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Konfrontationstherapie bei psychischen Störungen
Neudeck_Titelei.p65
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21.10.2004, 09:16
Konfrontationstherapie
bei psychischen
Störungen
Theorie und Praxis
herausgegeben von
Peter Neudeck und
Hans-Ulrich Wittchen
Hogrefe
Göttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag
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Dr. Peter Neudeck, geb. 1962. Studium der Psychologie in Mainz und Berlin. 1998 Promotion.
Ausbildung als Verhaltenstherapeut und Tätigkeit am Christoph-Dornier-Centrum für Klinische Psychologie in Münster. Danach Bezugstherapeut in der salus klinik Lindow. Wissenschaftlicher Angestellter am Universitätsklinikum Aachen. Seit 2001 in eigener Praxis tätig.
Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, geb. 1951. Studium der Psychologie in Wien. 1975 Promotion.
1984 Habilitation. Seit 1990 Leiter der Abteilung Klinische Psychologie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München sowie seit 2000 Direktor des Instituts für Klinische Psychologie
und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden.
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Göttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag
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Umschlagabbildung: Jochen Dauster, Bensheim
Satz: Beate Hautsch, Göttingen
Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, 87437 Kempten/Allgäu
Printed in Germany
Auf säurefreiem Papier gedruckt
ISBN 3-8017-1735-6
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Inhaltsverzeichnis
Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren – ein Verstoß gegen die
Regeln der Kunst!
Peter Neudeck und Hans-Ulrich Wittchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Phobien
„Bedrohliche Hasen“ – Konfrontationstherapie bei Panikstörungen
Peter Neudeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Konfrontationsbehandlung bei Sozialer Phobie
Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Konfrontationsbehandlung bei Spezifischen Phobien
Eni S. Becker und Jürgen Hoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Sorgenexposition bei Generalisierter Angststörung
Jürgen Hoyer und Eni S. Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
II. Zwänge
Was kommt nach dem Ritual?
Umgang mit Emotionen während und nach der Exposition
Hans Reinecker und Angelika Lakatos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Exposition mit Reaktionsmanagement bei Zwangserkrankungen
Susanne Hedlund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Verhaltenstherapie bei Zwangsgedanken
Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
III. Abhängigkeitserkrankungen
Behandlung von Alkoholabhängigkeit:
„Ich habe kein Verlangen“ – Cue reactivity bei Alkoholabhängigen
Johannes Lindenmeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
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Inhaltsverzeichnis
IV. Essstörungen
Konfrontation mit dem eigenen Körperbild
Brunna Tuschen-Caffier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Reizexposition mit Reaktionsverhinderung bei der Binge-Eating-Disorder
(Esssucht)
Anita Jansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Elemente der Konfrontationsbehandlung im Ernährungsmanagement und
beim Umgang mit Heißhungerattacken bei Frauen mit Bulimia nervosa
Tanja Legenbauer und Claus Vögele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Konfrontationsverfahren in der stationären Therapie bei Anorexia und
Bulimia nervosa
Reimund Böse, Sylvia Beisel und Edgar Geissner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
V. Posttraumatische Belastungsstörung
Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen nach
Typ-I-Traumen
Andreas Maercker, Tanja Zöllner und Anne Boos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Konfrontationsbehandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung
nach Typ-II-Traumatisierung
Anne Boos und Mervin R. Smucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren –
ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst!
Es gehört zu den großen Widersprüchlichkeiten unseres Fachgebiets, dass die Reizkonfrontations- oder Expositionstherapie als seit über zwei Jahrzehnten theoretisch gut begründete und klinisch überzeugendste psychotherapeutische Methode in der Forschung
und Versorgungspraxis häufig keinen zentralen Stellenwert einnimmt. Die „kognitive
Wende“ mit ihrer Betonung kognitiver Techniken und Verfahren scheint mancherorts zu
einer unserer Meinung nach unglücklichen Reduktion des klinisch-psychologischen Interventionsspektrums geführt zu haben, so dass es oft für Patienten schwierig oder gar
unmöglich ist, „lege artis“ mit Expositionsverfahren behandelt zu werden. Schon seit
vielen Jahren beobachten wir in versorgungsepidemiologischen Untersuchungen, dass
es selbst in gut versorgten Regionen bei Patienten mit Angststörungen oftmals nicht
mehr gelingt, entsprechende Überweisungen erfolgreich zu realisieren. Dies ist überraschend, denn in ihrer Analyse „Psychotherapie im Wandel“ stellten Grawe, Donati und
Bernauer (1994) fest, dass die Verbindung von kognitiver Verhaltenstherapie und Reizkonfrontation bei Angst- und Panikstörungen zu den mit Abstand besten Ergebnissen
führt. Zugleich wird nachdrücklich gefordert, Reizkonfrontationsverfahren in der Praxis
einzusetzen, denn: „Therapeuten, die dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht
tun, legen ihren Patienten völlig unnötig ein verlängertes oder nie endendes Leiden auf
und verstoßen, das kann man heute so sagen, gegen die Regeln der Kunst.“ (S. 344).
