Lukian in Deutschland - Verlag Ferdinand Schöningh

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Andreas Hjort Møller
DER LEBENSPHILOSOPHISCHE FRÜHROMANTIKER
SCHLEGEL-STUDIEN
Begründet von
Detlef Kremer
Herausgegeben von
Peter-André Alt und Monika Schmitz-Emans
BAND 9
Andreas Hjort Møller
DER
LEBENSPHILOSOPHISCHE
FRÜHROMANTIKER
Zur Rekonstruktion der frühromantischen Ethik
Friedrich Schlegels
2014
Ferdinand Schöningh
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-77257-2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................
Siglenverzeichnis ........................................................................................
Bibliographische Hinweise ........................................................................
Abbildungsverzeichnis ...............................................................................
I.
9
11
13
15
DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE.
Einleitende Überlegungen
1. Schlegels moderate Modernität. Präsentation der These ...............
2. Nihilistischer Solipsismus oder „Konstruktivität“?
Literarisch-kulturelle Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert ..
3. Forschungsgeschichte im 20. Jahrhundert ......................................
4. Methodologische Überlegungen .....................................................
17
20
25
36
II. ERSTE BRÜCKE.
Literarische Autonomie und komischer Witz zwischen „unbedingt
freier Freude“ und „schlüpferigen Späßen und Witzeleien“. Vom
aesthetischen Werth der Griechischen Komödie (1794) und Über
die neue Wiener Preßfreiheit (1809)
1. Aristophanes und die literarische Autonomie: Vom aesthetischen
Werth der Griechischen Komödie (1794) ......................................
2. Österreichische Zensur und napoleonische Pressefreiheit: Über
die neue Wiener Preßfreiheit (1809) ..............................................
3. Literatur und Gesellschaft: Schlegels subtile Position zwischen
Kant und Metternich ........................................................................
4. Die holistische Psychologie der Freude ..........................................
5. Drei politische Einstufungen: Schlegels literaturpolitische
Position 1794 und 1809...................................................................
6. Exkurs in das Jahr 1819: Frühromantische Autonomie und
„indirekte Zensur“ ...........................................................................
7. Zwischen katholischer Interpolation und ursprünglicher Intention:
Die Ausgabe der Aristophanes-Schrift von 1822 ...........................
41
45
49
52
64
80
89
6
INHALTSVERZEICHNIS
III. ZWEITE BRÜCKE.
Von den „Bekenntnissen eines Ungeschickten“ zur Ehe als dem
„eigentliche[n] Anfangspunkt des zivilisierten Lebens“. Die Lucinde
(1799) und die zweite Wiener Vorlesung zur Lebensphilosophie
(1827)
1. Tractatum Christianum: Lucinde. Ein Roman (1799) ....................
2 Liebe, Sehnsucht, Seele: Von der liebenden Seele, als dem
Mittelpunkte des sittlichen Lebens; und von der Ehe (1827) ........
3 Frühromantische Liebe und lebensphilosophische Sehnsucht .....
4. „[Z]ugl.[eich] Mutter und s.[eine] Geliebte – ohne Sünde“: Das
Madonna-Paradox in der Lucinde ..................................................
5. Der verschleierte Mittelpunkt des Daseins als Werkkonstante .....
6. Kranke Fantasie und böse Verwirrung ...........................................
7. „Lasterbeladnere Brut“: Promiskuität, Homosexualität, Autosexualität ..........................................................................................
99
103
113
122
149
154
164
IV. DRITTE BRÜCKE.
Gespräche über die Poesie 1800 und 1823 mitsamt Überlegungen
betreffend Schlegels ständiges Selbstedieren
1. Selbstedieren 1809-1825 ................................................................
2. „Ueberarbeitung und Erweiterung“ eines andauernden Gesprächs
3. Lebhaftigkeit, Geselligkeit, Fröhlichkeit: Ansätze zur Lebensphilosophie ......................................................................................
4. „[D]as feste Hypomochlion“: Idealismus, Spinozismus und Psychologie in der Rede über die Mythologie .....................................
5. Frühromantik oder Biedermeier? Die zwei Abschlüsse des Gespräch[s] im Vergleich ...................................................................
189
193
196
204
222
V. VIERTE BRÜCKE.
Von „rechtmäßiger Insurrektion“ zur „wahre[n] Idee des christlichen
Staats“: Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch
die Kantische Schrift zum ewigen Frieden(1796) und dem staatstheoretischen dritten Teil der Signaturdes Zeitalters (1823)
1. Zögernder Republikanismus auf der Schwelle der europäischen
Apokalypse: Versuch über den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden (1796)... 235
INHALTSVERZEICHNIS
7
2. Gegen das Zeitalter. Der staatstheoretische dritte Teil der Signatur des Zeitalters (1823) .................................................................. 236
3. Das „milde[…] Szepter des Hauses Österreich“: Zum politischen
Endstandpunkt Schlegels................................................................. 237
4. Die Theorie eines undemokratischen Republikanismus ................ 244
VI. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN
1. Die vergessene Ethik der Frühromantik am Beispiel der Theorie
des Menschen ..................................................................................... 257
2. Ein Hinweis für die Literaturwissenschaft ........................................ 261
3. Die Athenaeum-Schriften Ideen und Notizen als Mitte des schlegelschen Werkes ................................................................................ 263
Anhang
Primärliteratur ......................................................................................
Sekundärliteratur ..................................................................................
Resumee of the Thesis Philosophy-of-Life-Aspects of an Early Romantic. A Reconstruction of Friedrich Schlegel’s Early Romantic
Ethics ................................................................................................
Namensverzeichnis ..............................................................................
269
274
284
286
Vorwort
Bei diesem Buch dreht es sich um die überarbeitete Fassung meiner im Jahr
2012 an der Aarhus Universitet eingereichten Dissertation, die ich am
17.12.2012 erfolgreich verteidigt habe. Vorliegende Arbeit ist das Ergebnis
meines Ph.D.-Studiums an der Aarhus Universitet von 2008 bis 2012. Ermöglicht wurde die Publikation der Abhandlung durch einen generösen
Druckkostenzuschuss von Aarhus Universitets Forskningsfond.
Meinen Dank richte ich in erster Linie an meinen Doktorvater Søren R.
Fauth, der mich fachlich und persönlich mit seinem geistvollen Enthusiasmus
unterstützt und in Gesprächen mit mir jeglichen akademischen Selbstzweifel
aus meinem Inneren zumindest für eine Weile vertrieben hat. Sein Fokus auf
den literarischen Text hat mir im Lauf meiner Doktorandenzeit demonstriert,
wie luftige Allgemeinplätze mit philologischen Erkenntnissen auszutauschen
sind. Obwohl er sich in der Tradition Arthur Schopenhauers als Pessimist definiert, haben unsere Gespräche immer meinen Optimismus erheblich gefördert.
Herzlichst gedankt sei auch Christian Benne, der mich 2009 zu der Tagung Friedrich Schlegel und die Philologie in Odense einlud und mich seit
dieser Konferenz gründlich betreut. Mette Blok, Mads Bødker Lynggaard
Christiansen, Jørgen Kjær, Louise Ebbesen Nielsen und Ole Thomsen danke
ich gleichfalls für Ratschläge, Inspiration, Korrekturen, Freundschaft und allerlei Gelehrsamkeit. Dem Mitglied der Promotionskomission, dem Präsidenten der Friedrich Schlegel-Gesellschaft Ulrich Breuer danke ich herzlich für
seine Kommentare und Hinweise.
