GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE

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GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE
SOMMERSEMESTER 2016
WESTFÄLISCHE WILHELMS-UNIVERSITÄT MÜNSTER
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
I NHALTSVERZEICHNIS
Überblick
Literatur
iii
iii
Teil 1. Mengentheoretische Topologie
1. Topologische Räume und stetige Abbildungen
2. Konvergenz und Netze
3. Produkte und initiale Topologien
4. Quotienten und finale Topologien
5. Abschluss, Rand und Trennungseigenschaften
6. Kompaktheit
7. Filter und der Satz von Tychonoff
8. Kompaktifizierungen und lokal-kompakte Räume
9. Das Urysohnsche Lemma
10. Funktionen auf lokal-kompakten Hausdorff-Räumen
11. Der Satz von Stone-Weierstrass
12. Zusammenhang
1
1
3
6
8
10
11
14
17
20
23
25
27
Teil 2.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
28
28
32
35
37
41
44
49
Die Fundamentalgruppe und Überlagerungen
Die Fundamentalgruppe eines Raumes
Die Fundamentalgruppe und Abbildungen
Die Fundamentalgruppe des Kreises
Überlagerungen und Hochhebungssätze
Die Wirkung der Fundamentalgruppe
Klassifikation von Überlagerungen
Kategorien und Funktoren
Teil 3. Differenzierbare Mannigfaltigkeiten
20. Glatte Mannigfaltigkeiten
i
51
51
21.
22.
23.
24.
25.
Untermannigfaltigkeiten
Approximation durch glatte Funktionen
Der Tangentialraum
Ableitungen von Funktionen und glatten Abbildungen
Das Tangentialbündel
ii
54
58
61
65
67
Ü BERBLICK
Die Vorlesung gibt eine Einführung in
(1) mengentheoretische Topologie
(topologische Räume und stetige Abbildungen, Netze, Kompaktheit, Approximationssatz von Stone-Weierstraß, Metrisierbarkeit, evt. Partitionen der Eins,
Zusammenhang);
(2) Fundamentalgruppe eines topologischen Raumes
(Fundamentalgruppe/-gruppoid, Windungszahl, Überlagerungen und deren Klassifikation);
(3) Grundlagen zu differenzierbare Mannigfaltigkeiten
Mannigfaltigkeiten, Vektorbündel, Tangentialräume und -bündel).
Diese Inhalte sind grundlegend für die drei Vertiefungsmodule
• Funktionalanalysis,
• Topologie,
• Differentialgeometrie,
(1) und (3) darüber hinaus aber auch für fast alle Gebiete der reinen Mathematik.
Die Vorlesung folgt nicht direkt einem Buch. Als Literatur empfehle ich nachfolgende
Bücher, die in der Bibliothekt im Semesterapparat zu finden sind. Das Buch [Jän05b]
kann vom Uni-Netz aus als Ebook von www.springerlink.com kostenfrei heruntergeladen werden.
L ITERATUR
[Bre93]
[Jän05a]
[Jän05b]
[Oss92]
[Ped12]
[Que08]
[Run05]
Glen E Bredon. Topology and geometry, GTM 139. Springer, 1993.
Klaus Jänich. Topologie. Springer, 2005.
Klaus Jänich. Vektoranalysis. Springer, 2005.
Erich Ossa. Topologie. Vieweg, 1992.
Gert K Pedersen. Analysis now, volume 118. Springer, 2012.
Bv Querenburg. Mengentheoretische Topologie. Springer, 2008.
Volker Runde. A taste of topology. Springer, 2005.
iii
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
1
Teil 1. Mengentheoretische Topologie
1. T OPOLOGISCHE R ÄUME UND STETIGE A BBILDUNGEN
Die Begriffe Konvergenz und Stetigkeit von Abbildungen wurden in der Analysis I/II in
zunehmender Allgemeinheit erst für R, dann für Teilmengen von Rn und schließlich
metrische Räume definiert, werden aber später in fast allen Bereichen der Mathematik
in größerer Allgemeinheit benötigt. Den geeigneten Rahmen dafür bilden topologische
Räume.
Wiederholung zu metrischen Räumen. Zur Erinnerung:
Definition (Analysis 2).
• Ein metrischer Raum ist eine Menge X mit einer Metrik, also einer Abbildung d : X × X → [0, ∞) mit folgenden Eigenschaften:
(1) ∀x, y ∈ X : d(x, y) = 0 ⇔ x = y
(2) ∀x, y ∈ X : d(x, y) = d(y, x)
(3) ∀x, y, z : d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z)
1/2
Beispiel.
(1) Rn mit der euklidischen Metrik d(x, y) = ∑i (xi − yi )2
(2) jeder normierte Raum mit der induzierten Metrik
( d(x, y) = kx − yk
0, x = y,
(3) jede Menge mit der diskreten Metrik d(x, y) =
1, x 6= y.
Konvergenz und Stetigkeit können dann mit Hilfe von Umgebungen definiert werden:
Definition (Analysis 2). Sei (X, dX ) ein metrischer Raum und x ∈ X.
• Eine Teilmenge U ⊆ X heißt Umgebung von x, falls x ∈ U und es ein ε > 0 gibt
mit {y ∈ X : dX (x, y) < ε} ⊆ U.
• Eine Folge in X konvergiert gegen ein x ∈ X, falls jede Umgebung von x alle bis
auf endliche viele Folgenglieder enthält.
• Sei (Y, dY ) ein metrischer Raum. Eine Abbildung f : X → Y ist stetig in x ∈ X,
falls für jede Umgebung V von f (x) eine Umgebung U von x mit f (U) ⊆ V
existiert.
Um “lokal” über Konvergenz und Stetigkeit zu sprechen, braucht man also nur zu wissen, was die Umgebungen eines Punktes sind. “Global” ist es einfacher, mit offenen
Mengen zu arbeiten:
Definition (Analysis 2). Eine Teilmenge eines metrischen Raumes heißt offen, falls sie
Umgebung von jedem ihrer Punkte ist.
Satz (Analysis 2). Eine Abbildung zwischen metrischen Räumen ist genau dann stetig,
wenn das Urbild jeder offenen Menge wieder offen ist.
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PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Topologische Räume. Um über Konvergenz und Stetigkeit zu sprechen, reicht es, zu
wissen, welche Teilmengen eines Raumes offen sind.
Definition 1.1. Ein topologischer Raum ist eine Menge X mit einer Teilmenge τ ⊆ P (X)
mit folgenden Eigenschaften:
/ X ∈τ
(1) 0,
(2) U,V ∈ τ ⇒ U ∩V ∈ τ
S
(3) U ⊆ τ ⇒ ( U∈U U) ∈ τ.
Man nennt dann τ eine Topologie auf X, Elemente von τ offene Mengen, deren Komplemente abgeschlossene Mengen, und erwähnt τ nicht immer.
Der Begriff eines topologischen Raumes ist sehr allgemein — topologische Räume können sehr unterschiedliche und überraschende Eigenschaften besitzen. Ihr Studium bringt
eine Vielzahl von Begriffsbildungen mit sich, die einen anfangs überrollen können. Ein
Gespür für diese Begriffsbildungen erhält man erst durch das Arbeiten mit Beispielen
und Übungsaufgaben.
Beispiel 1.2.
(1) die von einer Metrik d auf X erzeugte Topologie
τd := {U ⊆ X : U ist bezüglich d offen};
(2) die diskrete Topologie
τdiskret := P (X);
(3) jede Teilmenge A eines topologischen Raumes (X, τ) trägt die Teilraum-/Spur/Relativtopologie
τA = {U ∩ A : U ∈ τ}
(4) (ÜA) auf N ∪ {∞} die Topologie
τ = {U ⊆ N ∪ {∞} : (∞ 6∈ U) oder (∃n mit {n, n + 1, n + 2, . . .} ⊆ U)};
(5) die grobe Topologie auf X ist
/ X};
τgrob := {0,
(6) die ko-endliche Topologie
/
τco f in = {F c : F ⊆ X endlich} ∪ {0}
(endlichen Vereinigungen und beliebigen Schnitte endlicher Mengen sind endlich);
(7) die ko-abzählbare Topologie
/
τcoenum = {Ac : A ⊆ X abzählbar} ∪ {0}.
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Definition 1.3. Sei X ein topologischer Raum. Eine Teilmenge V ⊆ X heißt Umgebung
von x ∈ X, falls es eine offene Menge U ⊆ X mit x ∈ U ⊆ V gibt.
Bemerkung 1.4. Insbesondere ist eine Menge genau dann offen, wenn sie Umgebung
jedes ihrer Punkte ist.
Stetige Abbildungen. Seien X und Y topologische Räume.
Definition 1.5. Eine Abbildung f : X → Y heißt
• stetig in x ∈ X, falls für jede Umgebung V von f (x) ∈ Y eine Umgebung U von
x mit f (U) ⊆ V existiert;
• stetig, wenn Urbilder offener Mengen offen sind.
Beispiel 1.6.
(1) Trägt X die diskrete Topologie, so ist f stets stetig.
(2) Trägt Y die grobe Topologie, so ist f stets stetig.
(3) Die Identität auf X ist stetig als Abbildung von (X, τ) nach (X, τ0 ) genau dann,
wenn τ0 ⊆ τ. In dem Fall nennt man τ feiner/stärker als τ0 und τ0 gröber/schwächer
als τ. Zum Beispiel ist τgrob ⊆ τco f in ⊆ τcoen ⊆ τdiskret .
Satz 1.7. Eine Abbildung zwischen topologischen Räumen ist stetig genau dann, wenn
sie in jedem Punkt stetig ist.
Beweis. “⇒”: Sei x ∈ X und W eine Umgebung von f (x). Wähle offenes V mit f (x) ∈
V ⊆ W . Dann ist U := f −1 (V ) eine offene Umgebung von x mit f (U) = V .
“⇐”: Sei V ⊆ Y offen, nicht leer und x ∈ f −1 (V ). Nach Annahme ex. U ⊆ X offen mit
f (U) ⊆ V , also x ∈ U ⊆ f −1 (V ). Nach Bemerkung 1.4 ist f −1 (V ) offen.
Lemma 1.8. Die Verknüpfung stetiger Abbildungen zwischen topologischen Räumen ist
wieder stetig.
Beweis. Sind f : X → Y und g : Y → Z stetig und W ⊆ Z offen, so ist g−1 (W ) ⊆ Y offen
und f −1 (g−1 (W )) = (g ◦ f )−1 (W ) offen.
Definition 1.9. Eine Abbildung f : X → Y heißt Homöomorphismus, falls f bijektiv
und f sowie f −1 stetig sind; in dem Fall nennt man X und Y homöomorph und schreibt
X∼
= Y.
Beispiel 1.10.
(1) R ∼
= (−1, 1) (einfach).
∼
(2) (−1, 1) =
6 (−1, 1) \ {0} und (−1, 1) ∼
6 [−1, 1) ∼
6 [−1, 1] (Übung).
=
=
n
m
(3) R ∼
R
⇔
n
=
m
(schwer).
=
2. KONVERGENZ UND N ETZE
Für metrische Räume ließen sich viele wichtige Begriffe wie Stetigkeit und Kompaktheit äquivalent mit Hilfe offener Mengen oder mit Hilfe konvergenter Folgen definieren.
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PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Konvergenz von Folgen. Ähnlich wie für metrische Räume definieren wir:
Definition 2.1. Eine Folge (xn )n in einem topologischen Raum X konvergiert gegen
x ∈ X, falls jede Umgebung von x alle bis auf endlich viele Folgenglieder enthält. Wir
schreiben dann xn → x oder limn→∞ xn = x.
Allgemeine topologische Räume bieten viele Überraschungen:
Beispiel 2.2.
(1) Ist (X, d) ein metrischer Raum, so konvergiert eine Folge xλ bezüglich der von d erzeugten Topologie gegen ein x genau dann, wenn xλ gegen
x bezüglich d konvergiert.
(2) Trägt X die grobe Topologie, so konvergiert jede Folge gegen jeden Punkt. Insbesondere sind Grenzwerte nicht eindeutig!
(3) Trägt X die diskrete Topologie, so konvergiert eine Folge nur, wenn sie irgendwann konstant wird (wähle U = {x}).
(4) Trage X die ko-abzählbare Topologie. Falls xn = x für alle bis auf endlich viele
n ∈ N, so folgt limn→∞ xn = x. Andernfalls existiert eine Teilfolge (xnk )k mit
xnk 6= x für alle k und U := X \ {xnk : k} ist eine offene Menge mit x ∈ U aber
xnk 6∈ U für alle k.
(3), (4) ⇒ In topologischen Räumen kann man Stetigkeit nicht mittels Konvergenz von
Folgen charakterisieren!
Beispiel 2.3. Sei X überabzählbar. Dann ist idX : (X, τcoenum ) → (X, τdiskret )
• “folgenstetig”: für jede Folge (xn )n und jedes x in X folgt xn → x in (X, τcoenum )
die Gleichung xn = x für hinreichend große n und somit xn → x in (X, τdiskret );
• aber nicht stetig, weil τdiskret 6⊆ τcoenum .
Immerhin gilt:
Satz 2.4. Ist f : X → Y eine stetige Abbildung topologischer Räume und konvergiert
eine Folge (xn )n in X gegen x ∈ X, so konvergiert ( f (xn ))n in Y gegen f (x).
Beweis. Sei V ⊆ Y eine offene Menge mit f (x) ∈ V . Dann ist U := f −1 (V ) offen, enthält
x und damit auch alle bis auf endlich viele der xn . Somit enthält f (U) = V alle bis auf
endlich viele der f (xn ).
Konvergenz von Netzen. Eine Lösung des Problems ist die Verwendung allgemeinerer
Indexmengen als N:
Definition 2.5.
• Eine gerichtete Menge ist eine nicht-leere Menge Λ mit einer
Relation ≤ mit folgenden Eigenschaften:
(1) ≤ ist eine partielle Ordnung, also reflexiv und transitiv;
(2) jedes Paar hat eine obere Schranke: ∀λ1 , λ2 ∈ Λ∃µ ∈ Λ : λ1 ≤ µ und λ2 ≤ µ.
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• Ein Netz in einem topologischen Raum X besteht aus einer gerichteten Menge
Λ und Elementen xλ ∈ X für λ ∈ Λ.
• Ein Netz (xλ )λ∈Λ konvergiert gegen ein x ∈ X genau dann, falls
∀U ⊆ X offen mit x ∈ U∃λ0 ∈ Λ∀λ ≥ λ0 : xλ ∈ U.
(1)
λ→∞
Wir schreiben dann xλ −−−→ x oder limλ→∞ xλ = x.
Beispiel 2.6.
(1) Λ := N ist mit der gewöhnlichen Ordnung eine gerichtete Menge;
ein Netz ist dann eine Folge.
(2) Für jeden Punkt x in einem topologischen Raum X ist die Menge
Λ := {U ⊆ X offen : x ∈ U} mit U ≤ V :⇔ U ⊇ V
gerichtet. Falls xU ∈ U für alle U ∈ Λ, so folgt xU → x (setze in (1) λ0 := U).
(3) Sei I eine Menge. Dann ist
Λ := {F ⊆ I endlich} mit F1 ≤ F2 :⇔ F1 ⊆ F2
gerichtet. Ist (xi )i∈I eine Familie in R (allgemeiner: einem normierten Raum X),
so bilden die Partialsummen
SF :=
∑ xi
für F ⊆ I endlich
i∈F
ein Netz in R (bzw. X) und ∑i∈I xi = limF→∞ SF (falls der Grenzwert existiert).
(4) Sei f : [a, b] → R beschränkt, I = (a, b) und Λ wie in (2). Für a < x1 < . . . <
xn < b setzen wir x0 = a, xn+1 = b und
n
S{x1 ,...,xn } :=
∑ (xk+1 − xk )
k=0
n
S{x1 ,...,xn } :=
sup
f (x),
x∈(xk ,xk+1 )
∑ (xk+1 − xk ) inf x ∈ (xk , xk+1) f (x).
k=0
f Riemann-integrierbar genau dann, wenn die Netze (SF )F∈F und (SF )F∈F
R
gegen denselben Grenzwert konvergieren; dieser ist dann ab f (x)dx.
Satz 2.7. Für jede Abbildung f : X → Y zwischen topologischen Räumen sind folgende
Aussagen äquivalent:
(1) f ist stetig;
(2) für jeden Punkt x und jedes Netz (xλ )λ in X gilt: aus xλ → x folgt f (xλ ) → f (x).
Beweis. (1)⇒(2): Sei (xλ )λ ein Netz in X, das gegen ein x ∈ X konvergiert. Sei V eine
Umgebung von f (x). Da f stetig ist, existiert eine Umgebung U von x mit f (U) ⊆ V .
Wegen xλ → x existiert ein λ0 mit xλ ∈ U für alle λ ≥ λ0 , und für solche λ folgt f (xλ ) ∈
f (U) ⊆ V . Somit gilt f (xλ ) → f (x).
6
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
(2)⇒(1): Sei V ⊆ Y offen. Wir zeigen: f −1 (V ) ist offen, d.h. jedes x ∈ f −1 (V ) hat eine
offene Umgebung U mit U ⊆ f −1 (V ). Andernfalls finden wir ein x ∈ f −1 (V ) so, dass
für jede offene Umgebung U von x ein xU ∈ U \ f −1 (V ) existiert. Dann folgt wie in
Beispiel 2.6 (3) xU → x, aber f (xU ) 6∈ V für alle U und somit f (xU ) 6→ f (x). Dies ist ein
Widerspruch.
Bemerkung 2.8.
(1) Jede in R konvergente Folge ist beschränkt; für Netze gilt das
nicht.
(2) Später führen wir den Begriff eines Teilnetzes ein.
(3) Konvergenz in topologischen Räumen kann man statt mit Netzen auch mit Filtern behandeln, die wir später einführen.
3. P RODUKTE UND INITIALE T OPOLOGIEN
Wir wollen nun neue Räume konstruieren, z.B. zu gegebenem X und Y einen Produktraum X ×Y derart, dass (xλ , yλ ) → (x, y) genau dann, wenn xλ → x und yλ → y. Dafür
betrachten wir verschiedene Möglichkeiten, Topologien auf einer Menge zu beschreiben
und erzeugen.
Sei X eine Menge. Statt mit allen offenen Mengen einer Topologie auf X kann man oft
einfacher mit einer Basis zu arbeiten:
Definition 3.1. Sei τ eine Topologie auf X. Eine Teilmenge B ⊆ τ heißt Basis von τ,
falls jede offene Menge eine Vereinigung von Elementen aus B ist.
Beispiel 3.2.
(1) {(a, b) : a, b ∈ Q} ist eine Basis der gewöhnlichen Topologie auf
R.
(2) Sei τ die von einer Metrik d auf X erzeugte Topologie. Dann bilden die ε-Kugeln
Bε (x) = {y ∈ X : d(x, y) < ε} mit ε > 0 und x ∈ X eine Basis von τ.
Satz 3.3. Sei B ⊆ P (X). Dann sind folgende Aussagen äquivalent:
(1) Es gibt eine Topologie τ auf X, für die B eine Basis ist.
S
(2) Es gilt U∈B U = X und für alle U,V ∈ B und x ∈ U ∩ V existiert ein W ∈ B
mit x ∈ W ⊆ U ∩V .
Beweis. (1)⇒(2): Sind U,V ∈ B , so ist U ∩ V offen, also Vereinigung von Elementen
aus B .
(2)⇒(1): Wir nennen U ⊆ X offen, falls für jedes x ∈ U ein V ∈ B mit x ∈ V ⊆ U
existiert. Dann sind
• 0/ und beliebige Vereinigungen offener Mengen (trivialerweise) offen;
• X und die Schnitte von je zwei offenen Mengen wieder offen wegen (2).
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Damit können wir Produkträume definieren: Sind X und Y topologische Räume, so ist
B := {U ×V : U offen in X und V offen in Y } ⊆ P (X ×Y )
eine Basis für eine Topologie auf X ×Y ; genannt die Produkt-Topologie. Eine Teilmenge
W ⊆ X ×Y ist also offen genau dann, wenn sie mit jedem Punkt (x, y) auch das Produkt
U ×V einer Umgebung U von x und einer Umgebung V von y enthält.
Beispiel 3.4.
(1) Trägt R die gewöhnliche Topologie, so ist die Produkt-Topologie
auf R × · · · × R auch die gewöhnliche.
(2) Für S1 = {z ∈ C : |z| = 1} ist das Produkt S1 × S1 der Torus.
Obige Definition ist ein Spezialfall folgender Konstruktion:
Satz 3.5 (Initiale Topologie). Sei X eine Menge und (Xi )i∈I eine Familie topologischer
Räume mit Abbildungen pi : X → Xi .
(1) Alle Mengen der Form
−1
p−1
i1 (U1 ) ∩ · · · ∩ pin (Un ) mit n ∈ N und U1 ⊆ Xi1 , . . . ,Un ⊆ Xin offen
(2)
bilden eine Basis einer Topologie τ auf X (genannt die initiale Topologie bzgl.
(pi )i .)
(2) Dieses τ ist die schwächste Topologie auf X, die alle Abbildungen pi stetig
macht.
(3) Ein Netz (xλ )λ konvergiert in X bezüglich τ genau dann, wenn für jedes i ∈ I das
Netz (p(xi ))i konvergiert.
(4) Für jeden topologischer Raum Y ist eine Abbildung g : Y → X stetig genau dann,
wenn die Verknüpfung pi ◦ g : Y → Xi für jedes i stetig ist.
Beweis. (1) Offensichtlich erfüllen diese Mengen die Voraussetzung von Satz 3.3 (2).
(2) Für jedes i ∈ I ist pi bezüglich τ stetig, da p−1
i (U) ∈ τ für jedes offene U ⊆ Xi .
0
Sei τ eine Topologie auf X, bezüglich derer jedes pi stetig wird. Sind i1 , . . . , in und
−1
U1 , . . . ,Un wie in (2), so enthält τ0 die Mengen p−1
i1 (U1 ), . . . , pin (Un ) und somit auch
deren Schnitt. Es folgt τ ⊆ τ0 .
(3) “⇒”: Folgt, da jedes pi stetig ist.
λ→∞
“⇐”: Sei x ∈ X, gelte pi (xλ ) −−−→ pi (x) für jedes i und sei V eine Umgebung von x.
Nach Def. von τ enthält V eine Umgebung U von x der Form (2). Wegen pi (xλ ) → pi (x)
finden wir λ1 , . . . , λn mit pik (xλ ) ∈ Uk für alle λ ≥ λk . Wähle λ0 mit λ0 ≥ λ1 , . . . , λ0 ≥ λn .
Dann gilt für alle λ ≥ λ0 : pik (xλ ) ∈ Uk , also xλ ∈ U ⊆ V .
(4) Sei yλ ein Netz in Y und y ∈ Y mit yλ → y. Nach (3) gilt g(yλ ) → g(y) genau dann,
wenn für jedes i gilt: (pi ◦ g)(yλ ) → (pi ◦ g)(y).
8
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Beispiel 3.6.
(1) (Fall |I| = 1) Ist (Y, τ) ein topologischer Raum, so ist die initiale
Topologie auf einer Menge X bzgl. einer Abbildung f : X → Y gerade
f ∗ τ := { f −1 (V ) : V ∈ τ}.
Ist X ⊆ Y und f die Inklusion, so ist f −1 (V ) = V ∩ X und f ∗ τ die TeilraumTopologie.
(2) Seien (Xi )i∈I topologische Räume. Dann ist die initiale Topologie auf X = ∏i∈I Xi
bezüglich der Projektionen pi : X → Xi die Produkt-Topologie.
