Heidelberger TaschenbUcher Band 96 Basistext Medizin GrundriB der Neurophysiologie Herausgegeben von R. F. Schmidt Mit Beitragen von J. Dudel W. Janig R. F. Schmidt M. Zimmermann Dritte, berichtigte Auflage Mit 137 Abbildungen und 146 Testfragen zur Selbstkontrolle Springer-Verlag Berlin' Heidelberg· New York 1974 Prof. Dr. Josef Dudel, Physiologisches Institut der Technischen Universitat Miinchen, 8000 Miinchen 80, Ismaninger Str. 19 Priv.-Doz. Dr. Wilfrid Janig, Physiologisches Institut der Universitat Kiel, Lehrstuhl I, 2300 Kiel, Olshausenstr. 40/60 Prof. Dr. Robert F. Schmidt, Physiologisches Institut der Universitat Kiel, Lehrstuhl I, 2300 Kiel, OlshausenstraBe 40/60 Prof. Dr. Manfred Zimmermann, II. Physiologisches Institut der Universitat Heidelberg, 6900 Heidelberg, im Neuenheimer Feld, Bau 326 ISBN-13: 978-3-540-06924-9 DOl: 10.1007/978-3-642-96230-1 e-ISBN-13: 978-3-642-96230-1 Library of Congress Cataloging in Publication Data Schmidt, Robert F. GrundriB der Neurophysiologie. (Heidelberger Taschenblicher, Bd. 96. Basistext Medizin) First ed. published in 1971 under title: Neurophysiologic. Bibliographie: p. 1. Neurophysiology. I. Dude!, Josef. II. Title. QP361.S32 1974 612'.8 74 -17492 Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ahnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Bei Vervielfiiltigungen fur gewerbliche Zwecke ist gemaB § 54 UrhG eine Vergutung an den Verlag zu zahlen, deren Hohe mit dem Verlag zu vereinbaren ist. © by Springer-Verlag Berlin' Heidelberg 197111972/1974. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Herstellung: Julius Beltz, Hemsbach/Bergstr. Vorwort zur dritten Auflage Zahlreiche von uns dankbar begriiBte Hinweise aus dem Leserkreis auf Unrichtigkeiten, Unklarheiten und Druckfehler konnten in dieser, ansonsten weitgehend unveranderten dritten Auflage beriicksichtigt werden. Dazu wurden einige wenige Absatze entsprechend dem heutigen Erkenntnisstand umgeschrieben. Zusammen mit dem in der gleichen Reihe als Band 136 erschienenen "GrundriB der Sinnesphysiologie" liegt damit eine in sich geschlossene Einfiihrung in die animalische Physiologie vor, die nicht nur die gesicherten Grundlagen enthalt, sondern auch, so hoffen wir, in verstandlicher Form an die noch offenen Fragen und Probleme dieses wichtigen Gebietes der Physiologie her anfiihrt. Robert F. Schmidt Kiel, im September 1974 Vorwort zur zweiten Auflage Der gute Anklang, den die "Neurophysiologie" gefunden hat, spiegelt sich in der Notwendigkeit, rasch eine zweite Auflage vorzulegen. Dies machte es moglich, nicht nur Druckfehler zu verbessern, sondern bereits zahlreiche Bemerkungen und Hinweise der Leser zu berucksichtigen. Unseren Dank fur diese Hilfe verbinden wir mit der Bitte, uns weiterhin kritische Anregungen zukommen zu lassen. 1m Namen aller Autoren danke ich auch diesmal insbesondere dem Springer-Verlag fur die standige gute Zusammenarbeit und die vorzugliche Ausstattung dieses Buches. Kiel, im November 1972 Robert F. Schmidt Vorwort zur ersten Auflage Dieses Buch enthalt in konventioneller Form den Lehrstoff der vor kurzem im gleichen Verlag erschienenen "Neurophysiologie programmiert". Wichtige Grunde sprechen fur diese doppelte Darstellung. Zum V ersten ist es vorteilhaft, bei Wiederholungen, z. B. zur Examensvorbereitung, eine