Letztendlich möchte ich mich bei dem brillanten Sprachpfleger Peter
Wasmus bedanken, einem anspruchsvollen und freundlichen Gesprächspartner. Wenn meine Aufzeichnungen mich nicht trügen, hielten wir unsere
erste telefonische Korrektur am 9.12.2011. In den folgenden Monaten bis zur
Fertigstellung vorliegender Arbeit habe ich mich wöchentlich mit ihm unterhalten. Er hat im telefonischen Dialog mit mir jeden einzelnen Satz sorgfältig
vorgelesen, kommentiert und in mancherlei Fällen verbessert. Durch sein enzyklopädisches Wissen wurden mir Hinweise auf nützliche Sekundärliteratur
oder relevante poetische oder philosophische Textstellen aus der Goethezeit
verliehen, wie er auch an mancher Stelle auf den schwachen Punkt eines Arguments hingewiesen hat. Für Ungenauigkeiten oder Fehler im Text trage ich
allein die Verantwortung.
Meiner Familie und meinen Pateneltern spreche ich meine Dankbarkeit für
ihre Unterstützung aus.
Die Arbeit widme ich Louise Værum Hinkbøl.
Andreas Hjort Møller
Gjellerup, Mai 2014.
Siglenverzeichnis
AkS
ASW
Athenaeum
AWS
FA
FG
Fragmente
HKA
HN
HW
JG
JP
KAdV
KdF
KFSA
LN
LpMS
Na
SB
Studien
SW
SW(1809)
SZ
WA
WB
Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine
Schriften.
Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke.
Athenaeum. Eine Zeitschrift von Friedrich und August Wilhelm Schlegel.
August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke.
Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche.
Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften.
Friedrich Schlegel: Fragmente zur Geschichte der Griechischen Literatur.
Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs;
Historisch-kritische Ausgabe.
Arthur Schopenhauer: Der handschriftliche Nachlaß in fünf
Teilen.
Hegel: Werke.
Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe.
Jean Paul: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische
Ausgabe.
August Wilhelm Schlegel: Kritische Ausgabe der Vorlesungen.
Josef Körner Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem
Schlegelkreis.
Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe.
Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797-1801. Literary
Notebooks.
Armin Erlinghagen: Das Universum der Poesie. Prolegomena
zu Friedrich Schlegels Poetik. Historisch-kritische Edition
der Leipziger Manuskripte. Mit dem Faksimile der Leipziger
Manuskripte I & II.
Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe.
Sulpiz Boisserée: Briefwechsel / Tagebücher.
Friedrich Schlegel: Studien des Alterthums.
Friedrich Schlegel: Sämmtliche Werke (1822-1825).
Friedrich Schlegel: Sämmtliche Werke (1809).
Hans Eichner: Friedrich Schlegel im Spiegel seiner Zeitgenossen.
Internet-Ausgabe der Weimarer Ausgabe der Briefe Goethes.
Christoph Martin Wieland: Wielands Briefwechsel.
Bibliographische Hinweise
Die im Anhang verzeichneten, im 18. und 19. Jahrhundert gedruckten primären Werke – Bücher, Zeitschriften wie Zeitungen – stehen jedem auf Google
Books (books.google.com) als Digitalisate zur Verfügung, abgesehen von
den folgenden Werken, deren Standorte hier angegeben werden: Anton Passys Des Jünglings Hoffnung, Glaube und Liebe ist in der Österreichischen
Nationalbibliothek vorzufinden, die Geschichte meiner Enterbung des Hanns
Wilhelm Julius Grafen von Schweinitz in der Staatsbibliothek zu Berlin. Ludolph Beckedorffs An die deutsche Jugend. Ueber der Leiche des ermordeten August von Kotzebue und Adelungs Wörterbuch lassen sich im Katalog
der Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek als Digitalisate
vorfinden (www.muenchener-digitalisierungszentrum.de), Der neue Teutsche Merkur auf der Homepage Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum an der Universität Bielefeld (www.ub.
uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm). Friedrich Schlegels Manuskripthefte Fragmente zur Geschichte der Griechischen Literatur und Studien
des Alterthums (circa 1796-1799 verfasst) liegen noch nicht in der KFSA
vor. Zitiert wird mit der Originalpaginierung der Handschrift aus der Transkription Ernst Behlers, zu der mir freundlicherweise durch die SchlegelGesellschaft Zugang verliehen wurde.1 Wegen der beschwerlichen Wiedergabe von Internet-Adressen wird auf diese Weise auf digitale Sammlungen
verwiesen. Die Titel finden sich zumindest im Jahr 2014 nach Eingabe im
Suchfeld fast problemlos. Sollte dies im Google Books trotzdem nicht der
Fall sein, lassen sich Textstellen durch Eintippen des genauen Wortlauts eines Zitats lokalisieren und überprüfen.
Es wird vorzüglich aus der KFSA zitiert, nicht aber im Fall der Texte, die
noch nicht in dieser Ausgabe vorliegen, sowie im Fall der von Arnim Erlinghagen neuedierten Texte Schlegels in der Edition Das Universum der Poesie,
hier mit der Sigle LpMS (Leipziger Manuskripte) abgekürzt. Leser, die berühmte Textstellen aus dem Text Vom aesthetischen Werth der Griechischen
Komödie oder aus anderen Texten nicht ganz wortlautlich zu erkennen vermögen, werden auf dieses Werk hingewiesen. In Spezialfällen wird direkt
aus Erstfassungen zitiert.
1
Über die in vorliegender Arbeit übernommene Zitierweise und den Standort dieser Manuskripthefte vgl. Breuer und Benne: 12. Die Manuskripthefte Fragmente zur Geschichte der
Griechischen Literatur und Studien des Alterthums werden im Historischen Archiv des Erzbistums Köln als Manuskripthefte 40 und 41 des schlegelschen Nachlasses katalogisiert, vgl.
Helbach: 150.
Abbildungsverzeichnis
S. 91
Friedrich Schlegel: Seite 25 des 4. Bands der Sämmtliche[n]
Werke, 1822.
S. 128
Bartholomäus Sarburgh: Bürgermeister Meyers Madonna,
um 1637. Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Hans-Peter Klut.
S. 135
Julius Schnorr von Carolsfeld: Illustration vor der Titelseite
zu Anton Passys Des Jünglings Glaube, Hoffnung und Liebe. Ein Gedicht in drey Büchern, von Anton Passy. Mit einem einleitenden Gedichte von Friedrich v. Schlegel, Wien
1821.
S. 179
Photographische Reproduktion der Seite 10 der Handschrift
der Fragmente zur Geschichte der Griechischen Literatur.
Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Nachlass Friedrich Schlegel 40.
„Verbindet die Extreme, so habt ihr die wahre Mitte.“
– Friedrich Schlegel: Fragment 74 der Ideen (1800).
I. Die Beflecktheit der Fantasie. Einleitende Überlegungen
1. Schlegels moderate Modernität. Präsentation der These
Friedrich Schlegels Werk wird nach seinem Tod 1829 äußerst verschiedenartig eingeschätzt. Besonders in post-hegelianischen Kreisen, wie später in dieser Arbeit gezeigt wird, verspottet man den unzüchtigen Romantiker und Autor des erotischen Romans Lucinde. In anderen Kreisen jedoch gelten Teile
seines Spätwerks überraschend als eine besonders für junge Frauen geeignete
christliche Lektüre, vgl. folgende biedermeierliche Werbung für die Anthologie Cölestina aus der Ausgabe vom 3.11.1836 der Augsburger Allgemeine[n] Zeitung:
Bei Theodor Pergay in Aschaffenburg ist so eben erschienen und durch sämtliche
Buchhandlungen Deutschlands zu beziehen: Cölestina. Ein Weihgeschenck für
Frauen und Jungfrauen. Mit kupfern. In elegantem Einbande mit Goldschnitt.
