen bis hin zur Evolution des Universums – erfordert eine neue Generation von Beschleuniger- und Experimentieranlagen. Der theoretischen Kern- und Hadronenphysik kommt die wichtige Aufgabe zu, die wesentlichen Fragestellungen des Feldes zu erarbeiten sowie die Experimente zu begleiten und ihre Ergebnisse zu interpretieren. Eine entscheidende Voraussetzung für exzellente Forschung sind hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Ausbildung und berufliche Perspektive gewährleistet sein muss. Das KHuK empfiehlt mit höchster Priorität den vollständigen Ausbau der „Facility for Antiproton and Ion Research“ (FAIR). Das geplante Beschleunigerzentrum FAIR bietet weltweit einmalige Forschungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Hadronen- und Kernphysik. Mit über 2000 beteiligten Wissenschaftlern wird FAIR die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit stärken und wichtige Impulse für interdisziplinäre Forschung geben. Der Bau der FAIR-Startversion und der Beginn des Physikprogramms sind von höchster Dringlichkeit und müssen ohne weitere Verzögerungen in Angriff genommen werden. Das Ziel muss die zügige Verwirklichung der kompletten Anlage sein. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass während der Bauphase von FAIR die an den beteiligten Forschungsinstituten betriebene Spitzenforschung weitergeführt werden kann. Dies schließt eine ausgewogene Förderung der für FAIR relevanten Theorieaktivitäten ein. Das KHuK empfiehlt mit Nachdruck die Förderung existierender Experimentieranlagen zur Erforschung der Struktur der Materie und ihr Verhalten unter extremen Bedingungen. Die Erzeugung und Untersuchung von Materie mit bisher im Labor unerreichten Energiedichten ist das Ziel des Schwerionenprogramms am LHC. Diese Messungen haben ein hohes Entdeckungspotenzial und erfordern kontinuierliche finanzielle Zuwendungen. Ebenfalls muss der Betrieb der mit signifikanter deutscher Beteiligung am CERN aufgebauten Experimente zur Kern- und Hadronenphysik finanziell unterstützt werden. 6 Status und Perspektiven 2012 International beachtete Präzisionsexperimente mit elektromagnetischen Sonden verbinden sich in idealer Weise mit theoretischen Untersuchungen zur Struktur und Spektroskopie von Hadronen und Kernen. Eine gesicherte Finanzierung dieser Forschung ist dringend erforderlich. Sie ist die Basis für ein quantitatives Verständnis der starken Wechselwirkung und bildet die Grundlage für Untersuchungen zur Realisierbarkeit einer zukünftigen Elektronenmaschine. Das KHuK empfiehlt dringend eine Initiative zur Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die zukünftige Rolle Deutschlands als Technologie- und Wissenschaftsstandort – mit den daraus resultierenden Folgen für die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft – hängt entscheidend von den Investitionen in den Bildungs- und Forschungssektor ab. Die Hadronen- und Kernphysik bietet ideale Bedingungen für eine exzellente Ausbildung, wobei insbesondere die universitären Forschungsinstitute eine sehr wichtige Rolle spielen. Der Erfolg von Forschungsanlagen wie FAIR beruht wesentlich auf dem Engagement hoch motivierter und hoch qualifizierter Nachwuchskräfte. Das KHuK sieht mit großer Sorge, dass dem wissenschaftlichen und technischen Nachwuchs in Deutschland aufgrund der Stellenknappheit an Universitäten und Forschungszentren keine berufliche Perspektive geboten werden kann. Das KHuK empfiehlt daher dringend eine bundesweite Initiative mit dem Ziel, hochtechnologische Spitzenforschung personell abzusichern. Hadronen- und Kernphysik in Deutschland Großgeräte der Hadronen- und Kernphysik in Deutschland: COSY, Cooler Synchrotron Polarisierte, gekühlte Protonen- und Deuteronenstrahlen Forschungszentrum Jülich http://www2.fz-juelich.de/ikp/cosy/de Universitäten mit Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Hadronen– und Kernphysik: ELBE, Supraleitender Elektronen-Linearbschleuniger Helmholtzzentrum Dresden-Rossendorf http://www.hzdr.de • Berlin • Bielefeld • Bochum • Bonn • Darmstadt • Dresden ELSA, Elektronen-Stretcher-Anlage Polarisierte Elektronen- und Photonenstrahlen Universität Bonn http://www-elsa.physik.uni-bonn.de • Erlangen • Frankfurt • Freiburg • Giessen • Greifswald • Heidelberg (U + MPI) • Jena • Karlsruhe IT FRM-II, Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz Neutronenstrahlen Technische Universität München http://www.frm2.tum.de • Köln • Mainz • München LMU • München TU • Münster • Regensburg • Rostock • Tübingen GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung, Darmstadt: UNILAC: Universal Linear Accelerator SIS: Schwerionen-Synchrotron ESR: Experimentier-Speicherring Gekühlte Ionenstrahlen aller Elemente bis Uran, radioaktive Sekundärstrahlen, Pionenstrahlen http://www.gsi.de • Wuppertal MAMI, Mainz Mikrotron Polarisierte Elektronen- und Photonenstrahlen Universität Mainz http://www.kph.uni-mainz.de S-Dalinac, Superconducting Darmstadt Linac Accelerator Elektronen- und Photonenstrahlen Technische Universität Darmstadt http://www.ikp.tu-darmstadt.de TRIGA Mark II, Forschungsreaktor mit Pulsfunktion Gepulste Neutronenstrahlen Universität Mainz http://www.kernchemie.uni-mainz.de/234.php Internationale Großexperimente mit signifikanter deutscher Beteiligung: ALICE, A Large Ion Collider Experiment Stark wechselwirkende Materie unter extremen Eigenschaften (Quark-Gluon-Plasma) CERN-LHC http://aliceinfo.cern.ch COMPASS, Common Muon and Proton Apparatus for Structure and Spectroscopy Struktur und Spektroskopie von Hadronen CERN-SPS http://wwwcompass.cern.ch ISOLDE Radioaktive Strahlen CERN http://www.cern.ch/isolde Status und Perspektiven 2012 7 Quarks, Hadronen, Kerne – die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums Der Aufbau der Materie Die uns bekannte normale Materie, aus der alle Sterne und Planeten und wir Menschen bestehen, ist aus nur drei Teilchenarten aufgebaut: den positiv geladenen Protonen, den elektrisch neutralen Neutronen und den negativ geladenen Elektronen. Seit etwa 30 Jahren wissen wir dass die Protonen und Neutronen, auch Nukleonen genannt, selbst wiederum eine innere Struktur besitzen und aus elementaren Teilchen, den Quarks, zusammengesetzt sind. Die Nukleonen sind die Bausteine der Atomkerne, in denen fast die gesamte Masse der Materie konzentriert ist. Die Elektronen bilden die Atomhülle und sind verantwortlich für die chemische Bindung und die daraus resultierenden komplexen Strukturen der lebenden wie leblosen Materie. Diese Materie erweist sich als Hierarchie unterschiedlich zusammengesetzter Systeme, die in ihren Dimensionen fast 40 Größenordnungen überspannen: von Galaxien über die Dinge unserer täglichen Umgebung bis hin zu den elementaren Bausteinen, den Quarks und Elektronen (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Aufbau der Materie 8 Status und Perspektiven 2012 In den verschiedenen Hierarchien der Materie bewirken unterschiedliche Bindungskräfte den Zusammenhalt des jeweiligen Systems. Während im Makrokosmos die Gravitation dominiert, ist im Bereich der Atome die elektromagnetische Anziehung zwischen den negativen Elektronen und den positiven Atomkernen die stabilisierende Kraft. Die Atomkerne wiederum werden durch die so genannte Starke Kraft zusammengehalten, die zwischen den Nukleonen wirkt, aber auch zwischen den Quarks im Nukleon. Es gibt eine weitere fundamentale Kraft, die so genannte Schwache Wechselwirkung. Diese bewirkt den radioaktiven Betazerfall der Atomkerne und ermöglicht die Kernfusion als Energiequelle der Sterne und damit auch unserer Sonne. Wir sind heute noch weit davon entfernt, die komplexen Eigenschaften der Materie und ihre vielfältigen Erscheinungsformen beschreiben zu können. Ein Grund liegt darin, dass wir die Kräfte und die ihnen innewohnenden Symmetrien noch zu wenig verstehen. Dies gilt insbesondere für die Starke Kraft, die uns noch viele Rätsel aufgibt. Die Starke Kraft zwischen den Quarks wird durch so genannte Gluonen vermittelt. Quarks und Gluonen gehen eine extrem starke Wechselwirkung miteinander ein, und das hat erstaunliche Konsequenzen. Je größer der Abstand zwischen den Quarks ist, desto stärker wird die Kraft zwischen ihnen, so dass sie untrennbar verbunden sind. Quarks treten niemals isoliert auf. Im Innern der Nukleonen sind sie als Dreiergruppen gefangen (Physiker sprechen von Confinement). Die Gluonen sind masselos. Aber auch die Masse der Quarks trägt nur weniger als zwei Prozent zur Nukleonenmasse bei. Erstaunlicherweise steckt der größte Teil der Masse der Nukleonen und damit der Atomkerne und der Materie insgesamt in der Bewegungsenergie der Quarks und in der Energie des Gluonenfeldes das die Quarks zusammenhält. In der kosmischen Strahlung und in Laborexperimenten mit Beschleunigern wurden weitere – allerdings sehr kurzlebige – Teilchen entdeckt, die entweder aus drei schweren Quarks oder aus Quark-Antiquark-Paaren aufgebaut sind. Heute kennt man sechs verschiedene Quarkfamilien, die sich sehr stark in ihrer Masse unterscheiden. Die leichten Quarks – aus denen die Nukleonen bestehen – besitzen eine Masse von nur etwa 1% eines Nukleons, während das schwerste Quark fast die 200-fache Masse eines Nukleons hat. Alle aus Quarks bzw. Quarks und Antiquarks zusammengesetzten Teilchen werden als Hadronen bezeichnet. Quarks, Hadronen, Kerne – die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums Die Entwicklung des Universums Nach unserem heutigen Verständnis bestand das heiße Universum kurz nach dem Urknall aus Elementarteilchen wie Quarks und Antiquarks, Gluonen, Elektronen und Photonen (Abbildung 2). Das Universum expandierte und kühlte sich ab, sodass bereits etwa eine Millionstel Sekunde nach dem Urknall die Quarks und Gluonen zu Nukleonen verschmolzen: Es fand ein Phasenübergang statt, ähnlich der Kondensation von Dampf zu Wasser. Ein noch ungelöstes Rätsel ist, warum sich die im Urknall zu gleichen Teilen erzeugte Materie und Antimaterie nicht vollständig wieder vernichtet hat und ein kleiner Rest Materie übrig geblieben ist. Etwa drei Minuten nach dem Urknall war die Temperatur so weit gesunken, dass sich Protonen und Neutronen zu leichten Kernen vereinigten, die später Elektronen einfingen und elektrisch neutrale Atome bildeten. Nach einigen hundert