(3) Die initiale Topologie auf X = C([a, b]) bezüglich der Punkt-Auswertungen
pt : C([a, b]) → C, f 7→ f (t) für alle t ∈ [a, b],
heißt Topologie der punktweisen Konvergenz — nach Satz 3.5 (3) gilt
λ→∞
fλ −−−→ f in C([a, b])
⇔
λ→∞
∀t ∈ [a, b] : fλ (t) −−−→ f (t).
(4) Sei (V, k · k) ein normierter Raum. Die initiale Topologie auf V bezüglich k ·
k : V → [0, ∞) ist nicht die von der Metrik d(v, w) = kv − wk erzeugte. Beispielsweise konvergiert im Fall (V, k · k) = (R, | · |) bezüglich der initialen Topologie
n→∞
die Folge ((−1)n )n gegen 1, weil |(−1)n | −−−→ |1|.
(5) Die initiale Topologie auf X = l 2 (N) bezüglich der Abbildungen
pξ : l 2 (N) → C,
η 7→ hξ|ηi für alle ξ ∈ l 2 (N)
heißt schwache Topologie auf l 2 (N). Bezüglich dieser konvergiert z.B. die Orthonormalbasis (e(n) )n für n → ∞ gegen 0, da für jedes ξ = (ξn )n ∈ l 2 (N) gilt:
n→∞
pξ (e(n) ) = hξ|e(n) i = ξn −−−→ 0 = pξ (0).
Bezüglich der l 2 -Norm(-Topologie) gilt natürlich e(n) 6→ 0, da ken − 0k2 = 1 6→
0.
4. Q UOTIENTEN UND FINALE T OPOLOGIEN
Sei X ein topologischer Raum und ∼ eine Äquivalenzrelation auf X. Wir wollen für
jedes x ∈ X alle Punkte der Äquivalenzklasse
[x] := {x0 ∈ X : x ∼ x0 }
zu einem Punkt “zusammenziehen” und definieren auf X/∼ = {[x] : x ∈ X} mit Hilfe
der Quotientenabbildung
q : X → X/∼ , x 7→ [x],
die Quotiententopologie
q∗ τ := V ⊆ X/∼ : q−1 (V ) offen in X .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
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Dass dies eine Topologie ist, kann man leicht sehen oder nachher aus Satz 4.2 folgern.
Beispiel 4.1.
(1) Im Fall
t ∼ t 0 ⇔ t = t 0 oder {t,t 0 } = {0, 1}
X = [0, 1],
ist [0, 1]/∼ ∼
= S1 via t 7→ e2πit .
(2) Sei ∼ wie in (1). Im Fall
X = [0, 1]2 ,
(x, y) ∼2 (x0 , y0 ) ⇔ (x ∼ x0 ) und (y ∼ y0 )
ist X/∼2 ∼
= S1 × S1 .
(3) Sei k = R oder k = C, versehen mit der normalen Topologie. Im Fall
x ∼ x0 ⇔ kx = kx0
X = kn+1 \ {0},
ist kPn := X/∼ der n-dimensionale projektive Raum.
(4) Sei Y ein topologischer Raum und f : Y → Y stetig. Im Fall
X = Y × [0, 1],
(y, 0) ∼ ( f (y), 1) für alle y ∈ Y
ist T f := X/∼ der Abbildungstorus von f . Für Y = [−1, 1] und f (y) = −y ist T f
das Möbiusband.
Obige Konstruktion ist ein Spezialfall von folgendem Gegenstück zu Satz 3.5:
Satz 4.2 (Finale Topologie). Sei X eine Menge und (Xi )i∈I eine Familie topologischer
Räume mit Abbildungen qi : Xi → X.
(1) Es gibt eine feinste Topologie τ auf X, die alle Abbildungen qi stetig macht,
gegeben durch
τ = {U ⊆ X : q−1
i (U) ⊆ Xi offen für jedes i ∈ I}.
(2) Für jeden topologischen Raum Y ist eine Abbildung g : X → Y stetig genau
dann, wenn für jedes i ∈ I die Verknüpfung g ◦ qi : Xi → Y stetig ist.
Man nennt τ die finale Topologie auf X bzgl. (qi )i .
Beweis. (1) τ ist eine Topologie, weil für jedes i ∈ I
−1
−1
q−1
i (U1 ∩ · · · ∩Un ) = qi (U1 ) ∩ · · · ∩ qi (Un ),
q−1
i (
[
j∈J
U j) =
[
q−1
i (U j ).
j∈J
Offensichtlich ist τ die feinste.
(2) Sei V ⊆ Y offen und U := g−1 (V ) ⊆ X. Nach (1) ist U offen genau dann, wenn für
−1
jedes i ∈ I die Menge q−1
i (U) = (g ◦ qi ) (V ) offen ist.
Beispiel 4.3.
(1) Die Quotiententopologie auf X/∼ ist die finale Topologie bzgl. der
Quotientenabbildung q : X → X/∼ .
10
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
(2) Sei (Xi )i∈I eine Familie topologischer Räume. Die finale Topolgie auf der disF
junkten Vereinigung X = i∈I Xi bzgl. der Inklusionen qi : Xi → X heißt die
Summentopologie.
5. A BSCHLUSS , R AND UND T RENNUNGSEIGENSCHAFTEN
Beim Übergang zu Quotienten können merkwürdige Dinge passieren, z.B. Folgen mehrere Grenzwerte erhalten:
Beispiel 5.1.
(1) Wir betrachen
R/∼
mit
x ∼ y ⇔ x = y oder x, y < 0.
Die Äquivalenzklassen sind (−∞, 0) und {x} mit x ≥ 0, und die konstante Folge
[−1/n] = (−∞, 0) konvergiert gegen {0}.
(2) Wir betrachten
(R × {0, 1})/(x,k)∼(x,k0 ) für x6=0 ,
die reelle Achse mit verdoppeltem Ursprung [(0, 0)] 6= [(0, 1)]. Hier gilt
n→∞
∞←n
[(0, 0)] ←−−− [(1/n, 0)] = [(1/n, 1)] −−−→ [(0, 1)].
q
(3) Die Quotiententopologie auf R →
− R/Q = R/∼ mit x ∼ y ⇔ x − y ∈ Q ist die
grobe Topologie: ist 0/ 6= A ⊆ R/Q abgeschlossen, so auch q−1 (A) = q−1 (A) +
Q, aber letztere Menge ist dicht in R, also q−1 (A) = R und A = R/Q.
Diese Phänomene wollen wir nun genauer betrachten. Sei X ein topologischer Raum.
Definition 5.2. Für jede Teilmenge A ⊆ X definieren wir
S
• das Innere Å := {U ⊆ A : U offen in X};
T
• der Abschluss A := {B ⊆ X abgeschlossen : A ⊆ B};
• der Rand ∂A := A \ Å.
Man nennt A dicht in einer Teilmenge B ⊆ X, wenn A ⊆ B ⊆ A.
Lemma 5.3. Für jedes x ∈ X und A ⊆ X sind äquivalent:
(1) x ∈ A;
(2) jede Umgebung von x enthält einen Punkt aus A;
(3) es gibt ein Netz in A, dass in X gegen x konvergiert.
Beweis. (1) ⇔ (2): Klar.
(2) ⇒ (3): Wähle für jede Umgebung U von x ein xU ∈ A ∩U und ordne die UmgebunU→∞
gen durch U ≤ U 0 :⇔ U 0 ⊆ U. Nach 2.6 folgt A 3 xU −−−→ x.
λ→∞
(3) ⇒ (2): Gilt A 3 xλ −−−→ x, so enthält jede Umgebung von x ab einem λ0 alle xλ mit
λ ≥ λ0 .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
11
Im Fall A = {y} folgt z.B. x ∈ {y} ⇔ jedes Netz, das gegen y konvergiert, konvergiert
auch gegen x (ÜA).
Satz 5.4. Für jeden topologischen Raum X sind folgende Bedingungen äquivalent:
(1) Je zwei verschiedene Punkte in X haben disjunkte Umgebungen.
(2) Jedes Netz in X hat höchstens einen Grenzwert.
(3) ∆ := {(x, x) : x ∈ X} ist abgeschlossen in X × X.
λ→∞
Beweis. (1)⇒(2): Angenommen, xλ −−−→ xi für i = 1, 2. Dann existieren disjunkte Umgebungen Ui von xi und Indizes λi mit xλ ∈ Ui für alle λ ≥ λi . Für λ ≥ λ1 , λ2 folgt
/ Widerspruch.
xλ ∈ U1 ∩U2 = 0,
(2) ⇒ (3): Ist (x, y) ∈ ∆, so existiert nach 5.3 ein Netz (xλ , xλ ) mit (xλ , xλ ) → (x, y) und
mit 3.5 folgt xλ → x, xλ → y, also x = y.
(3) ⇒ (1): Ist x 6= y, so (x, y) 6∈ ∆, also existieren Umgebungen U von x und V von y mit
/ also (U ∩V ) = 0.
/
U ×V ∩ ∆ = 0,
Definition 5.5. Ein topologischer Raum heißt Hausdorffsch, falls er die Bedingungen
(1) und (2) erfüllt.
Beispiel 5.6.
(1) Ist X unendlich, so ist die ko-endliche Topologie auf X nicht Hausdorffsch.
(2) Ist (X, d) ein metrischer Raum, so ist X bzgl. der von d erzeugten Topologie
/
Hausdorffsch: Für x 6= y ist ε := d(x, y)/2 > 0 und Bε (x) ∩ Bε (y) = 0.
(3) ∏i Xi ist Hausdorffsch genau dann, wenn jedes Xi Hausdorffsch ist.
6. KOMPAKTHEIT
Für metrische Räume wurde Kompaktheit in der Analysis II bereits ausführlich diskutiert. Für topologische Räume definieren wir sie nun mittels offener Überdeckungen.
Sei (X, τ) ein topologischer Raum. Für V ⊆ P (X) schreiben wir
[
V :=
[
V,
\
V :=
V ∈V
\
V.
V ∈V
Definition 6.1. Sei (X, τ) ein topologischer Raum.
• Eine offene Überdeckung einer Teilmenge Y ⊆ X ist eine Teilmenge U ⊆ τ mit
S
Y ⊆ U . Eine Teilüberdeckung ist dann eine Überdeckung V ⊆ U .
T
• Eine Teilmenge A ⊆ P (X) hat die endliche Durchschnittseigenschaft, falls F 6=
0/ für jede endliche Teilmenge F ⊆ A .
Satz 6.2. Für jeden topologischen Raum (X, τ) sind äquivalent:
(1) Jede offene Überdeckung von X enthält eine endliche Teilüberdeckung.
12
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(2) Ist A eine Menge abgeschlossener Teilmengen von X mit der endlichen DurT
/
schnittseigenschaft, so gilt A 6= 0.
Beweis. (1) ⇒ (2) Ist der Schnitt aller Mengen A ∈ A leer, so bilden deren Komplemente
eine offene Überdeckung und wir finden A1 , . . . , An mit X = Ac1 ∪ · · · ∪ Acn = (A1 ∩ · · · ∩
An )c , Widerspruch.
(2) ⇒ (1) Analog.
Definition 6.3. Ein Raum (X, τ) heißt quasi-kompakt, wenn er die Bedingungen (1) und
(2) erfüllt, und kompakt, falls er zusätzlich Hausdorffsch ist.
Beispiel 6.4. Sei (X, τ) ein topologischer Raum.
(1) Wird die Topologie von einer Metrik erzeugt, so ist X bezüglich der Topologie
kompakt genau dann, wenn X bezüglich der Metrik kompakt ist.
(2) Bezüglich der ko-endlichen Topologie ist X stets kompakt: Ist U eine offene
Überdeckung und U0 ∈ U beliebig, so ist X \U0 endlich.
(3) Sind X und Y kompakt, so auch X ×Y (ÜA). Der wichtige Satz von Tychonoff (s.
nächste Vorlesung) besagt: Produkte unendlich (genauer: beliebig) vieler kompakter Räume sind wieder kompakt sind.
Wir sammeln nun grundlegende Eigenschaften kompakter Räume.
Lemma 6.5. Eine Teilmenge A eines topologischen Raumes (X, τ) ist bezüglich der
Teilraumtopologie τA quasi-kompakt genau dann, wenn jede offene Überdeckung U ⊆ τ
von A eine endliche Teilüberdeckung enthält:
Beweis. “⇒”: Ist U ⊆ τ eine offene Überdeckung von A, so ist UA := {U ∩ A : U ∈
U } ⊆ τA eine offene Überdeckung und enthält eine endliche Teilüberdeckung.
“⇐”: Ist V ⊆ τA eine offene Überdeckung, so finden wir U ⊆ τ mit V = UA .
Satz 6.6. Sei (X, τX ) quasi-kompakt.
(1) Ist A ⊆ X abgeschlossen, so ist auch A quasi-kompakt.
(2) Ist (Y, τY ) ein topologischer Raum und f : X → Y eine stetige Abbildung, so ist
auch f (X) quasi-kompakt.
Beweis. (1) Ist U ⊆ τX eine Überdeckung von A, so ist U ∪ {X \ A} eine Überdeckung
von X und enthält eine endliche Teilüberdeckung von X. Also enthält U eine endliche
Teilüberdeckung von A.
(2) Ist V ⊆ τY eine offene Überdeckung von f (X), so bilden die Urbilder eine offene
Überdeckung von X. Also finden wir V1 , . . . ,Vn ∈ V mit X ⊆ f −1 (V1 ) ∪ · · · ∪ f −1 (Vn ),
d.h. f (X) ⊆ V1 ∪ · · · ∪Vn .
Folgerung 6.7. Ist X quasi-kompakt und ∼ eine Äquivalenzrelation auf X, so ist auch
X/∼ quasi-kompakt.
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13
Umgekehrt zu (1) ist jede kompakte Teilmenge eines Hausdorff-Raumes abgeschlossen.
Um das zu zeigen, benötigen wir folgende Trennungseigenschaft.
Satz 6.8. Sei X Hausdorffsch und seien A, B ⊆ X kompakt. Dann existieren disjunkte
offene Mengen U und V mit A ⊆ U und B ⊆ V .
Beweis. Fall B = {x}: Wähle für jedes a ∈ A offene Umgebungen Ua von a und Va
/ wähle a1 , . . . , an ∈ A mit A ⊆ Ua1 ∪ · · · ∪ Uan =: U und setze
von x mit Ua ∩ Va = 0,
V := Va1 ∩ · · · ∩Van .
Allgemeiner Fall: Wähle für jedes b ∈ B offene Umgebungen Ub von A und Vb von {b},
wähle b1 , . . . , bn ∈ B mit B ⊆ Vb1 ∪ · · · ∪Vbn =: V und setze U := Ub1 ∩ · · · ∩Ubn .
Folgerung 6.9. Ist X Hausdorffsch und A ⊆ X kompakt, so ist A abgeschlossen.
/
Beweis. Für jedes x ∈ X \A finden wir eine offene Umgebung V von x mit V ∩A = 0.
Folgerung 6.10. Sei f : X → Y eine stetige Bijektion topologischer Räume, X quasikompakt und Y Hausdorffsch. Dann ist f ein Homöomorphismus.
Beweis. Zeigen: f −1 ist stetig. Ist A ⊆ X abgeschlossen, so auch quasi-kompakt, also
( f −1 )−1 (A) = f (A) quasi-kompakt, also abgeschlossen in Y .
Wir wollen nun Kompaktheit mit Netzen und Teilnetzen charakterisieren. In metrischen
Räumen ist Kompaktheit äquivalent dazu, dass jede Folge einen Häufungspunkt beziehungsweise eine konvergente Teilfolge besitzt. Teilnetze sind etwas umständlich.
Definition 6.11. Ein Punkt x ∈ X heißt Häufungspunkt von (xλ )λ , wenn gilt:
∀Umgebung U von x∀λ ∈ Λ∃λ0 ≥ λ : xλ0 ∈ U.
(3)
zu jeder Umgebung U von x und jedem λ ∈ Λ ein λ0 ≥ λ mit xλ0 ∈ U existiert.
Nun können wir Quasi-Kompaktheit mit Netzen charakterisieren:
Satz 6.12. Ein topologischer Raum X ist genau dann quasi-kompakt, wenn jedes Netz
in X einen Häufungspunkt besitzt.
Beweis. “⇒”: Angenommen, (xλ )λ hat keinen Häufungspunkt. Dann finden wir für
jedes x ∈ X eine offene Umgebung Ux und ein λx mit xλ 6∈ Ux für alle λ ≥ λx . Da
S
x∈X Ux = X, existieren x1 , . . . , xn ∈ X mit Ux1 ∪ · · · ∪Uxn = X. Wähle λ ≥ λx1 , . . . , λxn .
Dann folgt xλ 6∈ Uxi für alle i, also xλ 6∈ X, Widerspruch.
“⇐”: Sei U eine offene Überdeckung von X und Λ die Menge aller endlichen TeilmenS
gen von U , gerichtet durch Inklusion. Angenommen, F 6= X für jedes F ∈ Λ. Wähle
S
S
xF ∈ X \ F für jedes F ∈ Λ. Sei x ein Häufungspunkt von (xF )F . Da U = X, existiert ein U ∈ U mit x ∈ U. Dann finden wir zu U und F = {U} ein F 0 ∈ Λ mit U ∈ F 0
S
und xF 0 ∈ U, im Widerspruch zur Wahl xF 0 ∈ X \ F 0 ⊆ X \U.
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7. F ILTER UND DER S ATZ VON T YCHONOFF
Unser Ziel für heute ist folgender wichtige und nicht-triviale Satz von Tychonoff:
Xi kompakt ⇒
∏ Xi kompakt.
i
Alle Beweise benutzen das Auswahlaxiom und jeweils entweder
(1)
(2)
(3)
(4)
Überdeckungen (kompliziert),
Häufungspunkte von Netzen (z.B. in [Run05]),
Teilnetze und universelle Netze (dafür benötigt man aber (4)),
Ultrafilter (der vielleicht “konzeptionellste” Beweis).
Wir benutzen Ultrafilter:
Definition 7.1. Sei X eine Menge. Ein F ⊆ P (X) heißt Filter, falls
(1) 0/ 6∈ F ,
(2) A, B ∈ F ⇒ A ∩ B ∈ F ,
(3) A ∈ F , A ⊆ B ⊆ X ⇒ B ∈ F .
Bemerkung 7.2.
(1) Jeder Filter F ist bzgl. A ≤ B :⇔ B ⊆ A eine gerichtete Menge
nach (2).
(2) Jeder Filter hat die endliche Durchschnittseigenschaft nach (2).
Definition 7.3. Ein Filter F heißt Ultrafilter, falls für jedes A ⊆ X entweder A ∈ F oder
Ac ∈ F gilt.
Beispiel 7.4.
(1) Für jedes x ∈ X ist
Px := {A ⊆ X | x ∈ A}
ein Ultrafilter. Jeder Ultrafilter, der nicht diese Form hat, heißt frei.
(2) Sei X ein topologischer Raum und x ∈ X. Dann ist
Ux := {U ⊆ X | U Umgebung von x}
der Umgebungsfilter von x.
(3) Sei A ⊆ P (X) ein System mit der endlichen Durchschnittseigenschaft. Dann ist
{B ⊆ X | A ⊆ B für ein A ∈ A }
ein Filter. Insbesondere: ist (xλ )λ ein Netz in X, so ist
{A ⊆ X | ∃λ0 ∀λ ≥ λ0 : xλ ∈ A}
ein Filter.
(4) Sei f : X → Y eine Abbildung und F ⊆ P (X) ein Filter. Dann ist
f∗ F := {B ⊆ Y : f −1 (B) ∈ F }
der Bild-Filter. Ist F ein Ultrafilter, so auch f∗ F .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
15
Theorem 7.5. Jeder Filter ist in einem Ultrafilter enthalten.
Beweis. Der Beweis benutzt das Auswahlaxiom in der Form des Lemmas von Zorn. Sei
F ein Filter und P die Menge aller F enthaltenden Filter, geordnet durch Inklusion. Ist
K ⊆ P eine Kette, das heißt
K 6= 0/ und F 0 , F 00 ∈ K ⇒ F 0 ⊆ F 00 oder F 00 ⊆ F 0 ,
so ist auch K ein Filter (einfach). Nach dem Lemma von Zorn enthält P dann einen
maximalen Filter F 0 . Behauptung: F 0 ist ein Ultrafilter. Sei A ⊆ X. Falls A ∩ B = 0/ für
ein B ∈ F 0 , folgt B ⊆ Ac , also Ac ∈ F . Andernfalls ist
S
F 00 := {C ⊆ X | A ∩ B ⊆ C für ein B ∈ A }
ein Filter auf X, der F 0 enthält. Da F 0 maximal ist, folgt A ∈ F 00 = F 0 .
Stetigkeit und Kompaktheit kann man nun durch Konvergenz von Filtern bzw. Ultrafiltern charakterisieren:
Definition 7.6. Ein Filter F auf einem topologischen Raum X konvergiert gegen ein
x ∈ X, geschrieben F → x, falls Ux ⊆ F .
Satz 7.7. Eine Abbildung f : X → Y topologischer Räume ist genau dann stetig, wenn
für jeden Filter F auf X und jedes x ∈ X gilt: aus F → x folgt f∗ F → f (x).
Beweis. “⇒”: Sei V Umgebung von f (x). Dann ist f −1 (V ) eine Umgebung von x, also
f −1 (V ) ∈ F und V ∈ f∗ F .
“⇐”: Sei x ∈ X und V eine Umgebung von f (x). Für den Umgebungsfilter Ux gilt
Ux → x, also f∗ Ux → f (x), also V ∈ f∗ Ux , also U := f −1 (V ) ∈ Ux .
Sei F ein Filter auf X. Bzgl. A ≤ B :⇔ B ⊆ A ist dann F eine gerichtete Menge. Ein
Schnitt von F ist ein Netz (xA )A∈F mit xA ∈ A für alle A ∈ F . Für jeden solchen Schnitt
gilt (ÜA)
A→∞
F → x ⇒ xA −−−→ x.
Satz 7.8. Ein topologischer Raum X ist genau dann quasi-kompakt, wenn jeder Ultrafilter in X konvergiert.
Beweis. “⇒”: Sei F ein Ultrafilter, (xA )A∈F ein Schnitt, x ein Häufungspunkt von (xA )A
und U eine Umgebung von x. Falls U c ∈ F folgt xA 6∈ U für alle A ≥ U c , Widerspruch.
Also gilt U ∈ F und F → x.
“⇐”: Sei (xλ )λ∈Λ ein Netz in X und F der zugehörige Filter, F 0 ein Ultrafilter mit
F ⊆ F 0 , sei x ∈ X mit F 0 → x, und U eine Umgebung von x sowie λ ∈ Λ. Dann ist
U ∈ F 0 und {xλ0 : λ0 ≥ λ} ∈ F , also der Schnitt beider Mengen nicht leer. Somit ist x
ein HP von (xλ )λ .
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Nun haben wir alle Zutaten für einen kurzen Beweis des Satzes von Tychonoff:
Theorem 7.9 (Tychonoff). Sei I beliebig, (Xi )i∈I topologische Räume und X := ∏i Xi .
Dann gilt:
Xi (quasi-)kompakt für jedes i ∈ I ⇔ X (quasi-)kompakt.
Beweis. Bezeichne pi : X → Xi die Projektion.
“⇐”: Wende Satz 6.6 auf pi an.
“⇒”: Wir benutzen Satz 7.8. Sei F ⊆ X ein Ultrafilter. Für jedes i ist dann pi∗ F ein
Ultrafilter auf Xi , also pi∗ F → xi für ein xi ∈ Xi . Zeigen: F → x := (xi )i in X. Seien
V ⊆ X eine Umgebung von x. Wähle i1 , . . . , in ∈ I und Uk ∈ Xik offen für k = 1, . . . , n mit
−1
x ∈ p−1
i1 (U1 ) ∩ · · · ∩ pin (Un ) =: U ⊆ V.