[…] Die Erscheinung der „Cölestina“ wurde zunächst durch das Bedürfniß veranlaßt, ein Taschenbuch zu besitzen, welches Frauen, Töchtern und Schwestern
ohne Besorgniß in die Hände gegeben werden könnte, daß die Phantasie der Lesenden befleckt und ihr Gemüth zerrüttet werde.1
Am Ende der Werbung werden die Leser darauf aufmerksam gemacht, dass
der Band „auch mit Reliquien von Friedrich v. Schlegel und Zacharias Werner geschmückt“2 sei. Der Sammelband enthält in der Tat das Märtyrer-Gedicht Sieg und Kampf der leidenden Seele. Eine Reliquie von Friedrich von
Schlegel.3 Nach Meinung des Verlegers gilt Schlegel als ein tugendhafter und
respektabler Dichter. Im Folgenden wird sich zeigen, dass es für die Rezeption von Schlegels Werken durchaus typisch ist, dass die positiv gestimmten
Leser des 19. Jahrhunderts auf sein lyrisches, christliches, lebensphilosophisches (so lauten die Prädikate) Spätwerk fokussieren, während die Kritiker
desselben Jahrhunderts sich fast ausschließlich auf das Frühwerk beziehen,
und wenn sie überhaupt das Spätwerk erwähnen, dann immer als spiritualistischen Nonsens oder reaktionären Mist eines desillusionierten Romantikers.
Beide Gruppen tendieren außerdem dahin, das Werk als zweigeteilt zu beschreiben: Der frühe und der späte Schlegel sei mehr oder weniger derart
1
2
3
Allgemeine Zeitung (Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Nr. 514 und 515),
31.10.1836: 2060.
Ebd.
Das Gedicht ist auf den Seiten 63-65 in der Cölestina gedruckt, siehe auch KFSA 5: 500. Der
Untertitel Eine Reliquie ist nur in der Cölestina-Anthologie zugefügt.
18
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
verschieden, dass es sich nicht um ein und dieselbe Person zu handeln
scheint. Die Dichotomie dieser Auffassungen ist der Tatsache abzulesen,
dass der junge Baseler Gräzist Friedrich Nietzsche seine Kulturphilologie
ohne jegliche Kenntnis von Schlegel, ideengeschichtlich wie genealogisch
seinem entfernten Cousin,4 entwickelt. Diese Diskrepanz zu untersuchen und
zu überprüfen, wie und wenn überhaupt sich Tendenzen aus den frühen
Schriften an spätere Ideen ankoppeln lassen, ist Zielsetzung vorliegender Arbeit.
Die These lautet, dass Friedrich Schlegels Werk innere Zusammenhänge
in der Form einer früh- und spätromantischen Ethik aufweist, die man bisher
nicht zur Kenntnis genommen hat. Diese schwer fassbaren Zusammenhänge
gründen auf die Harmoniesucht und den ethischen Ernst des witzigen Ironikers. Die Ethik zählt aber in einer normativen Literaturgeschichtsschreibung
nicht zu den am häufigsten untersuchten Begriffen. Aus diesem Grund hat
die maßgebliche Forschung einen Bruch um circa 1800 überschätzt und weitgehend die Texte nach dieser Jahreszahl vernachlässigt. Diese Arbeit enthält
deshalb vier komparative Interpretationen (genannt „Brücken“), in denen
vier frühe mit vier späten Texten verglichen werden. Diese Doppelinterpretationen schlagen zwischen dem „frühen“- und „späten“5 Schlegel eine Brücke
und entdecken gemeinsame ethische Strukturen, die es ermöglichen, dass
man von einem in sich geschlossenen Werk reden kann. Folglich argumentiert die Arbeit gegen die verbreitete Vorstellung, dass Schlegel nur oder
überwiegend als Chaot, Fragmentist, Hedonist oder Ironiker verstanden werden kann, und dass sein Werk, wenn man überhaupt von einem solchen reden kann, ebenso chaotisch, fragmentiert und unverständlich-ironisch sei,
dass es in erster Linie als Sinnzusammenbruch und früheste Sprachkrise der
literarischen Moderne einen Wert habe. Vielmehr handelt es sich bei Schlegels Werk um einen zusammenhängenden Versuch, die Fäden der Literatur
und des Lebens zu verknoten sowie das Leben und das All mit ihren oppositionellen Teilen zu versöhnen. Diese Versöhnung verbindet die beiden Teile
des Werks.
„Ethik“, um den Titel vorliegender Arbeit zu präzisieren, ist im breitesten
Sinn zu verstehen, als jegliche normative Theorie davon, wie man leben soll
– beispielsweise wie der Mensch mit anderen Menschen umgehen soll oder
wie der Ehemann mit seiner Frau leben soll. Ethik handelt von allgemeinen
4
5
Schlegel und Nietzsche stammen beide von dem „Dresdner Pfarrer Martin Schlegel, der von
1581 bis 1640 lebte“, (Janz 1: 32) ab. Über Nietzsches Zitieren frühromantischer Literatur
(August Wilhelm Schlegel, Novalis) vgl. Norman: 502, Anmerkung 6 und Benne (2005):
258 ff.
Obwohl diese Arbeit grundlegend gegen die Vorstellung einer Zweiteilung von Schlegels
Werk opponiert, können die Bezeichnungen „früh“ und „spät“ zeitliche Stufen bezeichnen.
Dass in den Analysen vom „späten“ Schlegel die Rede ist, impliziert keineswegs eine Anerkennung dieses Zwiespalts, sondern bezeichnet einfach den älteren und nicht den jüngeren
Schlegel.
1. SCHLEGELS MODERATE MODERNITÄT. PRÄSENTATION DER THESE
19
Fragen der Lebensführung und der sozialen Organisation. Absichtlich wird
in dieser Einleitung nicht scharf zwischen „Ethik“, „Lebensphilosophie“,
„Tugendlehre“, „Moral“, „Konstruktivität“, „Lebensrelevanz“, „Erbaulichkeit“ und ähnlichen Begriffen (hierunter teilweise auch „Christentum“, „Religion“) unterschieden, da eine solche Eingrenzung die Feststellung der zarten und komplizierten Anfänge der frühromantischen Ethik beschweren würde. Sie hat sich, wie sich zeigen wird, in der Universalromantik nicht ausgesondert und tritt dementsprechend nur sporadisch als selbstständige Disziplin
auf. Zu späterer Zeit wird sie in den Vordergrund gestellt, obgleich sie sich
noch mit Literatur und Kunst verbindet. Diese Breite des Ethischen hat aber
keineswegs zur Folge, dass in den einzelnen Analysen nicht überlegt wird,
um welchen ethischen Gedanken es in einem gegebenen Fall geht. In den
Einzelfällen wird auf den genauen Charakter eines ethischen Gedanken fokussiert. Dass Schlegel eine Eingrenzung oder Restriktion der Ethik nie hat
bejahen können, bezeugen Bemerkungen wie jene über „[d]ie Pflicht der
Kantianer“,6 die „sich zu dem Gebot der Ehre, der Stimme des Berufs und
der Gottheit in uns, wie die getrocknete Pflanze zur frischen Blume am lebenden Stamme“7 verhält. Schlegels opponiert gegen die Kantianer und will
ihre trockene Philosophie mit einer lebendigen ersetzen. Diese beschreibt er
z.B. auf folgende Weise: „Man hat nur so viel Moral, als man Philosophie
und Poesie hat.“8
Ist die These der Existenz einer frühromantischen Ethik, die das schlegelsche Werk als Einheit darstellt, berechtigt? Schon 1983 betont Ernst Behler
die Tendenz neuer Romantikforschung zur Vereinheitlichung des schlegelschen Werkes.9 Es ist aber bei dem Tendenziellen geblieben. Die Frage nach
der Einheit von Schlegels Texten bildet zweifelsohne eines der umstrittensten Themen der Germanistik. Die übermäßig umfangreiche Sekundärliteratur
zum Thema hat ein Ausmaß und eine Form erreicht, die in ihrer chaotischen
Vielfalt eine ebenso verwildert-romantische Struktur gefunden zu haben
scheint wie die ihres Objekts – unter der Voraussetzung, dass das Werk tatsächlich verzerrt und von unüberbrückbaren Klüften zertrümmert ist. Nach
Herausgabe der KFSA (seit 1958 erschienen, noch nicht vollendet) haben begriffsbestimmende Aufsätze und Monographien die Schlegel-Forschung nuanciert und beträchtlich erweitert. Den umfangreichen Stand der Forschung
auf überschaubare Weise darzustellen gestaltet sich wegen der Vielfalt überaus schwierig. Durch ihre pluralistische Struktur und Thematik haben Schle6
7
8
9
KFSA 2: 259, Nr. 39.
