Konfrontationstherapie bei psychischen Störungen Neudeck_Titelei.p65 1 21.10.2004, 09:16 Konfrontationstherapie bei psychischen Störungen Theorie und Praxis herausgegeben von Peter Neudeck und Hans-Ulrich Wittchen Hogrefe Göttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag Neudeck_Titelei.p65 3 21.10.2004, 09:16 Dr. Peter Neudeck, geb. 1962. Studium der Psychologie in Mainz und Berlin. 1998 Promotion. Ausbildung als Verhaltenstherapeut und Tätigkeit am Christoph-Dornier-Centrum für Klinische Psychologie in Münster. Danach Bezugstherapeut in der salus klinik Lindow. Wissenschaftlicher Angestellter am Universitätsklinikum Aachen. Seit 2001 in eigener Praxis tätig. Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, geb. 1951. Studium der Psychologie in Wien. 1975 Promotion. 1984 Habilitation. Seit 1990 Leiter der Abteilung Klinische Psychologie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München sowie seit 2000 Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden. Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handele. Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. © 2005 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen • Bern • Toronto • Seattle • Oxford • Prag Rohnsweg 25, 37085 Göttingen http://www.hogrefe.de Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagabbildung: Jochen Dauster, Bensheim Satz: Beate Hautsch, Göttingen Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, 87437 Kempten/Allgäu Printed in Germany Auf säurefreiem Papier gedruckt ISBN 3-8017-1735-6 Neudeck_Titelei.p65 4 21.10.2004, 09:16 Neudeck_Titelei.p65 3 21.10.2004, 09:16 Inhaltsverzeichnis Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren – ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst! Peter Neudeck und Hans-Ulrich Wittchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Phobien „Bedrohliche Hasen“ – Konfrontationstherapie bei Panikstörungen Peter Neudeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Konfrontationsbehandlung bei Sozialer Phobie Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Konfrontationsbehandlung bei Spezifischen Phobien Eni S. Becker und Jürgen Hoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Sorgenexposition bei Generalisierter Angststörung Jürgen Hoyer und Eni S. Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Zwänge Was kommt nach dem Ritual? Umgang mit Emotionen während und nach der Exposition Hans Reinecker und Angelika Lakatos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Exposition mit Reaktionsmanagement bei Zwangserkrankungen Susanne Hedlund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Verhaltenstherapie bei Zwangsgedanken Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Abhängigkeitserkrankungen Behandlung von Alkoholabhängigkeit: „Ich habe kein Verlangen“ – Cue reactivity bei Alkoholabhängigen Johannes Lindenmeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 6 Inhaltsverzeichnis IV. Essstörungen Konfrontation mit dem eigenen Körperbild Brunna Tuschen-Caffier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Reizexposition mit Reaktionsverhinderung bei der Binge-Eating-Disorder (Esssucht) Anita Jansen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Elemente der Konfrontationsbehandlung im Ernährungsmanagement und beim Umgang mit Heißhungerattacken bei Frauen mit Bulimia nervosa Tanja Legenbauer und Claus Vögele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Konfrontationsverfahren in der stationären Therapie bei Anorexia und Bulimia nervosa Reimund Böse, Sylvia Beisel und Edgar Geissner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 V. Posttraumatische Belastungsstörung Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen nach Typ-I-Traumen Andreas Maercker, Tanja Zöllner und Anne Boos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Konfrontationsbehandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung nach Typ-II-Traumatisierung Anne Boos und Mervin R. Smucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren – ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst! Es gehört zu den großen Widersprüchlichkeiten unseres Fachgebiets, dass die Reizkonfrontations- oder Expositionstherapie als seit über zwei Jahrzehnten theoretisch gut begründete und klinisch überzeugendste psychotherapeutische Methode in der Forschung und Versorgungspraxis häufig keinen zentralen Stellenwert einnimmt. Die „kognitive Wende“ mit ihrer Betonung kognitiver Techniken und Verfahren scheint