Frauen & Technik Technik und Sport – miteinander vergleichbar? Berührungspunkte zweier nur scheinbar divergenter Forschungsfelder Was haben STS und sportwissenschaftliche Geschlechterforschung gemeinsam? Zur Beantwortung dieser Frage werden Studienergebnisse aus beiden Richtungen in Beziehung zueinander gesetzt. Dadurch zeigt sich, wie ertragreich es ist, einen Blick über den Tellerrand hinaus in das jeweils andere Forschungsgebiet zu werfen. Lisa Scheer studierte Soziologie in Graz und Waterloo und hat 2012 ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Geschlechterwissen am Spielfeld. Körperpraktiken und ihr Beitrag zur Herstellung einer sozialen Ordnung in gemischtgeschlechtlichen Sportmannschaften“ eingereicht. Ein Forschungsschwerpunkt liegt in Fragen der Geschlechter-, Sport-, Körper- und Wissenssoziologie, ein zweiter im Feld der STS. Sie ist Mitglied der IFZ-Arbeitsgruppe „Queer Science and Technology Studies“. E-Mail: [email protected] Wandels überhaupt fassen kann oder ob daran angelehnte Maßnahmen nicht zu kurz greifen. Dieser Argwohn liegt nicht zuletzt in dem von James Blake (1999) als „value – action gap“ und von Angelika Wetterer (2003) als „rhetorische Modernisierung“ bezeichneten Sachverhalt. Zwischen dem, was Personen etwa über Geschlechtergleichheit oder Umweltschutz sagen, und dem, wie sie leben und was sie tun, liegt oftmals eine große Kluft. Schon dieser kurze Abriss bringt theoretische Überschneidungen und gemeisame empirische Interessen der beiden Felder zutage. In beiden Bereichen gibt es außerdem Bemühungen, neuere theoretische/empirische Konzepte wie die Praxistheorie zu forcieren. Gemeinsamkeiten von STS und Geschlechterforschung Praxistheorie & STS In den Science and Technology Studies (STS) stehen Fragen des sozialen Wandels schon längere Zeit hoch im Kurs. Umweltverschmutzung, Energiearmut oder nachhaltige Lebensweisen werden ebenso erforscht wie die globale Verbreitung digitaler Kommunikation(smedien). Dabei wird sowohl von Forschungsgruppen als auch finanzierenden Einrichtungen größtenteils ein ABC-Ansatz verfolgt (Shove 2010a). Dahinter verbergen sich „attitude“, „behaviour“ und „choice“, was für die Auffassung steht, dass Individuen bewusste Verhaltensentscheidungen hinsichtlich der Nachhaltigkeit ihrer Lebensweise treffen, die auf bestimmten Werten und Einstellungen beruhen. Demzufolge wird etwa Umweltverschmutzung als Folge individuellen Verhaltens betrachtet, das mit besseren Anreizen und durch mehr Informationen verändert werden kann. In der sportwissenschaftlichen Geschlechterforschung sind ebenfalls Fragen des Wandels prominent. Untersucht werden Geschlechterverhältnisse und -ordnungen in der Sportwelt, wobei in der angewandten Geschlechterforschung versucht wird, durch Maßnahmen zahlenmäßige Ungleichheiten in gewissen Sportarten zu beseitigen. Doch die Frage, die schon Shove (2010a) formuliert hat, lautet, ob der ABCAnsatz die dynamischen Prozesse sozialen Zu den Verfechter(inne)n eines praxistheoretischen Zugangs zu STS zählen Elizabeth Shove und Kolleg(inn)en an der Lancaster University, aber auch außerhalb von Großbritannien wird der Ansatz immer häufiger angewandt, um etwa technologische Neuerungen oder landwirtschaftliche Praktiken zu untersuchen. Ziel praxistheoretischer Forschung ist, kollektive Handlungsgefüge oder Handlungsmuster in ihrer Entstehung und Verbreitung nachzuzeichnen. Im Gegensatz zu traditionellen Sozialtheorien ist die Materialität sozialer Praktiken, also ihre Verankerung in Körpern und in Artefakten, von zentraler Bedeutung (Reckwitz 2004). Shove (2010a, 2010b) sieht im praxistheoretischen Zugang eine Möglichkeit, andere Fragen als bisher zu stellen und auch den Staat und andere Institutionen in den Blick zu nehmen, die das tägliche Leben strukturieren. Im Gegensatz zum ABC-Ansatz, der Individuen als Konsum- und EntscheidungsträgerInnen sieht, die in der Wahl ihres Verhaltens von Regierungen und Institutionen beeinflusst werden können, legen Praxistheorien ihren Fokus auf das Nachzeichnen von (technologischen) Entwicklungen und der dynamischen Interaktion zwischen Politik und Praktiken. Sozialen Wandel aus Blickwinkel der Praxistheorien zu betrachten, bedeutet, zu verstehen, „how practices evolve, how they capture and lose Soziale Technik 4/2012 19 Frauen & Technik us, their carriers, and how systems and complexes of practice form and fragment“ (Shove 2010a:1279). Einen Grund für den nach wie vor hohen Boom an ABC-Forschungen sieht Shove im dahinter liegenden politischen Interesse. Kritisch fragt sie: „Could it be that the ABC is generated and sustained … by the policy makers they serve, and could it be that this vocabulary is required in order to keep a very particular understanding of governance in place?