Ebd.
KFSA 2: 262, Nr. 62.
„Nachdem man den späten Friedrich Schlegel in der heutigen „Ideologiekritik“ zunächst völlig
rechts liegengelassen und den „Bruch“ zwischen dem frühen und dem späten Autor aufs
schärfste betont hatte, bemüht man sich jetzt auch in dieser Schule der Literaturkritik gelegentlich darum, die Einheit, den Zusammenhang und die verbindenden Motive im Leben dieses Denkers herauszuarbeiten“, Behler (1983): 3.
20
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
gels Werke in verschiedener Auswahl im Laufe der Zeit Komparatisten, Germanisten, Philosophen, Theologen und Linguisten herausgefordert. Auch
findet zu Lebzeiten Schlegels und unmittelbar nach seinem Tod im Jahr 1829
eine nicht zu unterschätzende literarische Rezeption statt. Schlegels Schriften wurden von tonangebenden Philosophen und Schriftstellern mühsam rezipiert. Repräsentativ seien genannt: Jean Paul, Hegel, Kierkegaard, Georg
Brandes, Wilhelm Dilthey und Carl Schmitt. Die kulturelle und literarische
Schlegel-Rezeption und die bisherige akademische Forschung müssen deshalb in möglichst kurzer Form präsentiert werden, damit klar wird, dass es
sich lohnt, erneut Licht auf die Schlegelrezeption und -Forschung zu werfen.
Auf den ersten Blick scheint es belanglos oder banal, dafür zu argumentieren,
dass Schlegels Werk einen ethischen Hintergrund aufweist, oder dass der Ironiker Schlegel es ernst meinen könnte. Eine Durchsicht der Rezeptionsgeschichte zeigt aber, dass es keinesfalls eine abgedroschene Aufgabe ist, die
Kontinuität des Werkes in ihrer Entwicklung zu beschreiben. Im Folgenden
wird ein kurzer Überblick der Schlegel-Rezeption während der Goethezeit
gegeben. Eine Darstellung der frühen Rezeption ist für die Forschungsgeschichte zentral, da sie weitgehend mit der Romantikforschung, vor allem
aber mit der poststrukturalistischen Aufwertung um 1970, kongruiert. Anders
gesagt: Der Einfluss der direkten Schlegel-Rezeption der Goethezeit und der
späteren Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts streckt sich bis
ins 21. Jahrhundert hinein. Das ursprünglich ästhetische Urteil über Schlegel
hatte nämlich die Entstehung eines massiven Forschungsdefizits zur Folge.
2. Nihilistischer Solipsismus oder „Konstruktivität“?
Literarisch-kulturelle Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert
Der Umfang der Schlegelrezeption und -Forschung ist überwältigend. Allein
die Kritik der Goethezeit ist immens und komplex, was sich in Hans Eichners
vierbändigem Rezeptionsverzeichnis Friedrich Schlegel im Spiegel seiner
Zeitgenossen (2012) verdeutlicht. Ungeachtet dessen dominieren zwei Traditionen, wenn man danach fragt, ob Schlegels gesamtes Werk auf dieselbe
Wiese bruchstückhaft sei wie die Fragmente oder die Lucinde. Stellt man
diese Frage, dann haben die Schlegel-Forschung und die kulturelle literarische Schlegel-Rezeption seit dem Tod Schlegels 1829 – im Wesentlichen –
zwei Richtungen eingeschlagen und lassen sich dementsprechend in eine
unitarisch-positive und eine analytisch-negative Gruppe gliedern. Diese Einteilung beruht auf zwei möglichen Antworten auf die Frage, ob sein Werk
kontinuierlich sei oder nicht. Überspitzt gesagt: Konstituiert es eine konstruktive, zusammenhängende Einheit oder eine ironisch-nihilistische
(nicht)Struktur, die von unüberbrückbaren Frakturen an mancherlei Stellen
2. NIHILISTISCHER SOLIPSISMUS ODER „KONSTRUKTIVITÄT“?
21
oder von einem größeren Bruch geteilt ist, und aus der nur scharfe Bruchflächen emporragen? Diese Fragestellung ist seit 1829 hochaktuell. 2012 wurde
Armin Erlinghagens von beachtlicher und akribischer Philologie geprägtes
Buch Das Universum der Poesie. Prolegomena zu Friedrich Schlegels Poetik. Historisch-kritische Edition der Leipziger Manuskripthefte veröffentlicht. Dieses Werk stellt fest: „Die frühe und die späte Poetik Friedrich
Schlegels sind schlechterdings unvereinbar.“10 Einflussreiche Interpreten neigen immer noch zu Diskontinuitätsthesen.
Unter den poststrukturalistischen Vertretern dieser Diskontinuitätsthese,
zu denen Erlinghagen keineswegs zählt, sind einige der Meinung, dass die
agile Ironie, Fragmentarizität und Sinnlosigkeit des Werkes einen ethisch
oder epistemologisch betrachtet progressiven, positiven Revolutionsdrang
enthält, und dass seinem Werk eben qua seiner Negativität eine positive Bewertung zuzuschreiben ist. Uneinigkeit herrscht also darüber, ob der Romantiker als erbaulicher Philosophendichter oder de(kon)struktiver Krisenmensch, „ein ironischer Revolutionär und Priester der Sinnenlust“11 (so Harro
Zimmermann in seiner diesbezüglich recht nuancierten Biographie aus dem
Jahr 2009) zu lesen ist – wie auch immer man dies bewerten mag. In einem
Bericht vom großen Brieffund im Schweizer Schloss Coppet drückt Josef
Körner diesen Zwiespalt der Romantik exemplarisch aus:
Für das Verständnis der deutschen Romantik sind die Jahre 1804-1812 vielleicht
die allerwichtigsten; sind es doch wahrhaft die Krisenjahre dieser ganzen Bewegung, innerhalb welcher sie sozusagen eine Drehung um 180 Grad macht, sich
aus fast zügelloser Freiheit zu strengster Gebundenheit, vom Zukunfts- zum Vergangenheitsaspekt, von Revolution zu Reaktion wendet, auch die kulturelle Allstrebigkeit ihrer zügellosen Anfänge gegen bescheidenere, engumschriebene Aufgaben spezialisierter Wissenschaft tauscht.12
Schon zu Lebzeiten Schlegels gab es diesen Zwiespalt, der wesentlich von
der Rezeption seiner beiden längeren Fiktionswerke (Lucinde, Alarcos) abhängt. Schlegel wird zeitlebens von zwei literarischen Katastrophen betroffen, die sein Leben erheblich prägen. Nach dem Erscheinen der als Schlüsselroman interpretierten Lucinde 1799 gilt der mit der von ihrem BankierEhemann geschiedenen Jüdin Dorothea Veit zusammenlebende Schlegel als
sittenloser Agitator der freien Liebe. Dieser nie beendete Roman wird sogleich ein heikles Thema in der öffentlichen Debatte. Viele Schmähschriften
attackieren das Werk und dessen Autor, wie sehr auch Apologeten (Schleier10
11
12
LpMS: 678.
Zumindest ist das so auf der Rückseite dieser Bibliographie formuliert. Obwohl die Biographie häufig auf die problematische Kontinuität im Werk Schlegels eingeht, scheint auch
hier die strapazierte Konklusion zu sein, dass der späte Schlegel „einen prononciert katholisch-konservativen Standpunkt“ (Zimmermann: 334) vertrete, und dass, „[w]enn es so etwas
wie eine Weltanschauung der politischen Spätromantik in Deutschland gegeben“ (Zimmermann: 335) hätte, Schlegel ihr wichtiger Vertreter wäre.
Körner (2001): 119-120.