mancherorts zu einer unserer Meinung nach unglücklichen Reduktion des klinisch-psychologischen Interventionsspektrums geführt zu haben, so dass es oft für Patienten schwierig oder gar unmöglich ist, „lege artis“ mit Expositionsverfahren behandelt zu werden. Schon seit vielen Jahren beobachten wir in versorgungsepidemiologischen Untersuchungen, dass es selbst in gut versorgten Regionen bei Patienten mit Angststörungen oftmals nicht mehr gelingt, entsprechende Überweisungen erfolgreich zu realisieren. Dies ist überraschend, denn in ihrer Analyse „Psychotherapie im Wandel“ stellten Grawe, Donati und Bernauer (1994) fest, dass die Verbindung von kognitiver Verhaltenstherapie und Reizkonfrontation bei Angst- und Panikstörungen zu den mit Abstand besten Ergebnissen führt. Zugleich wird nachdrücklich gefordert, Reizkonfrontationsverfahren in der Praxis einzusetzen, denn: „Therapeuten, die dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht tun, legen ihren Patienten völlig unnötig ein verlängertes oder nie endendes Leiden auf und verstoßen, das kann man heute so sagen, gegen die Regeln der Kunst.“ (S. 344). Die hier bereits Anfang der 90er Jahre angedeutete Vernachlässigung der Expositionsverfahren hat sich unserer Meinung nach leider mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes und dem Ausbau der kassenrechtlichen Versorgung weiter verstärkt. In einigen Lehrplänen psychotherapeutischer Ausbildungsinstitute finden sich zwischenzeitlich nicht einmal mehr Inhaltsmodule zu diesem genuin klinisch-psychologischen Standardverfahren. Wir haben schon an anderer Stelle darauf hingewiesen (Wittchen, 2000), dass offensichtlich viele Psychotherapeuten die oft aufwändigere zeitliche Planung und Durchführung von Expositionsverfahren als störend im geregelten 50-Minuten-Rhythmus ihrer psychotherapeutischen Routinepraxis empfinden und gelegentlich als vorgeschobene Rechtfertigung vermutete Abrechnungsschwierigkeiten angeben. Andererseits sollte auch hervorgehoben werden, dass ungeachtet dieser bedauerlichen durchaus flächendeckenden Vernachlässigung von Expositionsverfahren einige Einrichtungen und Kollegen „die Fahne hochhalten“ und den Nachweis liefern, dass auch in der psychotherapeutischen Routinepraxis Konfrontationsverfahren „lege artis“ und mit Erfolg durchgeführt werden können (Christoph Dornier Stiftung, Verhaltenstherapie Ambulanz am UKE). Zu vermuten ist aber durchaus auch ein Imageproblem. Verfahren der Reizkonfrontation sind in der Öffentlichkeit zumeist aus dem Bereich der Angstbehandlung bekannt geworden. Die Medien berichteten in den letzten Jahren zunehmend über spektakuläre Behandlungen von Höhen- oder Flugphobien, bei denen die Konfrontation mit den Angst auslösenden Reizen oftmals in effekthascherischer Weise gezeigt wurde. Der Reizkonfrontation haftet so noch immer der Ruf an, ein gefährliches, teures und zeitaufwändiges Verfahren zu sein. Von Entmündigung der Patienten ist die Rede, von Überrumplung und Traumatisierung durch die Therapie. In der therapeutischen Praxis sind die Verfahren weitaus unspektakulärer und bei professioneller Durchführung selbstverständlich ungefährlich und nicht zuletzt sehr erfolgreich. 8 Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen Zeit zum Umdenken Vor diesem kritischen Hintergrund haben wir uns entschlossen, das vorliegende praxistaugliche Buch zur Expositions- und Konfrontationstherapie herauszugeben. Allgemeines Ziel ist, Klinische Psychologen, Ausbildungskandidaten und Praktiker für Expositionsverfahren zu sensibilisieren und sie praxisnah zur Durchführung bei einem weiten Störungsspektrum zu motivieren. Dabei versuchen wir neben den bewährten Standardverfahren auch die störungsspezifischen Modifikationen, Pragmatiken der individualisierten Optimierung sowie die Kombination mit kognitiven Techniken ausführlich darzustellen. Das Buch soll einen Überblick darüber geben, wie Reizkonfrontationsverfahren aktuell anzuwenden sind und wie sie praktisch in eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Gesamtstrategie eingebettet werden können. Über die didaktische Struktur eines „short manuals“ hinaus haben wir versucht, häufige Schwierigkeiten und Probleme darzustellen, die sich vor, während und nach dem Einsatz von Reizkonfrontationen ergeben können. Daneben enthält jeder Beitrag eine Falldarstellung, um die beschriebene Methode transparenter werden zu lassen. Ein kleiner historischer Abriss Historisch haben sich Konfrontationsmethoden (auch Expositionen