Millionen Jahren ballten sich die aus leichten Atomen bestehenden gewaltigen Gaswolken unter dem Einfluss der Gravitation zusammen und formten die ersten Sterne. Im Zentrum der Sterne setzten nukleare Fusionsprozesse ein, in denen schwerere Atomkerne gebildet und große Energiemengen freigesetzt wurden, wie heute in unserer Sonne. Die schwersten Elemente wurden durch Kernreaktionen in gewaltigen Supernova-Explosionen sehr massereicher Sterne gebildet und ins Weltall geschleudert. Überreste dieser katastrophalen Ereignisse sind entweder Neutronensterne oder Schwarze Löcher. Die Hadronen- und Kernphysikforschung hat wesentlich zu unserem heutigen Wissen über die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums beigetragen. Dennoch sind wichtige Fragen noch ungeklärt. Sie werden im Folgenden angerissen. Fragestellungen der modernen Hadronen- und Kernphysik Schwerpunkt der Hadronenphysik ist die Erforschung der inneren Struktur der Hadronen (Nukleonen) und der zwischen ihnen wirkenden Kräfte. Die Kernphysik untersucht wie sich Nukleonen wiederum zu Atomkernen verbinden und welche Eigenschaften diese besitzen. Ein gemeinsames Ziel der Hadronen- und Kernphysik ist es zu verstehen, wie die effektive Wechselwirkung zwischen den Nukleonen im Kern einerseits mit der Starken Kraft zwischen Quarks und Gluonen andererseits zusammenhängt. In den Bereich der Hadronen- und Kernphysik fällt auch die Untersuchung der Eigenschaften von stark wechselwirkender Materie unter extremen Bedingungen. Ein wichtiger Fragenkomplex betrifft die Quark-Gluon-Struktur der Hadronen und die damit verbundene Frage, warum Hadronen so viel schwerer sind als ihre Bestandteile. Eine in der Teilchenphysik einzigartige Eigenschaft ist die „Gefangenschaft“ der Quarks (Confinement) im Innern der Nukleonen. Daraus ergibt sich die Frage, warum sich keine isolierten Quarks beobachten lassen? Gibt es vielleicht exotische Hadronen, die aus mehr als drei Quarks oder nur aus Gluonen bestehen? Interessant ist auch die Frage, wie Quarks und Gluonen zum Eigendrehimpuls des Protons beitragen. Von fundamentaler physikalischer und kosmologischer Bedeutung ist der eingangs erwähnte Phasenübergang im frühen Universum, als Quarks und Gluonen zu Nukleonen kondensierten. (Abbildung 2). Kurz nach dem Urknall existierte die Materie vermutlich als sehr heißes Quark-Gluon-Plasma, in dem das Confinement aufgehoben war und Quarks fast keine Masse besaßen. Eine heutige zentrale Fragestellung ist: Lässt sich ein solches Plasma im Labor herstellen und untersuchen? Welche Eigenschaften hat diese Form stark wechselwirkender Materie? Kann man einen Phasenübergang ähnlich dem im frühen Universum auch in Kollisionen schwerer Atomkerne beobachten? Gibt es vielleicht sogar noch weitere exotische Phasen von Kernmaterie? Abbildung 2: Die Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute. Die räumliche Expansion des Universums ging einher mit einer Abkühlung und einer zunehmenden Strukturbildung. Status und Perspektiven 2012 9 Quarks, Hadronen, Kerne – die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums Die Vielfalt der Atomkerne entsteht noch heute durch Kernreaktionen im Innern von Sternen oder in Sternexplosionen (Supernovae). Welche Kernreaktionen an dieser Nukleosynthese beteiligt sind und welche Rolle die instabilen Kerne dabei spielen, ist Gegenstand aktueller Forschung. Eine ungeklärte Frage in diesem Zusammenhang ist, wo die Grenze der Stabilität für Atomkerne liegt, und ob es auch superschwere Elemente gibt. Wenn ein massereicher Stern am Ende seines Lebens als Supernova explodiert, bleibt häufig ein extrem kompakter Neutronenstern übrig. Der zeitliche Ablauf einer Supernova und die inneren Eigenschaften des entstehenden Neutronensterns hängen vom Verhalten der Kernmaterie in Abhängigkeit von Druck und Temperatur ab. Physiker sprechen hier von der nuklearen Zustandsgleichung. Die Eigenschaften hoch komprimierter Kernmaterie, wie sie im Zentrum von Neutronensternen vorkommt, sind noch weitgehend unbekannt. Die nukleare Zustandsgleichung definiert auch die Eigenschaften der heißen Kernmaterie kurz nach dem Urknall. Wie beeinflusste diese die Entwicklung des Universums, und wie entstanden aus nahezu masselosen Quarks die massiven Nukleonen? Ein wichtiges Ziel ist auch die Erklärung von Symmetrieverletzungen. Eine fundamentale und noch unverstandene Symmetrieverletzung ist die Ursache unserer Existenz: Warum haben sich nach dem Urknall Materie und Antimaterie nicht vollständig vernichtet? Die hochpräzise Messung von Symmetrieverletzungen ist ein vielversprechender Ansatz zur Suche nach neuen physikalischen Gesetzmäßigkeiten jenseits des Standardmodels der Teilchenphysik. Hadronen und Kerne bieten als „Mikrolaboratorien“, die von äußeren Einflüssen weitgehend ungestört sind, die einzigartige Möglichkeit solche Präzisionsmessungen durchzuführen. All diese Fragenstellungen werden in Experimenten an Teilchenbeschleunigern des CERN, an der GSI, am FZ Jülich und an verschiedenen Universitäten mit Elektronen, Protonen, Antiprotonen oder Schwerionen untersucht. Wissenschaftlicher Fortschritt erfordert neben neuen experimentellen Ergebnissen auch neue theoretische Erkenntnisse, die zunehmend mithilfe modernster Computertechnologie gewonnen werden. Neben den existierenden Forschungseinrichtungen wird vor allem die zukünftige Anlage FAIR mit ihrer breiten Palette an intensiven Teilchenstrahlen, neuartigen Experimentiereinrichtungen und einem energieeffizienten Hochleistungs-Rechenzentrum neue exzellente Forschungsmöglichkeiten auch auf dem Gebiet der Hadronen- und Kernphysik bieten. Die im Rahmen von FAIR in vielen Bereichen entwickelte Hochtechnologie bildet die Grundlage für zukünftige Spitzenforschung und für Anwendungen in Industrie und Technik. 10 Status und Perspektiven 2012 Quarks, Hadronen, Kerne – die Struktur der Materie und die Entwicklung des Universums Status und Perspektiven 2012 11 Atomkerne – Bausteine unserer Welt Die Starke Kraft bindet die Quarks zu Protonen und Neutronen, und fügt diese Nukleonen zu Atomkernen zusammen. Im Zusammenspiel mit der elektromagnetischen und der Schwachen Kraft bestimmt sie die Anzahl der möglichen Kernarten. Sie legt auch fest, wie viele Protonen- und Neutronen in einem Kern vereint sein können und wie viele Protonen er maximal enthalten kann. Diese Zahl, auch Kernladungszahl genannt, definiert das jeweilige chemische Element. Darüber hinaus bestimmen diese Kräfte die detaillierte Struktur der Kerne. Dazu zählen Eigenschaften wie Masse und Stabilität gegenüber radioaktivem Zerfall oder Lebensdauer. Sie legen auch fest, auf welche Weise die Atomkerne kurz nach dem Urknall oder später im Innern der Sterne gebildet wurden. Insofern ist die Struktur der Kerne ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der uns umgebenden Materie, insbesondere der natürlich vorkommenden chemischen Elemente und Isotope, aus denen alle uns umgebenden Materialien und auch wir Menschen bestehen. Auf der Erde finden wir 92 chemische Elemente und etwa 300 verschiedene stabile Atomkerne. Darüber hinaus hat man in Laborversuchen und an Teilchenbeschleunigern mehr als 2500 weitere instabile Kerne synthetisiert und untersucht. Vermutlich kann es insgesamt mehr als 6000 verschiedene Isotope geben, die überwiegend instabil sind. In der Nuklidkarte (Seite 15, Abbildung 1) sind alle Kerne, geordnet nach der Zahl der Protonen und Neutronen, aufgetragen. Die schwarzen Symbole zeigen die wohlbekannten stabilen Kerne, die gelben die bereits synthetisierten instabilen Kerne, von denen zumindest einige Eigenschaften bekannt sind. Der grüne Bereich kennzeichnet die Region der bisher noch unbekannten Kerne, deren Existenz nach heutigem Wissen erwartet wird. Ein Vorstoß in diese Terra Incognita verspricht sowohl für unser Verständnis der Kerne selber wie auch für die Erforschung der Entstehungsprozesse der Elemente in Sternen neue Erkenntnisse. Letztlich haben die Eigenschaften von Kernen Einfluss auf die Entwicklung von Sternen. Die Grenzen der Stabilität von Kernen In den stabilen Kernen stehen die Protonen und Neutronen in einem bestimmten, etwa ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Fügt man zu einem gegebenen Kern entweder nur Neutronen 12 Status und Perspektiven 2012 oder nur Protonen hinzu und überschreitet dabei einen Grenzwert, so kann das letzte Nukleon nicht mehr gebunden werden, und der Kern zerfällt spontan unter Aussendung von Neutronen oder Protonen. Diese Grenzlinien im Isotopendiagramm, innerhalb derer Kerne existieren können, werden Protonen- beziehungsweise Neutronenabbruchkante (Dripline) genannt. Für Kerne in der Nähe der Abbruchkante wurden neue und bislang unbekannte Eigenschaften beobachtet und weitere werden vorausgesagt. Solche Kerne ermöglichen zum Beispiel über die Messung ihrer bloßen Existenz, ihrer Massen oder ihres Zerfalls einen kritischen Test der besten heutigen Kernmodelle. Aktuelle Themen der Forschung umfassen unter anderem die exakte Lage der Protonen- und Neutronenabbruchkante, das Verhalten von sehr neutronen- oder protonenreichen Kernen und die Synthese superschwerer Elemente. Exotische Kerne: Nukleonenhalos und Nukleonenhäute Die Größe von Atomkernen lässt sich recht gut im Rahmen des alten Tropfenmodells verstehen, in dem bestimmte Eigenschaften eines Atomkerns ähnlich denen eines Wassertropfens beschrieben werden. Hierin sollte der Radius der Kerne etwa mit der dritten Wurzel der Nukleonenzahl zunehmen. Dieses Bild stößt jedoch für Kerne mit großem Neutronen- oder Protonenüberschuss an seine Grenzen. So wurde für leichte, sehr neutronenreiche Kerne die Bildung eines Neutronenhalos beobachtet. Das heißt, ein oder zwei Neutronen halten sich in einem weiten Außenbezirk des Kerns auf. Aufgrund dieses Effekts bläht sich zum Beispiel Lithium-11 (mit drei Protonen und acht Neutronen, Abbildung 2) auf die Größe des wesentlich schwereren Kerns von Kalzium-48 (mit 20 Protonen und 28 Neutronen) auf. Man spricht hier von Halo-Kernen. Für schwerere neutronenreiche Kerne, wie Zinn-132, erwartet man die Bildung von dicken Neutronenhäuten (engl. neutron skin), bei denen sich mehrere Neutronen in einem großen Abstand vom Zentrum des Kerns aufhalten. Im Mittelpunkt moderner Forschung stehen Fragen nach der