konventionelle Darstellung zu benutzen und nicht den bereits bekannten und aus didaktischen Griinden sehr redundanten programmierten Text erneut durchzuarbeiten. Zum zweiten wird es eine gewisse Anzahl von Studenten geben, die von Anfang an einem nichtprogrammierten Text den Vorzug geben. Durch die Ubungs:- und Examensfragen am SchluB jedes Abschnitts ist auch diesen Studenten die Uberpriifung ihres Wissenszuwachses moglich gemacht. Zum dritten wird besonders der akademische Lehrer bei der Vorbereitung von Lehrveranstaltungen, der Ausarbeitung von Ubungen und dem Abfassen weiterfiihrenden Unterrichtsmaterials in der Regel dem iibersichtlicheren Taschenbuch den Vorzug geben. SchlieBlich ist das Taschenbuch fiir all diejenigen gedacht, die sich iiber die gesicherten Grundlagen und die wesentlichsten neueren Ergebnisse der Hirnforschung informieren wollen, ohne lernen zu miissen oder zu wollen. Entsprechend den Lernzielen des programmierten Textes, bietet das Taschenbuch den Lehrstoff der Neurophysiologie wie er heute von Physiologiestudenten aller Fachrichtungen, von Medizinern, Psychologen, Zoologen, Biologen oder Naturwissenschaftlern mit Physiologie im Nebenfach, gefordert werden muB. Das Buch setzt keine anatomischen oder physiologischen Vorkenntnisse voraus, jeder neu eingefiihrte Begriff wird zunachst definiert und, soweit notwendig; erlautert. Die griindliche Erprobung des programmierten Textes kommt dabei auch diesem Buch zugute. Jeder, der das Abitur oder diesem vergleichbare Kenntnisse besitzt, sollte daher in der Lage sein, sich den Inhalt des Buches ohne Verstandnisschwierigkeiten anzueignen. _ Als Abbildungen haben wir wiederum praktisch ausschlieBlich schematische Darstellungen benutzt. BewuBt haben wir auch hier auf jedes Literaturzitat, auBer soweit bei den Abbildungen angebracht, verzichtet. Ebenso haben wir keine weiterfiihrende Literatur emptohlen. Beides, die Auswahl ausfiihrlicherer Lehrbiicher und das Einarbeiten in das wissenschaftliche Schrifttum sollen und miissen dem akademischen Unterricht, uJ;lter Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten, vorbehalten bleiben. 1m Namen aller Autoren ist es mir wieder eine Freude, allen, die bei der Abfassung und Herstellung des Buches mitgeholfen haben, herzlich zu danken. Besonderer Dank gilt unseren technischen Mitarbeiterinnen fiir ihren unermiidlichen Einsatz und dem Springer-Verlag fiir seine Aufgeschlossenheit und die sorgfaltige und sachgerechte Ausstattung des Buches. Kiel, im Juli 1971 Robert F. Schmidt VI Inhaltsverzeich nis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v 1. Der Aufbau des Nervensystems (R. F. Schmidt) 1.1 Die Nervenzellen . . . . . . . 1.2 Stiitz- und Ernahrungsgewebe . . . . . . 1.3 Die Nerven . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Anatomie des Zentralnervensystems 1 1 6 8 13 2. Erregung von Nerv und Muskel a. Dudel) 2.1 Das Ruhepotential . . . . . . . . 2.2 Ruhepotential und Na+-Einstrom. 2.3 Die Natriumpumpe . 2.4 Das Aktionspotential 2.5 Kinetik der Erregung 2.6 Elektrotonus und Reiz 2.7 Fortleitung des Aktionspotentials 19 19 28 33 38 46 53 62 3. Synaptische Ubertragung (R. F. Schmidt) 3.1 Die neuromuskulare Endplatte: Beispiel einer chemischen Synapse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Quantennatur der chemischen Ubertragung 3.3 Zentrale erregende Synapsen . . . . . . . . 