bzw. Reizexposition mit Reaktionsverhinderung genannt) aus der Implosionstherapie von Stampfl und Levis (1967) entwickelt, die aus der psychodynamischen Theorie von Freud und Pavlovs Konditionierungstheorie hervorging. Das Implosionsmodell sagt voraus, dass Ängste als konditionierte emotionale Reaktionen stufenweise gelöscht werden, wenn die angsterzeugende Stimulussituation ohne Verstärkung (ohne das Auftreten des unkonditionierten Stimulus, US) in der Vorstellung (in sensu) oder in der Realität (in vivo) dargeboten wird. Stampfl und Levis vertraten die Auffassung, dass die Löschung der Angst bei großer Ähnlichkeit der dargebotenen Reize mit der ursprünglichen Konditionierungssituation am wahrscheinlichsten ist. Freuds psychodynamische Theorie geht davon aus, dass angstauslösende Reize psychodynamisch-relevante Traumata der frühen Kindheit darstellen und der Klient die Angstsituation nochmals durchleben soll (agieren/Karthasis), ohne dass die befürchteten Konsequenzen eintreten. Eine Therapiemethode, die in den fünfziger Jahren von J. Wolpe entwickelt wurde und eine Variante der Reizkonfrontationsverfahren darstellt, ist die Systematische Desensibilisierung (Wolpe, 1958). Diese geht auf die Arbeiten zur Gegenkonditionierung von M.C. Jones (1924) zurück. Grundgedanke dieser Arbeiten ist, dass Angstzustände, die als Reaktion auf bestimmte Stimuli auftreten, als klassisch konditioniert anzusehen sind. Bei der Gegenkonditionierung werden diese Stimuli mit einem angenehmen Reiz konditioniert, so dass der alte Konditionierungsvorgang überlagert wird. Bei der Systematischen Desensibilisierung werden Patienten nach Erstellung einer Angsthierarchie schrittweise, unter Anwendung der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson, desensibilisiert. Die Reizkonfrontation erfolgt dabei nicht in vivo, sondern nur in der Vorstellung der Patienten. Der Nachteil der Systematischen Desensibilisierung gegenüber graduierter und massierter Reizkonfrontation in vivo ist unter anderem die lange Einübungszeit, welche die Patienten zum Erlernen der Technik benötigen. Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren 9 Der gemeinsame Ansatzpunkt der Konfrontationsverfahren ist das gelernte Vermeidungsverhalten, das während der Übungen unterbunden werden soll. Die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer sieht die Aufrechterhaltung von Angststörungen in der kurzfristigen negativen Verstärkung, die dem Vermeidungsverhalten folgt (Mowrer, 1960). Da während der Konfrontation keine unkonditionierten Stimuli die Angst verstärken und das Vermeidungsverhalten verhindert wird, kommt es zu „forcierter Löschung.“ Mit dem Extinktionsmodell allein lässt sich die Wirkweise der Konfrontationsverfahren jedoch nicht erklären. Die physiologischen und psychologischen Prozesse des Angstabbaus während der Reizkonfrontation wurden mit Konzepten der Habituation (Gewöhnung) erklärt (Lader & Mathews, 1968; Birbaumer, 1977). Unter Habituation wird dabei das Absinken der Reaktionswahrscheinlichkeit zentralnervöser und peripherer Strukturen bei der wiederholter Reizdarbietung verstanden (Birbaumer, 1977). Neuere kognitive Modelle gehen von Dissonanz zwischen Realität und Erwartungen (Marks et al., 1971) oder Veränderungen der defensiven Angstverarbeitung hin zu einer realistischen Verarbeitung (Bartling, Fiegenbaum, Fliegel & Krause, 1980) aus. Foa und Kozak (1986) nehmen an, dass durch die Reizkonfrontation semantische Netzwerke verändert werden und neue angemessenere kognitive Modelle der Umwelt entstehen. Neuere Ansätze erklären die Wirkweise sowohl durch eine Veränderung genereller psychologischer Vulnerabilitäten (Ängstlichkeit, subjektives Gefühl der Unkontrollierbarkeit) als auch spezifischer psychologische Vulnerabilitäten (angstspezifische Informationsverarbeitung, Veränderung von Vermeidungsstrategien; Barlow, 2002). Ein weiterer Faktor scheint die Modifikation von Kognitionen weg von einer Lageorientierung hin zu einer Handlungsorientierung zu sein (Schulte, Hartung & Wilke, 1997). Varianten und Vorgehen Grundsätzlich lassen sich graduierte von massierten Varianten der Reizkonfrontationsverfahren unterscheiden. Beim graduierten Vorgehen werden die Patienten zunächst mit den am wenigsten angstauslösenden bzw. belastenden Reizen konfrontiert, um dann auf den in einer zuvor erstellten Angsthierarchie als gefährlicher bewerteten Reiz überzugehen. Bei massierten Verfahren wird dagegen mit den am stärksten Angst auslösenden