Die hier bereits Anfang der 90er Jahre angedeutete Vernachlässigung der Expositionsverfahren hat sich unserer Meinung nach leider mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes und dem Ausbau der kassenrechtlichen Versorgung weiter verstärkt. In einigen Lehrplänen psychotherapeutischer Ausbildungsinstitute finden sich zwischenzeitlich nicht
einmal mehr Inhaltsmodule zu diesem genuin klinisch-psychologischen Standardverfahren. Wir haben schon an anderer Stelle darauf hingewiesen (Wittchen, 2000), dass offensichtlich viele Psychotherapeuten die oft aufwändigere zeitliche Planung und Durchführung von Expositionsverfahren als störend im geregelten 50-Minuten-Rhythmus ihrer
psychotherapeutischen Routinepraxis empfinden und gelegentlich als vorgeschobene
Rechtfertigung vermutete Abrechnungsschwierigkeiten angeben. Andererseits sollte auch
hervorgehoben werden, dass ungeachtet dieser bedauerlichen durchaus flächendeckenden Vernachlässigung von Expositionsverfahren einige Einrichtungen und Kollegen „die
Fahne hochhalten“ und den Nachweis liefern, dass auch in der psychotherapeutischen
Routinepraxis Konfrontationsverfahren „lege artis“ und mit Erfolg durchgeführt werden
können (Christoph Dornier Stiftung, Verhaltenstherapie Ambulanz am UKE).
Zu vermuten ist aber durchaus auch ein Imageproblem. Verfahren der Reizkonfrontation
sind in der Öffentlichkeit zumeist aus dem Bereich der Angstbehandlung bekannt geworden. Die Medien berichteten in den letzten Jahren zunehmend über spektakuläre
Behandlungen von Höhen- oder Flugphobien, bei denen die Konfrontation mit den Angst
auslösenden Reizen oftmals in effekthascherischer Weise gezeigt wurde. Der Reizkonfrontation haftet so noch immer der Ruf an, ein gefährliches, teures und zeitaufwändiges
Verfahren zu sein. Von Entmündigung der Patienten ist die Rede, von Überrumplung
und Traumatisierung durch die Therapie. In der therapeutischen Praxis sind die Verfahren weitaus unspektakulärer und bei professioneller Durchführung selbstverständlich
ungefährlich und nicht zuletzt sehr erfolgreich.
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Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen
Zeit zum Umdenken
Vor diesem kritischen Hintergrund haben wir uns entschlossen, das vorliegende praxistaugliche Buch zur Expositions- und Konfrontationstherapie herauszugeben. Allgemeines Ziel ist, Klinische Psychologen, Ausbildungskandidaten und Praktiker für Expositionsverfahren zu sensibilisieren und sie praxisnah zur Durchführung bei einem weiten
Störungsspektrum zu motivieren. Dabei versuchen wir neben den bewährten Standardverfahren auch die störungsspezifischen Modifikationen, Pragmatiken der individualisierten Optimierung sowie die Kombination mit kognitiven Techniken ausführlich darzustellen. Das Buch soll einen Überblick darüber geben, wie Reizkonfrontationsverfahren
aktuell anzuwenden sind und wie sie praktisch in eine kognitiv-verhaltenstherapeutische
Gesamtstrategie eingebettet werden können. Über die didaktische Struktur eines „short
manuals“ hinaus haben wir versucht, häufige Schwierigkeiten und Probleme darzustellen, die sich vor, während und nach dem Einsatz von Reizkonfrontationen ergeben können. Daneben enthält jeder Beitrag eine Falldarstellung, um die beschriebene Methode
transparenter werden zu lassen.
Ein kleiner historischer Abriss
Historisch haben sich Konfrontationsmethoden (auch Expositionen bzw. Reizexposition
mit Reaktionsverhinderung genannt) aus der Implosionstherapie von Stampfl und Levis
(1967) entwickelt, die aus der psychodynamischen Theorie von Freud und Pavlovs Konditionierungstheorie hervorging. Das Implosionsmodell sagt voraus, dass Ängste als konditionierte emotionale Reaktionen stufenweise gelöscht werden, wenn die angsterzeugende Stimulussituation ohne Verstärkung (ohne das Auftreten des unkonditionierten
Stimulus, US) in der Vorstellung (in sensu) oder in der Realität (in vivo) dargeboten
wird. Stampfl und Levis vertraten die Auffassung, dass die Löschung der Angst bei großer Ähnlichkeit der dargebotenen Reize mit der ursprünglichen Konditionierungssituation am wahrscheinlichsten ist. Freuds psychodynamische Theorie geht davon aus, dass
angstauslösende Reize psychodynamisch-relevante Traumata der frühen Kindheit darstellen und der Klient die Angstsituation nochmals durchleben soll (agieren/Karthasis),
ohne dass die befürchteten Konsequenzen eintreten.