3.4 Zentralnervose hemmende Synapsen . . . . . 71 4. Physiologie kleiner Neuronenverblinde, Reflexe (R. F. Schmidt) . . . . . . . . . . . . . 4.1 Typische neuronale Verschaltungen 4.2 Der monosynaptische Reflexbogen 4.3 Polysynaptische motorische Reflexe 71 83 88 94 104 104 114 123 129 5. Der Muskel a.Dudel) . . . . . . . . . 5.1 Die Kontraktion des Muskels 129 5.2 Abhangigkeit der Muskelkontraktion von Faserlange und Verkiirzungsgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . .. 138 VII 5.3 Die elektro-mechanische Koppelung 5.4 Regulation der Kontraktion eines Muskels 6. Motorische Systeme (R. F. Schmidt) . . . . . . 6.1 Spinale Motorik I: Aufgaben der Muskelspindeln und Sehnenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Spinale Motorik II: Polysynaptische motorische Reflexe; der Flexorreflex . . . . . . . . . . . . . . . .. 6.3 Funktionelle Anatomie supramedullarer motorischer Zentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Reflektorische Kontrolle der Korperstellung im Raum 6.5 Motorische Funktionen von GroBhirn und Kleinhirn 146 153 160 161 1 71 178 190 199 7. Sensorisches System (M. Zimmermann) . . . . . . . . . 7.1 Transformation von Reizen in Receptoren . . . . . . 7.2 Afferente Nerven zum Riickenmark und ihre Verschaltung, aufsteigende Bahnen . . . . . . . . . . . . . . " 7.3 Die thalamo-corticale Projektion der sensorischen Peripherie . . . . . . . '.' . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7.4 Elektroencephalogramm (EEG) und BewuBtseinszustand 7.5 Das sensorische System - nachrichtentechnisch gesehen 210 210 8. Das vegetative Nervensystem (W. Janig) . . . . . . . . . . 8.1 Funktionelle Anatomie des peripheren vegetativen Nervensystems und seiner spinalen Reflexzentren . . . . .. 8.2 Die Reaktionen des glatten Muskels auf Dehnung, Acetylcholin, Noradrenalin und Nervenreizung. . . . . . . .. 8.3 Die antagonistischen Wirkungen von Sympathicus und Parasympathicus auf die vegetativen Effectoren . . . .. 8.4 Die zentralnervose Regulation der vegetativen Effectoren 8.5 Der Hypothalamus. Die Regelung der Korpertemperatur und des Wassergehaltes der Gewebe . . . . . . . . . .. 8.6 Die Auslosung und Integration elementarer Verhaltensweisen im Hypothalamus. 255 219 227 237 245 255 263 271 277 287 296 Antwortschliissel 303 Sachverzeichnis 307 VIII 1. Der Aufbau des Nervensystems 1.1 Die Nervenzellen Vorbemerkung. In diesem wie den ubrigen drei Abschnitten dieses Kapite!s wird eine kurze anatomisch-histologische Einfuhrung in den Aufbau des N ervensystems gegeben, die nur fur den bestimmt ist, der °keine neuro-anatomischen Vorkenntnisse besitzt. Wer uber solche Kenntnisse verfugt, kann zu deren Prufung sofort die Dbungsfragen F 1.1 bis 1.5 auf S. 5, F 1.6 auf S. 8, F 1.7 bis F 1.9 auf S. 12 und F 1.10 bis F 1.14 auf S. 17 sowie die zugehorigen Examensfragen durcharbeiten und dann mit Kapitel 2, Erregung von Nerv und Muske!, fortfahren. Neurone. Die Bausteine des Nervensystems sind die Nervenzellen, auch Ganglienzellen, meist aber Neurone genannt. Es ist geschatzt wor- Soma Axon Dendrit Abb. 1-1. Schematische UmriBzeichnung eines Neurons mit Benennung der verschiedenen Zellabschnitte. Der MaBstab soli einen Anhalt fur die