Reizen begonnen. Diese Verfahren sind auch unter den Begriffen Flooding oder Reizüberflutung bekannt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Art der Reizdarbietung. Bei In-sensu-Verfahren werden die Patienten in der Vorstellung mit den Angst auslösenden Reizen konfrontiert. Bei der In-vivo-Darbietung setzen sich die Patienten in der Realität, möglichst mit einem direkten Bezug zu ihrem Alltag, den Reizen aus. Konfrontationsart Graduiert Massiert in sensu Systematische Desensibilisierung Implosion in vivo Habituationstraining Flooding Weitere Varianten sind die Konfrontation im Selbstmanagement, bei der sich die Patienten zwischen den Therapiesitzungen selbstständig mit den Angst auslösenden Reizen konfrontieren und die Durchführung der Reizkonfrontation in Gruppen. Den gemeinsamen Nenner aller Varianten beschreibt Hand (2000): Expositionen sind „Übungen zur 10 Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen Aufhebung von Meídungsverhalten mit Abbau der negativen kognitiv-emotionalen Reaktion auf bestimmte Situationen, Objekte, Problemfelder oder Personen.“ (S. 164). Wie wird ein Reizkonfrontationsverfahren fachgerecht vorbereitet, durchgeführt und evaluiert? Angelehnt an Bartling et al. (1980) lassen sich vier Phasen des therapeutischen Vorgehens unterscheiden: 1. Diagnostische Phase Erstgespräch, Diagnostische Interviews, Verhaltens- bzw. Plananalyse, Auswertungsgespräch. 2. Kognitive Vorbereitung Zunächst werden die Patienten über die Art (Diagnose) und die Natur ihrer Störung aufgeklärt (Psychoedukation). Es folgt dann ein individuelles Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung. Die Vermeidungsstrategien der Patienten werden an Hand von Beispielen aus dem Alltag der Patienten herausgearbeitet und problematisiert. Am Ende der kognitiven Vorbereitung wird das therapeutische Rational der Reizkonfrontationsbehandlung abgeleitet. Ein Therapieplan wird erstellt und Therapieverträge werden besprochen und ggf. schriftlich fixiert. Besonders wichtig ist ein patientengerechtes Störungsmodell. Dieses Modell sollte die folgenden Eigenschaften haben (Fiegenbaum & Tuschen, 2000): – Kompatibilität mit dem Konstruktsystem der Patienten (z. B. Krankheitsüberzeugung oder weltanschauliche Eigenheiten), – Nichtfalsifizierbarkeit (das Modell soll nicht durch Einzelerfahrungen der Patienten widerlegt werden können), – Perspektivität (Betonung der Rolle der aufrechterhaltenden Bedingungen, Vernachlässigung der Entstehungsbedingungen), – Plausibilität (die Patienten werden in die Erarbeitung des Modells aktiv miteinbezogen, sie entwickeln es sozusagen selbst). 3. Intensivphase der Reizkonfrontation Während dieser Phase erfolgt die direkte und länger andauernde (hinreichend lange) Konfrontation mit den Angst auslösenden Reizen bei gleichzeitiger Unterbindung des Vermeidungsverhaltens. 4. Selbstkontrollphase Während dieser Phase üben die Patienten selbstständig weiter. Die Erfolge und Misserfolge werden analysiert und bewertet. Es erfolgt eine Stabilisierung der neu gelernten Verhaltensweisen, wobei der therapeutische Einfluss immer mehr reduziert wird. Störungsspezifische Verfahren und Schwerpunkte der einzelnen Beiträge Längst ist die Reizkonfrontation nicht mehr bloß auf die Behandlung von Angststörungen beschränkt. Konfrontative Verfahren werden bei Zwangsstörungen, Essstörungen, Posttraumatischen Belastungsstörungen und Abhängigkeitsstörungen eingesetzt. Die verschiedenen Verfahren werden in diesem Buch von Autoren dargestellt, die sich seit Jahren mit der Theorie und Praxis von Reizkonfrontationsverfahren auseinandersetzen und diese weiterentwickeln. Da sich die Beiträge nicht nur an erfahrene Kollegen und Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren 11 Kolleginnen wenden, sondern auch von Ausbildungskandidaten und Anfängern mit Gewinn gelesen werden sollen, galt unser besonderes Interesse den Hürden und Fallstricken, die im therapeutischen Prozess auftreten können. Hand (2000) warnt davor, die Reizkonfrontationsmethoden gerade wegen ihrer scheinbaren Einfachheit als „Kochbuch“ zu missbrauchen und sie reflexartig anzuwenden. Ohne eine Einbindung in ein kognitivverhaltenstherapeutisches Konzept sind diese Methoden tatsächlich bloßes Stückwerk. Eine mangelhafte Vorbereitung der Patienten oder ein fehlerhaftes Durchführen der Konfrontation führt zu Problemen, die u. U. die Gesamtstrategie der Therapie in Frage stellen. In der Supervision sind so auch häufig die individuellen Herleitungen