Eine Therapiemethode, die in den fünfziger Jahren von J. Wolpe entwickelt wurde und
eine Variante der Reizkonfrontationsverfahren darstellt, ist die Systematische Desensibilisierung (Wolpe, 1958). Diese geht auf die Arbeiten zur Gegenkonditionierung von
M.C. Jones (1924) zurück. Grundgedanke dieser Arbeiten ist, dass Angstzustände, die
als Reaktion auf bestimmte Stimuli auftreten, als klassisch konditioniert anzusehen sind.
Bei der Gegenkonditionierung werden diese Stimuli mit einem angenehmen Reiz konditioniert, so dass der alte Konditionierungsvorgang überlagert wird. Bei der Systematischen Desensibilisierung werden Patienten nach Erstellung einer Angsthierarchie
schrittweise, unter Anwendung der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson, desensibilisiert. Die Reizkonfrontation erfolgt dabei nicht in vivo, sondern nur in der Vorstellung der Patienten. Der Nachteil der Systematischen Desensibilisierung gegenüber
graduierter und massierter Reizkonfrontation in vivo ist unter anderem die lange Einübungszeit, welche die Patienten zum Erlernen der Technik benötigen.
Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren
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Der gemeinsame Ansatzpunkt der Konfrontationsverfahren ist das gelernte Vermeidungsverhalten, das während der Übungen unterbunden werden soll. Die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer sieht die Aufrechterhaltung von Angststörungen in der kurzfristigen
negativen Verstärkung, die dem Vermeidungsverhalten folgt (Mowrer, 1960). Da während der Konfrontation keine unkonditionierten Stimuli die Angst verstärken und das
Vermeidungsverhalten verhindert wird, kommt es zu „forcierter Löschung.“ Mit dem
Extinktionsmodell allein lässt sich die Wirkweise der Konfrontationsverfahren jedoch
nicht erklären. Die physiologischen und psychologischen Prozesse des Angstabbaus
während der Reizkonfrontation wurden mit Konzepten der Habituation (Gewöhnung)
erklärt (Lader & Mathews, 1968; Birbaumer, 1977). Unter Habituation wird dabei das
Absinken der Reaktionswahrscheinlichkeit zentralnervöser und peripherer Strukturen bei
der wiederholter Reizdarbietung verstanden (Birbaumer, 1977).
Neuere kognitive Modelle gehen von Dissonanz zwischen Realität und Erwartungen
(Marks et al., 1971) oder Veränderungen der defensiven Angstverarbeitung hin zu einer
realistischen Verarbeitung (Bartling, Fiegenbaum, Fliegel & Krause, 1980) aus. Foa und
Kozak (1986) nehmen an, dass durch die Reizkonfrontation semantische Netzwerke verändert werden und neue angemessenere kognitive Modelle der Umwelt entstehen. Neuere Ansätze erklären die Wirkweise sowohl durch eine Veränderung genereller psychologischer Vulnerabilitäten (Ängstlichkeit, subjektives Gefühl der Unkontrollierbarkeit)
als auch spezifischer psychologische Vulnerabilitäten (angstspezifische Informationsverarbeitung, Veränderung von Vermeidungsstrategien; Barlow, 2002). Ein weiterer
Faktor scheint die Modifikation von Kognitionen weg von einer Lageorientierung hin zu
einer Handlungsorientierung zu sein (Schulte, Hartung & Wilke, 1997).
Varianten und Vorgehen
Grundsätzlich lassen sich graduierte von massierten Varianten der Reizkonfrontationsverfahren unterscheiden. Beim graduierten Vorgehen werden die Patienten zunächst mit
den am wenigsten angstauslösenden bzw. belastenden Reizen konfrontiert, um dann auf
den in einer zuvor erstellten Angsthierarchie als gefährlicher bewerteten Reiz überzugehen. Bei massierten Verfahren wird dagegen mit den am stärksten Angst auslösenden
Reizen begonnen. Diese Verfahren sind auch unter den Begriffen Flooding oder Reizüberflutung bekannt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Art der Reizdarbietung. Bei In-sensu-Verfahren werden die Patienten in der Vorstellung mit den Angst
auslösenden Reizen konfrontiert. Bei der In-vivo-Darbietung setzen sich die Patienten in
der Realität, möglichst mit einem direkten Bezug zu ihrem Alltag, den Reizen aus.