GroBenverhaltnisse geben 1 den, daB das menschliche Gehirn etwa 25 Milliarden Zellen besitzt. Wie aIle tierischen Zellt!n, hat jedes Neuron eine Zellmembran, die den Zellinhalt, namlich das Cytoplasma (Zellflussigkeit) und den Zellkern umschlieBt. Die GroBe und die Form der Neurone schwanken in weiten Grenzen, aber der Bauplan ist immer gleich (Abb. 1-1): ein Zellkorper oder Soma, ferner Fortsatze aus diesem Zellkorper, namlich ein Axon (Neurit) und meist mehrere Dendriten. Das schematische Neuron in Abb. 1-1 hat also ein Axon und vier Dendriten. Axon und Dendriten zweigen sich gewohnlich nach ihrem Abgang aus dem Soma in mehr oder weniger zahlreiche Aste auf. Die Einteilung der Neuronenfortsatze in ein Axon und mehrere Dendriten erfolgt nach funktionellen Gesichtspunkten: das Axon verbindet die Nervenzelle mit anderen Zellen. An den Dendriten, wie auch am Soma, enden die Axone anderer Neurone. Zeichnen Sie zum Erlernen der drei wichtigen Begriffe Soma, Axon und Dendrit, die Abb. 1-2 auf ein Blatt Papier und bringen Sie an den mit a bis g gekennzeichneten Stellen die korrekten Bezeichnungen an. Die Losungen finden Sie auf S. 302, wo der Antwortschliissel fur alle Aufgaben dieses Buches beginnt. Abb. 1-2. Schematische UmriBzeichnung zweier Neurone. Die Benennung cler mit a bis g bezeichneten Zellabschnitte ist anzugeben (s. Text) In Abb. 1-3 ist eine Auswahl verschiedener Neuronentypen abgebildet. Beachten Sie insbesondere die starke Variation der Dendriten. Manche Neurone, z. B. Neuron c, verfugen uber regelrechte Dendritenbaume, bei anderen, wie z. B. Neuronen a, b, ist das Verhaltnis Somaoberflache zu Dendritenoberflache etwas ausgewogener. SchlieBlich gibt es auch Neurone, die keine Dendriten haben (Neurone d, e). Die Durchmesser der Somata von N euronen liegen in der GroBenordnung von 5 Itm 2 bis 100 !lm (1 mm = 1 000 !lm), die Dendriten k6nnen einige hundert Mikrometer (Mikron) lang sein. Wie aus allen bisher gezeigten Bildern ersichtlich, entspringt aus dem Soma jedes Neurons stets ein Axon (Synonyme: Neurit, Achsenzylinder). Dieses Axon splittert sich dann meist in Verzweigungen auf, die Kollaterale genannt werden. Die Axone sind von sehr unterschiedlicher Lange, oft nur wenige Mikron kurz, manchmal auch, z. B. bei manchen N euronen des Menschen und anderer groBen Saugetiere, weit iiber einen Meter lang (naheres im Abschnitt 3 dieses Kapitels). c b Q d e xon Abb. 1-3. Beispiele der Formenvielfalt von Neuronen. Besprechung im Text. (Nach RAMON y CAJAL) Synapsen. Wie oben bereits gesagt, verbindet das Axon und aIle seine Kollateralen die Nervenzelle mit anderen Zellen. Dies k6nnen andere Nervenzellen, aber auch Muskel- oder Driisenzellen sein. Die Verbindungsstelle einer axonalen Endigung mit anderen Zellen wird Synapse genannt. Abb. 1-4 zeigt Verbindungsstellen von Neuronen. Endet ein Axon oder eine Axonkollaterale auf dem Soma eines anderen Neurons, so sprechen wir von einer axo-somatischen Synapse. Entsprechend heiBt eine Synapse zwischen Axon und Dendrit eine axo-dendritische Synapse und eine zwischen zwei Axonen eine axo-axonische Synapse. Endet ein Axon auf einer Skeletmuskelfaser, so wird diese Synapse neuromuskuliire Endplatte genannte (s. Abb. 3-2). Synapsen auf Muskelfasern 3 der Eingeweide (glatte Muskulatur) und auf Driisenzellen tragen