Dann folgt xik ∈ Uk , wegen pik ∗ F → xik also Uk ∈ pik ∗ F , d.h. p−1
ik (Uk ) ∈ F und somit
U ∈ F und V ∈ F .
Praktische Anwendungen von Kompaktheit benutzen meist Konvergenz von Teilnetzen:
Definition 7.10. Ein Teilnetz von (xλ )λ ist ein Netz der Form (xλ(i) )i∈I , wobei I eine
gerichtete Menge und Abbildung λ : I → Λ eine Abbildung ist mit folgender Eigenschaft:
für jedes λ0 ∈ Λ existiert ein i0 ∈ I mit λ(i) ≥ λ0 für alle i ≥ i0 .
Bemerkung. Bezüglich der in Aufgabe 3 von Blatt 5 definierten Topologie auf Λ+ =
i→∞
Λ ∪ {∞} ist die Bedingung in (2) gleichbedeutend mit λi −−→ ∞.
Lemma 7.11. Für jedes x ∈ X sind folgende Aussagen äquivalent:
(1) x ist Häufungspunkt von (xλ )λ .
i→∞
(2) Es gibt ein Teilnetz (xλ(i) )i mit xλ(i) −−→ x.
Beweis. (1) ⇒ (2): Die Menge
I := {(λ,U) : λ ∈ Λ,U Umgebung von x}
ist gerichtet bezüglich (λ,U) ≤ (λ0 ,U 0 ) ⇔ λ ≤ λ0 ,U ⊇ U 0 . Wähle für jedes i = (λ,U) ∈ I
ein λ0 wie in (3) und setze λ(U,λ) := λ0 . Dann folgt xλ(i) → x: Ist U eine Umgebung von
x und λ0 ∈ Λ beliebig, i0 = (λ0 ,U) und i0 = (λ0 ,U 0 ) ≥ i0 , so folgt xλ(i0 ) ∈ U 0 ⊆ U.
(2) ⇒ (1): Sei U eine offene Umgebung von x und λ ∈ Λ. Wähle
• i1 ∈ I mit xi ∈ U für alle i ≥ i1 ,
• i2 ∈ I mit λ(i) ≥ λ für alle i ≥ i2 .
Dann folgt für i0 ≥ i1 , i2 und λ0 := λ(i0 ) erstens xλ0 ∈ U und zweitens λ0 ≥ λ.
Als Anwendung zeigen wir, dass Z als Gruppe mittelbar ist:
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17
Satz 7.12. Es gibt eine lineare Abbildung φ : l ∞ (Z) → C so, dass für alle f ∈ l ∞ (Z)
gilt:
(1)
(2)
(3)
(4)
|φ( f )| ≤ k f k∞ ,
f ≥ 0 ⇒ φ( f ) ≥ 0,
φ( f ) = φ( f˜), wobei f˜(k) = f (k − 1) für alle k ∈ Z,
lim f (k) = λ ⇒ φ( f ) = λ.
k→±∞
Beweis-Skizze. Betrachte für n ∈ N das n-te Cesaro-Mittel
n
1
φn : l ∞ (Z) → C, f 7→
∑ f (k).
2n + 1 k=−n
Diese φn erfüllen (1), (2) und
lim (φn ( f ) − φn ( f˜)) = 0
n→∞
sowie
lim φn ( f ) = λ
falls lim f (k) = λ
n→∞
für jedes f
∈ l ∞ (Z).
k→±∞
Identifizieren wir
φn ≡ (φn ( f )) f ∈
∏
∞
Bk f k (0) ⊂ Cl
∞ (Z)
,
f ∈l (Z)
|
{z
=:K
}
so ist K nach Tychonoff kompakt und (φn )n besitzt ein konvergentes Teilnetz (φnλ )λ .
Dessen Grenzwert φ erfüllt dann (1)–(4).
8. KOMPAKTIFIZIERUNGEN UND LOKAL - KOMPAKTE R ÄUME
Wir betrachten nun eine Abschwächungen von Kompaktheit:
Definition 8.1. Sei (X, τ) ein Hausdorff-Raum.
(1) Eine Kompaktifizierung von (X, τ) ist ein kompakter Raum (X̃, τ̃), der X als
/
offenen und dichten Teilraum enthält, also τ̃ ∩ P (X) = τ und τ̃ ∩ P (X̃ \ X) = 0.
(2) X heißt lokal-kompakt, falls jeder Punkt von x eine kompakte Umgebung besitzt.
Folgende Definition hätte im Abschnitt §5 bereits kommen sollen und wurde in Definition 5.2 eingefügt:
Definition. Sei X ein topologischer Raum. Man nennt A ⊆ X dicht in B ⊆ X, falls A ⊆
B ⊆ A.
Beispiel 8.2.
(1) Rn ist bezüglich der gewöhnlichen Topologie lokal-kompakt, weil
Bε (x) für jedes x ∈ Rn und ε > 0 kompakt ist.
18
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
(2) Bezüglich der diskreten Topologie ist jede Menge X lokal-kompakt, weil {x}
für jedes x ∈ Rn eine kompakte Umgebung ist.
(3) Die abgeschlossene Kugel B1 (0) ⊆ Rn ist eine Kompaktifizierung der offenen
Kugel B1 (0) ⊆ Rn .
Wir wollen zeigen, dass für jeden Hausdorff-Raum X gilt:
X besitzt eine Kompaktifizierung X̃ ⇔ X ist lokal-kompakt.
(4)
Die Implikation “⇒” folgt aus dem nächsten Satz, angewendet auf X ⊆ X̃:
Satz 8.3. Sei X lokal-kompakt und Hausdorffsch sowie A ⊆ X offen oder abgeschlossen.
Dann ist A Hausdorffsch und lokal-kompakt.
Beweis. Sei x ∈ A und V eine kompakte Umgebung von x.
Ist A ⊆ X abgeschlossen, so ist A ∩V abgeschlossen und nach Satz 6.6 (1) kompakt.
Ist A ⊆ X offen, so sind {x} und V \ A in V kompakt, besitzen nach Satz 6.8 disjunkte
offene Umgebungen U und W . Dann ist V \W ⊆ A eine kompakte Umgebung von x in
A.
Folgerung 8.4. Sei X lokal-kompakt und Hausdorffsch, x ∈ X und V ⊆ X eine Umgebung von x. Dann gibt es eine kompakte Umgebung U von x mit U ⊆ V .
Für die Implikation “⇐” in (4) konstruieren wir eine Ein-Punkt-Kompaktifizierung:
Satz 8.5. Sei X ein topologischer Raum.
(1) Auf X + := X t {∞} (disjunkte Vereinigung) ist
τ+ := {U ⊆ X offen} ∪ {U ∪ {∞} : U ⊆ X offen, U c quasi-kompakt}
| {z }
=:U +
eine Topologie.
(2) X + ist quasi-kompakt.
(3) X + ist Hausdorffsch (und kompakt) genau dann, wenn X Hausdorffsch und
lokal-kompakt ist.
/ X + sind offen.
Beweis. (1) Klar: 0,
Seien U,V ⊆ X offen. Dann ist U ∩ V = U ∩ V + = U + ∩ V ∈ τ+ . Sind U c ,V c quasikompakt, so auch U c ∪V c = (U ∩V )c (ÜA), also ist dann U + ∩V + = (U ∩V )+ ∈ τ+ .
S
Sei U ⊆ τ+ . Falls U ⊆ τ, so ist U ∈ τ ⊆ τ+ . Andernfalls ist U + ∈ U für ein U ∈ τ,
S
und U c ⊆ X quasi-kompakt. Dann ist V := U ∩ X offen, V c ⊆ U c abgeschlossen, also
S
auch quasi-kompakt, somit U = V + ∈ τ+ .
(2) Sei U eine offene Überdeckung von X. Dann enthält U eine Menge der Form U0+ ∈
τ+ . Da U0c quasi-kompakt ist, gibt es dafür eine endliche Teilüberdeckung F ⊆ U . Diese
überdeckt mit U0+ ganz X + .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
19
(3) “⇒”: X ⊆ X + ist offen, nach Satz 8.3 also lokal-kompakt.
“⇐”: Je zwei Punkte x, y ∈ X ⊆ X + haben disjunkte Umgebungen. Sei x ∈ X und W
eine kompakte Umgebung von x. Dann enthält W eine offene Umgebung U von x und
(W c )+ ist eine zu U disjunkte Umgebung von ∞.
Definition 8.6. Ist X lokal-kompakt und Hausdorffsch, so heißt X + die Ein-PunktKompaktifizierung von X.
Ein-Punkt-Kompaktizierungen sind in folgendem Sinn minimal:
Satz 8.7. Sei X ein lokal-kompakter Hausdorff-Raum und X̃ eine Kompaktifizierung.
(1) Es gibt genau eine stetige Abbildung pX̃ : X̃ → X + mit pX̃ |X = idX .
(2) Enthält X̃ \ X nur einen Punkt, so ist pX̃ ein Homöomorphismus.
Beweis. ÜA.
Beispiel 8.8.
(1) Die Kreislinie
S := {(x, y) ∈ R2 : x2 + (y − 1)2 = 1}
ist eine Kompaktifizierung von X := S \ {(0, 2)}, also X + ∼
= S.
(2) Der Kegel
K = {(x, y, z) ∈ R2 : 0 ≤ z ≤ 1, x2 + y2 = 1 − z2 }
ist eine Kompaktifizierung von X := K \ {(0, 0, 1)}, also X + ∼
= K.
Bemerkung. Es gibt auch eine “maximale” Kompaktifizierung, die Stone-Čech-Kompaktifizierung (s. Übung).
Wann kann man Abbildungen zur Ein-Punkt-Kompaktifizierung fortsetzen?
Satz 8.9. Sei f : X → Y eine stetige Abbildung lokal-kompakter Hausdorff-Räume.
Dann sind äquivalent:
(1) Die Abbildung
(
+
+
+
f : X → Y , x 7→
f (x), x ∈ X,
∞,
x = ∞, y
ist stetig.
(2) f ist eigentlich, d.h. für jede kompakte Teilmenge K ⊆ Y ist f −1 (K) ⊆ X kompakt.
Beweis. Sei V ⊆ Y offen und V c = Y \ V kompakt, also V + ⊆ Y + offen, und U =
f −1 (V ). Dann gilt: f −1 (V + ) = U + offen ⇔ U c = f −1 (V c ) ist kompakt.
20
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Beispiel 8.10. Bezeichne f : R → S \ {(0, 2)} die inverse stereographische Projektion,
die jedem Punkt x ∈ R den Schnittpunkt der Geraden durch (x, 0) und (0, 2) mit S zuordnet. Die Fortsetzung f + : R+ → (S \ {(0, 2)})+ ∼
= S ist bijektiv und stetig, also nach
6.10 auch ein Homöomorphismus.
9. DAS U RYSOHNSCHE L EMMA
In diesem Abschnitt wollen wir untersuchen, wann ein topologischer Raum metrisierbar
ist:
Definition 9.1. Ein topologischer Raum heißt metrisierbar, wenn es eine Metrik gibt,
die seine Topologie erzeugt.
Beispiel 9.2. Auf X := [0, 1]N = ∏n∈N [0, 1] wird die Produkt-Topologie von der Metrik
d(x, y) :=
|xn − yn |
2n
n∈N
∑
erzeugt, denn für jedes Netz (xλ )λ und jedes x in X gilt:
λ→∞
λ→∞
3.5
λ→∞
d(xλ , x) −−−→ 0 ⇔ ∀n ∈ N : xλ,n −−−→ xn ⇔ xλ −−−→ x.
Um metrisierbar zu sein, muss ein Raum (X, τ)
(1) “viele” stetige Funktionen besitzen: wird τ durch eine Metrik d erzeugt, so sind
alle Funktionen der Form
d(x, −) : X → R, y 7→ d(x, y),
(x ∈ X)
stetig und τ ist die initiale Topologie bezüglich dieser Abbildungen;
(2) “viele” offene Mengen besitzen, zum Beispiel Hausdorffsch sein (siehe Beispiel
5.6 (2)).
Wir präzisieren zunächst Bedingung (2) und sehen dann, dass (1) folgt:
Lemma 9.3. Für jeden topologischen Raum sind äquivalent:
(1) Sind A, B ⊆ X abgeschlossen und disjunkt, so existieren U,V ⊆ X offen und
disjunkt mit A ⊆ U und B ⊆ V .
(2) Ist A ⊆ W ⊆ X mit A abgeschlossen und W offen, so existiert U ⊆ X offen mit
A ⊆ U ⊆ U ⊆ W.
Beweis. (1)⇔(2): Setze B = W c und wähle U,V wie in (1). Dann folgt U ⊆ V c ⊆ W .
(2)⇒(1): Setze W := Bc , wähle U wie in (2) und setze V := (U)c .
Definition 9.4. Ein topologischer Raum X heißt normal, falls er Hausdorffsch ist und
obige Bedingungen (1) und (2) erfüllt.
Achtung: In der Literatur wird manchmal die Hausdorff-Bedingung nicht vorausgesetzt!
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
21
Beispiel 9.5.
(1) Jeder kompakte Raum ist normal (Satz 6.8.)
(2) Ist die Topologie auf X erzeugt von einer Metrik d, so ist X normal: Sind A, B
wie oben, so sind die Funktionen
dA (x) := inf{d(x, y) : y ∈ A},¸ dB (x) := inf{d(x, y) : y ∈ B},
f (x) :=
dA (x)
dA (x) + dB (x)
stetig mit dA |A = 0, dB |B = 0, also f |A = 0 und f |B = 1. Setze nun
U = f −1 ((−1, 1/2)),
V = f −1 ((1/2, 2)).
Satz 9.6 (Urysohns Lemma). Sei X ein normaler topologischer Raum und A, B ⊆ X
abgeschlossen und disjunkt. Dann existiert eine stetige Funktion f : X → [0, 1] mit f |A =
0 und f |B = 1.
Beweis. Setze U1 := Bc . Wähle schrittweise offene Mengen Uk/2m für k = 0, . . . , 2m und
m = 0, 1, . . . wie folgt:
• U0 mit A ⊆ U0 und U0 ⊆ U1 ,
• U1/2 mit U0 ⊆ U1/2 und U 1/2 ⊆ U1 ,
• U1/4 ,U3/4 usw.,
also mit Uk/2m ⊆ U(k+1)/2m für k = 0, . . . , 2m − 1 und m ∈ N. Definiere f : X → [0, 1]
durch
f (x) = inf {k/2m : x ∈ Uk/2m } ∪ {1} .
Für x ∈ A ⊆ U0 ist f (x) = 0, für x ∈ B = U1c ist f (x) = 1. Für jedes t ∈ (0, 1) ist
f −1 ([0,t)) =
[
Uk/2m offen,
k/2m <t
f −1 ((t, 1]) =
[
t<k/2m
(Uk/2m )c =
[
c
Uk/2m offen.
t<k/2m
Daraus folgt die Stetigkeit von f .
Satz 9.6 und Beispiel 9.2 führen zur Metrisierbarkeit folgender Räume.
Definition 9.7. Ein topologischer Raum X heißt zweit-abzählbar, wenn er eine abzählbare Basis besitzt.
Satz 9.8 (Urysohn). Jeder zweit-abzählbare, normale topologische Raum ist metrisierbar.
Beweis. Sei X normal mit abzählbarer Basis U1 ,U2 , . . .. Setze
I := {(k, l) ∈ N × N : Uk ⊆ Ul },
22
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
wähle für jedes (k, l) ∈ I eine stetige Funktion (Satz 9.6)
fk,l : X → [0, 1] mit f |Uk = 0 und f |Ulc = 1
und betrachte
F : X → [0, 1]I , x 7→ ( fk,l (x))(k,l)∈I .
Wie in Beispiel 9.2 sieht man, dass F(X) ⊆ [0, 1]I metrisierbar ist. Nun genügt zu zeigen:
F : X → F(X) ist ein Homöomorphismus, d.h. für jeden Punkt x und jedes Netz (xλ )λ
in X gilt:
xλ → x
⇔
F(xλ ) → F(x)
(daraus folgt natürlich auch die Injektivität von F).
“⇒”: Folgt aus 3.5, denn für jedes (k, l) ∈ I folgt fk,l (xλ ) → fk,l (x) (da fk,l stetig ist).
“⇐”: Angenommen, xλ 6→ x. Dann gibt es ein l so, dass nicht alle xλ ab einem λ0 in Ul
liegen. Wähle erst eine offene Umgebung V von x mit V ⊆ Ul (Lemma 9.3) und dann
ein k mit x ∈ Uk und Uk ⊆ V . Dann ist (k, l) ∈ I und für jedes λ0 gibt es ein λ ≥ λ0 mit
xλ ∈ Ulc , also fk,l (xλ ) = 1, fk,l (x) = 0 und d(xλ , x) ≥ 1/2k+l .
Eine weitere wichtige Anwendung des Urysohnschen Lemmas ist:
Satz 9.9 (Tietze). Sei X ein normaler Raum, A ⊆ X abgeschlossen und f : A → R stetig und beschränkt. Dann gibt es eine stetige Funktion f˜ : X → R mit f˜|A ≡ f und
supx∈X | f˜(x)| = supx∈A | f (x)|.
Beweis. O.B.d.A. sei f (Y ) ⊆ [0, 1].
Setze f1 := f . Dann sind A := f1−1 ([0, 1/3]) und B := f1−1 ([2/3, 1]) in X abgeschlossen
und disjunkt. Wähle f˜1 : X → [0, 1] stetig mit f˜1 |A = 1/3 und f˜1 |B = 2/3 (Satz 9.6).
Dann ist
| f1 (y) − f˜1 (y)| ≤ 2/3 für alle y ∈ Y.
Für f2 := f1 − f˜1 |Y finden wir ähnlich eine stetige Funktion f˜2 auf X mit
| f2 (y) − f˜2 (y)| ≤ (2/3)2 für alle y ∈ Y.
Induktiv finden wir f˜k mit
| fk (y) − f˜k (y)| ≤ (2/3)k für alle y ∈ Y.
˜
˜
Schließlich ist f˜ := ∑∞
k=1 f k stetig und f |Y = f .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
23
10. F UNKTIONEN AUF LOKAL - KOMPAKTEN H AUSDORFF -R ÄUMEN
Wir wenden nun die Ergebnisse des vorigen Abschnitts auf lokal-kompakte HausdorffRäume an. Für jeden solchen Raum X ist die Ein-Punkt-Kompaktifizierung X + kompakt
und damit auch normal. Somit können wir Urysohns Lemma 9.6 in X + anwenden.
Definition 10.1. Sei X ein topologischer Raum. Der Träger einer stetigen Funktion
f : X → C ist die Menge supp f := {x ∈ X : f (x) 6= 0} ⊆ X.
Satz 10.2. Sei X ein lokal-kompakter Hausdorff-Raum und K ⊆ V ⊆ X, wobei K kompakt und V offen seien. Dann gibt es eine stetige Funktion f : X → [0, 1] mit f |K = 1,
supp f kompakt und supp f ⊆ V .
Beweis. Aufgabe 3, Blatt 5.
Wir wollen nun Urysohns Metrisierbarkeitssatz 9.8 auf X bzw. genauer X + anwenden
und müssen dazu prüfen, wann X + zweit-abzählbar ist.
Definition 10.3. Ein Hausdorff-Raum X heißt σ-kompakt, falls es eine Folge kompakter
S
Teilmengen Kn ⊆ X mit n∈N Kn = X gibt.
Lemma 10.4. Sei (X, τ) ein lokal-kompakter Hausdorff-Raum und (X + , τ+ ) zweit-abzählbar.
Dann ist (X, τ) zweit-abzählbar und σ-kompakt.
Beweis. Sei B eine abzählbare Basis von τ+ . Dann ist B ∩ τ eine abzählbare Basis von
τ. Sei
B \ τ = {U1+ ,U2+ , . . .}.
Dann ist Un ⊆ X offen, Kn := X \ Un kompakt. Zeigen: n Kn = X. Sei x ∈ X. Wähle
eine kompakte Umgebung Q von x. Dann ist U := X + \ Q eine Umgebung von ∞, also
∞ ∈ Un+ ⊆ U für ein n und damit x 6∈ Un+ , also x ∈ Kn .
S
Es gilt auch folgende Umkehrung:
Satz 10.5. Sei X ein lokal-kompakter, σ-kompakter Hausdorff-Raum.
(1) Es gibt eine Folge offener Teilmengen Un ⊆ X so, dass Un für jedes n kompakt
und in Un+1 enthalten ist.
(2) Ist X zweit-abzählbar, so auch X + .
(3) Ist X zweit-abzählbar, so ist X metrisierbar (und normal).
Beweis. (1) Sei (Kn )n eine Folge wie in 10.3. Seien U1 , . . . ,Un bereits konstruiert. Dann
ist jedes An+1 := (K1 ∪ · · · ∪ Kn+1 ) ∪ Un kompakt und enthalten in einer offene Menge
Un+1 , deren Abschluss kompakt ist (Aufgabe 3, Blatt 5 oder Normalität von X + mit
An+1 und B := {∞} ausnutzen).
24
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
(2) Sei B eine abzählbare Basis von τ und Un wie in (1). Dann ist B ∪ {X + \ Un : n}
eine abzählbare Basis von τ+ : Ist U + eine offene Umgebung von ∞, so ist Q := X \U +
kompakt und {Un : n} eine offene Überdeckung von Q, also Q ⊆ Un ⊆ Un für ein n ∈ N
und somit ∞ ∈ (X + \Un ) ⊆ X + \ Q.
(3) Nach (2), 9.5 und 9.8 ist X+ metrisierbar, also auch X. Nach Beispiel 9.5 (2) ist X
normal.
Als letzte Anwendung des Urysohnschen Lemmas beweisen wir die Existenz von Zerlegungen der Eins, die in der Differentialgeometrie wichtig werden.
Definition 10.6. Sei X ein topologischer Raum. Eine Zerlegung/Partition der Eins ist
eine Familie ( fi )i∈I von Funktionen fi : X → [0, 1] so, dass für jedes x ∈ X gilt:
• x ∈ supp fi für höchstens endlich viele i ∈ I;
• ∑i∈I fi (x) = 1.
Ist V eine offene Überdeckung von X und ( fi )i∈I eine Zerlegung der Eins, so heißt letztere der ersteren untergeordnet, falls für jedes i ∈ I ein V ∈ V mit supp fi ⊆ V existiert.
Satz 10.7 (Zerlegung der Eins). Sei X ein lokal-kompakter, σ-kompakter, zweit-abzählbarer
Hausdorff-Raum mit einer offenen Überdeckung V . Dann gibt es eine untergeordnete
Zerlegung der Eins.
Beweis-Skizze. Schritt 1: Beh.: Es gibt eine offene Überdeckung U = {U1 ,U2 , . . .} von
X mit
(a) ∀U ∈ U ∃V ∈ V : U ∈ V,
(b) ∀x ∈ X : {U ∈ U : x ∈ U} ist endlich.
Schreibe X = n Wn mit Wn offen, Wn kompakt und Wn ⊆ Wn+1 für jedes n (Satz 10.5).
/ Für jedes n ∈ N ist dann
Setze W−1 = W0 = 0.
S
An := Wn \Wn−1 ⊆ X
kompakt, enthalten in Wn+1 \Wn−2 und überdeckt von endlich vielen Vn,1 , . . . ,Vn,kn ∈ V .
Setze
0
Vn,i
:= Vn,i ∩ (Wn+1 \Wn−2 ) und
0
U := {Vn,i
: n ∈ N, 1 ≤ i ≤ kn }.