Konfrontationsart
Graduiert
Massiert
in sensu
Systematische Desensibilisierung
Implosion
in vivo
Habituationstraining
Flooding
Weitere Varianten sind die Konfrontation im Selbstmanagement, bei der sich die Patienten zwischen den Therapiesitzungen selbstständig mit den Angst auslösenden Reizen
konfrontieren und die Durchführung der Reizkonfrontation in Gruppen. Den gemeinsamen Nenner aller Varianten beschreibt Hand (2000): Expositionen sind „Übungen zur
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Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen
Aufhebung von Meídungsverhalten mit Abbau der negativen kognitiv-emotionalen Reaktion auf bestimmte Situationen, Objekte, Problemfelder oder Personen.“ (S. 164).
Wie wird ein Reizkonfrontationsverfahren fachgerecht vorbereitet, durchgeführt und
evaluiert? Angelehnt an Bartling et al. (1980) lassen sich vier Phasen des therapeutischen Vorgehens unterscheiden:
1. Diagnostische Phase
Erstgespräch, Diagnostische Interviews, Verhaltens- bzw. Plananalyse, Auswertungsgespräch.
2. Kognitive Vorbereitung
Zunächst werden die Patienten über die Art (Diagnose) und die Natur ihrer Störung
aufgeklärt (Psychoedukation). Es folgt dann ein individuelles Modell der Entstehung
und Aufrechterhaltung der Störung. Die Vermeidungsstrategien der Patienten werden an Hand von Beispielen aus dem Alltag der Patienten herausgearbeitet und problematisiert. Am Ende der kognitiven Vorbereitung wird das therapeutische Rational
der Reizkonfrontationsbehandlung abgeleitet. Ein Therapieplan wird erstellt und
Therapieverträge werden besprochen und ggf. schriftlich fixiert.
Besonders wichtig ist ein patientengerechtes Störungsmodell. Dieses Modell sollte
die folgenden Eigenschaften haben (Fiegenbaum & Tuschen, 2000):
– Kompatibilität mit dem Konstruktsystem der Patienten (z. B. Krankheitsüberzeugung oder weltanschauliche Eigenheiten),
– Nichtfalsifizierbarkeit (das Modell soll nicht durch Einzelerfahrungen der Patienten widerlegt werden können),
– Perspektivität (Betonung der Rolle der aufrechterhaltenden Bedingungen, Vernachlässigung der Entstehungsbedingungen),
– Plausibilität (die Patienten werden in die Erarbeitung des Modells aktiv miteinbezogen, sie entwickeln es sozusagen selbst).
3. Intensivphase der Reizkonfrontation
Während dieser Phase erfolgt die direkte und länger andauernde (hinreichend lange)
Konfrontation mit den Angst auslösenden Reizen bei gleichzeitiger Unterbindung
des Vermeidungsverhaltens.
4. Selbstkontrollphase
Während dieser Phase üben die Patienten selbstständig weiter. Die Erfolge und Misserfolge werden analysiert und bewertet. Es erfolgt eine Stabilisierung der neu gelernten Verhaltensweisen, wobei der therapeutische Einfluss immer mehr reduziert wird.
Störungsspezifische Verfahren und Schwerpunkte der
einzelnen Beiträge
Längst ist die Reizkonfrontation nicht mehr bloß auf die Behandlung von Angststörungen beschränkt. Konfrontative Verfahren werden bei Zwangsstörungen, Essstörungen,
Posttraumatischen Belastungsstörungen und Abhängigkeitsstörungen eingesetzt. Die
verschiedenen Verfahren werden in diesem Buch von Autoren dargestellt, die sich seit
Jahren mit der Theorie und Praxis von Reizkonfrontationsverfahren auseinandersetzen
und diese weiterentwickeln. Da sich die Beiträge nicht nur an erfahrene Kollegen und
Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren
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Kolleginnen wenden, sondern auch von Ausbildungskandidaten und Anfängern mit Gewinn gelesen werden sollen, galt unser besonderes Interesse den Hürden und Fallstricken, die im therapeutischen Prozess auftreten können. Hand (2000) warnt davor, die
Reizkonfrontationsmethoden gerade wegen ihrer scheinbaren Einfachheit als „Kochbuch“
zu missbrauchen und sie reflexartig anzuwenden. Ohne eine Einbindung in ein kognitivverhaltenstherapeutisches Konzept sind diese Methoden tatsächlich bloßes Stückwerk.