keine besonderen Bezeichnungen. Effectoren. Wir habenalso bisher gelernt, daB das Nervensystem aus einzelnen Zellen, den N euronen, zusammengesetzt ist. Die meisten Neurone haben iiber Synapsen Verbindungen zu anderen N euronen, sie bilden neuronale Schaltkreise. Ein kleinerer Teil der Neurone tritt iiber seine Axone nicht mit anderen Neuronen, sondern mit Muskel- oder Driisenzellen in Kontakt. Die quergestreiften Skeletmuskeln, die glatten Muskeln der Eingeweide und die Driisen sind also die Befehlsempfanger, die ausfiihrenden Organe oder Effectoren des Nervensystems. Auf den Aufbau der Effectoren wird, soweit notwendig, bei den entsprechenden Kapiteln eingegangen. axe - somatisch Abb. 1-4. Schematische UmriBzeichnung von Synapsen. Besprechung im Text Receptoren. Urn sich zweckmaBig mit seiner Umwelt auseinandersetzen zu konnen und zur Uberwachung der Tatigkeit der Effectoren braucht das Nervensystem aber auch noch Fiihler, die auf Veranderungen in der Umwelt und im Organismus antworten und diese Antworten dem Nervensystem mitteilen. Der Organismus besitzt fiir diese Aufgabe spezialisierte N ervenzellen, die als Receptoren bezeichnet werden. Wir konnen also festhalten: Spezialisierte N ervenzellen, die auf bestimmte Veranderungen im Organismus oder in der Umwelt antworten und diese Antworten dem N ervensystem mitteilen, werden als Receptoren bezeichnet. 4 Jeder dieser Receptoren antwortet praktisch nur auf eine bestimmte Reizform. Die Receptoren des Auges reagieren zum Beispiel nur auf Lichtreize, genauer auf elektromagnetische Wellen mit einer WellenHinge von 400-800 m !1(blauviolett bis rot). Diese fur die Receptoren des Auges spezifischen Reize nennt man ada equate Reize. Fur die meisten Receptoren des Organismus konnen wir angeben, auf welche Reize sie besonders (spezifisch) empfindlich sind, welches also ihr adaequater Reiz ist. So sind Schallwellen (longitudinale Luftdruckschwankungen) von 16-16000 Hz (Hz = Hertz = Schwingungen pro Sekunde) der adaequate Reiz des Ohres. Hochfrequente Schallwellen werden als helle, niederfrequente Schallwellen als tiefe Tone empfunden. (Receptoren konnen eventuell auch auf andere als die ihnen adaequaten Reize reagieren. Diese inadaequaten Reize mussen aber dann mit einer vielfach hoheren physikalischen Energie einwirken. Beispiel: "Sternchen" beim Schlag aufs Auge.) Uber die Receptoren nimmt also das Nervensystem von den Vorgangen in unserer Umw:elt und in unserem Organismus Notiz. Funktionell gesehen, vermitteln die Receptoren Auskunfte uber (a) unsere weitere Umgebung (Auge, Ohr: Telereceptoren), (b) unsere nahere Umwelt (Receptoren der Haut: Exteroceptoren), (c) die Stellung und Lage des Organismus im Raum (Receptoren der Muskeln, Sehnen und Gelenke: Proprioceptoren) und (d) Vorgange in den Eingeweiden (Intero- oder Visceroceptoren). An Hand der folgenden Fragen (hier und nachfolgend jeweils mit F gekennzeichnet) konnen Sie Ihr neu erworbenes Wissen uberprufen. Sie sollen bei der Losung moglichst nicht im bisherigen Text nachsehen. F 1.1 Welche der folgenden Aussagen sind richtig (eine oder mehrere Aussagen konnen korrekt sein)? Notieren Sie Ihre Antworten auf einem Blatt Papier und vergleichen Sie sie anschlie6end mit dem Antwortschlussel auf S. 302. a) Receptoren reagieren auf alle Reize aus der