Dann gilt (a) und X = n An ⊆ U∈U U. Ist x ∈ X, so folgt x ∈ Wm für ein m und somit
0 für n − 2 ≥ m und somit gilt (b).
x 6∈ Vn,i
Schritt 2: Beh.: Es gibt offene Teilmengen U10 ,U20 , . . . ⊆ X mit
S
(c) Un0 ⊆ Un ,
S
(d) X = (U10 ∪ · · · ∪Un0 ) ∪ (Un+1 ∪Un+2 ∪ · · · ).
Seien U10 , . . . ,Un0 so gewählt. Dann ist
Bn+1 := X \ ((U10 ∪ · · · ∪Un0 ) ∪ (Un+2 ∪ · · · )) ⊆ Un+1
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
25
0
0
0
und Un+1
mit Bn+1 ⊆ Un+1
⊆ Un+1 .
abgeschlossen. Nach Lemma 9.3 finden wir Un+1
Schritt 3: Da X normal ist, existieren stetige Funktionen gn : X → [0, 1] mit gn |U 0 = 1
n
und gn |X\Un = 0. Wegen (b) ist g := ∑n gn endlich und stetig. Aus (b) und (d) folgt
S 0
n Un = X und somit gn (x) > 0 für jedes x ∈ X. Dann ist (gn /g)n eine U untergeordnete
Zerlegung der Eins.
11. D ER S ATZ VON S TONE -W EIERSTRASS
Wir betrachten nun Algebren stetiger Funktionen auf einem fixierten Raum.
Definition 11.1. Eine Algebra über einem Körper k ist ein k-Vektorraum A mit einer bilinearen Abbildung m : A × A → A, (a, b) 7→ a · b, genannt Multiplikation, die assoziativ
ist, also (a · b) · c = a · (b · c) für alle a, b, c ∈ A erfüllt.
Beispiel 11.2. Für jeden lokal-kompakten Hausdorff-Raum X ist
C(X) = { f : X → C stetig}
eine C-Algebra bezüglich ( f g)(x) := f (x)g(x). Interessante Unteralgebren sind:
• Cb (X) = alle f ∈ C(X), die beschränkt sind, d.h. k f k∞ := supx∈X | f (x)| < ∞,
• C0 (X) = alle f ∈ C(X), die im Unendlichen verschwinden, d.h.
∀ε > 0 : {x ∈ X : | f (x)| ≥ ε} ⊆ X kompakt;
äquivalent: f˜ : X + → C mit f˜|X = f und f˜(∞) = 0 ist stetig;
• Cc (X) = alle f ∈ C(X) mit kompaktem Träger, d.h. supp f kompakt.
Klar: Cc (X) ⊆ C0 (X) ⊆ Cb (X) ⊆ C(X); falls X kompakt ist, sind alle gleich.
Der Satz von Stone-Weierstrass gibt hinreichende Bedingungen dafür, wann eine Unteralgebra A ⊆ C0 (X) dicht bezüglich der Supremumsnorm ist, also Funktionen f ∈ C0 (X)
gleichmäßig durch Funktionen a ∈ A approximiert werden können.
Definition 11.3. Sei X ein topologischer Raum. Eine Unteralgebra A ⊆ C(X)
• heißt selbstadjungiert, falls f ∈ A ⇒ f ∈ A ;
• trennt die Punkte von X, falls für alle x, y ∈ X mit x 6= y ein f ∈ A existiert mit
f (x) 6= f (y).
Satz 11.4 (Stone-Weierstrass). Sei X ein kompakter Raum und A ⊆ C(X) eine Unteralgebra, die
(1) selbstadjungiert ist,
(2) die Punkte von X trennt und
(3) die konstanten Funktionen enthält.
Dann ist A dicht in C(X) bezüglich der Supremumsnorm.
26
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Der Beweis benutzt:
Lemma 11.5. Es gibt eine Folge (pn )n reller Polynome mit pn (0) = 0 und
√ n→∞
sup |pn (t) − t| −−−→ 0.
t∈[0,1]
p
Beweis-Idee. Variante 1: Betrachte das kte Taylor-Polynom zu t 7→ t + 1/m für k, m →
∞ zum Entwicklungspunkt t0 = 1/2.
Variante 2: Definiere p0 = 0 und pn+1 (t) := pn (t) + 21 (t − pn (t)2 ) für n > 0. Dann zeigt
√
man pn (t) % t für n → ∞ und mit dem “Satz von Dini” folgt die Behauptung.
Beweis von Satz 11.4. (1), (2) ⇒ A ∩C(X; R) := { f : X → R stetig} trennt die Punkte
von X, also auch der Abschluss
B := A ∩C(X; R) ⊆ C(X; R)
bezüglich der Supremumsnorm. Außerdem ist B eine reelle Algebra. Wir zeigen, dass
B = C(X; R); dann folgt A = C(X).
Schritt 1: f ∈ B ⇒ | f | ∈ B .
OBdA sei k f k∞ < ∞. Wähle Polynome (pn )n wie in Lemma 11.5. Dann ist pn ( f 2 ) ∈ B
und
√ n→∞
kpn ( f 2 ) − | f |k∞ = sup (pn ( f (x)2 ) − | f (x)| ≤ sup pn (t 2 ) − t 2 −−−→ 0.
x∈X
t∈[0,1]
Schritt 2: Aus Schritt 1 folgt: für alle f , g ∈ B liegen auch folgende Funktionen in B :
1
( f + g + | f − g|) : x → max{ f (x), g(x)},
2
1
f ∧ g := ( f + g − | f − g|) : x → min{ f (x), g(x)}.
2
Schritt 3: Sei f ∈ C(X; R) und ε > 0.
(a) Sind x, y ∈ X verschieden, so finden wir ein h ∈ B mit h(x) 6= h(y), und eine Linearkombination von h und der konstanten Funktion liefert ein gxy ∈ B mit g(x) = f (x) und
g(y) = f (y).
(b) Für festes x ∈ X überdecken die offenen Mengen
f ∨ g :=
Uxy := {z ∈ X : gxy (z) < f (z) + ε} (y ∈ X)
ganz X. Wähle y1 , . . . , yn ∈ X mit Uxy1 ∪ · · · ∪Uxyn = X. Dann folgt für
gx := gxy1 ∧ · · · ∧ gxyn ∈ B :
gx ≤ f + ε und gx (x) = f (x).
(c) Die offenen Mengen
Vx := {z ∈ X : gx (z) > f (z) − ε}
(x ∈ X)
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
27
überdecken ganz X. Wähle x1 , . . . , xn mit Vx1 ∪ · · · ∪Vxn = X. Dann folgt für
g := gx1 ∨ · · · ∨ gxn ∈ B :
f − ε ≤ g ≤ f + ε.
Da ε > 0 beliebig war, folgt f ∈ B .
In der Übung folgen einige Anwendungen.
Folgerung 11.6. Sei X ein lokalkompakter Raum und A ⊆ C0 (X) eine selbstadjungierte
Unteralgebra, die die Punkte von X trennt und in keinem Punkt von X verschwindet.
Dann ist A dicht in C0 (X) bezüglich der Supremumsnorm.
Beweis. Bezeichne 1 ∈ C(X + ) die Eins-Funktion. Dann ist
A + := { f˜ + λ1 : f˜ ∈ A , λ ∈ C} ⊆ C(X + )
eine Unteralgebra, selbstadjungiert, Punkte-trennend, also dicht in C(X + ).
Ist g ∈ C0 (X), so finden wir ( fn )n , (λn )n mit f˜n + λn 1 → g̃. Aus f˜n (∞) = g̃(∞) = 0 folgt
λn → 0 und somit f˜n → g̃ und fn → g.
12. Z USAMMENHANG
Sei X ein topologischer Raum
Definition 12.1. Ein topologischer Raum X heißt zusammenhängend, falls er nicht eine disjunkte Vereinigung zweier nicht-leerer offener Mengen ist. Eine Teilmenge heißt
zusammenhängend, wenn sie es als Teilraum ist.
/ Dann ist V = U c und U = V c . InsbesonSei X = U t V (d.h. X = U ∪ V , U ∩ V = 0).
dere gilt: U,V sind offen ⇔ U,V sind abgeschlossen. Der Raum X ist also genau dann
zusammenhängend, wenn es keine Teilmenge außer 0/ und X gibt, die sowohl offen als
auch abgeschlossen (englisch: clopen) ist.
Beispiel 12.2.
(1) R \ {0} = (−∞, 0) t (0, ∞) ist nicht zusammenhängend.
(2) Jedes Intervall I ⊆ R ist zusammenhängend: Wäre I = U tV mit U,V 6= 0/ offen,
so wäre f : I → R mit f |U ≡ 0 und f |V ≡ 1 stetig; Widerspruch zum Zwischenwertsatz.
Bemerkung 12.3.
(1) Ist f : X → Y stetig, surjektiv und X zusammenhängend, so
ist auch Y zusammenhängend, denn ist U ⊆ Y offen und abgeschlossen, so auch
f −1 (U). Für X = [a, b] ⊆ R und Y ⊆ R erhalten wir den Zwischenwertsatz.
(2) Ein Raum X ist genau dann zusammenhängend, wenn jede stetige Abbildung
von X in einen diskreten Raum konstant ist. Die Richtung “⇒” folgt aus (1), die
andere ähnlich wie in Beispiel 12.2 (2).
Wir betrachten im Folgenden eine stärkere Form von Zusammenhang:
28
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Definition 12.4. Ein Weg in X ist eine stetige Abbildung [0, 1] → X. Ein Raum X heißt
• weg-zusammenhängend, falls für alle x, x0 ∈ X ein Weg w in X mit w(0) = x und
w(1) = x0 existiert;
• lokal weg-zusammenhängend, falls zu jeder offenen Menge U und jedem Punkt
x ∈ U eine weg-zusammenhängende Umgebung V ⊆ U von x existiert.
Lemma 12.5. Jeder weg-zusammenhängende Raum ist auch zusammenhängend.
Beweis. Sei X weg-zusammenhängend und X = U tV , wobei U,V offen und nicht-leer
sind. Wähle x ∈ U, y ∈ V und einen Weg w in X von x nach y. Dann ist [0, 1] = w−1 (U) t
w−1 (V ) eine Zerlegung in offene, nicht-leere Teilmengen. Da [0, 1] zusammenhängend
ist, erhalten wir einen Widerspruch.
Beispiel 12.6. Der Teilraum
A := {(x, sin(π/x)) : 0 < x ≤ 1} ∪ {0} × [−1, 1] ⊆ R2
ist zusammenhängend, aber nicht wegzusammenhängend. Fügt man das Bild eines geeigneten Weges w von (0, 0) nach (1, 0) hinzu, wird
B := A ∪ w([0, 1]) ⊆ R2
(der polnische Kreis) wegzusammenhängend, aber nicht lokal wegzusammenhängend
(in (0, 0)).
Bemerkung 12.7. Jeder Raum ist die disjunkte Vereinigung maximaler (weg-)zusammenhängender Teilmengen; diese heißen seine (Weg-)Zusammenhangskomponenten (ÜA).
Teil 2. Die Fundamentalgruppe und Überlagerungen
13. D IE F UNDAMENTALGRUPPE EINES R AUMES
Ziel der algebraischen Topologie ist die Klassifikation topologischer Räume mittels zugeordneter Invarianten wie Zahlen (Euler-Charakteristik, Betti-Zahlen, . . . ) oder Gruppen (Homotopiegruppen, (Ko-)Homologiegruppen, . . . ).
Als Beispiel behandeln wir die Fundamentalgruppe eines topologischen Raumes X.
Definition 13.1. Zwei Wege v, w in X heißen
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
29
(1) frei homotop, falls es eine stetige Abbildung H : [0, 1]×[0, 1] → X mit H(−, 0) =
v und H(−, 1) = w gibt;
(2) homotop (relativ zu den Endpunkten), falls zusätzlich v(0) = H(0,t) = w(0) und
v(1) = H(1,t) = w(1) für alle t ∈ [0, 1].
Wir nennen dann H eine Homotopie von v nach w und schreiben im Fall (2) v ∼ w oder
v ∼H w.
Eine Homotopie H ist also “interpolierende” Familie von Wegen
Ht := H(−,t) : [0, 1] → X,
(t ∈ [0, 1]).
Beispiel 13.2.
(1) Ist X ⊆ Rm konvex, so sind je zwei Wege v, w in X frei homotop
via H(s,t) = (1 − t)v(s) + tw(s).
f
(2) Ist f : U −
→ C holomorph und sind v, w : [0, 1] → U homotop, so ist
Z
Z
f (z)dz =
v
f (z)dz.
w
Lemma 13.3. Homotopie ist eine Äquivalenzrelation
Beweis.
• Reflexitivät: klar.
• Symmetrie: v ∼H w ⇒ w ∼H v mit H t := H1−t für alle s,t;(
H2t ,
0 ≤ t ≤ 21 ,
.
• Transitivität: u ∼H v, v ∼K w ⇒ u ∼(H·K) w mit (H ·K)t =
K2t−1 , 21 ≤ t ≤ 1.
Wir bezeichnen mit [w] die Äquivalenzklasse eines Weges w in X und mit
π1 (X) := X/∼
die Menge aller Äquivalenzklassen von Wegen.
Definition 13.4. Die Verknüpfung zweier Wege v, w in X ist der Weg
(
v(2t),
0 ≤ t ≤ 12 ,
v ∗ w : [0, 1] → X, t 7→
w(2t − 1), 12 ≤ t ≤ 1.
30
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Satz 13.5. Für jedes x ∈ X ist
π1 (X; x) := {[w] ∈ π1 (X) : w(0) = x = w(1)}
eine Gruppe bezüglich der Verknüpfung [v] ∗ [w] := [v ∗ w].
Beweis. Wir zeigen eine etwas stärkere Aussage, ohne x ∈ X zu fixieren.
(1) Wohldefiniertheit: Seien v ∼H v0 und w ∼K w0 mit v(1) = v0 (1) = w(0) = w0 (0).
Dann folgt (v ∗ w) ∼H∗K (v0 ∗ w0 ) mit (H ∗ K)t = Ht ∗ Kt , d.h.
(
H(2s,t)
0 ≤ s ≤ 12 ,
(H ∗ K)(s,t) 7→
K(2s − 1), 12 ≤ s ≤ 1.
(2) Assoziativität: Seien u, v, w Wege in X. Dann gilt u ∗ (v ∗ w) ∼H (u ∗ v) ∗ w mit
 
0 ≤ s ≤ α(t),
u s ,


 α(t)
s−α(t)
H(s,t) = v β(t)−α(t)
, α(t) ≤ s ≤ β(t),



s−β(t)
w
β(t) ≤ s ≤ 1
1−β(t) ,
für geeignete α(t) und β(t), siehe Bild.
(3) Neutrales Element: Sei ιx : [0, 1] → X konstant gleich x ∈ X. Dann gilt für jeden
Weg w: ιw(0) ∗ w ∼ w ∼ w ∗ ιw(1) (ÜA).
(4) Inverses Element: Ist w ein Weg und w(t) = w(1 − t), so gilt ιw(0) ∼ w ∗ w mit
(
w(t2s),
s ≤ 1/2,
H(s,t) =
w(t(2s − 1)), s ≥ 1/2,
und analog w ∗ w ∼ ιw(1) .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
31
Definition 13.6. π1 (X, x) heißt die Fundamentalgruppe von X zum Basispunkt x.
Wie hängt die Fundamentalgruppe vom Basispunkt ab?
Satz 13.7. Für jedes [w] ∈ π1 (X) ist die Abbildung
c[w] : π1 (X, w(1)) → π1 (X, w(0)),
u 7→ [w] ∗ [u] ∗ [w],
ein Gruppenisomorphismus.
Beweis. Die Abbildung c[w] ist
• verträglich mit der Verknüpfung, denn für alle [u], [v] ∈ π1 (X, x) gilt
c[w] ([u]) ∗ c[w] ([v]) = [w] ∗ [u] ∗ [w] ∗ [w] ∗[v] ∗ [w] = c[u]∗[v] ,
| {z }
=[ιw(1) ]
• bijektiv und das Inverse ist c[w] (ähnliche Rechnung).
Wir betrachten nun ein paar Beispiele, deren genaue Berechnung z.T. erst später erfolgen kann:
Beispiel 13.8.
(1) Ist X ⊆ Rn konvex und x ∈ X, so ist π1 (X, x) = {[ιx ]} trivial (siehe
Beispiel 13.2).
(2) Sei S1 = {z ∈ C : |z| = 1} und wn : [0, 1] → S1 definiert durch t 7→ e2πint . Dann
ist
Z → π1 (S1 , 1), n 7→ [wn ]
ein Isomorphismus, d.h. π1 (S1 , 1) ist die “freie Gruppe” mit einem Erzeuger
[w1 ]. Der Beweis folgt später.
(3) Wir betrachten die Acht
X := (S1 − 1) (S1 + 1) ⊆ R2 .
| {z } | {z }
A
B
Jeder Weg in X mit Basispunkt 0 ist dann homotop zu einer Verknüpfung
von Wegen, die abwechselnd ganz in A oder ganz in B verlaufen. Sehen später:
π1 (X, x) ist die “freie Gruppe” mit zwei Erzeugern [u], [v], wobei u(t) := e2πit −1
und v(t) = 1 − e2πit . Insbesondere ist u ∗ v 6∼ v ∗ u!
32
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
(4) Seien X,Y topologische Räume und x ∈ X, y ∈ Y . Bezeichne pX und pY die
Projektion von X ×Y auf X beziehungsweise Y . Dann ist
π1 (X ×Y, (x, y)) → π1 (X, x) × π1 (Y, y),
[w] 7→ ([pX ◦ w], [pY ◦ w]),
ein Isomorphismus:
• Surjektivität: Sind u und v Wege in X bzw. Y , so ist
w := (u, v) : t 7→ (u(t), v(t))
ein Weg in X ×Y mit pX ◦ w = u und pY ◦ w = v.
• Injektivität (folgt aus Surjektivität, angewendet auf Homotopien): Falls pX ◦
w ∼H ιx und pY ◦ w ∼K ιy , so ist w ∼L ι(x,y) mit L(s,t) = (H(s,t), K(s,t)),
d.h. Lt = (Ht , Kt ).
(5) Für den Torus T = S1 × S1 ⊆ C × C folgt aus (2) und (4)
π1 (T, (1, 1)) ∼
= Z × Z.
Dabei entspricht (1, 0) und (0, 1) den beiden Wegen u := t 7→ (e2πit , 1) und v 7→
(1, e2πit ). Insbesondere ist u ∗ v ∼H v ∗ u.
14. D IE F UNDAMENTALGRUPPE UND A BBILDUNGEN
In den vorigen Beispielen (3) und (4) benutzten wir implizit bereits:
Satz 14.1. Sei f : X → Y eine stetige Abbildung topologischer Räume und x ∈ X. Dann
ist die Abbildung
f∗ : π1 (X, x) → π1 (Y, f (x)),
[w] 7→ [ f ◦ w]
ein Homomorphismus von Gruppen.
Beweis. Wohldefiniertheit: aus v ∼H w in X folgt f ◦ v ∼ f ◦H f ◦ w in Y .
Verträglichkeit mit der Verknüpfung: für alle Wege v, w in X mit v(1) = w(0) gilt ( f ◦
v) ∗ ( f ◦ w) = f ◦ (v ∗ w).
Die Zuordnungen (X, x) 7→ π1 (X, x) und f 7→ f∗ sind “funktoriell” in folgendem Sinn:
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
f
33
g
Bemerkung 14.2.
(1) Seien X −
→Y →
− Z stetige Abbildungen topologischer Räume
und x ∈ X. Dann ist
(g ◦ f )∗ = g∗ ◦ f∗ : π1 (X, x) → π1 (Z, g( f (x))), [w] 7→ [g ◦ f ◦ w].
(2) Ist idX die Identität auf einem topologischen Raum X, so ist (idX )∗ die Identität
auf : π1 (X, x) für jedes x ∈ X.
Eine wichtige Anwendung betrifft Selbstabbildungen von Dn = {x ∈ Rn : kxk ≤ 1}:
Theorem 14.3 (Fixpunktsatz von Brouwer). Jede stetige Abbildung f : Dn → Dn hat
einen Fixpunkt.
Beweis für n = 2. Angenommen, f : D2 → D2 hat keinen Fixpunkt. Für jedes x ∈ D2
bezeichne g(x) den Schnittpunkt des Strahles von f (x) durch x mit S1 = ∂D2 .
Dann ist g : D2 → S1 stetig und g|S1 = idS1 . Bezeichne j : S1 ,→ D2 die Einbettung und
sei x = (1, 0) ∈ S1 . Dann kommutiert
id∗
Z∼
= π1 (S1 , x)
j∗
)
π1 (D2 , x).
/
π1 (S1 , x) ∼
=Z
5
g∗
Da D2 konvex ist, ist π1 (D2 , x) trivial. Also kann j∗ nicht injektiv und g∗ nicht surjektiv
sein, ein Widerspruch.
Konkreter: Nach Beispiel 13.8 (2) existiert ein Weg w in S1 von 1 nach 1 mit w 6∼ ι1 . Da
D2 konvex ist, finden wir in D2 eine Homotopie H von w zu ι1 . Dann ist aber g ◦ H eine
Homotopie von w nach ι1 , die ganz in S1 verläuft, ein Widerspruch.
Die Fundamentalgruppe und die induzierten Abbildungen ändern sich nicht, wenn man
die Räume bzw. Abbildungen “stetig deformiert”:
Definition 14.4. Wir nennen stetige Abbildungen f , g : X → Y topologischer Räume
• homotop, falls es eine stetige Abbildung H : X × [0, 1] → Y mit H0 := H(−, 0) =
f und H1 := H(−, 1) = g gibt;
• homotop relativ zu A ⊆ X, falls zusätzlich f (a) = H(a,t) = g(a) für alle a ∈ A
und t ∈ [0, 1].
In dem Fall nennen wir H eine Homotopie von f nach g (relativ zu A) und schreiben
f ∼ g oder f ∼H g relativ zu A.
34
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Bemerkung 14.5. Achtung! Zwei Wege v, w in einem Raum X sind
• frei homotop als Wege im Sinn von Definition 13.1 genau dann, wenn sie homotop als Abbildungen von [0, 1] nach X in obigem Sinn sind;
• homotop als Wege im Sinn von Definition 13.1 genau dann, wenn sie homotop
relativ zu {0, 1} als Abbildungen von [0, 1] nach X sind.
Wir werden für Wege die Sprechweise von Definition 13.1 beibehalten.
Wie für Wege sind Homotopie und relative Homotopie von Abbildungen Äquivalenzrelationen.
Satz 14.6. Seien f , g : X → Y stetige Abbildungen und homotop relativ zu x ∈ X. Dann
ist f (x) = g(x) =: y und
f∗ = g∗ : π1 (X, x) → π1 (Y, y).
Beweis. Ist f ∼H g relativ zu x und [w] ∈ π1 (X, x), so ist ( f ◦ w) ∼K (g ◦ w) mit Kt =
Ht ◦ w für alle t ∈ [0, 1].
Jeder Äquivalenzbegriff für Abbildungen führt in natürlicher Weise zu einem Äquivalenzbegriff für Räume:
Definition 14.7. Zwei topologischer Räume X,Y heißen homotop, falls es stetige Abf
bildungen X Y gibt mit g ◦ f ∼ idX und f ◦ g ∼ idY . Sind x ∈ X und y ∈ Y , so nennen
g
wir (X, x) homotop zu (Y, y), falls zusätzlich f (x) = y, g(y) = x und die Homotopien
relativ zu x bzw. y gewählt werden können. In diesen Fällen schreiben wir X ∼ Y bzw.
(X, x) ∼ (Y, y).
Bemerkung 14.8. Homotopie von Räumen ist eine Äquivalenzrelation (ÜA).