“ (ebd.:1283). Untersucht man also Praktiken wie tägliche Körperpflege oder biologisch kontrolliertes Landwirtschaften, integriert man Mikro-, Meso- und Makroebene, weil es auf allen Ebenen für die jeweilige Praktik relevante Protagonist(inn)en gibt. Dadurch gerät auch die Politik mit ihren Gesetzen und Maßnahmen ins Blickfeld. Praxistheorie & sportwissenschaftliche Geschlechterforschung Auch in der (Sport-)Soziologie ist mittlerweile ein zunehmendes Interesse an der Praxistheorie erkennbar. Dies liegt unter anderem an der „Entdeckung“ des Körpers als soziologischen Forschungsgegenstand. In der sportwissenschaftlichen Geschlechterforschung sind derartige Studien noch spärlich gesät, was nicht zuletzt den methodologisch hohen Anforderungen geschuldet ist. Jene Studien, die sich Sportund Spielpraktiken von Kindern und Erwachsenen widmen, verweisen u. a. auf den Einfluss von Schiedsrichter(inne)n, Lehrpersonal und Kolleg(inn)en auf die Entwicklung von Bewegungsfertigkeiten (z. B. Guérandel, Mennesson 2007; Pfister, With-Nielsen 2010; Scheer 2012). Spielbzw. Bewegungspraktiken entstehen mitunter durch Trainingsausrichtungen oder Regeln bzw. Regelauslegungen. Regeln, die im gemischten Mannschaftssport z. B. das zahlenmäßige Verhältnis von Frauen und Männern am Spielfeld oder das Verbot bestimmter Verteidigungsbewegungen von Männern gegenüber Frauen festlegen, spielen in der Entwicklung einer gemischten Sportspielpraxis eine Rolle. Kritisch zu betrachten sind sie dann, wenn ihnen ein Differenzwissen zugrunde liegt, wonach Frauen und Männer im Sport nicht gleich leistungsfähig oder stark sind. Beurteilen SchiedsrichterInnen Frauen und Männer unterschiedlich – lassen sie bei den einen z. B. härteren Körperkontakt zu oder sehen bei den anderen über gewisse Regelübertretungen hinweg? –, forciert das auch das Entstehen unterschiedlicher Spiel- und Körperpraktiken. Relevant ist aber auch das Miteinander am Feld: Machen Athlet(inn)en im Trainingswettkampf oder Spiel einen Unterschied zwischen Gegnern und Gegnerinnen, und wenn ja, aufgrund des Geschlechts oder des Könnens? Fordern Frauen von ihren Spielkollegen, nicht anders behandelt zu werden als Männer oder lassen Spieler ihren Gegenerinnen ungeachtet ihres Niveaus mehr Platz? Bisherige Ergebnisse und hier gestellte Fragen deuten auf eines hin: Spiel- und Bewegungspraktiken sind prozessual zu verstehen, die durch das Miteinander unterschiedlichster Protagonist(inn)en entstehen und sich fortlaufend verändern (können). Will man also horizontale Ge- schlechterungleichheiten abbauen, wird es nicht genügen, einfach nur mehr Sportkurse für Mädchen und Frauen anzubieten, weil Sportpraktiken viel komplexer zu verstehen sind. Resümee Vielfach beruhen politische Programme mit dem Ziel der Verbreitung nachhaltiger Lebensweisen oder dem Abbau horizontaler und vertikaler Geschlechtersegregation auf einem ABC-Ansatz. Doch es zeigt sich, dass das Tun der Gesellschaftsmitglieder in Praktiken eingebunden ist, die (1) historisch gewachsen, (2) vielschichtig und (3) oftmals nicht einfach durch punktuelle Maßnahmen veränderbar sind. Interdisziplinäre Verknüpfungen wie die hier vorgenommene erweisen sich für beide Felder als erkenntniserweiternd und zeigen, für welche Fragestellungen ein praxistheoretischer Blick sinnvoll ist. Literatur • Blake, J.: Overcoming the ‘value-action gap’ in environmental policy: Tensions between national policy and local experience. In: Local Environment 4, 3/1999, S. 257-279. • Guérandel C., C. Mennesson: Gender Constructions in Judo Interactions. In: International Review for the Sociology of Sport 42, 2/2007, S. 167-186. • Pfister G., N. With-Nielsen: Ida spielt ihr eigenes Spiel – „doing gender” im Sportunterricht. In: Spectrum 22, 2/2010, S. 43-63. • Reckwitz, A.: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler. In: K. Hörnig, J. Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: 2004, S. 40-54. • Scheer, L.: Geschlechterwissen am Spielfeld. Körperpraktiken und ihr Beitrag zur Herstellung einer sozialen Ordnung in gemischtgeschlechtlichen Sportmannschaften. Unveröffentlichte Dissertation 2012. Shove, E.: Beyond the ABC: climate change policy and theories of social change. In: Environment and Planning 42/2010a, S. 1273-1285. • Shove, E.: Social Theory and Climate Change. Questions Often, Sometimes and Not Yet Asked. In: Theory, Culture & Society 27/2010b, S. 277-288. • Wetterer, A.: Rhetorische Modernisierung. Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In: G.-A. Knapp, A. Wetterer (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Münster: Westfälisches Dampfboot 2003, S. 286-319. Soziale Technik 4/2012 20