Umwelt. b) Jeder Receptor hat einen adaequaten Reiz. c) Receptoren sind spezialisierte Nervenzellen. d) Der Receptor ist auf nicht adaequate (inadaequate) Reize wesentlich empfindlicher als auf adaequate Reize. e) Muskeln und Drusen sind die Effectoren des N ervensystems. F 1.2 Ais neuromuskulare Endplatte bezeichnet man die Verbindung eines Axons mit einer 5 a) glatten Muskelfaser b) Driisenzelle c) Skeletmuskelfaser d) Nervenzelle e) Aussagen a-d sind alle falsch F 1.3 Zeichnen Sie schematisch und benennen Sie die einzelnen Abschnitte eines Neurons. F 1.4 Zeichnen Sie schematisch und benennen Sie die drei typischen Verbindungsmoglichkeiten zwischen zwei Nervenzellen. F 1.5 Die Zellkorper (Somata) der Nervenzellen haben Durchmesser in der GroBenordnung von a) 400-800 nm (Nanometer) b) 5-100 Ilm (Mikrometer) c) 0,1-1,0 mm d) 16-16000 Hz e) mehr als 1 m Examensfrage: 16. 00 1,~ 1.2 StUtz- und Ernahrungsgewebe Gliazellen. Die Neurone sind zwar die funktionell wichtigsten Bausteine des N ervensystems, sie sind aber nicht die einzigen Zellen, aus denen das Gehirn aufgebaut ist. Vielmehr sind sie von einem speziellen Stiitzgewebe, den Gliazellen, auch Neuroglia genannt, umgeben. Die Gliazellen erfiillen im Nervensystem die Aufgabe des Bindegewebes in den anderen Organen des Korpers, sind aber entwicklungsgeschichtlich nicht mit diesem, sondern mit den Neuronen verwandt. Die Gliazellen sind also die Bindegewebszellen des Nervensystems. Neben der Stiitzfunktion der Gliazellen schreibt man diesen auch Aufgaben bei der Ernahrung der Neurone und teilweise auch eine Teilnahme an gewissen Prozessen nervoser Erregung zu. Es herrscht dariiber aber bisher weder Klarheit noch Einmiitigkeit, so daB auf diese Probleme in diesem Buch nicht weiter eingegangen wird. ExtracelluHirraum. 1m lichtmikroskopischen Bild sieht es so aus, als ob Neurone und Gliazellen im Nervensystem nahtlos aneinander gefiigt sind, wie Bausteine, die ohne Mortel gesetzt wurden. 1m elektronenmikr.oskopischen Bild liiBt sich aber unschwer erkennen, daB zwi,:. Bezieht sich auf: Examensfragen Physiologie Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York und J. F. Lehmanns Verlag Miinchen 1970 und 1972. 6 schen den Zellen ieweils ein schmaler Spalt freibleibt (durchschnittliche Breite 200 A = 20 nm = 2 X 10- 5 mm). AIle diese Zwischendiume smd untereinander verbunden, sie bilden den fliissigkeitsgefiiIlten Extracellularraum der Neurone und Gliazellen. An manchen Stellen im Gehirn, den sogenannten Ventrikeln, erweitert sich der Extracellularraum zu groBeren Hohlraumen. Wenn Sie Naheres dariiber wissen wollen, miissen Sie ein neuroanatomisches Buch zu Rate ziehen, sich in einer anatomischen Sammlung umsehen, oder Ihren Metzger bitten, Ihnen ein unzerschnittenes Schweine- oder Kalbshirn zu iiberlassen, damit Sie sich selbst durch Langs- und Querschnitte von der Anordnung dieser Hohlraume ein Bild machen konnen. Da es funktionell von groBer Wichtigkeit ist, muB betont werden, daB jeglicher Stoffaustausch der Neurone in und aus dem Extracellularraum erfolgt, nicht direkt von einem Neuron ZUQ'l anderen, oder direkt von einem Neuron in eine Gliazelle. Die Fliissigkeit im Extracellularraum heiBt Cerebrospinalflussigkeit oder Liquor cerebrospinalis (Cerebrum = Gehirn, spina =Wirbelsaule). Extracellularraum