Beispiel 14.9. Sei Sn = {x ∈ Rn+1 : kxk2 = 1}. Dann ist Rn+1 \ {0} ∼ Sn , denn für die
Abbildungen
x
f : Rn+1 \ {0} → Sn , x 7→
, und g = idSn : Sn → Rn+1 \ {0}
kxk2
gilt f ◦ g = idSn und g ◦ f ∼H idRn+1 \{0} mit
x
H(x,t) :=
.
kxk1−t
2
Folgerung 14.10. Sind (X, x) und (Y, y) homotop, so gilt π1 (X, x) ∼
= π1 (Y, y).
Beweis. Sind f , g wie in der Definition, so sind f∗ und g∗ nach Satz 14.6 zueinander
inverse Isomorphismen.
Bemerkung 14.11. Es gilt sogar: sind X,Y homotop und wegzusammenhängend, so
gilt π1 (X, x) ∼
= π1 (Y, y) für alle x ∈ X, y ∈ Y ; siehe Übung.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
35
15. D IE F UNDAMENTALGRUPPE DES K REISES
Wir zeigen nun, dass π1 (S1 , 1) ∼
= Z, und benutzen dafür die Abbildung
p : R → S1 , t 7→ e2πit .
Für jedes t ∈ Z schränkt sich p zu einem Homöomorphismus
∼
=
pt : (t − 1,t + 1) −
→ S1 \ {p(t + 2)} =: U p(t)
ein.
Satz 15.1.
(1) Sei w ein Weg in S1 und w(0) = p(t). Dann existiert genau ein Weg
w̃ in R mit p ◦ w̃ = w und w̃(0) = t.
(2) Seien ṽ, w̃ Wege in R mit ṽ(0) = w̃(0). Falls p ◦ ṽ ∼ p ◦ w̃, so gilt ṽ(1) = w̃(1)
(und ṽ ∼ w̃).
Beweis. (1) Eindeutigkeit: Sind w̃1 , w̃2 zwei Wege in R mit p ◦ w̃i = w und w̃i (0) = t, so
ist α(x) := w̃1 (x)− w̃2 (x) stetig abhängig von x, wegen p(w̃1 (x)) = p(w̃2 (x)) ganzzahlig
und für x = 0 gleich 0, also konstant gleich 0.
Existenz: Spezialfall w([0, 1]) ⊆ U p(t) : Setze w̃ = pt−1 ◦ w.
Allgemeiner Fall: Da [0, 1] kompakt ist, finden wir 0 = x0 < x1 < · · · < xn = 1 mit
w([xi−1 , xi ]) ⊆ Uw(xi−1 ) . Dann setzen wir
• w̃|(0,x1 ] := pt−1
◦ w|[0,x1 ] mit t0 := t,
0
−1
• w̃|(x1 ,x2 ] := pt1 ◦ w|(x1 ,x2 ] mit t1 := w̃(x1 ),
• etc.
und erhalten so den gesuchten Weg w̃.
(2) Sei H eine Homotopie von p ◦ ṽ nach p ◦ w̃. Da [0, 1] × [0, 1] kompakt ist, finden wir
0 = x0 < · · · < xm = 1 und 0 = y0 < · · · < yn = 1 so, dass für jedes Rechteck Qi, j =
[xi−1 , xi ] × [y j−1 , y j ] gilt: H(Qi, j ) ⊆ UH((xi−1 ,yi−1 )) . Definiere nun
H̃(−, 0) = ṽ,
H̃(0, −) ≡ t
und schrittweise für i = 1, . . . , m und j = 1, . . . , n jeweils
H̃|Qi, j := pt−1
◦ H|Qi, j
i, j
mit ti, j := H̃((xi−1 , y j−1 )).
Dann gilt
• p ◦ H̃(−, 1) = H(−, 1) und H̃(0, 1) = t, nach Eindeutigkeit in (1) also H̃(−, 1) =
w̃;
• p ◦ H̃(−, 1) = H(−, 1) ≡ p(ṽ(1)) und H̃(0, 1) = ṽ(1), also H̃(−, 1) ≡ ṽ(1)
und somit w̃(1) = H̃(1, 1) = ṽ(1).
Definition 15.2. Seien w,t, w̃ wie in 15.1. Dann nennen wir
• w̃ die Hochhebung (engl. Lift) von w mit Startpunkt t,
36
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
• W (w) := w̃(1) − w̃(0) die Windungszahl von w.
Beispiel 15.3. Für den Weg wn : t 7→ e2πint ist offenbar W (wn ) = n.
Theorem 15.4. Die Abbildung π1 (S1 , 1) → Z, [w] 7→ W (w), ist ein Isomorphismus von
Gruppen.
Beweis. Wohldefiniertheit folgt aus Satz 15.1 (2), Surjektivität aus Beispiel 15.3.
Seien [v], [w] ∈ π1 (S1 , 1) und ṽ, w̃ die Hochhebungen von v, w mit Startpunkt 0.
Injektivität: Seien [v], [w] ∈ π1 (S1 , 1) und ṽ, w̃ die Hochhebungen von v, w mit Startpunkt
0. Angenommen, W (v) = W (w), also ṽ(1) = w̃(1). Da R konvex ist, finden wir eine
Homotopie H̃ von ṽ nach w̃. Dann ist p ◦ H̃ eine Homotopie von v nach w, also [v] = [w].
Veträglichkeit mit der Verknüpfung: Seien [v], [w] ∈ π1 (S1 , 1) und ṽ, w̃ die Hochhebungen von v, w mit ṽ(0) = 0 und w̃(0) = ṽ(1). Dann ist ṽ ∗ w̃ eine Hochhebung von v ∗ w,
also
W (v ∗ w) = (ṽ ∗ w̃)(1) − (ṽ ∗ w̃)(0)
= w̃(1) − ṽ(0) = w̃(1) − w̃(0) + ṽ(1) − ṽ(0) = W (w) +W (w).
Folgerung 15.5. Für jeden stückweise differenzierbaren Weg w : [0, 1] → S1 ist
W (w) =
1
2πi
dz
w z
Z
(komplexes Kurvenintegral).
Beweis. Nach Analysis 3 ist das Kurvenintegral nur abhängig von [w] und für w = wn
ist
dz
=
wn z
Z
Z 1
0
wn (t)−1 w0n (t)dt
Z 1
=
e−2πint 2πine2πint dt = 2πin.
0
Mit Hilfe von Theorem 15.4 kann man beispielsweise
• den Fixpunktsatz von Brouwer (Theorem 14.3),
• den Fundamentalsatz der Algebra (siehe Übung), und
• folgenden Satz von Borsuk-Ulam
beweisen. Bezeichne S2 ⊆ R2 die Oberfläche der Einheitskugel.
Satz 15.6 (Borsuk-Ulam). (1) Es gibt keine stetige Abbildung f : S2 → S1 mit f (−x) =
− f (x) für alle x ∈ S2 . (2) Für jede stetige Abbildung f : S2 → R2 gibt es einen Punkt
x ∈ S2 mit f (x) = f (−x).
Wir benutzen:
Lemma 15.7. Ist v ein Weg in S1 mit v(t + 1/2) = −v(t) für alle t ∈ [0, 1/2], so ist W (v)
ungerade.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
37
Beweis. Wähle eine Hochhebung ṽ. Die Annahme liefert dann α(t) := ṽ(t + 1/2) −
ṽ(t) ∈ Z + 12 für alle t ∈ [0, 1/2]. Da t 7→ α(t) stetig ist, folgt α(1/2) = α(0) und somit
W (v) = ṽ(1) − ṽ(0) = α(1/2) + α(0) = 2α(0) ∈ 2Z + 1.
Beweis von Satz 15.6. (1) Setze u(t) := (cos(2πt), sin(2πt), 0). Dann folgt u(t + 1/2) =
−u(t) und f (u(t + 1/2)) = f (−u(t)) = − f (u(t)) für t ∈ [0, 1/2]. Nach dem Lemma ist
W ( f ◦u) ungerade. Aber in S2 ist u homotop zum konstanten Weg, also ist f ◦u homotop
zum konstanten Weg in S1 und W ( f ◦ u) = 0, ein Widerspruch.
(2) Angenommen, es gibt kein solches x. Dann ist
g : S2 → S1 , x 7→
f (x) − f (−x)
k f (x) − f (−x)k2
wohldefiniert und g(x) = −g(−x) für jedes x ∈ S2 im Widerspruch zu (1).
16. Ü BERLAGERUNGEN UND H OCHHEBUNGSSÄTZE
Überlagerungen sind ein mächtiges Werkzeug zur Berechnung von Fundamentalgruppen. In den folgenden ca. vier Vorlesungen entwickeln wir die Grundzüge ihrer Theorie.
Definition 16.1. Eine stetige, surjektive Abbildung p : Y → X topologischer Räume
heißt Überlagerung, wenn jeder Punkt x ∈ X eine Umgebung U besitzt, welche obige
Bedingungen (1) und (2) erfüllt. Eine solche Umgebung U nennen wir dann trivialisierend, die zu U homöomorphen offenen disjunkten Teilmengen von p−1 (U) Blätter. Man
nennt manchmal auch Y Überlagerung und p Überlagerungsabbildung. Ist |p−1 (x)| = k
für alle x ∈ X, so nennt man p eine k-fache Überlagerung.
Eine Abbildung von Überlagerungen p : Y → X und q : Z → X ist eine stetige Abbildung
f : Y → Z mit q ◦ f = p:
f
Y
p
X

/
Z
q
Ein Isomorphismus von Überlagerungen ist eine solche Abbildung, die ein Inverses hat,
also zusätzlich ein Homöomorphismus ist.
38
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Beispiel 16.2.
(1) Für jeden diskreten Raum F ist die Projektion X × F → X eine
Überlagerung; hier ist X eine trivialisierende Umgebung und die zugehörigen
Blätter sind X × { f } für f ∈ F. Dazu isomorphe Überlagerungen heißen trivial.
(2) Zur Berechnung von π1 (S1 , 1) benutzten wir die Überlagerung p : R → S1 , t 7→
e2πit .
Hier ist für jedes x ∈ S1 die offene Menge U = S1 \ {x} trivialisierend.
(3) Für jedes n = 1, 2, . . . ist die Abbildung S1 → S1 , z 7→ zn eine n-fache Überlagerung von S1 und S1 \ {x} trivialisierend für jedes x ∈ S1 .
(4) Die komplexe Exponentialabbildung z 7→ exp(z) ist eine Überlagerung C → C \
{0} und für jedes z0 6= 0 ist die geschlitzte Ebene Uz0 := C \ {λz0 : λ ≥ 0} eine
trivialisierende Umgebung. Die stetigen Abbildungen l : Uz0 → C mit exp ◦l =
id heißen die Zweige des komplexen Logarithmus.
(5) Der reellen projektiven Raum RPn ist der Quotient Sn /∼ mit x ∼ y ⇔ x = ±y
und die Quotientenabbildung p : Sn → RPn ist eine zweifache Überlagerung.
(ÜA)
(6) Hier einige Bilder von Überlagerungen der Acht (S1 − 1) ∪ (S1 + 1):
Hochhebungen entlang von Überlagerungen. Wir betrachten nun Hochhebungen von
Wegen und Homotopien entlang von Überlagerungen, ähnlich wie in Satz 15.1. Sei im
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
39
folgenden stets
p: Y → X
eine Überlagerung.
Definition 16.3. Eine Hochhebung einer stetigen Abbildung f : Z → X (entlang von p)
ist eine stetige Abbildung f˜ : Z → Y mit p ◦ f˜ = p:
>Y
f˜
Z
/
f
p
X.
Zunächst zur Eindeutigkeit:
Satz 16.4. Sei Z zusammenhängend, Y Hausdorffsch und f : Z → X stetig. Stimmen
zwei Hochhebungen von f in einem Punkt überein, so sind sie gleich.
Beweis. Seien f˜1 , f˜2 : Z → Y Hochhebungen von f und
A := {z ∈ Z : f˜1 (z) = f˜2 (z)}
nicht leer. Da f˜1 und f˜2 stetig sind, ist A abgeschlossen. Wir zeigen: A ist auch offen;
aus der Annahme folgt dann A = Z.
Sei z ∈ A und U eine trivialisierende Umgebung von f (z). Dann enthält p−1 (U) ein Blatt
V , das durch p homöomorph auf U abgebildet wird und f˜1 (z) = f˜2 (z) enthält. Auf der
offenen Menge W := f˜1−1 (V ) ∩ f˜2−1 (V ) gilt f˜1 |W = p|V−1 ◦ f |W = f˜2 |W , also z ∈ W ⊆ A.
Nun zur Existenz:
Satz 16.5 (Weg-Hebungssatz). Für jeden w ein Weg in X und jedes y0 ∈ p−1 (w(0)) gibt
es eine Hochhebung w̃ von w mit w̃(0) = y0 .
Beweis. Da w stetig ist, können wir [0, 1] durch in [0, 1] offene Intervalle überdecken,
deren Bilder unter w eweils in trivialisierenden offenen Teilmengen von X enthalten
sind. Da [0, 1] kompakt ist, finden wir also eine Zerlegung 0 = t0 < t1 < · · · < tn = 1 und
40
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
offene trivialisierende Teilmengen U1 , . . . ,Un ⊆ X mit w([ti−1 ,ti ]) ⊆ Ui für i = 1, . . . , n.
Nun setzen wir w̃(t0 ) := y0 , wählen für i = 1, . . . , n nacheinander das Blatt Vi ⊆ p−1 (Ui )
◦ w|[ti−1 ,ti ] .
mit w̃(ti−1 ) ∈ Vi und definieren w̃|[ti−1 ,ti ] := p|V−1
i
Der nächste Satz verwendet folgenden Begriff:
Definition 16.6. Ein topologischer Raum Z heißt lokal zusammenhängend, wenn es für
jede offene Teilmenge U ⊆ Z und jedes z ∈ U eine zusammenhängende offene Menge
V ⊆ U mit z ∈ V gibt.
Satz 16.7 (Homotopie-Hebungssatz). Sei Z lokal zusammenhängend, f : Z × [0, 1] → X
stetig und g : Z × {0} → Y stetig mit p ◦ g = f |Z×{0} . Dann existiert eine Hochhebung
f˜ von f , die g fortsetzt:
Z × {0}

_
g
/
∃! f˜
Z × [0, 1]
Y
p
/
f
;
X.
Beweis. Für jedes z ∈ Z finden wir nach Satz 16.5 für den Weg w := f (z, −) und den
Startpunkt g(z, 0) ∈ p−1 (w(0)) genau eine Hochhebung w̃ =: f˜(z, −) mit f˜(z, 0) =
g(z, 0).
Bleibt zu zeigen: das so definierte f˜ ist stetig.
Sei z ∈ Z. Ein Kompaktheitsargument wie in Aufgabe 3, Blatt 4, zeigt: es gibt eine
offene wegzusammenhängende Umgebung W von z und eine Zerlegung 0 = t0 < t1 <
. . . < tn = 1 so, dass f (W × [ti−1 ,ti ]) für jedes i in einer trivialisierenden offenen Menge
Ui ⊆ X enthalten ist.
Auf W × {0} ist f˜ gleich g, also stetig. Sei f˜ auf W × [0,ti−1 ] stetig. Wir zeigen, dass
dann f˜ auch auf W × [ti−1 ,ti ] stetig ist. Nun ist
• W × {ti−1 } zusammenhängend und f˜ auf W × {ti−1 } stetig, also auch f˜(W ×
{ti−1 }) zusammenhängend und ganz in einem Blatt Vi ⊆ p−1 (Ui ) enthalten,
• für jedes z0 ∈ W auch {z0 } × [ti−1 ,ti ] zusammenhängend und f˜ auf {z0 } × [0, 1]
stetig, also auch f˜({z0 } × [ti−1 ,ti ]) zusammenhängend und, da f˜(z0 ,ti−1 ) ∈ Vi ,
ganz in Vi enthalten.
also f˜(W × [ti−1 ,ti ]) ganz in Vi enthalten und somit f˜|W ×[ti−1 ,ti ] = p|V−1
◦ f |W ×[ti−1 ,ti ] stei
tig. Per Induktion über i folgt, dass f˜ auf ganz W × [0, 1] stetig ist.
Da z ∈ Z beliebig war, folgt, dass f stetig ist.
Bald können wir eine reiche Ernte einfahren.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
41
Folgerung 16.8. Sei Y Hausdorffsch und seien w̃1 , w̃2 Wege in Y mit gleichem Anfangspunkt y0 und p ◦ w̃1 ∼ p ◦ w̃2 . Dann folgt w̃1 ∼ w˜2 , insbesondere haben w̃1 und w̃2 den
gleichen Endpunkt.
Beweis. Wähle eine Homotopie H von p ◦ w̃1 nach p ◦ w̃2 . Satz 16.7, angewendet
/
{0} ×  [0, 1]
_
H̃
7
p
[0, 1] × [0, 1]
{y0 } ⊆ Y
/
H
X,
liefert eine Hochhebung H̃ von H. Nun ist
• H̃(−, 0) eine Hochhebung von p ◦ w̃1 mit Anfangspunkt y0 , also gleich w̃1 ,
• H̃(−, 1) eine Hochhebung von p ◦ w̃2 mit Anfangspunkt y0 , also gleich w̃2 ,
• H̃(1, −) eine Hochhebung des konstanten Weges H(1, −) mit Anfangspunkt
w̃1 (1), also konstant gleich w̃1 (1).
Insbesondere ist w̃2 (1) = w̃1 (1) und H̃ eine Homotopie von w̃1 nach w̃2 .
Folgerung 16.9. Sei Y Hausdorffsch. Dann ist für jedes y ∈ Y ist der Homomorphismus
p∗ : π1 (Y, y) → π1 (X, p(y)) injektiv.
17. D IE W IRKUNG DER F UNDAMENTALGRUPPE
Wir benutzen die zuvor gezeigten Hochhebungssätze, um aus einer Überlagerung
p: Y → X
mit Y Hausdorffsch
Rückschlüsse auf die Fundamentalgruppe von X zu ziehen. Sei stets Y Hausdorffsch.
Setze
Y × π1 (X) := {(y, [w]) ∈ Y × π1 (X) : p(y) = w(0)} ⊆ Y × π1 (X).
X
Folgerung 17.1. Es gibt eine eindeutige Abbildung
Y × π1 (X) → Y,
(y, [w]) 7→ y ∗ [w]
X
so, dass y ∗ [w] = w̃(1) für jede Hochhebung w̃ von w mit Startpunkt y. Ferner gilt
(y ∗ [u]) ∗ [w] = y ∗ ([u] ∗ [w]),
falls p(y) = u(0), u(1) = w(0).
Beweis. Wohldefiniertheit folgt aus 16.8.
Ist ũ die Hochhebung von u mit Startpunkt y und w̃ die Hochhebung von w mit Startpunkt w(y), so ist ũ ∗ w̃ die Hochhebung von u ∗ w mit Startpunkt y
Beispiel 17.2. Wir betrachten die Überlagerung
42
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
der Acht X := (S−1 − 1) ∪ (S1 + 1). Hier ist
y0 ∗ [u] ∗ [v] = y+ ∗ [v] = y+ ,
y0 ∗ [v] ∗ [u] = y− ∗ [u] = y−
und somit [u] ∗ [v] 6= [v] ∗ [u] in π1 (X, 0).
Wir fixieren nun ein x ∈ X und erhalten als Einschränkung
p−1 (x) × π1 (X, x) → p−1
1 (x), (y, [w]) 7→ y ∗ [w].
(5)
Definition 17.3. Eine (rechte) Wirkung einer Gruppe G auf einer Menge F ist eine
Abbildung F × G → F, (y, g) 7→ y · g, mit f · e = f und ( f · g) · g0 = f · (gg0 ) für alle
g, g0 ∈ G und f ∈ F.
Folgerung 17.4. (5) ist eine Gruppenwirkung.
Definition 17.5. Eine Gruppenwirkung F × G → F heißt
• transitiv, falls für ein (und dann jedes) f ∈ F die Abbildung
G → F, g 7→ f · g
(6)
surjektiv ist;
• frei, falls für jedes f ∈ F und g 6= e stets f · g 6= f folgt, also (6) injektiv ist.
Beispiel 17.6.
(1) Sei k ein Körper und GLn (k) die Gruppe der invertierbaren n ×
n-Matrizen über k. Dann ist die Abbildung
kn × GLn (k) → kn ,
((λ1 . . . λn ), A) 7→ (λ1 . . . λn )A
(Multiplikation von Zeilenvektoren mit Matrizen) eine Gruppenwirkung. Diese
ist weder transitiv noch frei, weil 0 · A = 0 für alle A. Die Einschränkung
kn \ {0} × GLn (k) → kn \ {0},
((λ1 . . . λn ), A) 7→ (λ1 . . . λn )A
ist transitiv, aber im allgemeinen nicht frei.
(2) Sei G eine Gruppe, H ⊆ G eine Untergruppe und H \G = {Hg : g ∈ G} ⊆ P (G)
die Menge der Rechtsnebenklassen. Dann ist die Abbildung
H \G × G → H \G, (Hg, g
0
) 7→ Hgg0 ,
eine Gruppenwirkung. Diese ist offenbar transitiv. Sie ist frei, falls H = {e},
und zum Beispiel nicht frei, falls H 6= {e} und G kommutativ oder H in G ein
Normalteiler ist, also Hg = gH für alle g ∈ G.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
43
Diese Eigenschaften einer Wirkung entsprechen gewissen Eigenschaften einer Überlagerung. Wir benötigen folgenden Begriff:
Definition 17.7. Ein topologischer Raum X heißt einfach zusammenhängend, falls π1 (X, x)
für jedes x ∈ X trivial ist.
Satz 17.8. Die Wirkung (5) ist
(1) transitiv, wenn Y wegzusammenhängend ist;
(2) frei, wenn Y einfach zusammenhängend ist.
Sind beide Bedingungen erfüllt und y0 ∈ p−1 (x), so ist die Abbildung
π1 (X, x) → p−1 (x), [w] 7→ y0 ∗ [w],
bijektiv.
Beweis. (1) Sind y, y0 ∈ p−1 (x) und w̃ ein Weg von y nach y0 , so ist y ∗ [p ◦ w̃] = y0 .
(2) Sei y ∈ p−1 (x), [w] ∈ π1 (X, x) und w̃ die Hochhebung von w mit Startpunkt y. Falls
y∗[w] = y, also w̃(1) = y, so folgt nach Annahme w̃ ∼ ιy , also w = p◦ w̃ ∼ p◦ιy = ιx . Definition 17.9. Sei X wegzusammenhängend. Wir nennen eine Überlagerung p : Y →
X universell, falls Y wegzusammenhängend, einfach zusammenhängend und Hausdorffsch
ist.
Beispiel 17.10. Universelle Überlagerungen sind zum Beispiel:
(1) p : R → S1 , t 7→ e2πit , und p × p : R2 → S1 × S1 .
(2) die Quotientenabbildung Sn → RPn für n ≥ 2 (müssen noch zeigen, dass Sn einfach zusammenhängend ist); insbesondere gilt für jedes x ∈ RPn dann |π1 (RPn , x)| =
|q−1 (x)| = 2 und folglich π1 (RPn , x) ∼
= {−1, 1} als Gruppe (mit Multiplikation).
(3) folgende Überlagerung der Acht durch einen Baum, in dem jeder Knoten 4 direkte Nachbarknoten hat:
Wir erhalten somit eine Bijektion von π1 (X, x) mit der Menge F aller Wörter
(=endlichen Folgen) der vier Symbole u, v, u−1 , v−1 , die nicht u und u−1 oder v
44
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
und v−1 nebeneinander enthalten. Dabei zählen wir das leere Wort e der Länge
0 hinzu. Für alle x1 , . . . , xn ∈ {u, u−1 , v, v−1 } ist dann
x1 · · · xn = e ∗ [x1 ] ∗ · · · ∗ [xn ]
und die Gruppenoperation entspricht dem Aneinanderhängen und Kürzen von
Wörtern, z.B.
v· v−1 uv−1 v−1 .
uuv−1 u−1 v · v−1 uv−1 v−1 = uuv−1
u−1
Satz 17.11. Sei X wegzusammenhängend, lokal wegzusammenhängend, lokal einfach
zusammenhängend und Hausdorffsch. Dann besitzt X eine universelle Überlagerung.