Eine mangelhafte Vorbereitung der Patienten oder ein fehlerhaftes Durchführen der
Konfrontation führt zu Problemen, die u. U. die Gesamtstrategie der Therapie in Frage
stellen. In der Supervision sind so auch häufig die individuellen Herleitungen des therapeutischen Rationals oder das Auftreten von Reaktanz/Widerstand auf Seiten der Patienten Gegenstand von Fragen. Bei der Konzipierung unseres Buchs haben wir solche Fragen zur Theorie und Praxis der einzelnen Verfahren berücksichtigt. Neben den
Fertigkeiten und Techniken, die für das erfolgreiche Anwenden der beschriebenen Verfahren notwendig sind, werden konkrete Handlungsanweisungen und Lösungsangebote
beschrieben, die einen flexiblen Umgang mit dem jeweiligen Verfahren gestatten. Die
Aufteilung der Beiträge ist dabei thematisch nach den Störungsbereichen geordnet.
Bei dem Spektrum an dargestellten Verfahren für die unterschiedlichen Störungsbereiche ergibt sich für jeden Beitrag ein spezifischer Schwerpunkt. Der Aufbau der Kapitel
gliedert sich folgendermaßen: Nach einer Einleitung, die den Stand der Forschung zur
Ätiologie und Diagnostik berücksichtigt, folgt ein theoretischer Teil, in dem die Notwendigkeit eines konfrontativen Vorgehens begründet wird. Es folgt dann die Darstellung des Vorgehens mit Berücksichtigung der Schwierigkeiten und die Darstellung eines
Falles, die das praktische Vorgehen transparent macht. Schließlich werden Varianten der
Durchführung, Kontraindikationen und die Wirksamkeit der Methode dargestellt.
Die Autoren befassen sich im Einzelnen mit folgenden Themenschwerpunkten:
In seinem Beitrag zur „cue reactivity“ bei Alkoholabhängigkeit beschreibt Johannes Lindenmeyer die Durchführung von Reizkonfrontationsverfahren („cue exposure“) bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit. Er legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die
Motivationsarbeit und auf das Auftreten von Verlangen („craving“) während einer solchen Konfrontation. Kein oder nur gering ausgeprägtes Verlangen der Betroffenen gilt
z. T. noch immer als Begründung von einer „cue exposure“ abzusehen. Lindenmeyer
zeigt, dass gerade auch Betroffene ohne subjektives Verlangen von Expositionsübungen
profitieren können, indem ihre Bewältigungskompetenzen in persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen verbessert werden.
Anita Jansen stellt in ihrem Beitrag die Methode der Reizkonfrontation bei Patientinnen
mit „Binge Eating Disorder“ dar. Heißhungeranfälle sind das Leitsymptom der Bulimia
nervosa, treten aber auch bei Übergewicht und Anorexia nervosa auf. Jansen beschreibt
die Reizreagibilität als einen Mechanismus, der möglicherweise für das Auftreten von
Heißhungeranfällen verantwortlich ist. Sie stellt dann die Technik der „cue exposure“
als ein massiertes Reizkonfrontationsverfahren in vivo dar, das zu einem Erlöschen der
Reizreagibilität führt. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Darstellung der Methode in
alltagsnaher Umgebung der Patientinnen gelegt. Ein weiterer Fokus liegt im Aufzeigen
der aktiven Gestaltung der Übungen durch die Therapeuten.
Möglichkeiten der Reizkonfrontation bei der Behandlung von Körperbildstörungen beschreibt Brunna Tuschen-Caffier. Körperbildstörungen sind zentrale Merkmale sowohl
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Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen
von Bulimia nervosa als auch von Anorexia nervosa. Neben der Darstellung von Techniken zur Konfrontation mit dem eigenen Gewicht, den Körperempfindungen und -ausdruck, liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf der Beschreibung der Figurexposition mit
Hilfe von Spiegelbild und Videoaufzeichnungen. Dabei zeigt Tuschen-Caffier wie diese
konfrontative Methode mittels kognitiver Techniken für die Gesamtstrategie der Therapie nutzbar gemacht werden kann.
Ein integratives Modell zur Behandlung der Bulimia nervosa stellen Tanja Legenbauer
und Claus Vögele in ihrem Beitrag vor. Vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Diagnostik und individuellen Verhaltensanalyse werden in der Therapie vor allem folgende
Punkte mit Methoden der Reizkonfrontation bearbeitet: Auslösesituationen für Essanfälle, aversive Gefühle und die Etablierung alternativer Verhaltensweisen. Legenbauer
und Vögele beschreiben die verschiedenen Ziele und Vorgehen von Konfrontationsverfahren bei der Etablierung eines neuen Essverhaltens.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Einsatz konfrontativer Techniken bei der Behandlung von Patientinnen mit Bulimia nervosa und Anorexia nervosa beschreiben Reimund Böse, Sylvia Beisel und Edgar Geissner. Dabei liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf den Besonderheiten der Behandlung im Rahmen einer stationären Einrichtung.