Slut O2 / / Neuron CO2 N~hrstoffe Abfall Abb. 1-5. Versorgungsweg der Neurone. Blutcapillare links im Bild und Neuron rechts im Bild sind durch den ExtracelluUirraum voneinander getrennt. Die Pfeile bezeichnen die Diffusionsrichtung der Nahr- und Abfallstoffe in und aus dem Extracellularraum Der ExtracelluIarraum umgibt auch die diinnsten Verzweigungen der BlutgefaBe des Gehirns, die Capillaren, mit denen er ebenfalls im Stoffaustausch steht. Die Abb. 1-5 erIautert schematisch den Weg des Sauerstoffs (0 2 ) und der Nahrstoffe aus dem Blut in das Neuron, und den Weg des Kohlendioxyds (C0 2 ) und anderer Stoffwechselendprodukte aus dem Neuron in das Blut. Ein intravenos injiziertes Medi7 kament muB also zunachst die GefaBwand (Capillarmembran) und anschlieBend die Zellmembran iiberw-inden, urn in einem Neuron wirken zu konnen. Die Capillarwand der GehirngefaBe scheint dabei fiir viele Stoffe nicht durchlassig zu sein, weshalb man in der Pharmakologie von einer "Blut-Hirn-Schranke" fiir diese Stoffe spricht. Die Neurone des Zentralnervensystems, insbesondere die der hoheren Abschnitte unseres Gehirns (Hirnrinde) sind auf eine standige Sauerstoffversorgung angewiesen. Unterbrechung der Blutzufuhr (z. B. Herzstillstand, starke Strangulation des Halses) fiir 8-12 sec fiihrt bereits zu BewuBtlosigkeit, nach 8-12 min ist das Gehirn meist irreversibel geschadigt. Bei Atemstillstand sind diese Zeiten erheblich verlangert, da der Sauerstoffvorrat des zirkulierenden Blutes ausgeniitzt werden kann. F 1.6 Welche der folgenden Aussage(n) ist/sind richtig? -a) Gliazellen bilden das Stiitzgewebe des Nervensystems. b) Die Fliissigkeit im Extracellularraum und in den Ventrikeln des Gehirns bezeichnet man als Plasma. c) Vollkommener Sauerstoffmangel fiihrt erst nach einigen Stunden zu einer irreversiblen Schadigung des Gehirns. d) Der Extracellularraum umgibt alle Neurone, nicht aber die Gliazellen. e) Die Gliazellen sind mit Cerebrospinalfliissigkeit angefiillt. f) Keine der Aussagen a bis e ist richtig. 1.3 Die Nerven Gehirn und Riickenmark werden iiblicherweise als Z entralnervensystem zusammengefaBt. Alles iibrige nervose Gewebe wird als peripheres N ervensystem bezeichnet. Die N erven in der Peripherie des Organismus sind Biindel von Axonen, die durch Bindegewebshiillen eingescheidet werden. Ihr Aufbau, ihre Herkunft und ihre Klassifizierung nach morphologischen und funktionellen Gesichtspunkten sollen im folgenden erlautert werden. Die Nervenfasern. Ein einzelnes Axon mit seinen Hiillen bezeichnet man als Nervenfaser (Abb. 1-7). Die Ausdriicke "Axon" und "Nervenfaser" werden allerdings haufig auch synonym gebraucht. Ein N erv ist ein Biindel von mehr oder weniger vielen Nervenfasern. 1st der Nerv so dick, daB er leicht mit bloB em Auge erkannt werden kann, laufen in ihm 8 viele Dutzend bis einige hundert Nervenfasern. In noch dickeren Nerven sind es viele tausende bis zehntausende. Etwa die Hiilfte aller Nervenfasern umgibt sich nach dem Ursprung aus dem Soma des Neurons mit einer Hiille aus einem Lipoid-Protein (Fett-EiweiB)-Gemisch, dem Myelin. 1m Querschnitt iihnelt eine solche Nervenfaser einem Draht, der von einer dicken lsolierung umgeben ist. Derart "isolierte" Nervenfasern werden als myelinisierte oder markhaltige N ervenfasern bezeichnet. ----+-~-... Ranvier'scher SchnUrring £..