Beweis-Idee: Schritt 1: Wähle x0 ∈ X und definiere
Y := {[w] ∈ π1 (X) : w(0) = x0 },
p : Y → X, [w] 7→ w(1).
Schritt 2: Ist [w] ∈ Y und U ⊆ X eine wegzusammenhängende, einfach zusammenhängende Umgebung von w(1), so setze
Vw,U := {[w] ∗ [v] : v Weg in U mit v(0) = w(1)}.
Die Mengen Vw,U bilden die Basis einer Topologie auf Y (ÜA).
Schritt 3: Sind w,U wie oben, so ist
p|Vw,U : Vw,U → U
bijektiv (surjektiv, weil U wegzusammenhängend ist; injektiv, weil U einfach zusammenängend ist). Man zeigt nun, dass p|Vw,U ein Homöomorphismus ist. Dann folgt, dass
p eine Überlagerung ist.
Schritt 4: Y ist wegzusammenhängend: Setze y0 := [ιx0 ]. Sei [w] ∈ Y . Definiere für jedes
t ∈ [0, 1] einen Weg dwet in X durch
(
w(s), s ≤ t,
dwet (s) :=
w(t), s ≥ t.
Dann zeigt man: t 7→ [dwet ] ist stetig (ÜA); also ein Weg in Y von [ιx0 ] nach [w].
Schritt 5: Y ist einfach zusammenhängend: Sei s 7→ [us ] ein Weg in Y mit [u0 ] = [ιx0 ] =
[u1 ]. Dann zeigt man: (s,t) 7→ [dus et ] ist stetig (ähnlich wie in Schritt 3), also eine Homotopie zwischen dem konstanten Weg und s 7→ [us ].
18. K LASSIFIKATION VON Ü BERLAGERUNGEN
Ziel dieses Abschnitts ist die Klassifikation von Überlagerungen
p
Y−
→X
für einen festen Hausdorff-Raum X,
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
45
also topologischen Objekten, durch die Gruppen
π1 (Y, y) ∼
= p∗ (π1 (Y, y)) ⊂ π1 (X, x),
wobei x ∈ X und y ∈ p−1 (x), also algebraische Invarianten.
Nach Aufgabe 3 von Blatt 9 ist, falls X Hausdorffsch ist, auch Y Hausdorffsch.
Lemma 18.1. Sei p : Y → X eine Überlagerung und X Hausdorffsch. Für jedes y ∈
p−1 (x) und [w] ∈ π1 (X, x) gilt:
(1) [w] ∈ p∗ (π1 (Y, y)) ⇔ y ∗ [w] = y;
(2) [w] ∗ p∗ (π1 (Y, y ∗ [w])) ∗ [w]−1 = π1 (Y, y).
Beweis. (1) Ist [w] = p∗ [v], so ist v eine Hochhebung von p ◦ v mit Startpunkt y, also y ∗
[w] = v(1) = y. Umgekehrt hat, falls y ∗ [w] = y, die Hochhebung w̃ von w mit Startpunkt
y den Endpunkt w̃(1) = y ∗ [w] = y, also [w̃] ∈ π1 (Y, y) und [w] = p∗ [w̃].
(2) Aus (1) folgt für jedes [v] ∈ π1 (X, x):
[v] ∈ p∗ (π1 (Y, y ∗ [w])) ⇔ y ∗ [w] ∗ [v] = y ∗ [w]
⇔ y ∗ [w] ∗ [v] ∗ [w]−1 = y ⇔ [w] ∗ [v] ∗ [w]−1 ∈ π1 (Y, y). Der Schlüssel zur Klassifikation ist folgendes Hochhebbarkeits-Kriterium:
Satz 18.2. Sei p : Y → X eine Überlagerung, X Hausdorffsch, Z wegzusammenhängend,
lokal wegzusammenhängend und f : Z → X stetig sowie x ∈ X, y ∈ Y , z ∈ Z mit f (z) =
x = p(y). Dann sind folgende Aussagen äquivalent:
(1) es gibt eine Hochhebung f˜ von f mit f˜(z) = y:
?Y
∃ f˜
Z
/
f
p
X;
(2) f∗ (π1 (Z, z)) ⊆ p∗ (π1 (Y, y)) in π1 (X, x).
Gelten (1) und (2), so ist f˜ eindeutig.
Beweis. (1) ⇒ (2): f∗ (π1 (Z, z)) = p∗ ( f˜∗ (π1 (Z, z)) ⊆ p∗ (π1 (Y, y)).
(2) ⇒ (1): Eindeutigkeit: Ist z0 ∈ Z und v ein Weg in Z von z nach z0 , so muss f˜ ◦ v die
Hochhebung von f ◦ v mit Startpunkt y sein, also
f˜(z0 ) = f˜(v(1)) = y ∗ [ f ◦ v].
(7)
Existenz: f˜ wird durch (7) wohldefiniert: Seien v, w Wege in Z von z nach z0 ∈ Z. Aus
(1) folgt [ f ◦ v] ∗ [ f ◦ w] = f∗ ([v ∗ w]) ∈ p∗ (π1 (Y, y)) und mit obigem Lemma y ∗ [ f ◦ v] ∗
[ f ◦ w] = y, also y ∗ [ f ◦ v] = y ∗ [ f ◦ w].
Stetigkeit: Seien
46
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
z0 und v wie oben,
U eine trivialisierende Umgebung von f (z0 ),
V ⊆ p−1 (U) das Blatt, welches f˜(z0 ) = z ∗ [ f ◦ v] enthält,
W ⊆ f −1 (U) eine wegzusammenhängende Umgebung von z0 ,
z00 ∈ W und w ein Weg von z0 nach z00 in W .
Dann folgt f˜(z00 ) = y ∗ [ f ◦ (v ∗ w)] = f˜(z0 ) ∗ [ f ◦ w] ∈ V .
Somit ist f˜|W = p|−1 ◦ f |W stetig.
•
•
•
•
•
V
Besonders interessant ist der Fall, dass auch f eine Überlagerung ist:
Folgerung 18.3 (Eindeutigkeit). Für i = 1, 2 sei Yi wegzusammenhängend, lokal wegzusammenhängend, Hausdorffsch und pi : Yi → X eine Überlagerung mit yi ∈ p−1
i (x)
für ein x ∈ X. Dann sind äquivalent:
F
(1) es gibt Homöomorphismen Y1 Y2 mit
G
F
Y1 o
(a) p2 ◦ F = p1 , p1 ◦ G = p2 und
(b) F(y1 ) = y2 , G(y2 ) = y1 ;
p1
%
G
X
/
y
Y2
p2
(2) (p1 )∗ π1 (Y1 , y1 ) = (p2 )∗ π1 (Y2 , y2 ).
Beweis. (1) ⇒ (2): folgt aus Satz 18.2; (2) ⇒ (1): Satz 18.2 liefert stetige Abbildungen
F, G mit (a) und (b). Da p1 ◦ G ◦ F = p1 und p2 ◦ F ◦ G = p2 , folgt aus der Eindeutigkeit
in Satz 18.2 G ◦ F = idY1 und F ◦ G = idY2 .
Als nächstes bestimmen wir die Automorphismen einer Überlagerung:
Definition 18.4. Eine Decktransformation einer Überlagerung p : Y → X ist ein Homöomorphismus F : Y → Y mit p ◦ F = p. Wir bezeichnen die Gruppe aller solcher
Decktransformationen mit ∆(p).
Lemma 18.5. Sei p : Y → X eine Überlagerung und Y Hausdorffsch. Dann gilt für jedes
F ∈ ∆(p) und (y, [w]) ∈ Y × π1 (X):
X
F(y ∗ [w]) = F(y) ∗ [w].
Beweis. Ist w̃ eine Hochhebung von w mit Startpunkt y, so ist F ◦ w̃ eine Hochhebung
von w mit Startpunkt F(y), also F(y) ∗ [w] = (F ◦ w̃)(1) = F(w̃(1)) = F(y ∗ [w]).
Satz 18.6. Sei p : Y → X eine Überlagerung, Y wegzusammenhängend, lokal wegzusammenhängend und Hausdorffsch, x ∈ X, y ∈ p−1 (x) und
G = π1 (X, x),
H = p∗ (π1 (Y, y)) ⊆ G,
N := {g ∈ G : gH = Hg} ⊆ G.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
47
Dann gibt es genau einen surjektiven Gruppenhomomorphismus
α : N → ∆(p), [w] 7→ α[w] mit α[w] (y) = y ∗ [w]−1 .
Es gilt ker α = H, also N/H ∼
= ∆(p). Ist H ein Normalteiler (also N = G), so folgt
∆(p) ∼
= π1 (X, x)/p∗ π1 (Y, y).
Beweis. Sei [w] ∈ N. Nach Lemma 18.1 (2) ist
p∗ (π1 (Y, y ∗ [w]−1 )) = [w] ∗ π1 (Y, y) ∗ [w]−1 = π1 (Y, y)
und nach 18.3 existiert genau ein α[w] ∈ ∆(p) mit α[w]−1 (y) = y0 .
Im Fall [w] ∈ H folgt mit Lemma 18.1 α[w] (y) = y ∗ [w]−1 = y und aus der Eindeutigkeit
in Satz 16.4 α[w]−1 = idY .
Ist [w0 ] ∈ N, so folgt aus Lemma 18.5
α[w0 ] (α[w] (y)) = α[w0 ] (y ∗ [w]−1 ) = y ∗ [w0 ]−1 ∗ [w]−1 = α[w]∗[w0 ] (y)
und mit der Eindeutigkeit wieder α[w0 ] ◦ α[w] = α[w]∗[w0 ] .
Ist F ∈ ∆(p), so existiert nach Satz 17.8 ein [w] ∈ π1 (X, x) mit F(y) = y ∗ [w]−1 . Aus
Folgerung 18.3 folgt π1 (Y, y ∗ [w]−1 ) = π1 (Y, y) und mit Lemma 18.1 (2) [w] ∈ N, also
F = α[w] .
Folgerung 18.7. Ist p : X̃ → X eine universelle Überlagerung, so folgt ∆(p) ∼
= G.
Satz 18.8 (Existenz). Sei X Hausdorffsch, x ∈ X und H ⊆ π1 (X, x) eine Untergruppe.
Besitzt X eine universelle Überlagerung, so existiert auch eine Überlagerung p : Y → X
und ein y ∈ Y mit p∗ π1 (Y, y) = H.
Beweis. Sei p̃ : X̃ → X eine universelle Überlagerung. Wir definieren eine Äquivalenzrelation ∼ auf X̃ durch
x̃ ∼ x̃0 ⇔ x̃0 = α[w] (x̃) für ein [w] ∈ H.
Sei Y = X̃/∼ . Dann ist die Abbildung p : Y → X, [x̃] 7→ p̃(x̃), wohldefiniert und eine
Überlagerung, denn ist U ⊆ X trivialisierend für p̃, so auch für p (ÜA). Wähle y = [x̃] ∈
p−1 (x). Dann gilt nach Lemma 18.1 für jedes [w] ∈ π1 (X, x):
[w] ∈ p∗ π1 (Y, y) ⇔ y ∗ [w] = y ⇔ x̃ ∗ [w] ∼ x̃ ⇔ [w] ∈ H.
Beispiel 18.9. Wir betrachten X = S1 mit π1 (X, 1) ∼
= Z. Für jedes n ∈ N ist nZ ⊆ Z
eine Untergruppe und
pn : S1 → S1 , z 7→ zn ,
eine Überlagerung mit (pn )∗ π1 (S1 , 1) ∼
= nZ. Da Z kommutativ ist, folgt
∆(pn ) ∼
= Z/nZ.
48
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Andere Untergruppen besitzt Z nicht.
Beispiel 18.10. Wir betrachten die Acht X = (S1 − 1) ∪ (S1 + 1). Die Fundamentalgruppe bestand aus allen nicht kürzbaren Wörtern (endlichen Folgen) w = x1 . . . xn der
Buchstaben u, u−1 , v, v−1 .
• Für die zwei-blättrige Überlagerung
bestimmen wir π1 (Y, 0) mit Hilfe von Lemma 18.1. Offenbar gilt
y+ ∗ x1 . . . xn =
(
y+ , n gerade,
y− , n ungerade,
also ist p∗ π1 (Y, y+ ) ⊆ π1 (X, 0) die Untergruppe aller Wörter gerader Länge.
Diese ist ein Normalteiler und |∆(p)| = 2.
• Für n-blättrige Überlagerung
gilt
e2πik/n ∗ [u]±1 = e2πi(k±1)/n ,
e2πik/n ∗ [v]±1 = e2πik/n .
Wir setzen
|x1 . . . xn |u = |{i : xi = u}| − |{ j : x j = u−1 }|.
Dann folgt mit Lemma 18.1 p∗ (π1 (Y, y)) = {w ∈ π1 (X, x) : |w|u ∈ nZ}. Das ist
ein Normalteiler und ∆(p) ∼
= Z/nZ.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
49
19. K ATEGORIEN UND F UNKTOREN
Der erste Teil der Vorlesung — zur mengentheoretischen Topologie — hat mit dem sehr
allgemeinen Begriff topologischer Räume hauptächlich inhaltliche Grundlagen für eine
ganze Bandbreite von Vertiefungsrichtungen in der Mathematik gelegt.
Im zweiten Teil der Vorlesung — zur Fundamentalgruppe — verschob sich der Schwerpunkt mit dem engen Zusammenspiel zwischen Topologie und Gruppentheorie auf strukturelle Aspekte. Wir wollen diese strukturellen Aspekte nun noch einmal “mit etwas
Abstand von oben betrachtet” zusammenfassen. (Wie) gemacht dafür ist die Sprache
der Kategorien und Funktoren.
Definition 19.1. Eine Kategorie C besteht aus
• einer Klasse obC von Objekten,
• einer Menge Mor(A, B) von Morphismen für jedes Paar von Objekten A, B ∈
f
obC , die als f : A → B oder A −
→ B geschrieben werden,
• einem Identitäts-Morphismus idA ∈ Mor(A, A) für jedes Objekt A ∈ obC und
• Abbildungen Mor(B,C) × Mor(A, B) → Mor(A,C), (g, f ) 7→ g ◦ f , für alle Objekte A, B,C ∈ obC mit folgenden Eigenschaften:
f
(1) idB ◦ f = f = f ◦ idA für jeden Morphismus A −
→ B,
f
g
h
(2) (h ◦ g) ◦ f = h ◦ (g ◦ f ) für jedes Tripel von Morphismen A −
→B→
− C→
− D.
Beispiel 19.2. Kategorien sind in offensichtlicher Weise:
Kategorie
(Set)
Objekte
Mengen
Morphismen
Abbildungen
(Vect)
Vektorräume
lineare Abbildungen
(Grp)
Gruppen
Homomorphismen
(Top)
topologische Räume
stetige Abbildungen
(HTop)
topologische Räume
Homotopie-Klassen
stetiger Abbildungen
(Top)∗
Paare (X, x), wobei
X ein top. Raum und x ∈ X
von (X, x) nach (Y, y):
f : X → Y stetig mit f (x) = y
wie in (Top)∗
Äquivalenzklassen stetiger Abbildungen
bezüglich Homotopien, die
die Basispunkte fixieren
(HTop)∗
Für unser Studium der Fundamentalgruppe besonders relevant sind neben den letzten
beiden noch folgende Kategorien:
50
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Kategorie
Objekte
Morphismen
für jede Gruppe G:
(Set)G Mengen X mit einer
Abbildungen f : X → Y mit
linken Wirkung von G f (xg) = f (x)g für alle x ∈ X, g ∈ G
für jeden Raum X:
π1 (X)
(Cov)X
Punkte von X
Homotopie-Klassen
von Wegen
Überlagerungen
p: Y → X
Abbildungen von
Überlagerungen
Die Idee ist also, mathematische Strukturen stets zusammen mit ihren Abbildungen zu
betrachten. Die passenden Abbildungen von Kategorien sind Funktoren:
Definition 19.3. Seien C und D Kategorien. Ein Funktor F von C nach D ordnet
• jedem Objekt A in C ein Objekt FA in D und
f
Ff
• jedem Morphismus A −
→ B in C einen Morphismus FA −→ FB in D zu,
wobei jeweils FidA = idFA und F(g ◦ f ) = Fg ◦ Fg für jedes Objekt A und alle Morphisf
g
men A −
→B→
− C in C .
Beispiel 19.4. Die Fundamentalgruppe liefert einen Funktor π1 : (HTop)∗ →(Grp),
(X, x) 7→ π1 (X, x),
[f]
f∗
((X, x) −→ (Y, y)) 7→ (π1 (X, x) −
→ π1 (Y, y))
Wir benötigen noch:
f
Definition 19.5. Sei C eine Kategorie. Ein Morphismus A −
→ B in C heißt Isomorphisf
g
mus, falls in C ist ein Morphismus A −
→ B mit g ◦ f = idA und f ◦ g = idB für ein B →
− A.
In dem Fall heißen A und B isomorph. Ist zusätzlich A = B, so nennt man f einen Automorphismus.
Beispiel 19.6.
(1) In der Kategorie π1 (X) ist jeder Morphismus ein Isomorphismus.
Solche Kategorien heißen Gruppoide.
(2) Die Automorphismen einer Überlagerung in (Cov)X sind gerade die Decktransformationen.
Die bisherigen Ergebnisse lassen sich so zusammenfassen und (leicht) verallgemeinern.
Theorem 19.7. Sei X ein wegzusammenhängender, lokal wegzusammenhängender Raum,
x ∈ X und G = π1 (X, x).
(1) Es existiert ein Funktor (Cov)X →(Set)G , der jeder Überlagerung p : Y → X die
Wirkung
p−1 (X) × π1 (X, x) → p−1 (X), (y, [w]) 7→ y ∗ [w],
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
f
und jedem Morphismus Y
p
&
X
/
y
51
Z die Abbildung
q
f | p−1 (x) : p−1 (x) → q−1 (x)
zuordnet.
(2) Hat X eine universelle Überlagerung, so gibt es für jede rechte Gruppenwirkung
p
α : F × G → G eine Überlagerung p : Y → X mit F (Y −
→ X) = α.
(3) Sind p : Y → X und q : Z → X Überlagerungen, so ist die Abbildung, die jeder
Abbildung von Überlagerungen f : Y → Z die Abbildung von Gruppenwirkungen f | p−1 (x) zuordnet, eine Bijektion
p
q
Mor((Y −
→ X), (Z →
− X)) → Mor(p−1 (x), q−1 (x)) .
|
{z
} |
{z
}
Morphismen in (Cov)X
Morphismen in (Set)G
Kommentare zum Beweis. (1) Man muss nur zeigen: ist f wie oben, so gilt stets f | p−1 (x) (y∗
[w]) = f | p−1 (x) (y) ∗ [w]. Das folgt aber wie in Lemma 18.5.
(2) Jede Gruppenwirkung ist eine disjunkte Vereinigung transitiver Gruppenwirkungen;
jede transitive ist isomorph zu einer der Form
H \G × G → H \G,
(Hg, g0 ) 7→ Hgg0
und jede solche ist Bild einer Überlagerung nach Satz 18.8.
(3) Man kann sich wieder auf wegzusammenhängende Überlagerungen bzw. transitive
Gruppenwirkungen einschränken und dann Satz 18.2 anwenden.
Teil 3. Differenzierbare Mannigfaltigkeiten
20. G LATTE M ANNIGFALTIGKEITEN
Topologische Mannigfaltigkeiten sind Hausdorff-Räume, die lokal aussehen wie offene
Teilmengen des Rn , die also um jeden Punkt eine Karte in folgendem Sinn haben:
Definition 20.1. Sei X ein topologischer Raum.
• Eine (n-dimensionale) Karte für X ist ein Homöomorphismus φ von einer offenen Menge U ⊆ X, dem Kartengebiet, auf eine offene Teilmenge des U 0 ⊆ Rn .
Wir bezeichnen auch das Paar (U, φ) als Karte und die Komponenten φ1 , . . . , φn
von φ lokale Koordinaten.
• Sind (U, φ) und (V, ψ) Karten für X, so nennt man den Homöomorphismus
ψ ◦ φ−1 : φ(U ∩V ) → ψ(U ∩V )
den zugehörigen Kartenwechsel.
52
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
• Ein (n-dimensionaler) Atlas für X ist eine Familie von Karten ((Ui , φi ))i mit
S
i Ui = X.
Für differenzierbar / glatte / orientierbare / . . . Mannigfaltigkeiten wollen wir nun fordern, dass wir die Karten in einem Atlas entsprechend differenzierbar / glatt / orientierungserhaltend / . . . wählen können. Aber was soll das heißen? Diese Eigenschaften
müssten dann auch die Kartenwechsel haben und lassen sich darüber sinnvoll definieren.
Wir konzentrieren uns auf glatte (=beliebig oft differenzierbare) Mannigfaltigkeiten.
Definition 20.2. Ein Atlas heißt glatt, falls alle zugehörigen Kartenwechsel glatt sind.
Beispiele 20.3.
(1) Wir betrachten RPn = (Rn+1 \ {0})/∼ mit x ∼ y ⇔ Rx = Ry.
Für jedes i = 1, . . . , n + 1 ist
φi
RPn ⊃ Ui := {[x] : xi 6= 0} −
→ Rn ,
x1
xi−1 xi+1
xn+1
[(x1 , . . . , xn+1 )] 7→
,...,
,
,...,
xi
xi
xi
xi
eine Karte (vgl. Aufgabe 4 von Blatt 2) mit Umkehrabbildung
(y1 , . . . , yn ) 7→ (y1 , . . . , yi−1 , 1, yi , . . . , yn+1 ).
Für 1 ≤ i < j ≤ n + 1 ist der Kartenwechsel von φi nach φ j gegeben durch
y j−2 y j
y1
yi−1 1
yi
yn
(y1 , . . . , yn ) 7→
,...,
,
,
,...,
,
,...,
y j−1
y j−1 y j−1 y j−1
y j−1 y j−1
y j−1
also glatt. Diese Karten bilden also einen glatten Atlas für RPn .
(2) Auf Sn haben wir für jedes i = 1, . . . , n zwei Karten
φ±
i
Sn ⊃ Ui± := {x ∈ Sn : sgn(xi ) = ±1} −→
Rn−1 ,
x 7→ (x1 , . . . , xi−1 , xi+1 , . . . , xn ),
und diese bilden zusammen einen glatten Atlas für Sn (ÜA).
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
53
(3) Sind A und B glatte m- bzw. n-dimensionale Atlanten für Räume X beziehungsweise Y , so bilden die Karten
φ×ψ
X ×Y ⊇ U ×V −−→ Rm × Rn
mit (U, φ) ∈ A und (V, ψ) ∈ B
einen glatten (m + n)-dimensionalen Atlas für X ×Y
Die Wahl eines Atlas soll für die Definition einer Mannigfaltigkeit keine Rolle spielen.
Definition 20.4. Eine Menge B von Karten heißt verträglich mit einem glatten Atlas A
für X, falls die Kartenwechsel von Karten in B zu Karten in A glatt sind.
Zwei glatte Atlanten A , B sind also genau dann verträglich, wenn auch A ∪ B ein glatter
Atlas ist.
Lemma 20.5. Sei A ein glatter Atlas und A die Menge aller mit A verträglicher Karten
für X. Dann ist A ein maximaler glatter Atlas.