des therapeutischen Rationals oder das Auftreten von Reaktanz/Widerstand auf Seiten der Patienten Gegenstand von Fragen. Bei der Konzipierung unseres Buchs haben wir solche Fragen zur Theorie und Praxis der einzelnen Verfahren berücksichtigt. Neben den Fertigkeiten und Techniken, die für das erfolgreiche Anwenden der beschriebenen Verfahren notwendig sind, werden konkrete Handlungsanweisungen und Lösungsangebote beschrieben, die einen flexiblen Umgang mit dem jeweiligen Verfahren gestatten. Die Aufteilung der Beiträge ist dabei thematisch nach den Störungsbereichen geordnet. Bei dem Spektrum an dargestellten Verfahren für die unterschiedlichen Störungsbereiche ergibt sich für jeden Beitrag ein spezifischer Schwerpunkt. Der Aufbau der Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Nach einer Einleitung, die den Stand der Forschung zur Ätiologie und Diagnostik berücksichtigt, folgt ein theoretischer Teil, in dem die Notwendigkeit eines konfrontativen Vorgehens begründet wird. Es folgt dann die Darstellung des Vorgehens mit Berücksichtigung der Schwierigkeiten und die Darstellung eines Falles, die das praktische Vorgehen transparent macht. Schließlich werden Varianten der Durchführung, Kontraindikationen und die Wirksamkeit der Methode dargestellt. Die Autoren befassen sich im Einzelnen mit folgenden Themenschwerpunkten: In seinem Beitrag zur „cue reactivity“ bei Alkoholabhängigkeit beschreibt Johannes Lindenmeyer die Durchführung von Reizkonfrontationsverfahren („cue exposure“) bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit. Er legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Motivationsarbeit und auf das Auftreten von Verlangen („craving“) während einer solchen Konfrontation. Kein oder nur gering ausgeprägtes Verlangen der Betroffenen gilt z. T. noch immer als Begründung von einer „cue exposure“ abzusehen. Lindenmeyer zeigt, dass gerade auch Betroffene ohne subjektives Verlangen von Expositionsübungen profitieren können, indem ihre Bewältigungskompetenzen in persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen verbessert werden. Anita Jansen stellt in ihrem Beitrag die Methode der Reizkonfrontation bei Patientinnen mit „Binge Eating Disorder“ dar. Heißhungeranfälle sind das Leitsymptom der Bulimia nervosa, treten aber auch bei Übergewicht und Anorexia nervosa auf. Jansen beschreibt die Reizreagibilität als einen Mechanismus, der möglicherweise für das Auftreten von Heißhungeranfällen verantwortlich ist. Sie stellt dann die Technik der „cue exposure“ als ein massiertes Reizkonfrontationsverfahren in vivo dar, das zu einem Erlöschen der Reizreagibilität führt. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Darstellung der Methode in alltagsnaher Umgebung der Patientinnen gelegt. Ein weiterer Fokus liegt im Aufzeigen der aktiven Gestaltung der Übungen durch die Therapeuten. Möglichkeiten der Reizkonfrontation bei der Behandlung von Körperbildstörungen beschreibt Brunna Tuschen-Caffier. Körperbildstörungen sind zentrale Merkmale sowohl 12 Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen von Bulimia nervosa als auch von Anorexia nervosa. Neben der Darstellung von Techniken zur Konfrontation mit dem eigenen Gewicht, den Körperempfindungen und -ausdruck, liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf der Beschreibung der Figurexposition mit Hilfe von Spiegelbild und Videoaufzeichnungen. Dabei zeigt Tuschen-Caffier wie diese konfrontative Methode mittels kognitiver Techniken für die Gesamtstrategie der Therapie nutzbar gemacht werden kann. Ein integratives Modell zur Behandlung der Bulimia nervosa stellen Tanja Legenbauer und Claus Vögele in ihrem Beitrag vor. Vor dem Hintergrund einer sorgfältigen Diagnostik und individuellen Verhaltensanalyse werden in der Therapie vor allem folgende Punkte mit Methoden der Reizkonfrontation bearbeitet: Auslösesituationen für Essanfälle, aversive Gefühle und die Etablierung alternativer Verhaltensweisen. Legenbauer und Vögele beschreiben die verschiedenen Ziele und Vorgehen von Konfrontationsverfahren bei der Etablierung eines neuen Essverhaltens. Gemeinsamkeiten und Unterschiede beim Einsatz konfrontativer Techniken bei der Behandlung von Patientinnen mit Bulimia nervosa und Anorexia nervosa beschreiben Reimund Böse, Sylvia Beisel und Edgar Geissner. Dabei liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf den Besonderheiten der Behandlung im Rahmen einer stationären Einrichtung. Die Autoren beschreiben den Einsatz der