---... Abb. 1-6. Schematische 3dimensionale Darstellung eines Neurons mit einer markhaltigen Nervenfaser.Die Dendriten sind abgeschnitten. Die Markscheide aus Myelin ist in regelmaBigen Abstanden von Ranvierschen Schniirringen unterbrochen Anders als bei einem isolierten Draht umgibt die Markscheide die Nervenfaser nicht kontinuierlich, sondern ist, wie in . Abb. 1-6 zu sehen, in regelmaBigen Abstanden unterbrochen. U nter dem Lichtmikroskop erscheinen diese myelinfreien Stellen als Einschniirungen. Sie werden deswegen nach ihrem Entdecker als Ranviersche Schniirringe bezeichnet. Myelinisierte Nervenfasern haben etwa alle 1 bis 2 mm einen Ranvierschen Schniirring. Nervenfasern ohne Markscheide nennt man marklose, oder, da sie nicht von Myelin umgeben sind, unmyelinisierte Nervenfasern. Beide Typen von Nervenfasern, die markhaltigen und marklosen, sind von speziellen Gliazellen eingescheidet, die nach ihrem Entdecker Schwann-Zellen genannt werden. Das Axon ist also erstens Abb. 1-7. Querschnitte durch markhaltige und marklose Nervenfasern. Die Benennung der Hiillen (Myelin, Schwann-Zellen) ist in der Abbildung angegeben 9 von Myelin (falls vorhanden) und zweitens stets von Schwann-Zellen umhiillt. Querschnitte durch eine markhaltige und drei marklose Nervenfasern und ihre zugehorigen Schwann-Zellen zeigt Abb. 1-7. Die Schwann-Zellen umgeben die Nervenfasern in ihrer ganzen Lange, wobei jede Zelle etwa den Platz zwischen zwei Schniirringen einnimmt. Wie in Abb. 1-7 zu sehen, hiillt bei den marklosen Nervenfasern eine Schwann-Zelle oft mehrere Axone ein. Physiologisch gesehen unterscheiden sich die markhaltigen von den marklosen N ervenfasern vor allem durch ihre unterschiedlichen Leitungsgeschwindigkeiten nervoser Erregungen. Aus Griinden, die spater ausfiihrlich geschildert werden, ist diese bei myelinisierten Nervenfasern hoch, bei unmyelinisierten gering. 1nnerhalb jeder Gruppe hangt die Leitungsgeschwindigkeit auBerdem yom Durchmesser der Nervenfasern ab: je groBer der Durchmesser, desto hoher die Geschwindigkeit nervoser Erregung. Diese Zusammenhange bringen es mit sich, daB die verschiedenen, von anatomischer und physiologischer Seite vorgeschlagenen Klassifizierungen der Nervenfasern sich mehr oder weniger gut iiberlappen. 1m Augenblick geniigt es fiir Sie, sich zu merken, daB markhaltige Fasern oft als A-Fasem, marklose Fasern als C-Fasem bezeichnet werden. Daneben zeigt die Tabelle 1-1 die gebrauchlichste Einteilung nach dem Durchmesser, wobei bei den A-Fasern die am haufigsten vorkommenen Durchmesser etwa bei den Mittelwerten der angegebenen Bereiche liegen, als etwa bei 14 /lm, 7,5 /lm und 3 /lm. Tabelle 1-1. Einteilung der N ervenfasern Fasergruppe Durchmesser in flm markhaltige Fasern (Durchmesser = Axon + Markscheide) ~I marldose Fa~_ern (Axondurchmesser) IV III } A-Fasern C-Fasern 18-10 10- 5 5- 1 1 - 0,1 Funktionelle Klassifikation der Nervenfasern. AuBer der Leitungsgeschwindigkeit und clem Durchmesser werden eine Reihe anderer Funktionsmerkmale der Nervenfasern dazu benutzt, diese eindeutig zu kennzeichnen. Die wichtigsten Begriffe sind in Abb. 1-8 zusammengefaBt. Sie werden jetzt erlautert. Die Nervenfasern der Receptoren nennt man afferente N ervenfasem oder abgekiirzt AfJerenzen (links in Abb. 10