Beweis. Klar: A ⊆ A .
Glatter Atlas: Seien (V, ψ), (V 0 , ψ0 ) ∈ A und x ∈ V ∩ V 0 . Wähle (U, φ) ∈ A mit x ∈ U.
Dann ist ψ0 ◦ ψ−1 glatt in ψ(x), weil auf ψ(V ∩V 0 ∩U) gleich (ψ0 ◦ φ−1 ) ◦ (φ ◦ ψ−1 ).
Maximalität: Enthält ein glatter Atlas A , so ist jede seiner Karten verträglich mit A . Definition 20.6. Eine glatte Struktur auf einem Raum X ist ein maximaler glatter Atlas
für X; dessen Elemente heißen dann einfach glatte Karten. Eine glatte Mannigfaltigkeit
ist ein zweit-abzählbarer Hausdorff-Raum mit einer glatten Struktur.
Bemerkung 20.7.
(1) Jeder glatte Atlas A definiert genau eine glatte Struktur A .
(2) Zweit glatte Atlanten A , B für einen Raum definieren genau dann dieselbe glatte
Struktur, wenn sie verträglich sind.
Nun müssen wir noch die Morphismen in der Kategorie der glatten Mannigfaltigkeiten
definieren.
Definition 20.8. Seien X,Y glatte Mannigfaltigkeiten. Eine Abbildung f : X → Y heißt
• glatt in x ∈ X, falls es glatte Karten (U, φ) um x und (V, ψ) um f (x) gibt, für die
ψ ◦ f ◦ φ−1 auf einer Umgebung von φ(x) glatt ist;
54
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
• glatt, falls f in jedem x ∈ X glatt ist;
• Diffeomorphismus, falls f bijektiv und f , f −1 glatt sind.
Man nennt X und Y diffeomorph, falls es einen Diffeomorphismus f : X → Y gibt.
Bemerkung 20.9.
(1) Ist f : X → Y glatt in x ∈ X, so ist ψ ◦ f ◦ φ−1 für alle Karten
(U, φ) um x und (V, ψ) um f (x) glatt auf einer Umgebung von x. (Ähnliches
Argument wie im Beweis von Lemma 1.5).
(2) Die Verknüpfung glatter Abbildungen ist wieder glatt; somit bilden glatte Mannigfaltigkeiten mit glatten Abbildungen eine Kategorie.
Das folgende Beispiel ist wichtig für das Verständnis:
Beispiel 20.10. Auf R ist φ : x 7→ x3 ein Homöomorphismus und
A = {(R, idR )} und B = {(R, φ)}
glatte Atlanten.
p
• A und B sind nicht verträglich, weil der Kartenwechsel idR ◦φ−1 : x 7→ sgn(x) 3 |x|
nicht glatt ist.
• (R, A ) und (R, B ) sind diffeomorph vermöge der Abbildung f := φ : (R, B ) →
(R, A ), weil f bijektiv und id ◦ f ◦ φ−1 = id sowie φ ◦ f −1 ◦ id = id glatt sind.
Bemerkung 20.11.
(1) Es gibt glatte Mannigfaltigkeiten, die homöomorph, aber
nicht diffeomorph sind, z.B. S7 mit der gewöhnlichen und einer “exotischen”
differenzierbaren Struktur.
(2) Es gibt topologische Mannigfaltigkeiten, für die kein glatter Atlas existiert.
21. U NTERMANNIGFALTIGKEITEN
Bisher haben wir Mannigfaltigkeiten mit Hilfe konkreter Karten beschrieben. Einfacher
ist es manchmal, sie als Untermannigfaltigkeiten , z.B. des Rn , zu identifizieren.
Beispiel 21.1. GLn (R) ⊆ Rn×n ist offen und somit eine Mannigfaltigkeit (mit einer
einzigen Karte als Atlas). Auch viele andere Matrixgruppen wie z.B.
On = {A ∈ GLn (R) : A> A = 1n }
sind in natürlicher Weise Mannigfaltigkeiten, aber wie(so)?
Definition 21.2. Eine glatte Mannigfaltigkeit M mit einem m-dimensionalen Atlas heißt
glatte Mannigfaltigkeit der Dimension m; wir schreiben dann dim M = m.
Definition 21.3. Sei M eine m-dimensionale glatte Mannigfaltigkeit. Eine Teilmenge
N ⊆ M heißt n-dimensionale Untermannigfaltigkeit, wenn es um jedes x ∈ N eine glatte
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
55
Karte φ : U → Rm gibt mit
φ(U ∩ N) = φ(U) ∩ (Rn × {0}) in Rn × Rm−n = Rm .
In dem Fall heißt m − n die Kodimension von N in M.
Bemerkung 21.4. Durch Einschränkung der Karten von M auf N erhält man dann einen
Atlas für N; insbesondere ist N eine n-dimensionale glatte Mannigfaltigkeit.
Wir betrachten nun glatte Abbildungen f : N → M glatter Mannigfaltigkeiten und untersuchen, für welche y ∈ M das Urbild f −1 (y) wieder eine Mannigfaltigkeit wird.
Beispiel 21.5. Bei der Projektion des Doppeltorus auf die reelle Achse wie im folgenden
Bild besteht für fast alle y ∈ R das Urbild aus ein oder zwei Kopien von S1 . Für vier
Punkte ist das Urbild eine Acht und somit keine Untermannigfaltigkeit:
Wir benötigen nun folgende Sätze der Analysis II, die oft als Aussagen über einmal
stetig differenzierbare statt glatte Funktionen formuliert und bewiesen werden:
Satz 21.6 (Umkehrsatz). Sei U ⊆ Rn offen, f : U → Rn glatt, x0 ∈ U und D fx (=totale
Ableitung von f im Punkt x) invertierbar. Dann ist f auf einer offenen Umgebung U 0 ⊆
U von x0 ein Diffeomorphismus (von U 0 nach f (U 0 )).
Beweis-Idee. Banachscher FPS: Für y nahe bei y0 = f (x0 ) hat die Gleichung y = f (x)
eine Lösung x = lim xk mit
xk+1 := xk + (D f )−1
x0 (y − f (x)) für k ≥ 0,
weil die Abbildung g(x) := x + (D f )−1
x0 (y − f (x)) um x0 eine Kontraktion ist:
Dgx0 = id + (D f )−1
x0 (0 − D f x0 ) = 0.
56
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Satz 21.7 (Implizite Funktionen). Seien U1 ⊆ Rk und U2 ⊆ Rm offen, f : U1 ×U2 → Rm
glatt, x1 ∈ U1 , x2 ∈ U2 und
∂f
(x1 , x2 ) = D f(x1 ,x2 ) |{0}×Rm : Rm → Rm .
∂x2
invertierbar. Setze y0 = f (x1 , x2 ). Dann gibt es offene Umgebungen Wi ⊆ Ui von xi und
eine glatte Abbildung g : W1 → W2 mit g(x1 ) = x2 und
(W1 ×W2 ) ∩ f −1 (y0 ) = {(z1 , g(z1 )) : z1 ∈ W1 }.
Beweis-Idee. Umkehrsatz angewendet auf
h : U1 ×U2 → Rk × Rm , (z1 , z2 ) 7→ (z1 , f (z1 , z2 ))
und die Punkte (x1 , x2 ) und h(x1 , x2 ) = (x1 , y0 ) liefert um (x1 , x2 ) eine glatte Umkehrfunktion h−1 : (z1 , y) 7→ (z1 , z2 (z1 , y)); setze dann g(z1 ) := z2 (z1 , y0 ).
Um die Voraussetzung dieses Satzes für Abbildungen zwischen Mannigfaltigkeiten zu
formulieren, benutzen wir folgenden Begriff:
Definition 21.8. Sei U ⊆ Rn offen und f : U → Rm differenzierbar. Der Rang von f in
einem Punkt x ∈ U ist der Rang von D fx : Rn → Rm und wird mit Rgx f bezeichnet.
Sei nun f : N → M eine glatte Abbildung glatter Mannigfaltigkeiten und x ∈ N.
Lemma 21.9. Sind (Ui , φi ) und (Vi , ψi ) für i = 1, 2 glatte Karten um x beziehungsweise
f (x), so gilt
−1
Rgφ1 (x) (ψ1 ◦ f ◦ φ−1
1 ) = Rgφ2 (x) (ψ2 ◦ f ◦ φ2 ).
Beweis. Die Kettenregel liefert
−1
−1
−1
D(ψ1 ◦ f ◦ φ−1
1 ))φ1 (x) = D(ψ1 ◦ ψ2 )ψ2 (x) ◦D(ψ2 ◦ f ◦ φ2 )φ2 (x) ◦ D(φ2 ◦ φ1 )φ1 (x) .
|
{z
}
{z
}
|
invertierbar
invertierbar
Damit ist folgende Definition sinnvoll:
Definition 21.10. Sei f : N → M eine glatte Abbildung glatter Mannigfaltigkeiten.
• Der Rang von f in x ∈ N wird mittels glatter Karten (U, φ) um x und (V, ψ) um
f (x) definiert als Rgx f = Rgφ(x) (ψ ◦ f ◦ φ−1 ).
• x ∈ N heißt regulär für f , falls Rgx f = dim M.
• y ∈ M heißt regulärer Wert für f , falls jedes x ∈ f −1 (y) regulär ist.
Satz 21.11 (Urbilder regulärer Werte). Sei f : N → M eine glatte Abbildung und y0 ∈ M
ein regulärer Wert. Dann ist f −1 (y0 ) eine Untermannigfaltigkeit von N der Kodimension
dim M.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
57
Beweis. Es genügt, statt f : N → M die Abbildung ψ ◦ f ◦ φ−1 für Karten (φ,U) von N
und (ψ,V ) um y0 zu betrachten. Wir nehmen also o.B.d.A. an, dass N ⊆ Rn und M ⊆ Rm
offen sind. Sei x0 ∈ f −1 (y) und k = n − m.
Indem wir φ ggf. um einen linearen Isomorphismus ändern, können wir annehmen, dass
ker D fx0 = Rk × {0}, also D fx0 | : {0} × Rm → Rm bijektiv ist.
Schreibe x0 = (x1 , x2 ) ∈ Rk × Rm . Wir zeigen: Es gibt eine glatte Karte (W, χ) um x0
mit
(z1 , z2 ) ∈ f −1 (y0 )
⇔
χ(z1 , z2 ) ∈ Rk × {0}.
(8)
Satz 21.7 liefert offene Umgebungen Ui von xi und eine glatte Funktion g : U1 → U2 mit
(U1 ×U2 ) ∩ f −1 (y0 ) = {(z1 , g(z1 )) : z1 ∈ U1 }.
Die Abbildung
χ : U1 ×U2 → Rk × Rm , (z1 , z2 ) 7→ (z1 , z2 − g(z1 ))
erfüllt (8) und ist nach Satz 21.6 auf einer Umgebung W ⊆ U1 ×U2 von (x1 , x2 ) ein Diffeomorphismus, weil die Ableitung (Dχ)(x1 ,x2 ) : Rk × Rm → Rk × Rm als Blockmatrix
die Form
1k
0
(Dχ)(x1 ,x2 ) =
−Dgx1 1m
hat und somit invertierbar ist.
Bemerkung 21.12. Der Satz von Sard besagt, dass die Menge der kritischen Werte, die
also nicht reguläre Werte sind, stets eine Lebesgue-Nullmenge ist.
Beispiel 21.13.
(1) Für f : Rn+1 → R, x 7→ ∑ xi2 , ist 1 ein regulärer Wert, weil D fx =
0 nur für x = 0. Also ist f −1 (1) = Sn eine Untermannigfaltigkeit.
(2) Sei S = {B ∈ Mn (R) : B = B> } ∼
= Rn(n+1)/2 . Für f : Rn×n → S, A 7→ A> A, ist 1n
ein regulärer Wert und On = f −1 (1n ) eine Untermannigfaltigkeit, denn
d D fA : Rn×n → S ∼
= Rn(n+1)/2 , B 7→ (A + tB)> (A + tB) = A> B + B> A,
dt t=0
1
ist surjektiv: für C ∈ S und B := 2 AC folgt A> B = 21 C und
1
(D fA )B = (C +C> ) = C.
2
Folgende Klassen von Abbildungen sind besonders wichtig:
Definition 21.14. Eine glatte Abbildung f : M → N glatter Mannigfaltigkeiten der Dimension m bzw. n heißt
• Immersion, falls Rg p f = m für alle p ∈ M, und Einbettung, falls zusätzlich
f : M → f (M) ein Homöomorphismus ist;
58
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
• Submersion, falls Rg p f = n für alle p ∈ M.
Lokal sehen solche Abbildungen aus wie die kanonischen Abbildungen Rm → Rn in
den Fällen m ≤ n (Immersion) bzw. m ≥ n (Submersion):
Satz 21.15. Sei f : M → N eine glatte Abbildung glatter Mannigfaltigkeiten und p ∈ M.
(1) Ist Rg p f = m = dim M, so gibt es Karten (U, φ) um p und (V, ψ) um f (p) mit
(ψ ◦ f ◦ φ−1 )(x) = (x, 0) ∈ Rm × Rn−m = Rn
für alle x ∈ Rm .
(2) Ist Rg p f = n = dim N, so gibt es Karten (U, φ) um p und (V, ψ) um f (p) mit
(ψ ◦ f ◦ φ−1 )(x, y) = x
für alle (x, y) ∈ Rn × Rm−n = Rm .
Der Beweis von Satz 21.11 mit Hilfe des Satzes über implizite Funktionen war nicht der
direkteste; kürzer geht es über obige Aussage (2).
Beweis. (1) Die Idee ist ähnlich wie im Beweis des Satzes über implizite Funktionen.
0
Wähle Karten (U, φ) um p und (V 0 , ψ0 ) um f (p). Setze f 0 := ψ0 ◦ f ◦ φ−1 . Da D fφ(p)
Rang m hat, können wir o.B.d.A. annehmen, dass
0
D fφ(p)
Rm = Rm × {0} ⊆ Rn .
(sonst ändern wir ψ0 um einen linearen Isomorphismus). Für
θ : φ(U ∩ f −1 (V )) × Rm−n → Rn ,
(x, y) 7→ f 0 (x) + (0, y)
gilt
0
Dθ(φ(p),0) (Rm × Rm−n ) = D fφ(p)
Rm + {0} × Rn−m = Rm × Rn−m .
Nach 21.6 ist θ auf einer Umgebung W von (φ(p), 0) ein Diffeomorphismus. Setze
V := ψ−1 (θ(W )),
ψ := θ−1 ◦ ψ0 |V .
Dann ist (ψ ◦ f ◦ φ−1 )(x) = (θ−1 f 0 )(x) = (x, 0) für alle x ∈ U.
(2) Ähnlich wie (1), aber statt ψ0 ändert man φ.
Folgerung 21.16. Ist f : M → N eine Einbettung, so ist f (M) ⊆ N eine Untermannigfaltigkeit und f : M → f (M) ein Diffeomorphismus.
22. A PPROXIMATION DURCH GLATTE F UNKTIONEN
Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit. Wir wollen stetige Funktionen auf M durch glatte
approximieren. Bezeichne (vgl. Abschnitt 11)
• C(M) die stetigen Funktionen,
• C0 (M) ⊆ C(M) die im Unendlichen verschwindenden Funktionen,
• supp f = {p ∈ M : f (p) 6= 0} den Träger einer Funktion f ∈ C(M),
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
59
• C∞ (M) ⊆ C(M) die glatten Funktionen auf M,
• C0∞ (M) = C∞ (M) ∩C0 (M).
Beispiel 22.1. Folgende Funktionen auf R bzw. Rn sind glatt (vgl. Analysis 2 bzw. 3):
(
0,
t ≤ 0,
• ψ(t) = −t 2
;
e , t >0
ψ(t)
• φε (t) =
;
ψ(t) + ψ(ε − t)
• χε,r,y (x1 , . . . , xn ) = 1 − φε (kx − yk − r).
Lemma 22.2. Sei U ⊆ M offen und p ∈ U. Dann gibt es ein glattes f : M → [0, ∞] mit
supp f ⊆ U und f (p) = 1.
Beweis. Wähle eine Karte (V, φ) um p mit V ⊆ U, ein ε > 0 mit supp χε,ε,φ(p) und setze
f |V := χε,ε,φ(p) ◦ φ,
f |M\V := 0.
Lemma 22.3. Sei U ⊆ M offen und K ⊆ U kompakt. Dann gibt es ein glattes g : M →
[0, ∞] mit supp g ⊆ U und g(p) > 1/2 für alle g ∈ K.
Beweis. Wähle für jedes p ∈ K ein f p wie in Lemma 22.2. Da K kompakt ist, finden wir
S
p1 , . . . , pk ∈ K mit K = ki=1 f p−1
((1/2, ∞)). Setze g := f p1 + . . . + f pk .
i
Wir benutzen gleich folgende Aussage; der Beweis ist wie in Satz 10.7, Teil (2).
Lemma 22.4. Ist M kompakt und U1 , . . . ,Un eine offene Überdeckung, so existiert eine
offene Überdeckung U10 , . . . ,Un0 mit Ui0 ⊆ Ui für i = 1, . . . , n.
In der Differentialgeometrie benötigt man oft glatte Zerlegungen der Eins:
Satz 22.5. Sei M eine kompakte glatte Mannigfaltigkeit und U1 , . . . ,Un eine offene Überdeckung. Dann gibt es eine untergeordnete glatte Zerlegung der Eins, also glatte Funktionen χ1 , . . . , χn : M → [0, 1] mit supp χi ⊆ Ui und ∑i χi = 1.
Beweis. Wähle Ui0 wie oben, gi zu U 0 i ⊆ Ui wie in Lemma 22.3. Dann ist g := g1 + . . . +
gn > 0. Setze χi := gi /g.
Wir sehen nun, dass man jede abstrakte Mannigfaltigkeit mit einer Untermannigfaltigkeit des RN identifizieren kann, wenn man N ausreichend groß wählt.
Satz 22.6. Sei M glatt und kompakt. Dann gibt es eine glatte Einbettung M → RN .
Der Einbettungssatz von Whitney besagt, dass man N = 2 dim M wählen kann; das ist
schwierig.
60
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Beweis. Wähle einen Atlas (U1 , φ1 ), . . . , (Un , φn ) und U10 , . . . ,Un0 wie in Lemma 22.4.
Nach Satz 22.7 existieren χ1 , . . . , χn mit χi |U 0 = 1 und supp χi ⊆ Ui . Setze χi φi außerhalb
i
von Ui durch 0 fort. Dann ist
h : M → Rn(1+dim M) , p 7→ (χ1 (p)φ1 (p), χ1 (p) . . . , χn (p)φn (p), χn (p)),
• eine Immersion, denn für p ∈ Ui0 ist Rg p h ≥ Rg p φi = dim M,
• injektiv: h(p) = h(q) impliziert χi (p) = χi (q) 6= 0 für ein i, also p, q ∈ Ui0 und
φi (p) = φi (q), d.h. p = q;
• ein Homöomorphismus auf das Bild, da M kompakt.
Für den vorigen Beweis benötigten wir folgenden Fortsetzungssatz:
Satz 22.7. Sei M glatt und kompakt, U ⊆ M offen, K ⊆ U kompakt und f : U → R glatt.
Dann gibt es ein g ∈ C∞ (M) mit g|K = f |K und supp g ⊆ U.
Beweis. Die Mengen U1 := U und U2 := M \ K überdecken M. Wähle χ1 , χ2 wie in 22.5
und setze g|U := χ1 f und g|M\U = 0. Wegen χ2 |K = 0 ist χ1 |K = 1 und somit g|K = f .
Da supp χ1 ⊆ U, wird g auf ganz M glatt.
Satz 22.8. Sei M ein glatte Mannigfaltigkeit. Dann ist C0∞ (M) dicht in C0 (M) bezüglich
der Supremumsnorm.
Beweis. Wir wenden den Satz von Stone-Weierstrass 11.6 an: C0∞ (M) ⊆ C0 (M)
• ist eine selbstadjungierte Unteralgebra (Summe, Vielfache, Produkte und komplex Konjugierte glatter Funktionen sind glatt);
• verschwindet nach Lemma 22.2 in keinem p ∈ M;
• trennt die Punkte von M: sind p, q ∈ M verschieden, so existiert eine kompakte
Umgebung U von p mit q 6∈ U und nach Lemma 22.2 ein f ∈ C∞ (M) mit f (p) =
1 und supp f ⊆ U; insbesondere folgt f (q) = 0 und f ∈ C0∞ (M).
Wir betrachten nun Abbildungen zwischen Mannigfaltigkeiten:
Folgerung 22.9. Sei M eine kompakte Mannigfaltigkeit.
(1) Sei f : M → Rk stetig. Dann gibt es für jedes ε > 0 ein glattes g : M → Rk mit
sup p∈M k f (p) − g(p)k < ε.
(2) Sei f : M → Sk stetig. Dann gibt es für jedes ε > 0 ein glattes h : M → Sk mit
sup p∈M k f (p) − h(p)k < ε.
Beweis. (1) Approximiere die Komponenten f1 , . . . , fk durch glatte g1 , . . . , gk .
(2) Approximiere die Komponenten f1 , . . . , fk+1 durch glatte g1 , . . . , gk+1 und setze
h(p) := g(p)/kg(p)k.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
61
Bemerkung 22.10. Allgemein kann man stetige Abbildungen f : M → N zwischen
kompakten glatten Mannigfaltigkeiten beliebig gut durch glatte approximieren. Dazu
(1) wählt man eine Einbettung j : N → Rk ,
(2) zeigt man, dass j(N) ⊆ Rk eine Tubenumgebung U besitzt, die diffeomorph zu
j(N) × B ist, wobei B der k − dim N-dimensionale Einheitsball bezeichne,
(3) approximiert man j ◦ f durch ein glattes g mit g(M) ⊆ U und kontrahiert U ∼
=
j(N) × B auf j(N) × {0} ∼
= N.
23. D ER TANGENTIALRAUM
Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit und p ∈ M. Ein Tangentialvektor an M in p ist
• (geometrisch und anschaulich) eine Richtung, in die man sich von p aus auf
M entlang einer Kurve bewegen kann. Dabei ist zu klären, wann zwei Kurven
in dieselbe Richtung gehen. Genauer ist ein Tangentialvektor dann eine Äquivalenzklasse von Kurven. Der Nachteil des Zugangs ist, dass dieser “geometrische” Tangentialraum keine offensichtliche Vektorraumstruktur trägt.
• (algebraisch und abstrakt) eine Richtung, in die man glatte Funktionen auf
M in p ableiten kann, beziehungsweise gegeben durch eine lineare Abbildung
δ : C∞ (M) → C, die eine Derivation in p ist, also δ( f g) = f (p)δ(g) + g(p)δ(p)
für alle f , g ∈ C∞ (M) erfüllt. Die Menge solcher Derivationen ist der “algebraische Tangentialraum” und offenbar ein Vektorraum. Dieser Zugang ist eher im
Zusammenhang mit algebraischer Geometrie interessant.
• (physikalisch und effizient) für jede Karte (U, φ) um p durch einen Richtungsvektor v(φ) gegeben, der beim Wechsel zu einer Karte (V, ψ) um p dem Richtungsvektor
v(ψ) = D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) (v(φ) )
(9)
entspricht.
Wir verwenden den “physikalischen” Zugang und gehen auf den Bezug zu den anderen
Zugängen ein.
62
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Definition 23.1. Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit der Dimension m und p ∈ M. Bezeichne und A p die Menge aller glatter Karten um p. Ein physikalischer Richtungsvektor ist eine Abbildung
v : A p → Rm , (U, φ) 7→ v(φ) ,
die für alle Karten (U, φ), (V, ψ) um p die Gleichung (9) erfüllt. Der (physikalische)
Tangentialraum an M in p ist die Menge aller solcher physikalischer Richtungsvektoren
und wird mit Tp M bezeichnet.