Verteilung der Nukleonen in solchen Kernen und mögliche Korrelationen zwischen den äußeren Nukleonen. Atomkerne – Bausteine unserer Welt Auch die Wechselwirkung der innen befindlichen Kern-Nukleonen mit den äußeren Halo- beziehungsweise Skin-Nukleonen muss weiter erforscht werden. In Laborexperimenten und an Beschleunigern ist es gelungen, jenseits der natürlich vorkommenden 92 Elemente weitere Elemente zu synthetisieren. Neben den bereits bestätigten und anerkannten Elementen bis zur Protonenzahl 112 gibt es Berichte über den Nachweis noch schwererer Elemente bis zur Protonenzahl 118. Diese superschweren Elemente sind aber instabil und zerfallen großteils nach sehr kurzer Zeit. Theoretische Rechnungen, die auf dem Schalenmodell des Atomkerns aufbauen, sagen aber eine Insel erhöhter Stabilität im Bereich der Ordnungszahl 114 bis 126 und der Neutronenzahl 184 voraus. Die gemessenen Eigenschaften der neuen Kerne mit Ordnungszahlen in diesem Bereich unterstützen das Bild eines Bereichs erhöhter Stabilität. Dessen genaue Lage und Ausdehnung ist allerdings immer noch unbekannt. Abbildung 1: Der leichte, neutronenreiche Kern Lithium-11 ist außergewöhnlich groß. Die Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass sich in diesem Kern ein weit ausgedehnter Halo aus zwei Neutronen um einen Lithium-9-Kern bewegt. Doppeltmagische Kerne und Schalenstruktur weitab der Stabilität Es gibt Atomkerne, die sich durch eine besondere Stabilität auszeichnen. Diese besitzen 2, 8, 20, 50, 82 oder 126 Neutronen oder Protonen (Diese Werte sind für Neutronen und Protonen gleich). Diese erstaunliche Beobachtung lässt sich nicht mehr im einfachen Tröpfchenmodell erklären. Hierfür ist das modernere Schalenmodell nötig. Das ähnelt in gewisser Weise dem Modell der Elektronenschalen, die den Kern umgeben. Demnach ordnen sich Protonen und Neutronen im Kern in Schalen an, bei deren Abschluss besonders stabile Konfigurationen – die magischen Zahlen – erreicht werden. Das entspricht etwa den abgeschlossenen Elektronenschalen in Edelgasatomen. Es gibt nur fünf stabile Kerne, bei denen sowohl eine Protonen- als auch eine Neutronenschale abgeschlossen ist. Diese doppeltmagischen Kerne stellen die Ankerpunkte des Schalenmodells dar. Eine wichtige Frage ist, ob die Schalenstruktur auch für sehr neutronenreiche Kerne erhalten bleibt oder ob sie vielleicht aufgeweicht wird. Zur Beantwortung dieser Frage zielen künftige Experimente auf eine Untersuchung der fünf instabilen doppeltmagischen Kerne. Diese Kerne, insbesondere Nickel-78 und Zinn132 und ihre Nachbarisotope, werden an der geplanten neuen Anlage FAIR bei der GSI mit den nötigen Intensitäten verfügbar sein und einen breiten Test des Schalenmodells und weiterführender Kernmodelle ermöglichen. Das Ende des Periodensystems: Superschwere Elemente Ein anderer Aspekt der Grenzen von Atomkernen betrifft die Frage nach dem Ende des Periodensystems der Elemente. Die Physiker hoffen, in künftigen Experimenten mit hochintensiven Ionenstrahlen weitere Elemente zum Periodensystem hinzufügen zu können, um mehr und mehr zum Zentrum der Insel der Stabilität vorzustoßen und diese präziser zu vermessen. Solche Studien tragen auch zur steten Verbesserung theoretischer Modelle des Atomkerns bei, wie sie beispielsweise für das Verständnis der Produktion der schwersten auf der Erde vorkommenden Elemente in astrophysikalischen Prozessen von Bedeutung sind. Die Rolle der Theorie Alle angesprochenen Aspekte der Kernstrukturphysik und viele weitere spannende Phänomene sind die Konsequenz der komplexen quantenmechanischen Dynamik der Nukleonen unter dem Einfluss der Starken Kraft. Es ist Aufgabe der Kernstrukturtheorie, eine Brücke zwischen der zugrundeliegenden Theorie der Starken Wechselwirkung, der Quantenchromodynamik (QCD), und den Phänomenen der Kernstrukturphysik zu schlagen. Hierbei hat es in den vergangenen Jahren rasante Fortschritte gegeben. Es ist möglich geworden, die nukleonischen Wechselwirkungen ausgehend von der QCD zu konstruieren. Neue computergestützte Methoden versuchen, die komplizierte Wechselwirkung mehrere Nukleonen quantenmechanisch zu lösen. Auf diese Weise lassen sich quantitative Vorhersagen zu Struktur und Eigenschaften von Kernen machen. Auf diesem Gebiet wird es auch in den kommenden Jahren viele wichtige Entwicklungen und Anwendungen geben. Je weiter die Experimente in die Terra Incognita vorstoßen, desto maßgebender ist der Beitrag der modernen Kernstrukturtheorie: Sie ist Wegweiser für die experimentellen Untersuchungen im unbekannten Land. Sie liefert die physikalische Interpretation der experimentellen Daten und stellt die Verbindung zur Physik der Starken Kraft her. Sie liefert Informationen zu Kernen und Beobachtungsgrößen, die (noch) nicht experimentell zugänglich sind, und bildet damit nicht zuletzt eine Brücke zur nuklearen Astrophysik. Status und Perspektiven 2012 13 Kerne und Sterne – die Entstehung der Elemente Die Natur hat die chemischen Elemente, aus denen alle Sterne Planeten und auch wir Menschen bestehen, in zwei Phasen erzeugt. Die erste Phase endete bereits wenige Minuten nach dem Urknall. Bis dahin waren nur die leichtesten Elemente Wasserstoff und Helium sowie in geringen Mengen Lithium und Beryllium entstanden. Danach waren Temperatur und Dichte im expandierenden Universum so weit gesunken, dass keine schwereren Nuklide gebildet werden konnten. Die zweite Phase der Nukleosynthese begann erst einige hundert Millionen Jahre später. Damals formierten sich aus dem Urgas die ersten Sterne. In deren heißen Zentralgebieten setzten Kernreaktionen ein, in denen die leichten Elemente Wasserstoff und Helium nach und nach zu schwereren Elementen bis zum Eisen fusionierten. Schwerere Nuklide oberhalb von Eisen entstanden in den letzten Lebensphasen massereicher Sterne, den sogenannten Roten Riesen, und in gewaltigen Sternexplosionen, den Supernovae. Der berühmte Satz: „Wir sind aus Sternenstaub gemacht“ ist daher nicht etwa metaphorisch, sondern im Wortsinn zu verstehen: Jedes Atom schwerer als Beryllium in unserem Körper oder wo auch immer im Universum verdankt seine Existenz der Elementsynthese im Innern der Sterne. Diese Prozesse mit den Gesetzen der Physik zu beschreiben, ist ein fundamentales Ziel der nuklearen Astrophysik. Der Anspruch ist hochgesteckt: Es ist der Versuch, die Häufigkeitsverteilung der Elemente quantitativ zu erklären. Eng damit verbunden ist die Frage, wie sich die astrophysikalischen Objekte, die bis heute die Elemente erzeugen, entwickelt haben. Ohne ein Wissen über die Struktur der Atomkerne und die Dynamik von Kernreaktionen ist dieses Unterfangen hoffnungslos. Nukleare Astrophysik und Kernphysik sind daher untrennbar miteinander verbunden. Stellare Nukleosynthese in irdischen Laboratorien Die nuklearen Fusionsreaktionen im Innern der Sterne sind deren Energiequelle und Elementlieferant. Hierbei werden leichte Kerne zu schwereren verschmolzen. Zum Beispiel verbrennt unsere Sonne in jeder Sekunde mehr als 600 Millionen Tonnen Wasserstoff zu Helium. Ihr großes Reservoir an Wasserstoff reicht aber aus, um eine Lebensdauer von mehreren Milliarden Jahren zu erreichen. 14 Status und Perspektiven 2012 Stellare Fusionsprozesse laufen allerdings bei so niedrigen Energien ab, dass ihre Reaktionsraten extrem klein sind. Deshalb sind direkte Messungen in irdischen Laboratorien wegen zu großer störender Hintergrundereignisraten trotz des Einsatzes von Beschleunigern mit höchsten Strahlintensitäten unmöglich. Dennoch sind solche Messungen in den letzten Jahren erstmals einer internationalen Kollaboration unter starker deutscher Beteiligung mit einem Experiment im Gran-Sasso-Labor gelungen. Dieses befindet sich tief unterhalb des Appenin-Gebirgsmassivs. Der darüber liegende Fels absorbiert einen Großteil der störenden kosmischen Strahlung, so dass im Experiment die sehr kleinen Reaktionssignale nachgewiesen werden konnten. Die Dynamik vieler astrophysikalischer Ereignisse wird durch explosionsartig verlaufende Sequenzen von Kernreaktionen bestimmt. Zu diesen Ereignissen gehören Novae und Supernovae sowie Röntgenausbrüche. Ohne auf die Ursachen dieser explosionsartigen Vorgänge näher einzugehen, ist deutlich geworden, dass in dem hierbei einsetzenden Netz von Kernreaktionen auch kurzlebige Kerne eine Rolle spielen, die in der Natur nicht vorkommen. Zur Beschreibung der astrophysikalischen Ereignisse ist es wichtig, die Eigenschaften dieser Kerne wie Masse, Lebensdauer und Reaktionsraten zu kennen. Hierzu müssen die Kerne erst künstlich im Labor hergestellt werden. Dies ist für einige Kerne in den letzten Jahren an Forschungszentren wie der GSI oder der ISOLDE am CERN gelungen. Die experimentelle Untersuchung der meisten solcher exotischen Kerne muss allerdings warten, bis das Experimentieren an der neuen Anlage FAIR in Darmstadt möglich sein wird. Stellare Materie bei höchsten Dichten und Temperaturen Ein massereicher Stern erzeugt in seinem Zentralgebiet wie beschrieben zunehmend schwere Elemente. Auf diese Weise entsteht dort ein Kerngebiet aus Eisen und Nickel. Eine weitere Fusion dieser Nuklide ist nicht möglich, weil diese keine Energie freisetzen würde, sondern Energie benötigt. Versiegt die innere Fusionsquelle, so bricht dieser Zentralbereich unter seinem eigenen Gravitationsdruck zusammen. Kerne und Sterne – die Entstehung der Elemente Dieser Kollaps setzt sich fort, bis sich im Inneren ein riesiger „Atomkern“ von etwa einer halben Sonnenmasse mit einem Radius von einigen 10 km gebildet hat. Weitere Materie, die auf dieses Zentrum fällt, wird zurückreflektiert, vergleichbar einem Gummiball, den man gegen eine Wand wirft. Es entsteht eine Stoßwelle, die durch den Rest des Sterns läuft und dessen äußere Schalen wegschleudert. Gleichzeitig setzen heftige Kernreaktionen ein, bei denen enorme Mengen an Neutrinos entstehen. Diese schießen ins All hinaus und reißen die Materie mit sich. Der heiße, expandierende Gasball leuchtet nun als Supernova auf. Hierbei gelangen auch jene Elemente ins Interstellare Medium, die im Laufe des langen Sternlebens produziert worden sind. Darunter befinden sich unter anderen die Kerne der Elemente Sauerstoff und Kohlenstoff, aus denen auf der Erde Leben entstanden ist. Als Rest der Explosion verbleibt ein