22
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
macher, Fichte, Johann Bernhard Vermehren (1777-1803), Friedrich Ast
(1778-1841) und später Karl Gutzkow) es verteidigen.13 Auch Schlegels Universitätskarriere leidet darunter. Die Verteidigung seiner verschollenen Habilitationsschrift De Platone wird 1801 durch einen „skandalösen Auftritt“14
abgebrochen, als der Theologe und offizielle Opponent Johann Christian
Willhelm Augusti (1771-1841) das Thema Lucinde aufgreift. Schlegel muss
sich passioniert verteidigen, und es kulminiert „zu einem förmlichen Schimpfen.“15 Als zweite literarische Krise kommt die miserable Rezeption des Alarcos. Ein Trauerspiel (1802), die wohl dazu mit beiträgt, dass der Dramatiker
die Jahre von 1802 bis 1804 im Pariser Exil verbringt. Dieses höchst stilisierte, zugleich hellenisierende und romantisierende Drama, das eine nicht sonderlich gelungene dramatische Struktur hat, verstehen die meisten Zeitgenossen (nur Goethe nicht)16 als den endgültigen Zusammenbruch eines Schriftstellers, der nur im Stande ist, „sentimentalische“, extrem gekünstelte literarische Formen zu schaffen. Neben den Krisen entstehen Probleme anderer Art
für den Schriftsteller. Sein bester Freund Novalis stirbt 1801. Seine Verbindung zu einflussreichen Literaten und Philosophen (Schiller, Goethe, Schelling, Clemens Brentano)17 verschlechtert sich deutlich. Die Beziehung zum
Bruder August Wilhelm erkaltet und führt schließlich zur Entfremdung. Seine finanzielle Situation war zu jeder Zeit in seinem Leben desaströs. Die hier
angeführten literarischen Krisen und die Veränderungen im RomantikerKreis verursachen, dass Schlegel als Charakter in der öffentlichen Meinung
verliert, und dass zeitgenössische wie spätere Kritiker ihr Augenmerk allein
auf die Texte vor 1802 richten. In den Jahren nach 1800 sieht sich Schlegel
nämlich einer massiven und heftigen Kritik ausgesetzt. Eine Durchsicht und
Aufarbeitung der gesamten zeitgenössischen Kritik muss aber einer eigenen
Arbeit vorbehalten bleiben.
Es gelingt Schlegel, von bedeutsamen Denkern seiner Zeit kritisiert zu
werden. Eine negative Auffassung des Spätwerks vertritt Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, in dem er
sich von dem „in seinem letzten Lebensviertel im Verein mit Adam Müller
getriebenen schimpflichen Obskurantismus“18 des Romantikers distanziert.
Hegel, um das bekannteste Beispiel zu nennen, sieht in Schlegel so etwas wie
seinen Erzfeind.19 Berühmt sind seine Worte aus den Vorlesungen über die
13
14
15
16
17
18
19
Über die gegen Schlegel gerichteten „Satiren und Pasquille“ vgl. SZ 3: 449 ff.
Behler (1993a): 58.
Behler (1993a): 59.
Vgl. KFSA 5: LXXVI ff.
Über Schlegels Verhältnis zu Schiller und Goethe ist Josef Körners Buch Romantiker und
Klassiker noch das maßgebliche Werk.
ASW 2: 671, vgl. auch ASW 2: 750.
Siehe Maciej PotĊras Aufsatz für eine klare, kurze Darstellung der hegelschen Kritik der Romantik, vgl. auch Behler (1999): 174 f. und Chaouli: 36. PotĊra betont Hegels Mangel an
Verständnis für Schlegel: „Wir sehen also, dass die Hegelsche Bezeichnung der Schlegelschen
Ironie als „unendliche absolute Negativität“, die in der sich festsetzenden und sich abstrakt
2. NIHILISTISCHER SOLIPSISMUS ODER „KONSTRUKTIVITÄT“?
23
Ästhetik (1835-1838): „[U]nd es soll nicht etwa die Liederlichkeit zur Heiligkeit und höchsten Vortrefflichkeit gemacht werden, wie zur Zeit von Friedrich von Schlegels Lucinde“.20 In diesen Vorlesungen werden die Brüder
Schlegel heftig kritisiert, Friedrich sogar äußerst polemisch. Sicherlich hat
Hegel durch post-Hegelianer oder anti-Hegelianer (Kierkegaard) einen sehr
starken Einfluss auf die Rezeption gehabt. Auch der Aristoteliker und FichteKritiker Jean Paul muss an dieser Stelle erwähnt werden. Er führt neben Jacobi als einer der ersten den Begriff des Nihilismus in die romantische Literatur ein. Im zweiten Paragraphen seiner Vorschule der Ästhetik (1804), der
„Poetische Nihilisten“ betitelt ist, schreibt er, dass „aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes – der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren,“21 hervorgeht,
„daß er [der Zeitgeist (AHM)] von der Nachahmung und dem Studium der
Natur verächtlich sprechen muss.“22 Einige Zeilen später wird deutlich, dass
er nicht nur an Novalis, den einzigen von Jean Paul in diesem Paragraphen
explizit erwähnten Romantiker denkt, sondern dass er generell die „Oede der
Phantasterei“23 kritisieren will, vor allem die Literatur „des Reim- und Assonanzen-Baues“,24 ein klarer Hinweis auf Schlegel, den Autor des assonierenden Reimdramas Alarcos, das auch später in der Vorschule kritisiert wird.25
Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Literaturkritik des 19.
Jahrhunderts und in der frühen universitären Literaturwissenschaft wird
Schlegel befehdet. Einer der ersten „Literarhistoriker“, Carl Leo Cholevius
(1814-1878) beschreibt im zweiten Band der Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen (1856), einen Schlegel, der die Antike nur
als rätselhaften Mythos und zu übernehmende Unverständlichkeit versteht.
Cholevius postuliert, dass Schlegel, der am meisten gräkomane aller deutschen Romantiker, die moderne Ablehnung der Antike sogar initiiert:
So sähen wir denn den Zeitpunkt gekommen, wo die gesamte alte Kunst und was
sie in unsrer eigenen Dichtung hervorgebracht, als ein Aristotelisches Buchstabenwesen und todtes Machwerk verworfen wurde.26
20
21
22
23
24
25
26
von der einigenden Substanz abtrennenden Subjektivität ihren Grund hat, mit einem angemessenen Schlegel-Verständnis wenig zu tun hat“, PotĊras: 84.
HW 14: 116.
JP 1.11: 22.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Jean Pauls Verhältnis zum Drama ist ambivalent, da er, wie Hans Eichner in einem Vorwort
bemerkt, auch in einem Brief das Drama als „echt tragisch und gut“ (KFSA 5: LXXIX, Anmerkung 36) bezeichnet. Zu seiner moderaten Kritik des Dramas in der Vorschule siehe JP
1.11: 88.
Cholevius: 356. Ironisch, dass Cholevius vom Buchstabenwesen im Zusammenhang mit
Schlegel spricht, der die Buchstaben als die äußere, imperfekte Erscheinungsform des Geistes
ansieht.