Die Autoren beschreiben den Einsatz der gebräuchlichen Reizkonfrontationsmethoden
unter besonderer Berücksichtigung der ätiologischen Faktoren beider Störungen. Darüber
hinaus wird den Möglichkeiten und Besonderheiten von Konfrontationsmethoden in der
Gruppentherapie besondere Beachtung geschenkt.
Susanne Hedlund beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit konfrontativen Techniken bei der
Behandlung von Zwängen. Sie beschreibt eine Variante der Exposition mit Reaktionsverhinderung, die sowohl im ambulanten als auch stationären Setting (Gruppe) durchgeführt werden kann. Das beschriebene graduierte Vorgehen betont die Autonomie und
Selbstständigkeit der Patienten und erweist sich in der Praxis als erfolgreich. Bei der
Darstellung der Methode legt die Autorin einen besonderen Wert auf die genaue Vorbereitung der Patienten und die Verbesserung von Selbstbeobachtungsfähigkeiten.
Patienten mit Zwängen scheinen körperliche Erregung und negative Emotionen vermeiden zu wollen. Während und nach Konfrontationsübungen kommt es jedoch häufig zu
emotionalen Problemen. Es entstehen Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit oder starke
schwer zu beherrschende Aggressionen brechen durch. Vor dem Hintergrund eines Konzepts zur Bedeutung von Emotionen bei der Konfrontation mit aversiven Reizen beschreiben Hans Reinecker und Angelika Lakatos einen angemessenen Umgang mit solchen therapeutischen Situationen.
Ein Modell zur Behandlung von Zwangsgedanken, das über die Reizkonfrontation hinausgeht, beschreiben Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann. Das Modell der kumulativen Subjektkonstituierung beschreibt einen Stufenprozess, der von einer Stärkung des
Ich-Erlebens über eine verbesserte Verhaltenssteuerung und Ich-Integrität sowie einer
besseren Bewältigung kritischer Situationen zu einer insgesamt besseren Lebenskontrolle führt. Für jede der Stufen gibt es charakteristische Übungen, die von den Autoren sehr
anschaulich beschrieben werden. Insgesamt erlernen die Patienten mit dieser Methode
einen besseren Umgang mit den als quälend empfundenen Zwangsgedanken.
Bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen unterscheidet man das
Vorgehen bei Typ I- von Typ II-Traumatisierungen. Traumatisierungen des Typs I sind
Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren
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einzelne, unerwartete traumatische Ereignisse von kurzer Dauer (Vergewaltigung, Überfall). Typ II-Traumatisierungen sind definiert als Serie von miteinander verknüpften Einzel-Ereignissen oder als langandauerndes traumatisches Ereignis (Misshandlungen in
der Kindheit, Geiselhaft). Die sich aus den verschiedenen Traumen ergebenden Konsequenzen erfordern spezifische Vorgehensweisen bei der Behandlung dieser Störung. Anne
Boos und Mevin R. Smucker beschreiben den Einsatz von Reizkonfrontationsverfahren
beim Typ II. Aufbauend auf dem kognitiv-behavioralen Modell von Ehlers und Clark
legen die Autoren den Schwerpunkt ihres Beitrags auf die Darstellung der Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT), die zum einen Habituation an Angst und
zum anderen eine Neubewertung maladaptiver Schemata ermöglicht. Auch der Beitrag
von Andreas Maercker, Tanja Zöllner und Anne Boos zur Therapie von Typ I-Traumata
geht auf kognitive Prozesse und Veränderungen während der Therapie ein. Dabei schlagen Maercker und Kollegen – vor dem Hintergrund eines kombinierten Modells aus dem
Furchtstrukturmodell von Foa und kognitiven Modellen – eine Kombination aus Exposition in sensu und kognitiver Umstrukturierung bei der Behandlung dieser Störung vor.
Die Beiträge von Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen, Jürgen Hoyer und Eni S. Becker, Eni S. Becker und Jürgen Hoyer sowie von Peter Neudeck beschäftigen sich mit
dem klassischen Anwendungsgebiet von Reizkonfrontationsverfahren, den Angststörungen.
Der Beitrag von Neudeck thematisiert die Behandlung von Panikstörungen. Aufbauend
auf dem Behandlungsprogramm von Margraf und Schneider liegt der Schwerpunkt des
Beitrags auf der Vorbereitung der Patienten auf die Expositionsübungen. Im Mittelpunkt
steht dabei die patientengerechte Vermittlung eines Störungs- und Veränderungsmodells.
Ein weiterer Fokus liegt auf Schwierigkeiten, die sich bei der Ableitung des therapeutischen Rationals und der Durchführung der Expositionsübungen ergeben können.