hochkomprimiertes Gebilde mit einem Radius von 10 bis 15 km und einer Masse, die etwa dem Anderthalb-fachen der Sonne entspricht – ein Neutronenstern. Das allgemeine Bild einer Supernova-Explosion ist gut verstanden und wurde durch die unterschiedlichen Beobachtungen der Supernova 1987a in der Großen Magellanschen Wolke bestätigt. Details lassen sich allerdings gegenwärtig noch nicht zufriedenstellend beschreiben. Hierzu zählen die Eigenschaften von Kernmaterie als Funktion von Temperatur und Dichte. Es ist eine Herausforderung der Kernreaktionsphysik, die Eigenschaften der extrem verdichteten Materie in Abhängigkeit von Temperatur und Dichte, die Zustandsgleichung von Kernmaterie, experimentell zu bestimmen. Es wird angestrebt, dieses Ziel mit Hilfe von relativistischen Schwerionenstößen, wie sie bei der GSI und später bei FAIR möglich sein werden, zu erreichen. Diese Experimente werden auch zu einem besseren Verständnis der noch weitgehend unverstandenen inneren Struktur von Neutronensternen führen. Synthese der schweren Elemente im s- und r-Prozess Im Innern von Sternen entstehen, wie beschrieben, keine Elemente schwerer als Eisen. Dass es sie dennoch gibt, verdanken wir einem Trick der Natur: Es ist die Anreicherung der bereits vorhandenen Kerne mit Neutronen und anschließendem Betazerfall – klassische Kernphysik also. Ein Kern fängt ein Neutron ein, so dass sich die Massenzahl des Atomkerns um eine Einheit erhöht, die Kernladung (sprich die Protonenzahl) aber unverändert lässt. Doch dann setzt Betazerfall ein, bei dem sich das Neutron in ein Proton umwandelt und damit die Kernladungszahl um eine Einheit erhöht. Damit ist das nächst höhere Element entstanden. Dieser Weg, dessen kernphysikalische Prozesse im Allgemeinen gut erforscht sind, läuft hauptsächlich im Zentralbereich von Sternen während der Fusion von Helium ab. Hierbei entsteht etwa die Hälfte aller stabilen Atomkerne schwerer als Eisen. Er endet bei Blei und Wismut. Die andere Hälfte der schweren Elemente und der Transaktiniden entsteht in einem zweiten Prozess, dem schnellen r-Prozess (rapid neutron capture). Dabei nehmen vorhandene Kerne mehrere Neutronen auf. Sie werden instabil und zerfallen rasch zu stabilen neutronenreichen Kernen bis hin zu instabilen langlebigen Isotopen von Uran und Plutonium. Da dieser r-Prozess einen extrem großen Neutronenfluss voraussetzt und in kürzester Zeit (wenigen Sekunden) ablaufen muss, ist er nur in einem explosiven Szenario wie einer Supernova oder dem Verschmelzen von zwei Neutronensternen vorstellbar. Da bislang der genaue Ablauf der kernphysikalischen Reaktionen weitab der Kernstabilität noch weitgehend unaufgeklärt ist, stellt der r-Prozess gegenwärtig eine der größten Herausforderungen der experimentellen und theoretischen nuklearen Astrophysik dar. Man muss Atomkerne mit extremem Neutronenüberschuss erzeugen, was nur mit höchstintensiven radioaktiven Strahlen möglich ist. Dafür würde zum Beispiel FAIR beste Voraussetzungen bieten. Man erwartet hier radioaktive Strahlen mit einer mehrere tausendmal höheren Intensität als gegenwärtig an irgendeiner anderen Anlage verfügbar. Damit würde ein weites Gebiet dieser terra incognita erstmals für die experimentelle nukleare Astrophysik zugänglich. Abbildung 1: In der Nuklidkarte sind die verschiedenen Produktionspfade der Nukleosynthese durch Pfeile gekennzeichnet. Die Fusion bringt Kerne bis zum Eisen hervor. Die wichtigsten Produktionspfade zur Bildung schwerer Kerne sind der langsame (slow) Neutroneneinfang (s-Prozess) und der schnelle (rapid) Neutroneneinfang (r-Prozess). Hierfür gibt es zwei Wege. Der erste heißt s-Prozess (slow neutron capture) (Abbildung 1). Er läuft bei verhältnismäßig geringen Neutronendichten und Temperaturen ab. Außerdem gibt es noch andere Prozesse, die zu den protonenreichen schweren Kernen führen. Einer davon ist der schnelle Protoneneinfang (rp-Prozess). Der rp- und der r-Prozess laufen durch Gebiete weitab der stabilen Isotope und sollen an der geplanten Anlage FAIR systematisch erforscht werden. Status und Perspektiven 2012 15 Hadronen, Kerne und fundamentale Symmetrien Der Bauplan der Materie spiegelt ein hohes Maß an Symmetrie wider. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist eine Schneeflocke. Dreht man sie um 60 Grad, so deckt sich das gedrehte Bild mit dem ursprünglichen. Die Schneeflocke besitzt also eine Rotationssymmetrie in Schritten von 60 Grad. So wenig bedeutsam uns solche Symmetrieverletzungen für unser Alltagsleben erscheinen, so entscheidend waren sie doch seit Anbeginn des Universums für die Existenz und Zusammensetzung der Materie im Kosmos. Die Suche nach Symmetrieverletzungen ist daher ein zentrales Anliegen moderner physikalischer Forschung. Wie das Beispiel des Betazerfalls zeigt, sind ausgewählte Hadronen und Kerne ideale Mikrolaboratorien, um fundamentale Symmetrien und Wechselwirkungen der Natur zu untersuchen. Die Existenz der Materie – Ergebnis einer Symmetrieverletzung Ein besonders markantes Beispiel für die Bedeutung von Symmetrieverletzungen ist die Existenz von Materie. Unter vollständiger Symmetrie müssten unmittelbar nach dem Urknall gleich viele Teilchen und Antiteilchen entstanden sein. Diese hätten sich aber gegegenseitig ausgelöscht und wären dabei vollständig in Strahlung umgewandelt. Dass es im Universum dennoch Materie gibt, muss seine Ursache in einer Verletzung der Symmetrie haben. Die bislang gefundenen Fälle von Symmetrieverletzung reichen jedoch nicht aus, um die heute vorhandene Materiemenge im Universum zu erklären. Physiker suchen deswegen nach weiteren Beispielen, die sie insbesondere für Hadronen erwarten, die schwere Quarks enthalten. Weniger anschaulich, aber von fundamentaler Bedeutung, sind Symmetrien im elementaren Regelwerk der Naturgesetze. Laufen Prozesse auf der Skala der Elementarteilchen genauso ab, wenn man sie spiegelt, Teilchen mit Antiteilchen vertauscht oder die Zeitrichtung umkehrt? Lange Zeit glaubte man, dass alle elementaren Prozesse unverändert unter diesen drei Symmetrietransformationen Spiegelung, Teilchen-Antiteilchen-Vertauschung und Zeitumkehr ablaufen. Umso überraschender war die Entdeckung vor etwa 50 Jahren, dass beim radioaktiven Betazerfall die Spiegelsymmetrie verletzt ist. Das hierbei aus dem Kern herausfliegende Elektron besitzt stets eine linkshändige Eigenrotation (Spin) in Flugrichtung. Der zum Betazerfall gespiegelte Prozess mit rechtshändigen Elektronen kommt in der Natur nicht vor. 16 Status und Perspektiven 2012 Physik jenseits des Standardmodells Seit nahezu vierzig Jahren beschreibt das Standardmodell die Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte. Es umfasst die Theorie der Starken und Schwachen sowie der elektromagnetischen Kraft. Die Physiker vermuten jedoch aus mehreren Gründen, dass das Standardmodell erweitert oder durch ein noch umfassenderes Modell ersetzt werden muss. So ist es bei sehr hohen Energien mathematisch nicht mehr definiert, und es enthält eine Vielzahl von experimentell zu bestimmenden Parametern, die eigentlich die Theorie festlegen sollte. Nicht zuletzt erfordert die Einbeziehung der Gravitation eine grundlegende Erweiterung des Standardmodells. Infolgedessen sind die Teilchen-, Hadronen- und Kernphysiker auf der Suche nach Prozessen, die auf Physik jenseits des Standardmodells hinweisen. Hadronen, Kerne und fundamentale Symmetrien Im Bereich der Kernphysik besitzen Niederenergie-Präzisionsexperimente zur Schwachen Kraft ein hohes Entdeckungspotenzial für diese Fragestellungen. Solche Studien umfassen unter anderem empfindliche Tests der Spiegel- und Zeitumkehrsymmetrie. Neben Kernen und Hadronen bietet auch der elementarste aller Betazerfälle, der des Neutrons, ein für diese Zwecke ideales Untersuchungsobjekt. Hierfür stehen kalte und ultra-kalte Neutronen an Instituten in Grenoble, Mainz, München und am Paul-ScherrerInstitut (Schweiz) zur Verfügung. Der erste Hinweis auf Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik kam aus dem Studium von Neutrinos, die der Schwachen Kraft unterliegen. Man kann sich dies in einem Bild veranschaulichen, in dem das Neutrino eine Kugel ist, die um eine Achse rotiert. In der Natur kommen nur Neutrinos vor, die sich in Bewegungsrichtung links herum drehen (linkshändiges Neutrino). Rechtshändige Neutrinos gibt es nicht, womit die Spiegelsymmetrie gebrochen ist. Es gibt drei Neutrino-Arten, die sich überraschenderweise ineinander umwandeln können. Das Studium solcher Neutrino-Oszillation bildet heute ein großes Arbeitsgebiet. Darüber hinaus ist die Masse der Neutrinos nach wie vor nicht bekannt. Deren Bestimmung aus dem Betazerfall oder dem sogenannten „neutrinolosen Doppel-Betazerfall“ soll die Tür zur Physik auf großen Energieskalen jenseits des Standardmodells aufstoßen. Auch hier hätte das Ergebnis aus dem Labor weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis der Astrophysik und Kosmologie und der eingangs erwähnten Frage nach der Existenz von Materie im Universum. Taj Mahal: Natur (oben) und Spiegelbild (unten) identisch! Linkes Bild: die DNS als Rechtschraube, wie sie in der Natur vorkommt. Rechtes Bild: DNS als Linksschraube, die nicht in den Natur vorkommt. Das Experiment GERDA (GERmanium Detector Array) am Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS) sucht nach dem neutrinolosen Doppel-Betazerfall. Linkes Bild: Ein linkshändiges Neutrino, wie es in der Natur vorkommt, rotiert in Bewegungsrichtung (gelber Pfeil) links herum. Rechtes Bild: ein rechtshändiges Neutrino kommt nicht in der Natur vor. Status und Perspektiven 2012 17 Hadronen – starke Verbindungen der Quarks Wie Atome unter dem Einfluss der Elektromagnetischen Kraft Molekülverbindungen eingehen, so schließen sich Quarks als Folge der Starken Kraft zu Verbindungen zusammen. Diese Verbindungen werden Hadronen genannt. Da es sechs verschiedene Sorten von Quarks – und entsprechende Antiquarks – gibt, die auf unterschiedliche Weise verknüpft werden können, existiert eine Vielzahl von Hadronen. Fast alle sind jedoch instabil und lassen sich nur für kurze Zeit in Beschleunigerexperimenten erzeugen. Die einzigen stabilen Hadronen in der Natur sind die Protonen und die in Atomkernen gebundenen Neutronen. Sie bestehen aus den zwei leichtesten Quarks, genannt