24
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
Schlegels Gräzistik hat also Cholevius zufolge veranlasst, dass der griechische Geist den Modernen nur „einige mystische Philosopheme“ ausweist,
„die […] willkürlich gedeutet wurden“.27 Das Missverständnis wird dadurch
nicht geringer, dass Schlegel zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn
generell vor der Willkür in den Geisteswissenschaften warnt.28 Auch Rudolf
Haym (1821-1901) ist kein „Schlegelianer“. Er erwähnt die späten Wiener
(1827-28) und Dresdner (1829) Vorlesungen in seiner monumentalen Literaturgeschichte der Romantik, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes (1870), nicht. Bei ihm ist die Rede von einem
unsittlichen Schlegel, der Haym zufolge eine durchaus „gefährliche Neigung“29 zum schlechten und chaotischen Philosophieren besitzt. Haym räumt
zwar ein, dass Schlegel als konkreter Textexeget und Philologe einige gute
Bemerkungen zur griechischen Literatur geschrieben haben könne, bezeichnet ihn aber als einen im Großen und Ganzen „unbehülflich Philosophirenden“30 und außerordentlich schlechten Schüler Fichtes: „Von einem solchen
Manne hätte Schlegel Ordnung, Ruhe, Geduld, bedachtsam fortschreitendes,
stätig entwickelndes Denken lernen können.“31 Den Dänen Søren Kierkegaard und Georg Brandes waren die poetischen Werke Schlegels auf gleiche Weise eine ästhetische und ethische Monstrosität – der anti-Hegelianer
Kierkegaard behandelt die Lucinde in seiner Dissertation Über den Begriff
der Ironie, Brandes den Alarcos in seiner Schrift Die romantische Schule in
Deutschland, die 1873, drei Jahre nach Rudolf Hayms recht ähnlich betiteltem Werk, in Deutschland erscheint. Es ist eine seltsame Tatsache, dass
Kierkegaards Urteil über Schlegel fast völlig mit dem Hegels übereinstimmt.
Weder Kierkegaard noch Brandes erwähnt die späteren Werke; die Fragmente scheint nur Brandes zu kennen.32 Neben dieser verbreiteten Beurteilung
27
28
29
30
31
32
Ebd.
So in seiner „Erstlingsschrift“ Von den Schulen der Griechischen Poesie (1794): „Der erste
Blick des Forschers auf alle noch vorhandne ganze Werke und Bruchstücke der Griechischen
Poesie, verliehrt sich in ihre unübersehliche Menge und Verschiedenheit, und verzweifelt an
der Möglichkeit, in ihnen ein Ganzes zu finden. Ohne dieses wird seine Kentniß immer dürftig
u[nd] unsicher bleiben müssen; und dennoch darf er es nicht wagen, durch willkührliche
Eintheilungen der Wahrheit Gewalt anzuthun, um einen künstlichen Zusammenhang zu
erzwingen. Aber es bedarf dieser willkührl[ichen] Eintheilungen nicht. Die Natur selbst, welche die Griechische Poesie als ein Ganzes erzeugte, theilte auch dieses Ganze in wenige große
Massen, und verknüpfte sie mit leichter Ordnung in Eins. Diese Unterschiede und Verknüpfungen aufzusuchen, die natürl.[ichen] Klassen der Griechischen Poesie, den Zusammenhang
dieser Klassen, ihren Charakter, ihre Grenzen u[nd] Gründe genau zu bestimmen, ist der
Gegenstand dieses Versuchs“, LpMS: 95, vgl. über diese „ersten“ Sätze Schlegels und den
Status des Textes als erste Schrift Schlegels Erlinghagen (2011).
Haym: 182.
Haym: 183.
Haym: 244.
Brandes erwähnt das Athenaeum und die Fragmente nur am Rande, vgl. Brandes 2: 90. Dass
die Fragmente um 1850 weitgehend vergessen sind, hängt mit ihrer Textgeschichte zusammen. Kierkegaard zum Beispiel besaß keine Ausgabe der Athenaeum-Fragmente, da sie in der
Ausgabe der Werke von 1822 bis 1825 nicht enthalten sind. Siehe dazu den Aufsatz von
3. FORSCHUNGSGESCHICHTE IM 20. JAHRHUNDERT
25
entsteht eine zweite, eher reflektierende Schlegel-Rezeption. Diese wird aber
zu keiner Zeit eine eigentliche Richtung oder Tradition bilden, weil sie überwiegend aus Einzelgängern besteht, wie Schleiermacher, Thomas Carlyle oder Goethe, dessen reserviertes, jedoch anfänglich positives Verhältnis zu
Schlegels einzigartig und komplex ist. Diesen Schlegel-Freunden gelingt es
nie, eine eigentliche Gegenrezeption zu gestalten. Der Einfluss der gegnerischen Seite ist einfach zu mächtig, die Schlegel-Anhänger sind nur wenige
und ihre Schar ist vielfarbig.
3. Forschungsgeschichte im 20. Jahrhundert
Die soeben skizzierten zeitgenössischen Auffassungen der Romantik, die
durch zwei literarische Beispiele im vorhergehenden Abschnitt dieser Arbeit
beschrieben werden, finden ihr Echo in der Schlegel-Forschung. Eine akademische Tradition versucht, Schlegel überwiegend als Ironiker und innovativen Sprach-Theoretiker zu interpretieren. Die Vertreter dieser Tradition
scheinen meistenteils völlig zu vernachlässigen, dass die Berliner Zeitschrift
Athenaeum nicht ausschließlich Fragmenten oder dem flüchtigen „Blüthenstaub“ spekulativer Revolutionsanhänger ihre Spalten öffnete, sondern auch
vielen klassischen Formen wie Schlegels kunstvollem Brief Über die Philosophie. An Dorothea (1799), Dialogen, Sonetten und Rezensionen.33 Diese
alten Vorwürfe haben eine lange Rezeptionstradition begründet, die bis zu
Paul de Man führt und weiterhin dominiert. Aktuell und beliebt wird Schlegel erst, als es um 1970 modern wurde, menschliche Zeichen und Texte als
sinnlose, zu überwindende Metaphysik aufzufassen. 34 Vor der Dekonstrukti-
33
34
Anna Sandberg Rasmussen, Rasmussen: 67 f. Erstaunlich (bewusst?), dass Brandes auf
Schlegel und seinen Aufsatz Vom aesthetischen Werth der Griechischen Komödie, den er mit
Sicherheit aus der Edition der Sämmtliche[n] Werke kannte, im Abschnitt Heine und Aristophanes nicht eingeht, da dieser Abschnitt u.a. auf die zeitgenössische Aristophanes-Begeisterung und die Frage eingeht, wie man die Alte Komödie „übersetzen oder […] bearbeiten“
(Brandes 6: 173) oder auf andere Weise sich von ihr inspirieren lassen könnte.
Lacoue-Labarthe und Nancy bemerken mit Recht: „One final condition must be added: The
fragment is by no means the romantics’ sole form of expression. On the whole, the Athenaeum
itself included a greater number of continuous texts (essays, reviews, dialogs, and letters) than
fragments, to say nothing of the texts published elsewhere by members of the group, or of the
numerous lectures and talks the Schlegels delivered“, Lacoue-Labarthe und Nancy: 41. Vgl.
für eine ausführliche Forschungsgeschichte Mattias Pirholts Aufsatz, in dem am Beispiel von
Madame de Staël und Heinrich Heine eine ähnliche Spaltung in der Romantikrezeption in eine
positive und eine negative Gruppe ersichtlich wird.
Eine nicht so zugespitzte Formulierung findet man bei Peter V. Zima, der hauptsächlich die
romantische Sprachauffassung als dekonstruktives Denken „möglicherweise zum ersten Mal“
(Zima: 10), „Vorwegnehmen“ der Dekonstruktion (vgl. Zima: 12), Dekonstruktion „[l]ange
vor der Dekonstruktion“ (Zima: 12) oder „Ankündigung“ der Dekonstruktion (vgl. Zima: 14)
betrachtet. Er konkludiert jedoch: „Trotz aller hier skizzierten Affinitäten ist die Romantik der
Brüder Schlegel keine „Dekonstruktion avant la lettre“, Zima: 14. Diesem Vorbehalt widmet
er nur wenige weitere Sätze: „Denn ihr Kult des freien Subjekt, des Genies und der Innerlich-
26
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
on gilt Schlegel als das enfant terrible der Romantik, der unsittliche Autor
der Lucinde, aber auch ein historisch wichtiges Gründungsmitglied der Jenaer Romantik, als der Freund und Kollege bedeutenderer Männer wie Schleiermacher, Tieck und August Wilhelm Schlegel, dem Rudolf Haym in seiner
Literaturgeschichte genau so viel Raum widmet wie dessen jüngerem Bruder.