gebräuchlichen Reizkonfrontationsmethoden unter besonderer Berücksichtigung der ätiologischen Faktoren beider Störungen. Darüber hinaus wird den Möglichkeiten und Besonderheiten von Konfrontationsmethoden in der Gruppentherapie besondere Beachtung geschenkt. Susanne Hedlund beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit konfrontativen Techniken bei der Behandlung von Zwängen. Sie beschreibt eine Variante der Exposition mit Reaktionsverhinderung, die sowohl im ambulanten als auch stationären Setting (Gruppe) durchgeführt werden kann. Das beschriebene graduierte Vorgehen betont die Autonomie und Selbstständigkeit der Patienten und erweist sich in der Praxis als erfolgreich. Bei der Darstellung der Methode legt die Autorin einen besonderen Wert auf die genaue Vorbereitung der Patienten und die Verbesserung von Selbstbeobachtungsfähigkeiten. Patienten mit Zwängen scheinen körperliche Erregung und negative Emotionen vermeiden zu wollen. Während und nach Konfrontationsübungen kommt es jedoch häufig zu emotionalen Problemen. Es entstehen Gefühle der Leere und Sinnlosigkeit oder starke schwer zu beherrschende Aggressionen brechen durch. Vor dem Hintergrund eines Konzepts zur Bedeutung von Emotionen bei der Konfrontation mit aversiven Reizen beschreiben Hans Reinecker und Angelika Lakatos einen angemessenen Umgang mit solchen therapeutischen Situationen. Ein Modell zur Behandlung von Zwangsgedanken, das über die Reizkonfrontation hinausgeht, beschreiben Nicolas Hoffmann und Birgit Hofmann. Das Modell der kumulativen Subjektkonstituierung beschreibt einen Stufenprozess, der von einer Stärkung des Ich-Erlebens über eine verbesserte Verhaltenssteuerung und Ich-Integrität sowie einer besseren Bewältigung kritischer Situationen zu einer insgesamt besseren Lebenskontrolle führt. Für jede der Stufen gibt es charakteristische Übungen, die von den Autoren sehr anschaulich beschrieben werden. Insgesamt erlernen die Patienten mit dieser Methode einen besseren Umgang mit den als quälend empfundenen Zwangsgedanken. Bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen unterscheidet man das Vorgehen bei Typ I- von Typ II-Traumatisierungen. Traumatisierungen des Typs I sind Die Vernachlässigung der Expositionsverfahren 13 einzelne, unerwartete traumatische Ereignisse von kurzer Dauer (Vergewaltigung, Überfall). Typ II-Traumatisierungen sind definiert als Serie von miteinander verknüpften Einzel-Ereignissen oder als langandauerndes traumatisches Ereignis (Misshandlungen in der Kindheit, Geiselhaft). Die sich aus den verschiedenen Traumen ergebenden Konsequenzen erfordern spezifische Vorgehensweisen bei der Behandlung dieser Störung. Anne Boos und Mevin R. Smucker beschreiben den Einsatz von Reizkonfrontationsverfahren beim Typ II. Aufbauend auf dem kognitiv-behavioralen Modell von Ehlers und Clark legen die Autoren den Schwerpunkt ihres Beitrags auf die Darstellung der Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT), die zum einen Habituation an Angst und zum anderen eine Neubewertung maladaptiver Schemata ermöglicht. Auch der Beitrag von Andreas Maercker, Tanja Zöllner und Anne Boos zur Therapie von Typ I-Traumata geht auf kognitive Prozesse und Veränderungen während der Therapie ein. Dabei schlagen Maercker und Kollegen – vor dem Hintergrund eines kombinierten Modells aus dem Furchtstrukturmodell von Foa und kognitiven Modellen – eine Kombination aus Exposition in sensu und kognitiver Umstrukturierung bei der Behandlung dieser Störung vor. Die Beiträge von Lydia Fehm und Hans-Ulrich Wittchen, Jürgen Hoyer und Eni S. Becker, Eni S. Becker und Jürgen Hoyer sowie von Peter Neudeck beschäftigen sich mit dem klassischen Anwendungsgebiet von Reizkonfrontationsverfahren, den Angststörungen. Der Beitrag von Neudeck thematisiert die Behandlung von Panikstörungen. Aufbauend auf dem Behandlungsprogramm von Margraf und Schneider liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf der Vorbereitung der Patienten auf die Expositionsübungen. Im Mittelpunkt steht dabei die patientengerechte Vermittlung eines Störungs- und Veränderungsmodells. Ein weiterer Fokus liegt auf Schwierigkeiten, die sich bei der Ableitung des therapeutischen Rationals und der Durchführung der Expositionsübungen ergeben können. Galt die Generalisierte Angststörung lange Zeit wegen des scheinbar nicht vorhandenen Vermeidungsverhaltens der Patienten mit Konfrontationsmethoden als nicht behandelbar, stellen Hoyer und Becker in ihrem Beitrag ein