Galt die Generalisierte Angststörung lange Zeit wegen des scheinbar nicht vorhandenen
Vermeidungsverhaltens der Patienten mit Konfrontationsmethoden als nicht behandelbar, stellen Hoyer und Becker in ihrem Beitrag ein erfolgversprechendes konfrontatives
Vorgehen zur Behandlung dieser Störung dar. Die Autoren zeigen zunächst die impliziten kognitiven Vermeidungsstrategien dieser Patientengruppe auf. Das dann vorgestellte
Vorgehen bei der Sorgenexposition, während der sich die Betroffenen mit ihren Sorgenbereichen und Befürchtungen konfrontieren, stellt eine neue Methode dar, die in der
Praxis erfolgreich eingesetzt wird.
Die verschiedenen konfrontativen Verfahren zur Behandlung von Spezifischen Phobien
beschreiben Becker und Hoyer in ihrem Beitrag. Gilt die massierte Konfrontation in vivo
aktuell hier immer noch als Methode der Wahl, ist es auch möglich, erfolgreich in sensu
zu konfrontieren oder die Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu nutzen und die
Patienten mit computergenerierten virtuellen Reizen zu konfrontieren. Sowohl Gruppen- als auch Einzelsettings werden beschrieben. Becker und Hoyer zeigen, dass auch
Kurzprogramme, die sich auf sieben bis zehn Therapiesitzungen beschränken, erfolgreich sein können.
Fehm und Wittchen stellen in ihrem Beitrag Möglichkeiten zur Behandlung der Sozialen
Phobie vor. Die Autoren beschreiben ein massiertes Vorgehen in vivo. Sie betonen
ebenfalls die große Bedeutung der Vorbereitung der Patienten und geben Hinweise, die
bei der Nachbesprechung der Übungen zu beachten sind. Kognitive Ansätze werden dis-
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Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen
kutiert und die Methode der „Shame-Attack“-Verfahren wird gerade wegen ihrer Kontroversität ausführlich dargestellt und problematisiert.
Berlin und Dresden, April 2004
Peter Neudeck und Hans-Ulrich Wittchen
Literatur
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I. Phobien
„Bedrohliche Hasen“ –
Konfrontationstherapie bei Panikstörungen
Peter Neudeck
Panikanfälle können im Kontext aller Angsterkrankungen, bei Zwangserkrankungen, aber
auch bei Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten (Barlow et
al., 1985; Reed & Wittchen, 1998; Goodwin & Hamilton, 2001; Goodwin et al., in press).
Im Rahmen dieses Beitrags wird der Fokus auf die Behandlung von Panikanfällen bei
der Diagnose Panikstörung ohne Agoraphobie (ICD-10: F41.0) gelegt. Es ist prinzipiell
möglich, sofern keine Kontraindikation auf Grund der Ausschlusskriterien für Konfrontationsbehandlung vorliegt (vgl. Hand, 2001), die beschriebene Vorgehensweise auch in
den Rahmen einer Therapie, z. B. von Panikstörung mit Agoraphobie, sozialen Ängsten,
generalisiertem Angstsyndrom oder spezifischen Ängsten, einfließen zu lassen. Lediglich
der situationale Kontext wird für jede Erkrankung verschieden sein.
1 Panikanfälle und Panikstörung
Ein Panikanfall ist nach DSM-IV (APA, 1998) ein abgrenzbarer Zustand intensiver Angst
oder Unbehagens, der einhergeht mit einer Reihe körperlicher Symptome und typischen
Kognitionen. Die Angst tritt plötzlich und („wie aus heiterem Himmel“) scheinbar ohne
Ursache in objektiv ungefährlichen Situationen auf und wird von den Betroffenen subjektiv oft als lebensbedrohlich erlebt. Ein Panikanfall beginnt abrupt, d.h. nicht vorhersagbar, erreicht innerhalb von einigen Minuten ein Maximum und dauert mindestens
einige Minuten an (durchschnittlich ca. 30 Minuten, mit einer großen Streubreite) (Taylor et al., 1986; Margraf & Schneider, 1998).
Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst) bezeichnet eine Angststörung, die durch
situationsunabhängige Panikanfälle, Erwartungsangst und zu einem hohen Prozentsatz
auch durch Vermeidungsverhalten charakterisiert ist. Bis zur Einführung des Klassifikationssystems DSM-III wurde die Panikstörung gemeinsam mit der Generalisierten
Angststörung (GAS) häufig auch als „Angstneurose“ bezeichnet. In den heute aktuellen
Diagnosesystemen DSM-IV und ICD-10 bilden diese Erkrankungen sowie die Posttraumatische Belastungsstörung eine Gruppe der Angsterkrankungen; Spezifische, Soziale
Angst und Agoraphobie bilden die andere Gruppe der (phobischen) Angsterkrankungen.