up (u) und down (d) Quarks. forderungen der modernen Physik, das Confinement nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ im Rahmen der Theorie der Starken Kraft zu verstehen. Anders als die Moleküle, die wir weitgehend aus den Eigenschaften der Atome verstehen können, geben uns die Hadronen noch immer große Rätsel auf. Um diese aufzuklären, ist ein viel tiefergehendes Verständnis der Starken Kraft erforderlich. So kann die Theorie der Starken Kraft – die Quantenchromodynamik (QCD) bisher nicht beschreiben wie die Quarks in Hadronen gefangen sind. Erfolgversprechend zur Lösung dieser Frage sind Ansätze, in denen die Eigenschaften von Hadronen mit Hochleistungscomputern berechnet werden. Dies geschieht im Rahmen so genannter Gittereichtheorie. Abbildung 1: In der Natur treten Quarks nicht isoliert auf, sondern immer nur in Paaren oder Dreierkombinationen. Versucht man Quarks zu trennen, so erfordert das riesige Energien, und es entstehen neue QuarkAntiquark-Paare. Die Gefangenschaft der Quarks Die Masse des Protons Im Gegensatz zu Molekülverbindungen, die in ihre Bestandteile – die Atome – zerlegt werden können, lassen sich Hadronen nicht in einzelne Quarks aufspalten. Trotz intensiver Suche wurden bisher keine isolierten Quarks in der Natur beobachtet. Phänomenologisch erklärt man sich die Gefangenschaft der Quarks dadurch, dass die durch Gluonen vermittelte Starke Kraft ähnlich wie ein Gummiband wirkt. Zieht man die Quarks auseinander, so muss man Arbeit aufbringen, die als potenzielle Energie im Gummiband, das heißt im Gluonenfeld zwischen ihnen, gespeichert wird. Das Gummiband reißt erst, wenn die Energie zur Bildung eines Quark-Antiquark-Paares ausreicht, was zur Bildung neuer Hadronen führt, aber keine Quarks freisetzt (Abbildung 1). Hierbei wandelt sich also gemäß der Formel E = mc2 Energie in Materie um. Die absolute Gefangenschaft der Quarks in den Hadronen wird als Confinement bezeichnet. Es ist eine der großen Heraus- Üblicherweise ergibt sich die Masse eines zusammengesetzten Systems aus der Summe der Massen seiner Bestandteile – bis auf kleine Korrekturen durch Bindungseffekte, die die Masse des zusammengesetzten Systems geringfügig verringern. Umso überraschender war die Beobachtung, dass die Quarks weniger als zwei Prozent zur Protonen- beziehungsweise Neutronenmasse beitragen. Nach unserem heutigen Verständnis ergibt sich die Masse der Nukleonen zum überwiegenden Teil aus der Bewegungsenergie der Quarks und der Energie des Gluonenfeldes zwischen ihnen. Auch hier kommt die Äquivalenz von Energie und Masse (E = mc2) zur Geltung. Der Mechanismus, der die Protonen- und Neutronenmasse (allgemeiner gesagt die Hadronenmasse) generiert, ist aber im Einzelnen noch nicht verstanden. Die Physiker nehmen an, dass er eng mit dem Übergang vom Quark-Gluon-Plasma zu den Hadronen in der Frühphase des Universums verknüpft ist. 18 Status und Perspektiven 2012 Hadronen – starke Verbindungen der Quarks Als in dieser Phase die quasi-freien Quarks sich zusammenlagerten und Hadronen bildeten, fand ein sogenannter Phasenübergang statt. Hierbei wurde die so genannte chirale Symmetrie der Starken Kraft spontan gebrochen (siehe auch das Kapitel „Hadronen und Kerne – Mikrolaboratorien für fundamentale Symmetrien und Wechselwirkungen“). Die chirale Symmetrie ist eine „Links-rechts-Symmetrie“. Sie besagt, dass bei allen durch die Starke Wechselwirkung bestimmten Prozessen die Chiralität, das heißt die durch Flugrichtung und Spin (Eigenrotation) definierte Händigkeit eines Up- oder Down-Quarks erhalten bleibt. Wäre die Chirale Symmetrie auch in unserer hadronischen Welt erfüllt, so sollten bestimmte Paare von Hadronen, so genannte chirale Partner, gleiche Massen haben. Die beobachteten Hadronenmassen von chiralen Partnern sind aber deutlich unterschiedlich. Dies lässt sich über die spontane Brechung der chiralen Symmetrie erklären, die eine Verschiebung und Aufspaltung der Massen chiraler Partner bewirkt und somit zu ihrer hadronischen Masse beiträgt. Hadronen (Abbildung 2). Auf experimenteller Seite benötigt man zur weiteren Klärung dieser Fragen Elektronenstrahlen mit hoher Polarisation und deutlich höheren Intensitäten als gegenwärtig verfügbar. Planungen für entsprechende neue Beschleunigeranlagen und Nachweissysteme haben begonnen. Die Entwicklung von Elektronenquellen hoher Intensität und hohem Polarisationsgrad ist wichtig für die Paritätsverletzende Elektronenstreuung. Suche nach neuen hadronischen Formen der Materie Abbildung 2: Unsere Vorstellung vom Inneren eines Protons: Drei Quarks schwimmen in einem See aus virtuellen Quark-Antiquark-Paaren, in die sich die Gluonen kurzzeitig verwandeln können. Die Masse des Protons wird in diesem Bild durch die Bewegungs- und Wechselwirkungsenergie der Konstituenten bestimmt. Außerdem besitzen Quarks und Gluonen einen Eigendrehimpuls (kleine Pfeile) und durch ihre Bewegung auch einen Bahndrehimpuls, die zum Gesamtdrehimpuls des Protons (großer Pfeil) beitragen. Der Eigendrehimpuls des Protons Protonen besitzen einen Eigendrehimpuls, von den Physikern als Spin bezeichnet. Lange Zeit wurde angenommen, dass sich der Spin des Protons in einfacher Weise aus einer Kopplung der Quarkspins ableiten lässt. Streuexperimente mit hochenergetischen Elektronen zeigten dann aber, dass die Spins der Quarks weniger als 30 Prozent zum Spin des Protons beitragen. Um dieses Problem zu lösen, wurde von theoretischer Seite ein signifikanter Beitrag der Gluonenpolarisation und/oder der Bahnbewegung der Quarks zum Gesamtdrehimpuls des Protons vorausgesagt. Neue experimentelle Daten von COMPASS am CERN und HERMES am DESY zeigen, dass der Beitrag Gluonenpolarisation klein ist. Dagegen gibt es erste experimentelle Hinweise, dass die Bahnbewegung der Quarks einen endlichen Beitrag zum Gesamtdrehimpuls des Protons liefert. Neue theoretische Beschreibungen ermöglichen ein 3-dimensionales Bild von der inneren Struktur der Elektromagnetische Ladungen wechselwirken durch den Austausch von Photonen. Zum Beispiel bilden ein negativ geladenes Elektron und ein positiv geladenes Proton ein gebundenes Wasserstoffatom. Die Wechselwirkung zwischen Quarks verursachen Gluonen. Im Gegensatz zu den elektrisch ungeladenen Photonen tragen die Gluonen jedoch eine Farbladung und üben daher eine stark anziehende Kraft aufeinander selbst aus. Dies hat nichts mit Farben in der Natur zu tun, wie wir sie wahrnehmen, sondern kennzeichnet eine Eigenschaft der Gluonen. Die extreme Stärke dieser Wechselwirkung führt zu einem komplexen Bild für die in der Natur beobachteten Hadronen, die aus Quarks, Antiquarks und Gluonen zusammengesetzt sind. Qualitativ kann man die bislang beobachteten Hadronen als Zwei- bzw. Drei-Teilchensysteme von Konstituentenquarks beschreiben. In den letzten Jahren wurde dieses Bild erschüttert. Eine ganze Reihe von neuen Zuständen wurde entdeckt, die vermutlich exotischer Natur sind und damit dem konventionellen Zwei- bzw. Drei-Teilchenbild von Hadronen entgegen stehen. Die Frage, welche Strukturen durch die starke Wechselwirkung tatsächlich realisiert werden können, hat sich zu einem zentralen Forschungsfeld entwickelt. Es sollten zum Beispiel auch Hybridzustände aus zwei Konstituentenquarks und einem Gluon möglich sein. Es ist eine experimentelle und theoretische Herausforderung die relevanten Freiheitsgrade für die Beschreibung des hadronischen Anregungsspektrums in der QCD zu finden und mit Hilfe derer eine Beschreibung der Reaktionsdynamik und Hadronstruktur zu etablieren. Die sich im Aufbau befindliche Anlage FAIR eröffnet einzigartige Möglichkeiten für das Studium neuer hadronischer Zustandsformen in ProtonAntiproton Kollisionen. Status und Perspektiven 2012 19 Kernmaterie unter extremen Bedingungen – von der „Ursuppe“ zu Neutronensternen Weltweit werden an den größten Beschleunigeranlagen Experimente mit hochenergetischen Ionenstrahlen durchgeführt, um die Eigenschaften von Kernmaterie bei höchsten Dichten und Temperaturen zu untersuchen. Dazu werden zwei schwere Atomkerne bei fast Lichtgeschwindigkeit zur Kollision gebracht, so dass kurzzeitig ein hoch komprimierter und heißer Feuerball entsteht. Dieser explodiert unmittelbar nachdem er seine maximale Dichte durchlaufen hat und zerfällt schließlich in Tausende von Teilchen, von denen die meisten erst im Stoß entstehen. Die so erreichten Dichten übersteigen um ein Vielfaches die ohnehin schon enorme Dichte in normalen Atomkernen. Ein Stück Kernmaterie von der Größe eines Würfelzuckers besäße eine Masse von 300 Millionen Tonnen. Die Dichte des Feuerballs, die hier experimentell zugängig wird, kommt in der Natur nur im Zentrum von Neutronensternen vor. Die erzielten Temperaturen sind hunderttausendfach höher als die im Zentrum der Sonne. Bei solch hohen Dichten und Temperaturen lösen sich die Protonen und Neutronen (Nukleonen) in ihre Bestandteile Quarks und Gluonen auf. Die Theorie der Starken Wechselwirkung, die Quantenchromodynamik (QCD), sagt hier einen Phasenübergang von Kernmaterie in ein Plasma aus Quarks und Gluonen voraus. Kernmaterie kann also verschiedene Zustandsformen in Abhängigkeit von Temperatur und Druck annehmen, ähnlich wie Wasser, das je nach Temperatur und Druck flüssig, fest oder gasförmig sein kann. Abbildung 1 zeigt eine Skizze des theoretisch vorhergesagten Phasendiagramms von Kernmaterie. Aufgetragen ist die Temperatur in Einheiten von Millionen Elektronenvolt1 gegen die Dichte in Einheiten der normalen Atomkerndichte. Für besonders hohe Temperaturen oder Dichten erwartet man, dass sich die Nukleonen in ihre Bestandteile auflösen und das erwähnte Plasma aus Quarks und Gluonen bilden. Man nimmt heute an, dass dieser Phasenübergang je nach Temperatur und Dichte unterschiedlich abläuft: Bei hohen Dichten und niedrigen Temperaturen bildet sich erst eine gemischte Phase aus Hadronen, Quarks und Gluonen, ähnlich wie Wasser am Siedepunkt in eine Phase aus Tröpfchen und Dampf übergeht. Dieser Phasenübergang erster Ordnung endet in einem kritischen Punkt, in dem besonders große Dichteschwankungen erwartet werden. 