Ein Kuriosum der Kritik ereignet sich 1969, als Paul de Man den alten Vorwurf mit umgekehrten Vorzeichen wiederholt: Er schätzt hoch, was für Cholevius, Kierkegaard, Haym und Brandes durchaus problematisch und philosophisch-ästhetisch disqualifizierend ist, namentlich die angebliche Chaotik
und den vom Poststrukturalismus behaupteten ironischen Nihilismus Schlegels:
Friedrich Schlegel is altogether clear on this. The dialectic of self-destruction and
self-invention which for him, as for Baudelaire, characterizes the ironic mind is an
endless process that leads to no synthesis.35
Paul de Man liegt gänzlich auf der Linie der Kritik der Goethezeit, nur sind
plötzlich die Positionslosigkeit, Ironie und Futilität der Texte Schlegels ein
Positivum, etwas Erstrebenswertes. Ironie, so de Man, „dissolves in the narrowing spiral of a linguistic sign that becomes more and more remote from
its meaning, and it can find no escape from this spiral.“36 Dies ist zweifellos
positiv gemeint. Schlegels Ironie als die bekannte „permanente Parekbase“37
sei zugleich auch ein Punkt oder eine Grenze, die endgültig jede illusorische
Wahrheit der Literatur vertreibe und diese mit einer „infinite agility“38 ersetze. Die Ironie, meint de Man, sei schließlich nichts Geringeres als „the systematic undoing, in other words, of understanding.“39 Ein solches Schlegel-Bild
wird danach eine in zahllosen Arbeiten40 reproduzierte Wahrheit, die paradox
35
36
37
38
39
40
keit ist unvereinbar mit der Dekonstruktion dieser metaphysischen Begriffe bei Derrida und
den amerikanischen Theoretikern. Indem sie an diesen Begriffen festhalten, setzen die Romantiker die […] Tradition des deutschen Idealismus fort. Auch ihre Aufwertung der Natur, der
Kunst und der Dichtung, […] gehört einem metaphysischen Idealismus an, der den Vertretern
der Dekonstruktion fremd ist“, Zima: 14. Vgl. auch Zimas Abschnitt „Schlußbetrachtung:
Eine Rhetorik der Romantik“ (Zima: 123 ff.), in dem Zima aber das Verhältnis der Romantik
und zur Dekonstruktion folgendermaßen beschreibt: „Die Historizität der Texte ist jedoch
nicht auf „Aporie“ und „Dekonstruktion“ zu reduzieren. Vielmehr manifestiert sie sich in einer
[…] Textvielfalt, die sowohl den unaufhebbaren Widerspruch als auch die strenge Kohärenz,
sowohl die klassische Stimmigkeit als auch die avantgardistisfche Werkzertrümmerung
erfaßt“, Zima: 124. Marc Redfield bezeichnet die Romantik als „a privileged, ambivalent locus of theory and resistance to theory“, Redfield (2007): 2. Für eine Kritik der Auffassung der
Romantik als „vernichtende Dekompensation“ (Weitz: 8) vgl. Weitz: 8 ff. Über die Rezeption
der Frühromantik durch die Dekonstruktion vgl. Mergenthaler: 70 ff.
de Man (1969): 202.
de Man (1969): 203.
KFSA 18: 85, Nr. 668.
de Man (1969): 202.
de Man (1979): 116.
Exemplarisch ist Moongyoo Chois Aufsatz aus einer Anthologie über Paul de Man. Choi, der
de Mans Theorie rekapituliert und sie der Dekonstruktion (Derrida) und Frühromantik (Schle-
3. FORSCHUNGSGESCHICHTE IM 20. JAHRHUNDERT
27
in dem Versuch besteht, jeden Wahrheitsanspruch der schlegelschen Werke
ganz und gar zu annihilieren. Die Paradoxie eines solchen Standpunktes ist
umso größer, da Schlegels kritische Werke die Wahrheit als eine Kategorie
in der Textanalyse definieren, beispielsweise in dem auf Grundlage des Leipziger Manuskriptheft I neuedierten Text Von den Schulen der Griechischen
Poesie.41 Der junge Schlegel leidet darüber hinaus, so Ulrich Breuer, an einem radikalen „Wahrheitsbegehren[…]“.42 Auch gibt es in seiner literarischen Produktion immer einen außersprachlichen Inhalt, obwohl klar ist,
dass die unendliche Progression vor allem ein innerer, geistiger Prozess ist.
Im vorhergehenden rezeptionsgeschichtlichen Abschnitt wird eben unterstrichen, dass die Texte Schlegels fast immer die unmittelbare Synthese nach der
Analyse und die Produktivität und Konstruktivität der Ironie, des Fragments
und der Unverständlichkeit betonen. Obwohl die Synthesen der unendlichen
Progression natürlich befristet sind, gibt es sie dennoch. Es kann also keine
41
42
gel) zuordnet, sieht in der dekonstruktiven Verquickung der philosophischen und literarischen
Disziplinen „nichts anderes als eine Verschärfung des romantischen [aufzulösenden? (AHM)]
Widerspruches zwischen Wissenschaft und Kunst“, (Choi: 184) ferner: „Die Poetisierung der
Philosophie und die Philosophierung der Poesie klingen hier wie eine Vorwegnahme der
Postmoderne“, ebd. In Bezug auf Schlegel wird der Fokus auf seine Destruktion klassizistischer Begriffe gerichtet: „Für Schlegel, der klassizistische Begriffe wie Periode, Gattung, absolute Ichheit und Wirklichkeit destruiert, bedeutet die Ironie weniger eine organische
Geschlossenheit als eine textuelle Offenheit. Bei der Deutung der Ironie weicht de Man auch
von der geläufigen Interpretation ab, indem er sie […] als eine rhetorische Figur des Wahnsinns betrachtet“, Choi: 191. Hat Schlegel, der Erotiker und „objektive“, d.h. zukunftsorientierte und teilweise praktische Kritiker und Gräzist, die Wirklichkeit destruiert? Obwohl Romantik und Dekonstruktion gewisse Züge teilen mögen, scheint diese Schlegel-Vorstellung
deplatziert: Die Ironie, so wie Schlegel sie in seinen Texten verwendet, ist, wie sich zeigen
wird, nicht nur textuelle Offenheit, sondern zu guter Letzt psychologische Geschlossenheit
bzw. Vereinigung der Geisteskräfte. Was die Genres betrifft, setzt sich Schlegel schon mit
dem Klassizismus auseinander; ethisch und rhetorisch hat er aber mehr mit ihr gemeinsam, als
die Dekonstruktion annimmt. Seine nicht besonders postmoderne Zielsetzung bleibt nämlich
das verklärte und vollendete Leben der Menschen und Dichter im Einklang mit Gott, dem König (dem Staat) und der Kunst.
Ganz alleinherrschend ist diese Vorstellung aber auch nicht gewesen. So kritisiert sie Ernst
Behler in dem Abschnitt Von der modernen zur postmodernen Theorie in seinem Buch
Ironische und literarische Moderne. Dieser Kritik ist vorliegende Arbeit verpflichtet, insbesondere der Bemerkung, „Dekonstruktives Lesen“ sei eine reduktive und dichotomische Einteilung des Inhaltes eines Textes in eine Fehlinterpretation, die „ursprüngliche[…]
„Blindheit“„ und die bessere Lesart, die „wahre Einsicht“, (Behler (1997): 308) die übrigens
nur auf spezifische, für die Dekonstruktion besonders geeignete Autoren und Texte praktiziert
werde und deshalb kaum als eine allgemeingültige Methode gelten könne. Behler konkludiert
vernünftig: „Es geht doch darum, das „In-Between“, die Phase der Allegorie, der Ironie und
des Schreibens (écriture) nicht als bloße Übergangsphase oder als bloßen Verlust von Sinn zu
deuten, sondern als die Existenzweise von Sinn und den angemessenen Ort unserer
Wirksamkeit anzuerkennen“, ebd. Matthias Schöning behandelt kurz die Kritik an Schlegels
Person, die oft mit der Kritik seines Schaffens kombiniert wird, vgl. Schöning: 46. Siehe
darüber hinaus für kritische Darstellungen der Schlegel-Rezeption Puchalski: 256 ff.,
Schmeier: 7 ff. und Volker Deubels Aufsatz.