Vor der Veranschaulichung dieser Definition zunächst wichtige formale Eigenschaften:
Lemma 23.2.
(1) Sind v, w ∈ Tp M und λ ∈ R, so sind auch
v + w : A p → Rm , (U, φ) 7→ v(φ) + w(φ) ,
λv : A p → Rm , (U, φ) 7→ λv(φ) ,
physikalische Richtungsvektoren. Mit diesen Operationen wird Tp M ein Vektorraum.
(2) Für jede Karte (W, χ) um p ist die Abbildung Tp M → Rm , v 7→ v(χ) , ein linearer
Isomorphismus.
Beweis. (1) Einfache ÜA.
(2) Linearität ist klar. Injektivität folgt aus (9). Surjektivität: Ist y ∈ Rm , so wird durch
(U, φ) 7→ ỹ(φ) := D(φ ◦ χ−1 )χ(p) y
ein physikalischer Richtungsvektor ỹ definiert, weil nach Kettenregel
ỹ(ψ) = D(ψ ◦ χ−1 )χ(p) y = D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) D(φ ◦ χ−1 )χ(p) y = D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) (y(φ) ).
Offenbar ist ỹ(φ) = y.
Wir versuchen nun, Tp M anschaulicher zu verstehen.
Beispiel 23.3. Im Fall M = Rn erhalten wir für die Karte χ = idRn einen kanonischen
∼
=
Isomorphismus Tp Rn −
→ Rn .
Sei M eine glatte Untermannigfaltigkeit des Rn und ι : M → Rn die Einbettung.
Lemma 23.4. Es gibt genau eine injektive lineare Abbildung ι p : Tp M → Rn so, dass
(φ)
ι p (v) = D(ι ◦ φ)−1
φ(p) (v ) für jede Karte (U, φ) um p und jedes v ∈ Tp M.
Beweis. Die Wohldefiniertheit folgt aus der Kettenregel: für jede andere Karte (V, ψ)
um p gilt
D(ι ◦ ψ−1 )ψ(p) (v(ψ) ) = D(ι ◦ ψ−1 )ψ(p) D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) = D(ι ◦ φ−1 )φ(p) (v(φ) ). GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
63
Wir nennen dann
Tpu M = ι p (Tp M) ⊆ Rn .
den eingebetteten Tangentialraum.
Beispiel 23.5. Für Sn ⊆ Rn und p ∈ Sn ist
Tpu Sn = {x ∈ Rn+1 : hp, xi = 0} = p⊥ :
Wir zeigen dies für den Fall pn+1 > 0. Für die Karte
φ
Sn ⊃ U+ := {p ∈ Rn+1 : pn+1 > 0} →
− Rn ,
(p1 , . . . , pn+1 ) 7→ (p1 , . . . , pn ),
ist
−1
(ι ◦ φ )(p1 , . . . , pn ) =
q
2
2
p1 , . . . , pn , 1 − (p1 + · · · + pn ,
also
En
D(ι ◦ φ )(p1 ,...,pn ) =
q
−1
1
mit q = q
(−p1 . . . − pn ).
2
2
1 − (p1 + · · · + pn )
Das Bild dieser Abbildung ist gerade p⊥ (einfache ÜA).
Sei nun wieder M eine beliebige glatte Mannigfaltigkeit und p ∈ M. Jeder physikalische
Richtungsvektor v ∈ Tp M kann durch Kurven “dargestellt” werden:
Satz 23.6. Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit, p ∈ M und
T p M = {ω : (−ε, ε) → M : ε > 0, ω glatt, ω(0) = p}.
(1) Für jedes ω ∈ T p M ist die Abbildung
ω̇(0) : A p → Rm , (U, φ) 7→ (φ ◦ ω)0 (0),
ein physikalischer Richtungsvektor.
(2) Für jedes v ∈ Tp M existiert ein ω ∈ T p M mit ω̇(0) = v.
Beweis. (1) Nach Kettenregel gilt (ψ ◦ ω)0 (0) = D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) ((φ ◦ ω)0 (0)).
(2) Wähle eine Karte (U, φ) um p. Für kleine t liegt φ(p) + tv(φ) in U und ω(t) :=
φ−1 (φ(p) + tv(φ) ) erfüllt
ω̇(0)(φ) = D(φ ◦ ω)0 = D(t 7→ φ(p) + tv(φ) )0 = vφ .
Diese Darstellung von Tangentialvektoren durch Kurven hat viele Vorteile:
Lemma 23.7. Sei M eine glatte Untermannigfaltigkeit des Rn , ι : M → Rn die Einbettung, p ∈ M und ι p : Tp M → Rn wie in Lemma 23.4. Dann gilt für jedes ω ∈ T p M:
ι p (ω̇(0)) = (ι ◦ ω)0 (0).
64
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Beweis. Ist (U, φ) eine Karte um p, so folgt
0
0
ι p (ω̇(0)) = D(ι ◦ φ)−1
φ(p) (φ ◦ ω) (0) = (ι ◦ ω) (0).
Beispiel 23.8. Wir betrachten noch einmal p ∈ Sn ⊆ Rn+1 und zeigen, dass
Tpu Sn = {x ∈ Rn+1 : hp, xi = 0} :
“⊆”: Ist ω ∈ T p Sn , so folgt aus 1 = h(ι ◦ ω)(t)|(ι ◦ ω)(t)i nach Ableiten im Punkt t = 0
0 = h(ι ◦ ω)(0)|(ι ◦ ω)0 (0)i + h(ι ◦ ω)0 (0)|(ι ◦ ω)(0)i = 2hp|(ι ◦ ω)0 (0)i.
“⊇”: Ist x ⊥ p, so gilt für ω : t 7→ cos(t)p + sin(t)x erstens ω(0) = p und zweitens
(ι ◦ ω)0 (0) = x.
Beispiel 23.9. Für die Gruppe der orthogonalen Matrizen O(n) ⊆ Mn (R) ∼
= Rn×n ist
TEun O(n) der Raum der schiefsymmetrischen Matrizen (Aufgabe 4, Blatt 12).
Wir bestimmen nun Tpu Sn ⊂ Rn+1 auf eine dritte Weise mit folgendem Satz:
Satz 23.10. Sei M = f −1 (y) ⊆ Rk für eine glatte Abbildung f : Rk → Rn mit einem
regulären Wert y ∈ Rn und sei p ∈ M. Dann gilt
Tpu M = ker D f p .
Beweis. Man kann das mit Hilfe einer an f angepassten Karte (vgl. Satz 21.15) zeigen,
oder mit Kurven wie folgt. Bezeichne ι : M → Rk die Einbettung.
“⊆”: Sei ω ∈ T p M. Aus (ι ◦ ω)(t) ∈ f −1 (y) folgt ( f ◦ ι ◦ ω)0 (0) = 0, also mit Kettenregel
ι p (ω̇(0)) = (ι ◦ ω)0 (0) ∈ ker D f p .
“=”: Aus Rg p f = n folgt dim(ker D f p ) = k − n und nach Satz 21.11 ist dim Tpu M =
dim M = k − n.
Beispiel 23.11. Wir schreiben Sn = f −1 (1) mit f : Rn+1 → R, p 7→ hp|pi, und erhalten
Tpu Sn = ker D f p = ker(q 7→ 2hp|qi) = p⊥
für jedes p ∈ Sn .
Hier eine typische Anwendung:
Folgerung 23.12 (Extrema mit Nebenbedingungen). Sei M = f −1 (y) wie in Satz 23.10,
U ⊆ Rk offen, g : U → R glatt und p ∈ U ∩ M eine lokale Extremstelle für g|M . Dann
existieren α1 , . . . , αn ∈ R (“Lagrange-Multiplikatoren”) mit
n
(∂1 g(p) . . . ∂k g(p)) =
|
{z
}
grad g(p)
f (p) . . . ∂k f (p)) .
∑ α j (∂
| 1
{z
}
j=1
grad f j (p)
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
65
Beweis. Für jedes ω ∈ T p M ist 0 eine Extremstelle für g◦ι◦ω, also (ι◦ω)0 (0) ∈ ker Dg p .
Mit Satz 23.10 folgt
n
\
grad( f j (p))⊥ = ker D f p = Tpu M ⊆ ker Dg p = grad(g(p))⊥
j=1
und somit nach Übergang zu orthogonalen Komplementen
gradg(p) ∈ span1≤ j≤n grad f j (p).
24. A BLEITUNGEN VON F UNKTIONEN UND GLATTEN A BBILDUNGEN
Sei wieder M eine glatte Mannigfaltigkeit der Dimension m, sei p ∈ M und v ∈ Tp M.
Dann definieren wir die Ableitung einer Funktion f , die auf einer Umgebung von p
definiert und glatt ist, in Richtung von v, indem wir eine Karte (U, φ) um p wählen, als
Dv f := D( f ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) ∈ C.
Für jede andere Karte (V, ψ) um p ergibt sich nach Kettenregel
D( f ◦ ψ−1 )ψ(p) v(ψ) = D( f ◦ ψ−1 )ψ(p) D(ψ ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) = D( f ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) .
|
{z
}
=v(ψ)
Wir bemerken:
(D1) Für jede Kurve ω ∈ T p M kann man die Ableitung Richtung ω̇(0) ohne Karte
bilden, indem man die Funktion f ◦ ω in 0 ableitet:
Dω̇(0) f = D( f ◦ φ−1 )φ(p) ω̇(0)(φ) = D( f ◦ φ−1 )φ(p) (φ ◦ ω)0 (0) = ( f ◦ ω)0 (0).
(D2) Ist auch g eine um p glatte Funktion, so folgt aus (D1) und der Produktregel
Dv ( f g) = f (p)Dv g + g(p)Dv f .
(D3) Offenbar hängt Dv f nur von f |W für beliebig kleine Umgebungen W von p ab.
(D4) Der Vektor v(φ) und somit v ist durch Dv vollständig bestimmt, denn
(φ)
Dv φi = D(φi ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) = vi ,
| {z }
also v(φ) = (Dv φ1 , . . . , Dv φm ).
x7→xi
Bemerkung 24.1. Eine Derivation auf C∞ (M) in p ist eine lineare Abbildung δ : C∞ (M) →
C mit δ( f ) = f (p)δ(g) + g(p)δ( f ) für alle f , g ∈ C∞ (M). Solche Derivationen bilden
alg
einen Untervektorraum von Hom(C∞ (M), C), den wir mit Tp M bezeichnen. Man kann
alg
zeigen: Die Abbildung Tp M → Tp M, v 7→ Dv , ist ein linearer Isomorphismus.
Wir definieren nun Ableitungen glatter Abbildungen:
66
PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Satz 24.2. Sei f : M → N eine glatte Abbildung und p ∈ M. Dann gibt es genau eine
lineare Abbildung
Tp f : Tp M → T f (p) N,
die für jede Karte (U, φ) um p und (V, ψ) um f (p) folgende Gleichung erfüllt:
(Tp f )(v)(ψ) = D(ψ ◦ f ◦ φ−1 )φ(p) (v(φ) ),
(10)
also folgendes Diagramm kommutativ macht:
Tp M
v7→v(φ)
Rm
Tp f
/
T f (p) N
/
w7→w(ψ)
Rn
D(ψ◦ f ◦φ−1 )φ(p)
Dabei gilt:
Tp f ist injektiv ⇔ Rg p f = m,
Tp f ist surjektiv ⇔ Rg p f = n.
Beweis. Sei v ∈ Tp M und (U, φ) eine Karte um p. Dann definiert (10) einen physikalischen Richtungsvektor (Tp f )(v), denn für jede Karte (W, χ) um f (p) gilt
D(χ ◦ f ◦ φ−1 )φ(p) (v(φ) ) = D(χ ◦ ψ−1 )ψ(p) (D(ψ ◦ f ◦ φ−1 )φ(p) (v(φ) )).
Eine ähnliche Rechnung zeigt, dass dieser Richtungsvektor nicht von (U, φ) abhängt.
Die Äquivalenzen folgen daraus, dass Rg p f der Rang von D(ψ ◦ f ◦ φ−1 )φ (p) und die
vertikalen Abbildungen im Diagramm isomorphismen sind.
Beispiel 24.3. Sei p ∈ M und (U, φ) eine glatte Karte um p.
(1) Ist V ⊆ M offen und p ∈ M, so liefert die Inklusion V ,→ M einen kanonischen
Isomorphismus TpV ∼
= Tp M.
m
(2) Sei M ⊆ R eine Untermannigfaltigkeit und ι : M → Rm die Einbettung. Wir
identifizieren für jedes x ∈ Rm den Raum Tx Rm mit Rm (mittels der globalen
Karte (Rm , id)). Dann folgt Tpu M = (Tp ι)(Tp M) ⊆ Tι(p) Rm ∼
= Rm .
(3) Wir identifizieren wieder T0 R mit R. Dann ist ε := 1 der “Prototyp des Tangentialvektors”: Für jedes ω ∈ T p M ist
ω̇(0) = (T0 ω)(ε),
denn bezüglich der Karte φ gilt
ω̇(0)(φ) = (φ−1 ◦ ω)0 (0) = D(φ−1 ◦ ω)0 1 = ((T0 ω)(ε))(φ) .
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
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(4) Wir identifizieren Tz C für jedes z ∈ C mit R2 bzw. C. Dann gilt für jede auf einer
offenen Umgebung U von p ∈ M definierte glatte Funktion f
Dv f = (Tp f )(v),
denn bezüglich der Karte φ gilt:
Dv f = D( f ◦ φ−1 )φ(p) v(φ) = ((Tp f )(v))(φ) .
Die Zuordnungen
(M, p) 7→ Tp M
und
Tp f
f
(M −
→ N) 7→ (Tp M −−→ T f (p) N)
sind funktoriell in folgendem Sinn:
Satz 24.4. Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit und p ∈ M.
(1) Es gilt Tp (idM ) = id(Tp M) .
f
g
(2) Seien M −
→N→
− P glatte Abbildungen. Dann gilt (T f (p) g) ◦ (Tp f ) = Tp (g ◦ f ).
Beweis. (1) ist klar; (2) folgt direkt aus der Kettenregel.
Beispiel 24.3 zufolge kann man Tp f mittels Kurven bzw. Derivationen wie folgt beschreiben:
Folgerung 24.5. Sei f : M → N eine glatte Abbildung und p ∈ M.
(1) Für jedes ω ∈ T p M gilt
(Tp f )(ω̇(0)) = (Tp f )(T0 ω)ε = (T0 ( f ◦ ω)ε) = ( f ◦ ω)• (0).
(2) Sei v ∈ Tp M und w = (Tp f )(v). Dann gilt für jede auf einer Umgebung von f (p)
definierte glatte Funktion g ∈ C∞ (M):
Dw g = (T f (p) g)(Tp f )(v) = (Tp (g ◦ f ))(v) = Dv (g ◦ f ).
25. DAS TANGENTIALBÜNDEL
Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit,
T M :=
[
Tp M
p∈M
und π : T M → M definiert durch Tp M 7→ p für alle p ∈ M.
Satz 25.1. Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit der Dimension m. Dann trägt T M genau
eine Struktur einer 2m-dimensionalen glatten Mannigfaltigkeit, sodass für jede glatte
Karte (U, φ) für M die Abbildung
φ̃ : π−1 (U) → Rm × Rm , v 7→ ((φ ◦ π)(v), v(φ) )
eine glatte Karte ist.
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Beweis. Wir definieren eine Topologie auf T M wie folgt:
W ⊆ T M ist offen
⇔
φ̃(W ∩ π−1 (U)) ist offen für jede glatte Karte (U, φ).
Diese ist offenbar Hausdorffsch.
Für je zwei glatte Karten (U, φ) und (V, ψ) für M ist ψ̃ ◦ φ̃−1 gegeben durch
(x, y) 7→ ((ψ ◦ φ−1 )(x), D(ψ ◦ φ−1 )x y).
Da ψ ◦ φ−1 ein glatter Diffeomorphismus und D(ψ ◦ φ−1 )x ein linearer Isomorphismus
ist, ist auch ψ̃◦ φ̃−1 ein glatter Diffeomorphismus, insbesondere ein Homöomorphismus.
Daraus folgt:
(1) bezüglich der Topologie auf T M ist φ̃ : π−1 (U) → φ̃(π−1 (U)) ein Homöomorphismus;
(2) die Karten (π−1 (U), φ̃) bilden einen glatten Atlas für T M.
Da M und Rm ×Rm zweitabzählbar und Hausdorffsch sind, wird auch T M Hausdorffsch
und zweit-abzählbar (ÜA).
Definition 25.2. Die Mannigfaltigkeit T M heißt das Tangentialbündel von M.
Ein triviales Beispiel:
Beispiel 25.3. Für M = Rn liefert die globale Karte (Rn , id) für M eine globale Karte
∼
=
e : T Rn −
id
→ Rn × Rn , die ein v ∈ Tp Rn mit (p, v(id) ) identifiziert.
Wir zeigen gleich:
Beispiel 25.4. Sei M ⊆ Rn eine glatte Untermannigfaltigkeit. Dann gibt es eine Einbettung
∼
=
TM −
→ T u M :=
[
{p} × Tpu M ⊆ Rn × Rn
p∈M
Die Zuordnung M 7→ T M ergänzen wir jetzt zu einem Funktor:
Satz 25.5. Sei f : M → N eine glatte Abbildung glatter Mannigfaltigkeiten und
T f : TM → TN
definiert durch
(T f )(v) = (Tp f )(v) für jedes p ∈ M, v ∈ Tp M.
Dann ist T f eine glatte Abbildung. Ist f eine Immersion/Submersion, so ist auch T f
eine Immersion/Submersion.
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
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Beweis. Seien (U, φ) und (V, ψ) Karten für M bzw. N und p ∈ U ∩ ψ−1 (V ). Nach Definition von Tp f kommutiert das Diagramm
Tp M
v7→v(φ)
Tp f
/
T f (p) N
/
Rm
w7→w(ψ)
Rn .
D(ψ◦ f ◦φ−1 )φ(p)
Es folgt
(ψ̃ ◦ φ̃−1 )(x, y) = ((ψ ◦ f ◦ φ−1 )(x), D(ψ ◦ f ◦ φ−1 )x y)
(11)
Also ist ψ̃ ◦ φ̃−1 glatt. Somit ist auch T f glatt.
Ist f eine Immersion (Submersion), so hat D(ψ ◦ f ◦ φ−1 )x für jedes x ∈ φ(U ∩ f −1 (V ))
den Rang dim M (Rang dim N) und nach (11) D(ψ̃ ◦ φ̃−1 )(x,y) den Rang 2 dim M (Rang
2 dim N).
Beispiel 25.6. Sei M ⊆ Rn eine glatte Untermannigfaltigkeit und ι : M → Rn die Einbettung. Dann erhalten wir eine Einbettung
Tι
e
id
T M −→ T Rn −
→ Rn × Rn ,
die für jedes p ∈ M auf Tp M gegeben ist durch v 7→ (p, ι p (v)) (vgl. Lemma 23.4 und
23.7) und T M identifziert mit
T u M :=
[
{p} × Tpu M ⊆ Rn × Rn .
p∈M
Das Tangentialbündel einer Mannigfaltigkeit ist ein Beispiel eines Vektorbündels.
Sei im folgenden M stets eine glatte Mannigfaltigkeit.
Definition 25.7. Ein glattes Bündel auf einer glatten Mannigfaltigkeit M ist eine glatte
Mannigfaltigkeit E mit einer glatten Abbildung πE : E → M. Das Urbild E p := π−1
E (p) ⊆
E heißt die Faser von E bzw. genauer von πE über p ∈ M. Eine glatte Bündelabbildung
zwischen Bündeln πE : E → M und πF : F → M ist eine glatte Abbildung f : E → F mit
πF ◦ f = πE .
Beispiel 25.8. Sind M und F glatte Mannigfaltigkeiten, so ist M × F mit der kanonischen Projektion nach M ein Bündel.
Definition 25.9. Sei k = R oder k = C. Ein glattes k-Vektorbündel der Dimension n
auf einer glatten Mannigfaltigkeit M ist ein glattes Bündel π : E → M, sodass
(1) für jedes p ∈ M die Faser π−1
E (p) ein n-dimensionaler k-Vektorraum ist,
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(2) (lokale Trivialität) für jedes p ∈ M eine offene Umgebung U ⊆ M und ein BündelIsomorphismus
n
Φ : π−1
E (U) → U × k
existiert, der in jeder Faser linear ist, also für jedes p ∈ U den Vektorraum E p
linear nach {p} × kn ≡ kn abbildet. Man nennt solch ein Φ auch eine lokale
Trivialisierung.
Ein Morphismus glatter k-Vektorbündel πE : E → M und πF : F → M ist eine glatte
Abbildung f : E → F, die für jedes p die Faser E p linear nach Fp abbildet.
Beispiel 25.10. Sei M eine glatte Mannigfaltigkeit.
(1) Das Produkt M × kn mit der Projektion nach M ist in offensichtlicher Weise
ein Vektorbündel. Jedes Vektorbündel, das zu solch einem isomorph ist, heißt
trivial.
(2) Das Tangentialbündel T M ist ein dim M-dimensionales R-Vektorbündel: für jede Karte (U, φ) von M ist die Karte
n
(φ)
π−1
M (U) → U × R , v 7→ (π(v), v ),
eine lokale Trivialisierung.
(3) Sind πE : E → M und πF : F → M glatte Vektorbündel, so auch
E ⊕ F := {(e, f ) ∈ E × F : πE (e) = πF ( f )},
wobei (E ⊕ F) p = E p × Fp für jedes p ∈ M. Ähnlich kann man viele weitere
Konstruktionen mit Vektorbündeln durchführen; diese werden in der Differentialgeometrie benötigt.
Beispiel 25.11. Das tautologische Vektorbündel auf RPn = (Rn+1 \ {0})/∼ ist
τ :=
[
{[x]} × Rx ⊆ RPn × Rn+1
[x]∈RPn
mit der offensichtlichen Projektion π. Für jede der offenen Mengen
Ui = {[x] ∈ RPn : xi 6= 0}
ist die Abbildung
Φi : π−1 (Ui ) → Ui × R, ([x], y) 7→ ([x], yi )
eine lokale Trivialisierung. Die Kartenwechsel sind gegeben durch (ÜA)
xj
−1
(Φ j ◦ Φi )([x], λ) = [x], λ .
xi
Wie kann man Vektorbündel auf Trivialität prüfen?
GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016)
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Definition 25.12. Ein glatter Schnitt eines glatten Bündels π : E → M ist eine glatte
Abbildung σ : M → E mit π◦σ = idM . Ein glattes Vektorfeld auf M ist ein glatter Schnitt
von π : T M → M.
Beispiel 25.13. Für n > 1 ist das tautologische Vektorbündel τ auf RPn nicht trival:
Sonst hätte es einen Schnitt
RPn → τ ⊆ RPn × Rn+1 ,
[x] 7→ ([x], s([x])),
mit s([x]) 6= 0 für alle [x], und dann wäre wegen s([x]) ∈ Rx die Abbildung
s([x])
,
ks([x])k
eine Hochhebung der Identität RPn → RPn entlang der Projektion Sn → RPn . Aber
solch eine Hochhebung existiert nicht, da π1 (RPn ) im Gegensatz zu π1 (Sn ) nichttrivial
ist.
RPn → Sn ,
[x] 7→
Satz 25.14 (Der Satz vom Igel). Jedes glatte Vektorfeld v auf S2 verschwindet in einem
Punkt p ∈ S2 (in dem Sinn, dass v(p) = 0 ∈ Tp S2 ). Insbesondere ist das Vektorbündel
T S2 nicht trivial.
Der Beweis erfolgt in der algebraischen Topologie mittels Homologie-Theorie.
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