1 100 Millionen Elektronenvolt (eV) entsprechen einer Temperatur von 1,2 Billionen Kelvin. Zum Vergleich: im Zentrum unserer Sonne herrscht eine Temperatur von knapp 16 Millionen Kelvin 20 Status und Perspektiven 2012 Bei kleinen Dichten und hohen Temperaturen gehen die Hadronen kontinuierlich in das Quark-Gluon-Plasma über. Nach unserem heutigen Verständnis war dies die „Ursuppe“, aus der das heiße Universum kurz nach dem Urknall bestand. Heute könnte Quark-Gluon-Materie noch im Zentrum von Neutronensternen existieren, bei sehr hohen Dichten und vergleichsweise niedrigen Temperaturen. Abbildung 1: Schematische Darstellung des Phasendiagramms von Kernmaterie Gegenwärtige und zukünftige Experimente konzentrieren sich auf die Erforschung von zwei Bereichen des Phasendiagramms von Kernmaterie: Bei hohen Temperaturen und niedrigen Dichten sollen die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas detailliert untersucht werden. Bei hohen Dichten und niedrigen Temperaturen wird nach dem Phasenübergang erster Ordnung und dem kritischen Endpunkt gesucht. In beiden Fällen dienen die Eigenschaften der im Stoß herausgeschleuderten Teilchen (Energie, Masse und Zusammensetzung) als diagnostische Sonden des im Feuerball erzeugten Materiezustands. Eine besondere Rolle spielen hierbei solche Teilchen, die aus der frühen und dichten Phase des Feuerballs stammen und nur wenig durch die spätere hadronische Phase beeinflusst werden. Dazu gehören besonders Teilchen, die bereits im Innern des Feuerballs zum Beispiel in Elektron-Positron-Paare zerfallen. Interessant sind auch instabile Teilchen, die aus schweren Quarks bestehen. Kernmaterie unter extremen Bedingungen – von der „Ursuppe“ zu Neutronensternen Eine weitere wichtige Beobachtungsgröße ist der kollektive Fluss der Teilchen, der Rückschlüsse auf die Eigenschaften des frühen Feuerballs erlaubt. Der kollektive Fluss beschreibt das Expansionsverhalten der Materie nach einer Kollision, ähnlich wie die Hubble-Konstante die Expansion des Universums charakterisiert. Kern-Kern-Stöße bei höchsten Temperaturen – Einblicke in die Frühphase des Universums Kern-Kern-Stöße bei höchsten Dichten – Einblicke in das Innere von Neutronensternen Abbildung 2 – oben: Drei Schnappschüsse einer zentralen Kollision zweier schwerer Atomkerne bei CERN-LHC Energien als Ergebnis einer Computer-Simulation. Die einlaufenden Kerne sehen aus wie flache Scheiben da sie mit fast Lichtgeschwindigkeit fliegen und aufgrund der speziellen Relativitätstheorie stark in Flugrichtung kontrahiert sind. Abbildung 2 – unten: Zentrale Kollision zweier Bleikerne bei einer Schwerpunktsenergie von 2,76 TeV pro Nukleon. Die daraus resultierenden Teilchenspuren wurden mit der Zeitprojektionskammer des ALICE Experimentes am LHC aufgenommen. Abbildung 3 – oben: Drei Schnappschüsse einer zentralen Kollision zweier schwerer Atomkerne bei FAIR Energien als Ergebnis einer ComputerSimulation. Die einlaufenden Kerne sind weniger stark kontrahiert als bei LHC Energien. Abbildung 3 – unten: Zentrale Kollision zweier Goldkerne, bei der ein Kern mit einer Energie von 25 GeV pro Nukleon auf einen ruhenden Atomkern trifft. Die Spuren sind das Ergebnis von Simulationsrechnungen, die im Rahmen der Entwicklung des Experiments CBM an FAIR durchgeführt werden. Den Zustand eines ausgedehnten, heißen Quark-Gluon-Plasmas, wie er wenige Mikrosekunden nach dem Urknall vorlag, lässt sich künstlich erzeugen, indem man Atomkerne bei den höchsten erreichbaren Energien zur Kollision bringt. Die detaillierte Untersuchung der Eigenschaften dieser nur aus Elementarteilchen bestehenden Materie ist das Ziel der Experimente am Relativistic Heavy-Ion Collider (RHIC) in den USA und am Large Hadron Collider (LHC) des CERN mit dem ALICE-Detektor. Letzterer wurde von einer Kollaboration von über 1200 Physikern aufgebaut nimmt seit November 2010 Daten (Abbildung 2). Erste experimentelle Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich das Quark-Gluon-Plasma wie eine perfekte Flüssigkeit verhält. Einen anderen Weg beschreiten die Experimente der geplanten Beschleunigeranlage FAIR. Der Energiebereich, in dem dort die Atomkerne zur Kollision gebracht werden, erlaubt die Produktion eines Feuerballs mit vielfacher normaler Kerndichte. Das auf diese Weise erzeugte Quark-Gluon-Plasma ähnelt in seiner Zusammensetzung dem Inneren von Neutronensternen. Ein Ziel der geplanten Messungen ist die Entdeckung vorhergesagter Übergänge im Phasendiagramm von Kernmaterie, insbesondere des erwähnten Phasenübergangs erster Ordnung und des kritischen Punktes. Gegenwärtig arbeitet eine internationale Kollaboration von mehr als 400 Wissenschaftlern an der Entwicklung des Detektors Compressed Baryonic Matter (CBM), der speziell für solche Experimente konzipiert wurde (Abbildung 3). Status und Perspektiven 2012 21 Beschleuniger – Großgeräte der Hadronen- und Kernphysik Aktuell betriebene Beschleunigeranlagen Die Struktur von Atomkernen und Hadronen kann sehr präzise mit Elektronenstrahlen vermessen werden. Für solche Experimente werden gegenwärtig der supraleitende SDALINAC an der TU Darmstadt, die Mikrotronanlage MAMI mit der kürzlich fertig gestellten Ausbaustufe C (Abbildung 1) an der Universität Mainz sowie die Ringanlage ELSA an der Universität Bonn eingesetzt. aus dem getroffenen Target überwinden und eine Kernreaktion auslösen zu können. Weiterhin wird mit dem Unilac ein Strahl in die Synchrotron– und Speicherringanlage SIS18 und ESR injiziert. In Rex-Isolde am CERN werden radioaktive Ionen erzeugt und beschleunigt und an der Coulomb-Barriere untersucht. Die Beschleunigeranlage FAIR Abbildung 1: Die Ausbaustufe MAMI C in Mainz mit 180-Grad-Umlenkung. An der Synchrotronanlage COSY des FZ Jülich werden kurzlebige Hadronen erzeugt und mit verschiedenen Detektorsystemen untersucht. Hierfür stehen Strahlen aus Deuteronen (Kerne des schweren Wasserstoffatoms Deuterium) und spinpolarisierten Protonen zur Verfügung. Dies bedeutet, dass die Spins (eine Art Eigenrotation) der Protonen alle gleich ausgerichtet sind. Auch das Target mit den zu untersuchenden Kernen lässt sich polarisieren. Das COSY zeichnet sich unter anderem durch eine besonders leistungsstarke stochastische Kühlereinrichtung aus, die Strahlen hoher Brillanz und kleiner Energieunschärfe erzeugen kann. Hierzu werden Abweichungen der Bewegung eines Teilchenensembles von der Sollbahn an einer Stelle der Umlaufbahn erfasst und anschließend an einer anderen Stelle durch Anlegen einer elektrischen Spannung korrigiert. An der GSI Darmstadt wird der Linearbeschleuniger Unilac mit variabler Energie und Ionensorten von Protonen bis hoch zu Uran traditionell für Experimente an der Coulomb- Barriere betrieben: Das heißt, die Ionenkerne besitzen gerade ausreichend Geschwindigkeit, um die elektrische Abstoßung von Atomkernen 22 Status und Perspektiven 2012 Die Realisierung der Forschungsanlage „Facility for Antiproton and Ion Research“ (FAIR) in Darmstadt stellt besondere Anforderungen an die Beschleunigertechnologie. Die FAIR Beschleuniger nutzen die existierenden Beschleuniger der GSI (Unilac und SIS18) als Injektor. Wegen der gewünschten hohen Primärintensitäten von bis zu 1012 Ionen pro Sekunde und 1013 Protonen pro Sekunde muss der Injektorkomplex ausgebaut werden. Derzeit wird hierfür ein Hochstromprotoneninjektor sowie ein supraleitender Dauerstrichlinearbeschleuniger mit variabler Ionenenergie entwickelt (Abbildung 2). Letzterer wird insbesondere die erfolgreiche Fortsetzung der Suche nach superschweren Elementen bei der GSI ermöglichen. Die weitere Teilchenbeschleunigung erfolgt dann in einem Synchrotron SIS100 mit supraleitenden Magnetspulen und Eisenjochen, um den Energieverbrauch niedrig zu halten. Weltweit erstmalig werden Magnete entwickelt (Abbildung 3), die schnelle Feldänderungen von bis zu 4 Tesla pro Sekunde erlauben, um innerhalb von nur einer viertel Sekunde den Strahl im SIS100 auf die Maximalenergie beschleunigen zu können (Abbildungen 4 und 5). Diese technische Neuerung wird viele Anwendungen in anderen Gebieten finden. Darüber hinaus erfordert die hohe Taktrate die Entwicklung von neuartigen, kompakten Beschleunigereinheiten in den Ringen sowie von Strahlkollimatoren. Diese entfernen Teilchen aus dem Randbereich des Strahls und vermeiden dadurch unkontrollierte Strahlverluste die das Vakuum in der Maschine verschlechtern. Schließlich wird ein im SIS-100-Tunnel untergebrachtes zweites Synchrotron SIS 300 den Strahlenergiebereich nach oben abdecken. Beschleuniger – Großgeräte der Hadronen- und Kernphysik Für FAIR werden vier nachfolgende Ringe benötigt, um die erzeugten Sekundärteilchen zu sammeln, die Strahlqualität durch Kühlprozesse zu verbessern sowie schließlich Präzisionsexperimente durchzuführen. Am Hochenergiespeicherring HESR wird insbesondere mit elektronengekühlten und nachbeschleunigten Antiprotonen, am neuen Experimentierspeicherring NESR mit seltenen Isotopen experimentiert. Abbildung 2: Mehrzellige supraleitende Kavität aus hochreinem Niob zur Teilchenbeschleunigung im Nieder- und Mittelenergiebereich. Am COSY in Jülich wird derzeit ein ambitionierter Elektronenkühler entwickelt und aufgebaut (Abbildung 4). Er dient als Zwischenschritt zur Entwicklung des endgültigen Elektronenkühlers für den HESR. Dazu wird ein kalter Elektronenstrahl mit Sollgeschwindigkeit und Bewegungsrichtung des Ionenstrahls über einige Meter auf die Ionenumlaufbahn eingelenkt. Ionen, die von der Sollflugbahn abweichen, erfahren „Reibung“ an den mitfliegenden Elektronen und gelangen dadurch wieder näher an ihre Sollbahn heran. Initiativen zur Unterstützung der FAIRBeschleunigerentwicklung Die an mehreren Hochschulen vorhandene Beschleuniger-Expertise soll noch stärker in die Entwicklung von FAIR eingebunden werden. Hierfür wurde 2008 innerhalb der hessischen Förderinitiative LOEWE das Helmholtz International Center HICforFAIR und 2009 das Helmholtz Institut Mainz HIM gegründet. Die Universität Frankfurt baut gegenwärtig die intensive Frankfurter Neutronenquelle FRANZ für thermische Neutronenspektren für den Energiebereich von 30 keV auf. Sie soll das FAIR-Programm zur nuklearen Astrophysik ergänzen. Abbildung 3: Erfolgreich getesteter, schnell gepulster SIS-100-Dipol mit supraleitender Spule und ferromagnetischem Joch. Kompakte Beschleunigeranlage am Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum HIT An der GSI Darmstadt wurde im Verlauf mehrere Jahre die Methode der Tumortherapie mit