Breuer (2009): 45.
28
I. DIE BEFLECKTHEIT DER FANTASIE
reine Destruktion sein. Vielleicht ist aber reine Destruktion nicht unbedingt
das, was Paul de Man beschreibt. Man soll darauf achten, dass die Frage
nach der Funktion der Ironie nicht zu einem Streit um Worte wird. Es darf
nicht vergessen werden, dass de Man zugesteht, dass die Destruktion mit der
Invention bzw. Konstruktion verbunden ist. In den späten Essays The Resistance to Theory (1982) und The Return to Philology (1982) ist eine subtilere
Theorie des Poststrukturalismus ersichtlich, im letzteren eine sympathische
Auseinandersetzung mit der Theoriebefangenheit der damaligen amerikanischen English Departments.43 Trotzdem endet der Essay über Ironie mit der
Feststellung „der systematischen Dekonstruktion des Verständnisses“. Vielleicht würde de Man sagen, dass auch das Nicht-Verstehen durchaus ein Verstehen ausmacht. Wie dem auch sei: Die Dekonstruktion legt eindeutig den
Fokus auf die negativen Eigenschaften der Ironie. Gegen diesen Fokus lässt
sich sicherlich manches einwenden. Nicht nur in poststrukturalistischen Dissertationen und von Paul de Man inspirierten Aufsätzen dominiert diese Strömung. Auch zahlreiche Monographien stellen die Frühromantik als postmodernistische Frühphase dar oder richten hauptsächlich ihr Augenmerk auf die
Ironie, Unverständlichkeit44 und den immer wieder diskutierten Begriff der
Arabeske, obgleich diese Begriffe tatsächlich nur Einzelelemente eines viel
größeren, grundlegend synthetisierenden Werkes sind, und obwohl sie in diesem Werk eine spezielle, erbauliche Rolle in einem größeren Kontext spielen. Ein Irrtum des Poststrukturalismus besteht darin, dass er von eigener
Theorie ausgeht, folglich nur Texte auswählt, die geeignet sind, mittels dieser Theorie ausgelegt zu werden. Wer solch eine Theorie auf spezifische
43
44
Zu beachten ist de Mans Paraphrasierung der Kritik seiner Kollegen, dass „increased professionalism and specialization“ (de Man (1989): 22) die Philologie bedrohe. Man vergleiche
diese Kritik, der de Man mit einigen Einwänden zustimmt, mit Schlegels Paradigmenkritik.
„Unverständlichkeit“: Die Schrift Über die Unverständlichkeit (1800) ist eine rhetorischironische Apologie für die Fragmentarizität, Vielseitigkeit und Ironie der literarischen
Zeitschrift Athenaeum. Das „Nichtverstehen“ in Form fragmentarisch-ironischer Texte (die
übergeordnete Ironie hinter den Athenaeum-Fragmenten) bildet einen notwendigen
hermeneutischen Mechanismus der geistigen Progression, indem das Subjekt ständig neue
Synthesen suchen muss, weil das Verstehen des unendlichen Objekts nie endet. Neben dieser
Unverständlichkeit, Fragmentarizität oder Ironie gibt es – auch bei Schlegel – die rhetorische
Ironie, die zugleich die Unverständlichkeitsschrift prägt. Diese sieht man am Beispiel
Schlegels Kritik an dem Schweizer Alchimisten Christoph Girtanner (1760-1800) und seinem
Ideal der immer eindeutigen „reellen Sprache“ in der Schrift Über die Unverständlichkeit. Die
Möglichkeit einer solchen Sprache wird einleitend so beschrieben: „[E]ine glorreiche Aussicht
öffnete sich dem innern Auge“, KFSA 2: 365. Dies ist eben rhetorische Ironie, womit der
Autor das Tadelnswürdige lobt. In diesem Fall besteht Schlegels Kritik an Girtanner aus einer
übertriebenen Lobrede. Schlegel unterscheidet im 42. Athenaeum-Fragment zwischen der
rhetorischen und der philosophischen Ironie: „Freilich gibts auch eine rhetorische Ironie“,
KFSA 2: 152. Im Essay Über die Unverständlichkeit findet man eine Kategorisierung der
rhetorischen Ironieformen, siehe KFSA 2: 369, der zufolge die „Ironie der Ironie“ (ebd.) wohl
die philosophische oder romantische Ironie bezeichnet, die also über die Rhetorik hinausgeht.
Dieser Text enthält also eine rhetorisch-ironische Verteidigung der romantischen bzw.
„ironischen“ Ironie.
3. FORSCHUNGSGESCHICHTE IM 20. JAHRHUNDERT
29
Texte (beispielsweise die frühen Fragmente oder einen Teil des recht pluralistischen Gespräch[s] über die Poesie) appliziert, läuft in hohem Grad Gefahr, nicht überzeugend zu interpretieren, weil die Textauswahl unzureichend und der Kontext nicht genügend gewürdigt ist. Texte wie die Athenaeum-Fragmente sind besonders schwierig zu deuten, wenn man nur einzelne Fragmente analysiert. Die Fragmente – die publizierten wie die nichtpublizierten Notizen – bilden einen Mikrokosmos voller Widersprüche und
Paradoxien und lassen sich dementsprechend am sinnvollsten im Kontext anderer, nicht-fragmentarischer Texte desselben Autors lesen. Die Ironie, ein
treffendes Beispiel für ein rätselhaftes Wort des frühromantischen Vokabulariums, zeitigt bei Schlegel immer eine konstruktive Funktion, „[i]n ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein“,45 im 108. Lyceum-Fragment von Schlegel so
ausgedrückt: „Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung.“46 Die vollständige Mitteilung ist
das unmögliche, zugleich notwendige Ziel. Im 69. Lyceum-Fragment formuliert Schlegel dieses Paradox folgendermaßen: „Es gibt auch negativen Sinn,
der viel besser ist als Null, aber viel seltner.“47 Diesen Sinn findet man,
„wenn einer immer wollen muß, ohne je zu können; wenn einer immer hören
mag, ohne je zu vernehmen“,48 stellt Schlegel fest, indem er „dem Platonischen Eros“49 Tribut zollt. Der Hinweis auf Platon bezieht sich auf dessen
Symposion, in dem die moralischen Kräfte des Eros in feierlichen Reden gepriesen werden. Das Wollen-ohne-zu-Können ist zu unterstreichen. Das ist
der Kern der Ironie Schlegels, eine (paradox) positive Negation, die positiv
ist, nicht weil sie negiert (wie der negationsfreundliche Poststrukturalismus
behauptet), sondern weil sie schöpft.
Grundlegend hat Philippe Lacoue-Labarthes und Jean Luc Nancys ursprünglich auf Französisch verfasstes Buch The Literary Absolute. The Theory of Literature in German Romanticism die dekonstruktive Interpretation
der Frühromantik durch de Man endgültig zementiert. Bei Lacoue-Labarthe
und Nancy ist von einer (Sinn)Spirale die Rede, sogar einer „spiral of spirals“50, einem „manifest in its manifestation“,51 einer durchgehenden „equivocity“52 der Romantik. Für Jacques Derrida, den Urheber dieses Begriffs, ist
„Univozität“ oder Einstimmigkeit einfach westliche Metaphysik. Equivozität
oder Plurivozität, Vielstimmigkeit, ist das Gegenteil, die (post)modernistische Auflösungsrhetorik, mittels der die alte Metaphysik bezwingbar wird.
45
46
47
48
49
50
51
52
KFSA 2: 160, Nr. 108.
Ebd.
KFSA 2: 155, Nr. 169.
Ebd.
Ebd.
Lacoue-Labarthe und Nancy: 121.
Lacoue-Labarthe und Nancy: 124.
Lacoue-Labarthe und Nancy: 125.
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