erfolgversprechendes konfrontatives Vorgehen zur Behandlung dieser Störung dar. Die Autoren zeigen zunächst die impliziten kognitiven Vermeidungsstrategien dieser Patientengruppe auf. Das dann vorgestellte Vorgehen bei der Sorgenexposition, während der sich die Betroffenen mit ihren Sorgenbereichen und Befürchtungen konfrontieren, stellt eine neue Methode dar, die in der Praxis erfolgreich eingesetzt wird. Die verschiedenen konfrontativen Verfahren zur Behandlung von Spezifischen Phobien beschreiben Becker und Hoyer in ihrem Beitrag. Gilt die massierte Konfrontation in vivo aktuell hier immer noch als Methode der Wahl, ist es auch möglich, erfolgreich in sensu zu konfrontieren oder die Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu nutzen und die Patienten mit computergenerierten virtuellen Reizen zu konfrontieren. Sowohl Gruppen- als auch Einzelsettings werden beschrieben. Becker und Hoyer zeigen, dass auch Kurzprogramme, die sich auf sieben bis zehn Therapiesitzungen beschränken, erfolgreich sein können. Fehm und Wittchen stellen in ihrem Beitrag Möglichkeiten zur Behandlung der Sozialen Phobie vor. Die Autoren beschreiben ein massiertes Vorgehen in vivo. Sie betonen ebenfalls die große Bedeutung der Vorbereitung der Patienten und geben Hinweise, die bei der Nachbesprechung der Übungen zu beachten sind. Kognitive Ansätze werden dis- 14 Peter Neudeck & Hans-Ulrich Wittchen kutiert und die Methode der „Shame-Attack“-Verfahren wird gerade wegen ihrer Kontroversität ausführlich dargestellt und problematisiert. Berlin und Dresden, April 2004 Peter Neudeck und Hans-Ulrich Wittchen Literatur Barlow, D. H. (2002). Anxiety and its disorders (2nd ed.). New York: Guilford. Bartling, G., Fiegenbaum, W., Fliegel, S. & Krause, R. (1980). Angst – Wer sie durchsteht wird sie los. Psychologie heute, Neue Formen der Psychotherapie, 83-94. Bartling, G., Fiegenbaum, W. & Krause, R. (1980). Reizüberflutung. Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. Birbaumer, N. (1977): Die Bewältigung von Angst; Gewöhnung oder Hemmung? In N. Birbaumer (Hrsg.), Psychophysiologie der Angst (S. 85-124). München: Urban & Schwarzenberg. Fiegenbaum, W. & Tuschen, B. (2000). Reizkonfrontation. In J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band I: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. Berlin: Springer. Foa, E.B. & Kozak, M.J. (1986). Emotional processing of fear: Exposure to corrective information. Psychological Bulletin, 99, 20-35. Grawe, K., Donati, R. & Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. 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Phobien „Bedrohliche Hasen“ – Konfrontationstherapie bei Panikstörungen Peter Neudeck Panikanfälle können im Kontext aller Angsterkrankungen, bei Zwangserkrankungen, aber auch bei Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten (Barlow et al., 1985; Reed & Wittchen, 1998; Goodwin & Hamilton, 2001; Goodwin et al., in press). Im Rahmen dieses Beitrags wird der Fokus auf die Behandlung von Panikanfällen bei der Diagnose Panikstörung ohne Agoraphobie (ICD-10: F41.0) gelegt. Es ist prinzipiell möglich, sofern keine Kontraindikation auf Grund der Ausschlusskriterien für Konfrontationsbehandlung vorliegt (vgl. Hand, 2001), die beschriebene Vorgehensweise auch in den Rahmen einer Therapie, z. B. von Panikstörung mit Agoraphobie, sozialen Ängsten, generalisiertem Angstsyndrom oder spezifischen Ängsten, einfließen zu lassen. Lediglich der situationale Kontext wird für jede Erkrankung verschieden sein. 1 Panikanfälle und Panikstörung Ein Panikanfall ist nach DSM-IV (APA, 1998) ein abgrenzbarer Zustand intensiver Angst oder Unbehagens, der einhergeht mit einer Reihe körperlicher Symptome und typischen Kognitionen. Die Angst tritt plötzlich und („wie aus heiterem Himmel“) scheinbar ohne Ursache in objektiv ungefährlichen Situationen auf und wird von den Betroffenen subjektiv oft als lebensbedrohlich erlebt. Ein Panikanfall beginnt abrupt, d.h. nicht vorhersagbar, erreicht innerhalb von einigen Minuten ein Maximum und dauert mindestens einige Minuten an (durchschnittlich ca. 30 Minuten, mit einer großen Streubreite) (Taylor et al., 1986; Margraf & Schneider, 1998). Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst) bezeichnet eine Angststörung, die durch situationsunabhängige Panikanfälle, Erwartungsangst und zu einem hohen Prozentsatz auch durch Vermeidungsverhalten charakterisiert ist. Bis zur Einführung des Klassifikationssystems DSM-III wurde die Panikstörung gemeinsam mit der Generalisierten Angststörung (GAS) häufig auch als „Angstneurose“ bezeichnet. In den heute aktuellen Diagnosesystemen DSM-IV und ICD-10 bilden diese Erkrankungen sowie die Posttraumatische Belastungsstörung eine Gruppe der Angsterkrankungen; Spezifische, Soziale Angst und Agoraphobie bilden die andere Gruppe der (phobischen) Angsterkrankungen. Diese Einteilung wurde nicht auf ätiologischen Grundlagen, sondern aus epidemiologischen, neurobiologischen und therapeutischen Gründen so vorgenommen (Hand & Wittchen, 1986, 1988). Anders als bei den phobischen Angststörungen werden bei der Panikstörung nicht bestimmte Orte oder Situationen gemieden; es handelt sich vielmehr um eine Vermeidung hauptsächlich interner körperlicher Reize, die einen Panikanfall auslösen könnten. Dies ist hinsichtlich der Durchführung von Reizkonfrontationen von erheblicher Bedeutung. Im DSM-IV wird dieser Tatsache Rechnung getragen, indem die Kriterien eines Panikanfalls den spezifischen Angststörungen vorangestellt sind. Unerwartete (nicht ausge- 18 Peter Neudeck löste) sowie situationsbegünstigte Panikanfälle (das Aufreten von Panikanfällen ist in bestimmten Situationen wahrscheinlicher) werden von situationsgebundenen Panikanfällen abgegrenzt. Unerwartete Panikattacken sind notwendig für die Diagnose einer Panikstörung, situationsgebundene Panikattacken sind charaktersitisch für andere Angststörungen (z. B. Spezifische und Soziale Phobien). Die Lebenszeitprävalenz von klinisch diagnostizierten Panikstörungen liegt über verschiedene Kulturen hinweg zwischen 0,4 % (Taiwan) und 3,5 % (USA, National Comorbidity Survey) (Weissman et al., 1997). Für den deutschen Raum fanden Reed und Wittchen (1998) in einer Bevölkerungsstichprobe von insgesamt 3021 14- bis 24-jährigen Probanden eine Prävalenzrate von 1,6 %. Für die deutsche Gesamtbevölkerung im Alter von 18 bis 65 Jahren ergab sich im Bundesgesundheitssurvey für Frauen eine Lebenszeitprävalenz von 5,5 % und für Männer von 2,2 % (Jacobi et al., 2004). Panikstörungen können bereits in der Adoleszenz auftreten, die Hochrisikozeit für Panikstörungen liegt aber im frühen Erwachsenenalter. Dabei ergab sich im National Comorbidity Survey eine bimodale Ersterkrankungskurve mit einer ersten Hochrisikoperiode zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr und einem zweiten Gipfel zwischen dem 45. und 54. Lebensjahr (Eaton et al., 1994). Der Verlauf ist unterschiedlich und variiert von – allerdings seltenen – kompletten Remissionen bis zu den häufigeren chronischen Verläufen. An der Entstehung von Panikstörungen sind eine Vielzahl von Faktoren beteiligt, die von genetischen Einflüssen bis zu proximalen Ereignissen im Alltag reichen. Obwohl Panikstörungen familiär gehäuft auftreten, handelt es sich offensichtlich zumeist um familiär vermittelte Risikoerhöhungen (z. B. Modelllernen). Der Beitrag einzelner Gene ist als gering einzuschätzen. Studien legen nahe, dass es sich wahrscheinlich um solche Gene handelt, über deren Proteine Panikanfälle ausgelöst werden können. Es ist wahrscheinlich, dass eine unspezifische Vulnerabilität weitergegeben wird, die spezifische Ausformung der Störung jedoch von Umweltfaktoren beeinflusst wird (Scherrer et al., 2000; Andrews et al., 1990). Spezifische traumatische und kritische Lebensereignisse können das Risiko für Panikstörungen erhöhen. Gut belegt sind dabei Verlust/Trennung eines Elternteils, frühe emotionale Deprivation sowie sexueller Missbrauch (z. B. Kessler et al., 1997). Weitere etablierte distale Vulnerabilitäts- und Risikokonstellationen sind „Behavioral Inhibition“ als Temperamentsvariable, Trennungsangst in der Kindheit sowie Substanzstörungen (z. B. Craske et al., 2001; Isensee et al., 2003; Wittchen et al., 2000). Den Verlauf der Erkrankung beeinflussen ferner Persönlichkeitsfaktoren, das Verhalten der Bezugspersonen und die Komorbidität mit anderen Störungen bzw. Folgeerkrankungen (Alkoholmissbrauch, Depression). Ohne therapeutische Intervention zeigten nur 14,3 % der Probanden einer Studie nach sieben Jahren Spontanremissionen (Wittchen, 1991). 2 Klinische und nichtklinische Panikanfälle Panikattacken sind nicht spezifisch für die Panikstörung, sondern sie treten auch bei anderen psychischen Störungen auf. Jüngere Forschungsergebnisse belegen zudem, dass Panikattacken höchst sensible Marker für spätere schwerere psychopathologische Komplikationen (nicht nur Panikstörung und Agoraphobie) sind (Reed & Wittchen, 1998;