Kohlenstoffstrahlen entwickelt. Daraus entstand das Konzept einer auf Tumorbestrahlungen optimierten Beschleunigeranlage, welche schließlich am Universitätsklinikum Heidelberg realisiert wurde. In diesem Heidelberger IonenstrahlTherapiezentrum HIT werden seit November 2009 Patienten behandelt. Diese Anlage setzte neue Maßstäbe in der Effizienz einer Ionenstrahltherapieanlage. Auf dieser Erfahrung aufbauend erstellt die Firma SIEMENS inzwischen mehrere Anlagen dieser Art an verschiedenen Standorten. Die Anlagen CNAO bei Mailand sowie Medaustron in Wiener Neustadt orientieren sich ebenfalls an HIT. Abbildung 4: Computergrafik des Elektronenkühlers am COSY in Jülich. Die Elektronen werden durch die blauen Strahlrohre in den Beschleuniger ein- und wieder ausgelenkt. Status und Perspektiven 2012 23 Instrumente der Hadronen- und Kernphysik – Hochtechnologie für Forschung und Anwendung Die Hadronen- und Kernphysik wurde in der Vergangenheit und wird auch in Zukunft ganz wesentlich durch neue Experimentiermöglichkeiten vorangetrieben. Signifikante Fortschritte in der Forschung hängen daher stark ab von neuen technologischen Entwicklungen in den Bereichen Beschleuniger, Detektorsysteme sowie Datenaufnahme- und Analysesysteme. An den Universitäten Bonn, Darmstadt und Mainz werden Elektronenbeschleuniger betrieben, deren Strahlen sich besonders gut zur präzisen Vermessung der Struktur von Atomkernen und Hadronen eignen. Die Experimente werden zum Beispiel mit hochauflösenden Spektrometern durchgeführt. Am Ringbeschleuniger COSY des FZ Jülich befinden sich mehrere Experimentaufbauten zur Untersuchung der Struktur von kurzlebigen Hadronen, die in Stößen zwischen Protonen und verschiedenen Atomkernen erzeugt werden. An der ISOLDE-Anlage am CERN in Genf werden inzwischen weit über tausend verschiedene Radionuklide erzeugt und untersucht. Die Nachbeschleuniger REX-ISOLDE und der daran installierten Detektoranordnung MINIBALL, die atomphysikalischen Methoden wie die hochauflösende Laserspektroskopie und die Präzisions-Massenspektrometrie mit Penningfallen sind ideale Werkzeuge zur Erforschung der Grundzustandseigenschaften kurzlebiger Radionuklide. An der Beschleunigeranlage des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung in Darmstadt wird ein breites Spektrum von Experimenten zur Kern-, Hadronen-, Atom-, Plasma-, Material- und Biophysik durchgeführt. Die Strahlen aus dem Unilac Beschleuniger dienen zur Erzeugung neuer superschwerer Elemente. Am GSI Fragmentseparator sowie in den nachfolgenden Versuchsaufbauten und im Experimentierspeicherring ESR werden Experimente zur Nukleosynthese in Sternen oder in Supernovae durchgeführt. In hochenergetischen Stößen zwischen Atomkernen wird kurzzeitig dichte Kernmaterie erzeugt und untersucht. Bild oben: Vier-Spektrometeranlage am Elektronenbeschleuniger MAMI der Universität Mainz Bild unten: Der WASA Detektor am COSY Beschleuniger des FZ Jülich 24 Status und Perspektiven 2012 Instrumente der Hadronen- und Kernphysik – Hochtechnologie für Forschung und Anwendung Im Experimentierspeicherring ESR der GSI können einzelne Ionen untersucht werden. Das Experiment HADES an der GSI misst Elektronenpaare und Hadronen um die Eigenschaften von Kernmaterie zu studieren. Den ersten supraleitenden Dipolmagneten für den Super-Fragmentseparator bei FAIR hat das Budker-Institut in Nowosibirsk gebaut und an die GSI geliefert. Deutsche Hadronen- und Kernphysiker/innen waren und sind wesentlich am Aufbau und Betrieb des Detektorsystems ALICE am LHC des CERN beteiligt. Ziel dieses Experiments ist die Erforschung der Eigenschaften eines extremen Zustands von Kernmaterie, dem sogenannten Quark-Gluon-Plasma. Es wird in sehr energiereichen Stößen zwischen Atomkernen erzeugt. Man nimmt an, dass sich die Urmaterie kurz nach dem Urknall in einem solchen Zustand befand. Ziel des Experiments ALICE am LHC des CERN ist die Erforschung der Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas. Lasersystem zur resonanten Ionisation von Radionukliden an ISOLDE Hochleistungsrechner sind heute ein unverzichtbares Instrument der Forschung. Sie dienen sowohl der Datenverarbeitung großer Experimente als auch der Durchführung komplexer Simulationen und theoretischer Berechnungen. Als besonders wirtschaftlich und energieeffizient haben sich moderne Computerfarmen erwiesen, die aus mehreren hundert Rechnerknoten mit Many-core CPUs und GPUs bestehen. Um die bereitgestellte Leistung voll auszuschöpfen ist hoch optimierte Software nötig, die Parallelisierung, Vektorisierung und GPU-Programmierung beinhaltet Im Rahmen der Realisierung des internationalen Forschungszentrums FAIR in Darmstadt wird die Entwicklung modernster Technologien auf den Gebieten Teilchenbeschleuniger, Experimentieranlagen und Hochleistungsrechner weiter vorangetrieben. Für die FAIR Experimente werden ultraschnelle und strahlenharte Detektorsysteme mit neuartiger Ausleseelektronik entwickelt. Gleichzeitig entsteht an der GSI ein besonders energieeffizientes Hochleistungs-Rechenzentrum („GreenIT-Cube“). Die im Rahmen von FAIR vorangetriebenen technischen Innovationen werden viele Anwendungen in anderen Gebieten von Wissenschaft, Gewerbe und Industrie finden. Der Hochleistungsrechner LOEWE-CSC an der Universität Frankfurt Status und Perspektiven 2012 25 FAIR – ein internationales Beschleunigerzentrum für die Grundlagenforschung Die Beschleunigeranlage FAIR (Facility for Antiproton and Ion Research) ist weltweit eines der größten Projekte der Grundlagenforschung in der laufenden Dekade. Ihre hochintensiven und hochenergetischen Schwerionen- und Antiprotonenstrahlen bieten in Verbindung mit modernsten Versuchseinrichtungen einzigartige Experimentiermöglichkeiten auf den Gebieten der Hadronen-, Kern-, Atom-, Plasma-, Bio- und Materialphysik. Die Anlage besteht aus einem Doppelringbeschleuniger mit 1100 Metern Umfang, gefolgt von einem komplexen System von Speicheringen und Experimentierstationen. Als Injektor dienen die existierenden GSI-Beschleuniger. Die hochintensiven Ionenstrahlen werden entweder direkt verwendet zur Erzeugung hochdichter Plasmen und komprimierter Kernmaterie, oder zur Produktion von intensiven Sekundärstrahlen aus exotischen Atomkernen oder Antiprotonen. Ein besonderes Merkmal der Anlage ist der effiziente Parallelbetrieb mehrerer Experimentprogramme durch simultane Bereitstellung unterschiedlicher Strahlen aus dem Doppelringbeschleuniger. 26 Status und Perspektiven 2012 Das FAIR Projekt zielt ab auf die Untersuchung noch offener Fragen zu fundamentalen Eigenschaften der Materie und der Evolution des Universums. Neben grundlegenden neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verspricht das FAIR-Projekt Innovationen und Anwendungen in verschiedensten Bereichen wie Materialforschung, Magnettechnologie, Energieerzeugung, Strahlenbiologie und Strahlenschutz, Detektorbau, Elektronik, Computer – und Informationstechnologie. Aufgrund der herausragenden Forschungsmöglichkeiten wird FAIR zu einem Anziehungsspunkt für Studenten und Wissenschaftler aus aller Welt und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung des hochqualifizierten wissenschaftlichtechnischen Nachwuchses. Durch den Einsatz neuester Technologien – oft gemeinsam entwickelt mit industriellen Partnern – und die Ausbildung zukünftiger Forscher- und Technikergenerationen trägt das FAIR-Projekt zur nachhaltigen Stärkung des Wissenschafts- und Technologiestandorts Deutschland bei. FAIR – ein internationales Beschleunigerzentrum für die Grundlagenforschung Die FAIR GmbH wurde im Oktober 2010 gegründet. Die derzeitigen Partnerländer – Finnland, Frankreich, Indien, Polen, Rumänien, Russland, Slowenien, Spanien und Schweden – tragen zusammen etwa 30% der Gesamtkosten von 1.027 Milliarden Euro für die FAIR Startversion. Die Bauarbeiten beginnen im Frühjahr 2012 und sollen bis 2017 abgeschlossen sein sodass nach der Installation der Anlagen ab 2018 die Experimente in Betrieb genommen werden können. SIS100/300 p-LINAC SIS18 UNILAC CBM Das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung mit den bereits existierenden Beschleunigern 100 m UNILAC und SIS18 (blau). Die geplante FAIR-Anlage mit dem Doppelringbeschleuniger SIS100/300 und den verschiedenen Speicherringen und Experimentieranlagen ist rot dargestellt. Produktion seltener Isotope HESR PANDA Super-FRS Produktion von Antiprotonen Plasmaphysik Atomphysik RESR/ CR FLAIR existierende Anlage NESR neue Anlage Experimente PANDA – Quarks und Hadronen Die Untersuchung der Kräfte zwischen Quarks, den elementaren Bausteinen der Materie, und die Struktur der Hadronen sind Schwerpunkt des Forschungsprogramms mit hochenergetischen Antiprotonenstrahlen am Experiment PANDA. NuSTAR – Astrophysik und exotische Kerne Im Rahmen des Programms NuSTAR werden die am Super-Fragmentseparator erzeugten hochintensiven Sekundärstrahlen benutzt um die Syn-these der chemischen Elemente im Kosmos und die Struktur exotischer Atomkerne zu untersuchen. CBM – hoch komprimierte Kernmaterie Die Erforschung der Eigenschaften hochkomprimierter Kernmaterie, wie sie im Zentrum einen Neutronensterns vorkommt, und die Suche nach neuen Formen von Quarkmaterie werden mit hochintensiven Schwerionenstrahlen am Experiment CBM durchgeführt. APPA – Atom-, Plasma-, Bio- und Materialphysik Die APPA-Kollaborationen nutzen die künftige FAIR-Anlage für ein breites, interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsprogramm, dass die Gebiete der Atom-, Bio-, und Plasmaphysik und Materialforschung umfasst. Fundamentale Fragestellungen beinhalten die Materie-Antimaterie-Asymmetrie und elektromagnetische Wechselwirkungen im extremen Feldbereich. Intensive Schwerionenstrahlen bieten einmalige Möglichkeiten zur Erforschung neuer plasmaartiger Materiezustände. Zudem werden Materialmodifikationen unter extremen Bedingungen und die Wirkung hochenergetischer Ionenstrahlen auf biologisches Gewebe untersucht. Status und Perspektiven 2012 27 Methoden der Hadronen- und Kernphysik in Wissenschaft, Medizin und Technik Es gibt heute eine nahezu unüberschaubare Zahl von Bereichen, in denen Analysemethoden und Verfahren unentbehrlich geworden sind, die unmittelbar auf den Erkenntnissen der Hadronenund Kernphysik beruhen. Die Einflüsse reichen von der