Diese Einteilung wurde nicht auf ätiologischen Grundlagen, sondern aus epidemiologischen, neurobiologischen und therapeutischen Gründen so vorgenommen (Hand & Wittchen, 1986, 1988).
Anders als bei den phobischen Angststörungen werden bei der Panikstörung nicht bestimmte Orte oder Situationen gemieden; es handelt sich vielmehr um eine Vermeidung
hauptsächlich interner körperlicher Reize, die einen Panikanfall auslösen könnten. Dies
ist hinsichtlich der Durchführung von Reizkonfrontationen von erheblicher Bedeutung.
Im DSM-IV wird dieser Tatsache Rechnung getragen, indem die Kriterien eines Panikanfalls den spezifischen Angststörungen vorangestellt sind. Unerwartete (nicht ausge-
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Peter Neudeck
löste) sowie situationsbegünstigte Panikanfälle (das Aufreten von Panikanfällen ist in
bestimmten Situationen wahrscheinlicher) werden von situationsgebundenen Panikanfällen abgegrenzt. Unerwartete Panikattacken sind notwendig für die Diagnose einer
Panikstörung, situationsgebundene Panikattacken sind charaktersitisch für andere Angststörungen (z. B. Spezifische und Soziale Phobien).
Die Lebenszeitprävalenz von klinisch diagnostizierten Panikstörungen liegt über verschiedene Kulturen hinweg zwischen 0,4 % (Taiwan) und 3,5 % (USA, National Comorbidity Survey) (Weissman et al., 1997). Für den deutschen Raum fanden Reed und Wittchen (1998) in einer Bevölkerungsstichprobe von insgesamt 3021 14- bis 24-jährigen
Probanden eine Prävalenzrate von 1,6 %. Für die deutsche Gesamtbevölkerung im Alter
von 18 bis 65 Jahren ergab sich im Bundesgesundheitssurvey für Frauen eine Lebenszeitprävalenz von 5,5 % und für Männer von 2,2 % (Jacobi et al., 2004).
Panikstörungen können bereits in der Adoleszenz auftreten, die Hochrisikozeit für Panikstörungen liegt aber im frühen Erwachsenenalter. Dabei ergab sich im National Comorbidity Survey eine bimodale Ersterkrankungskurve mit einer ersten Hochrisikoperiode zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr und einem zweiten Gipfel zwischen dem 45.
und 54. Lebensjahr (Eaton et al., 1994). Der Verlauf ist unterschiedlich und variiert von
– allerdings seltenen – kompletten Remissionen bis zu den häufigeren chronischen Verläufen.
An der Entstehung von Panikstörungen sind eine Vielzahl von Faktoren beteiligt, die
von genetischen Einflüssen bis zu proximalen Ereignissen im Alltag reichen. Obwohl
Panikstörungen familiär gehäuft auftreten, handelt es sich offensichtlich zumeist um familiär vermittelte Risikoerhöhungen (z. B. Modelllernen). Der Beitrag einzelner Gene ist
als gering einzuschätzen. Studien legen nahe, dass es sich wahrscheinlich um solche
Gene handelt, über deren Proteine Panikanfälle ausgelöst werden können. Es ist wahrscheinlich, dass eine unspezifische Vulnerabilität weitergegeben wird, die spezifische
Ausformung der Störung jedoch von Umweltfaktoren beeinflusst wird (Scherrer et al.,
2000; Andrews et al., 1990). Spezifische traumatische und kritische Lebensereignisse
können das Risiko für Panikstörungen erhöhen. Gut belegt sind dabei Verlust/Trennung
eines Elternteils, frühe emotionale Deprivation sowie sexueller Missbrauch (z. B. Kessler et al., 1997). Weitere etablierte distale Vulnerabilitäts- und Risikokonstellationen
sind „Behavioral Inhibition“ als Temperamentsvariable, Trennungsangst in der Kindheit
sowie Substanzstörungen (z. B. Craske et al., 2001; Isensee et al., 2003; Wittchen et al.,
2000). Den Verlauf der Erkrankung beeinflussen ferner Persönlichkeitsfaktoren, das
Verhalten der Bezugspersonen und die Komorbidität mit anderen Störungen bzw. Folgeerkrankungen (Alkoholmissbrauch, Depression). Ohne therapeutische Intervention zeigten nur 14,3 % der Probanden einer Studie nach sieben Jahren Spontanremissionen (Wittchen, 1991).
2 Klinische und nichtklinische Panikanfälle
Panikattacken sind nicht spezifisch für die Panikstörung, sondern sie treten auch bei
anderen psychischen Störungen auf. Jüngere Forschungsergebnisse belegen zudem, dass
Panikattacken höchst sensible Marker für spätere schwerere psychopathologische Komplikationen (nicht nur Panikstörung und Agoraphobie) sind (Reed & Wittchen, 1998;
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