Forschung über Medizin und Technik bis hin zu Geschichts- und Kunstwissenschaft. Die bedeutenden Fortschritte auf diesen Gebieten in den letzten Jahrzehnten sind zu einem beträchtlichen Teil der maßgeschneiderten Anwendung solcher Methoden zu verdanken. Hier nur einige Beispiele: Aufklärung von Struktur und Dynamik von Zellen mit Hilfe von radioaktiven Markern, quantitative Analyse winziger Konzentrationen von Schadstoffen und Spurenelementen mit beschleunigergestützter Massenspektroskopie, exakte Datierung und Analyse von Objekten über Zeitspannen von Milliarden von Jahren mit Hilfe radioaktiver Nuklide, Untersuchung praktisch aller menschlichen Organe mit der Methode der radioaktiven Dotierung, Anwendung revolutionierender bildgebender Verfahren in der Medizin und Nanostrukturierung und Modifikation von Werkstoffen. Seit 2009 ist das Verfahren routinemäßig am Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) im Einsatz. Dort lassen sich jährlich etwa 1300 Patienten behandeln (Abbildung 2). Abbildung 1: Das Prinzip der hochpräzisen Bestrahlung von Gehirntumoren bei gleichzeitiger Schonung des gesunden Gewebes wurde ursprünglich am GSI Helmholtzzentrum entwickelt. Radionuklide und neue Diagnose- und Therapiemethoden in der Medizin Die Entwicklung maßgeschneiderter Radionuklide für die Untersuchung praktisch aller menschlichen Organe ist eine kaum zu überschätzende Hilfe für die medizinische Diagnostik. Neue bildgebende Verfahren beruhen auf der direkten Visualisierung kernphysikalischer Prozesse, wie die Positron-Emissions-Tomographie (PET) und die Kernspin- oder Magnetresonanz-Tomographie (MRT). Beide Verfahren sind aus der medizinischen Diagnostik nicht mehr wegzudenken. Für die Bestrahlung schwierig zu behandelnder Tumore werden zunehmend Protonen und seit wenigen Jahren auch KohlenstoffIonen eingesetzt. Der Vorteil besteht darin, dass diese Strahlen ihre Energie unmittelbar im Tumor abgeben und umliegendes Gewebe schonen. Hierfür muss der Strahl exakt den Tumor abrastern und seine Energie variert werden. Diese Rastertechnik mit Hilfe von Magnetfeldern haben Forscher am GSI Helmholtzzentrum entwickelt (Abbildung 1). Hier wurden auch seit 1997 rund 440 Patienten mit Tumoren vorwiegend an der Schädelbasis mit Kohlenstoff-Ionen bestrahlt. 28 Status und Perspektiven 2012 Abbildung 2: Das Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum besitzt einen fünf Meter langen Linearbeschleuniger und einen Ringbeschleuniger mit 20 Meter Durchmesser. Daran schließen sich drei Behandlungsplätze an. Die Beschleunigeranlage und die Bestrahlungstechnik haben Wissenschaftler und Techniker der GSI entwickelt und gebaut. Archäologie, Kulturgeschichte und Kunst Die Kohlenstoff-14-Methode wird seit langer Zeit routinemäßig genutzt, um das Alter abgestorbener, organischer Substanzen innerhalb eines Zeitraums von vielen tausend Jahren präzise festzustellen (Abbildung 3). Speziell die Entwicklung der Beschleuniger-Massenspektroskopie ermöglicht es heute, kleinste Proben zu analysieren und somit archäologische Objekte, Grabfunde wie die Gletschermumie Ötzi, Kunstwerke oder kulturgeschichtlich bedeutsame Objekte wie das Turiner Grabtuch zerstörungsfrei zu datieren. Methoden der Hadronen- und Kernphysik in Wissenschaft, Medizin und Technik Protonen- und Ionenstrahlen erlauben es, ohne Probenentnahme Informationen über Materialien und deren chemische Zusammensetzung zu erhalten. Durch die zerstörungsfreie Ionenstrahlanalyse gelingt es zum Beispiel, Schichtabfolgen kunstgeschichtlicher oder archäologischer Gegenstände zu identifizieren, Kenntnis über verwendete Pigmente zu erhalten oder in tieferen Lagen versteckte Strukturen sichtbar zu machen. Abbildung 3: Zerstörungsfreie Methoden zur Material- und Isotopenanalyse ermöglichte die zeitliche und örtliche Zuordnung der Himmelsscheibe von Nebra, einer etwa 3600 Jahre alten Bronzeplatte mit Applikationen aus Gold. Simulation kosmischer Strahlung Beschleunigeranlagen bieten zudem einzigartige Möglichkeiten zur Simulation kosmischer Teilchenstrahlung. Während Weltraummissionen sind strahlenempfindliche Komponenten und elektronische Bauteile im Einsatz und müssen zuverlässig Datenmaterial übertragen. In maßgeschneiderten Bestrahlungsexperimenten im Labor werden diese Geräte mit Ionen beschossen, wie sie in der kosmischen Strahlung vorkommen, und Funktionstests unterzogen. Für die bemannte Raumfahrt sind zudem systematische Untersuchungen an biologischen Zellen unverzichtbar, um vorab Risiken und Strahlenschäden bei Langzeitmissionen abzuschätzen (Abbildung 5). Materialforschung und Festkörperphysik Durch die Bestrahlung mit hochenergetischen Teilchen (Protonen, Neutronen, Ionen) lassen sich mikroskopische und makroskopische Materialeigenschaften verändern. Deswegen sind Ionenstrahlverfahren in unserer technologisch hochentwickelten Gesellschaft nicht mehr wegzudenken und werden in zahlreichen industriellen Bereichen routinemäßig eingesetzt. Sie sind insbesondere unverzichtbar, um Materialien mit maßgeschneiderten Eigenschaften herzustellen. Dazu gehört das Dotieren von Halbleiterelementen, das Härten metallischer Werkstoffe oder die hochpräzise Bearbeitung von Festkörperoberflächen. Ionenstrahlen lassen sich sehr exakt ausrichten und ihre Energie genau einstellen. Deshalb sind sie auch ein wichtiges Werkzeug zur Synthese von Nanostrukturen für neuartige Anwendungen wie elektronische, optische, optoelektronische oder sensorische Bauteile (Abbildung 4). Abbildung 4: Mit hochenergetischen Ionenstrahlen hergestellte metallische Mikrostruktur mit integrierten Nanodrähten zur möglichen Anwendung als chemischer Sensor oder Mikrokatalysator. Abbildung 5: Astronauten sind abhängig von der einwandfreien Funktion der Raumfahrttechnik. Durch kosmische Strahlung verursachte Fehlfunktionen in Mikrochips können fatale Folgen haben. Am GSI Helmholtzzentrum werden mikroelektronische Bauteile mit Ionenstrahlen getestet, deren Zusammensetzung und Energien. Geowissenschaften, Umweltphysik und Klimaforschung Das Alter von Gesteinen, Sedimenten, Meteoriten und der Erde selbst kann mit Hilfe langlebiger radioaktiver Nuklide präzise bestimmt werden. Erosionsraten sowie Vorgänge in der Atmosphäre lassen sich durch die Analyse spezifischer Radionuklide wie Beryllium-10, Aluminium-26, Mangan-53 und vieler anderer über einen weiten Zeitbereich abklären. Die hochempfindliche Technik der Beschleuniger-Massenspektroskopie erlaubt es, winzige Konzentrationen von Spurenelementen oder Schadstoffmolekülen in Erde, Wasser und Atmosphäre nachzuweisen bis weit unter eine relative Konzentration von 10-15 (ein Atom oder Molekül auf eine Trillion). Das entspricht etwa der Fähigkeit, einen Tischtennisball im Bodensee aufzuspüren. Für die Klimadiskussion sind Erkenntnisse, die mit kernphysikalischen Methoden gewonnen werden, ganz wesentlich. In mächtigen Eisbohrkernen der Arktis und Antarktis wird aus dem Isotopenverhältnis von Sauerstoff-16 und Sauerstoff-18 die mittlere Jahrestemperatur über einen Bereich von vielen tausend Jahren genau analysiert. Die Daten erlauben es unter anderem auch, langfristige Änderungen der Sonneneinstrahlung und deren mögliche Auswirkung auf das Klima der Erde in der Vergangenheit festzustellen. Status und Perspektiven 2012 29 Ausbildung in der Hadronen- und Kernphysik In Deutschland sind auf dem Gebiet der Hadronen- und Kernphysik etwa … Diplomanden, … Doktoranden und … Nachwuchswissenschaftler tätig (Zahlen werden noch ermittelt). Die Ausbildung im Bereich der Hadronen- und Kernphysik zeichnet sich durch eine außerordentliche Breite aus und qualifiziert daher die Studierenden für viele Gebiete außerhalb der Grundlagenforschung. Junge Experimentalphysiker entwickeln zum Beispiel neue Detektoren und Beschleunigerkomponenten und sind an deren Aufbau und Betrieb beteiligt. Hierbei kommt oft moderne Mikroelektronik zum Einsatz, die in enger Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelt wird. Ein weiteres Tätigkeitsfeld ist die Entwicklung von Hardware und Software zur Steuerung von großen Datenflüssen, Datenreduktion und Datenverteilung. Im Softwarebereich umfasst die Ausbildung die Erstellung und Bearbeitung großer Programmpakete zur Durchführung umfangreicher Computersimulationen, zur Online-Datenaufnahme und Datenauswertung. 30 Status und Perspektiven 2012 Die theoretische Forschung basiert zunehmend auf dem Einsatz von superschnellen Hochleistungsrechnern. Für spezielle Anwendungen werden große Prozessornetzwerke zum Teil von Physikern selbst entwickelt. Dies erfordert ebenfalls die Entwicklung von Algorithmen und Computerprogrammen die an die modernen Rechnerarchitekturen angepasst sind. Zusätzliche Qualifikationen im Bereich Kommunikation und Organisation erwerben sich die Nachwuchswissenschaftler durch die Arbeit an Großprojekten die von internationalen Kollaborationen durchgeführt werden. Dies erfordert Durchsetzungsvermögen gepaart mit Teamgeist, und fördert Kenntnisse in Projektmanagement, Kommunikation und Präsentation in Fremdsprachen, auch auf internationalen Konferenzen. Dieses breite Spektrum an Qualifikationen eröffnet sehr gute Berufs- und Karrieremöglichkeiten in Forschung und Lehre, Industrie und Handel, Energie und Verkehr, Medizintechnik und Telekommunikation, bis hin zu Banken, Versicherungen und Unternehmensberatungen. Um Jugendliche für Naturwissenschaften zu begeistern und Nachwuchs für die Hadronen- und Kernphysik zu gewinnen ornanisieren viele Institute Tage der Forschung, Schülerlabore und Studentenprogramme. Impressum Herausgeber: Komitee für Hadronen- und Kernphysik (KHuK) Erscheinungsdatum: Januar 2012 Internet: http://www.khuk.de Kontakt: Peter Senger (Vorsitzender des KHuK) Telefon: 06159 712652 E-Mail: [email protected] Redaktion: P. Senger Beiträge von: R. Beck, K. Blaum, T. Bührke, C. Greiner, K. Langanke, M.F.M. Lutz, U. Ratzinger, J. Ritman, P. Senger, T. Stöhlker, J. Wambach, J. Wessels, C. Weinheimer, Grafiken: GSI, Ingenieurbüro Bung Layout, Satz und Produktion: shapeNerds – Agentur für Werbung und Design Schäfer und Ravensberger GbR Druck: Fotos und Abbildungen: Gabriele Otto/Achim Zschau (GSI), ALICE-Kollaboration, Institut für Kernphysik/Universität Mainz, NASA, CERN, Universität Bonn, FZ Jülich Status und Perspektiven 2012 31