Lebenszeitrisiko mehr als 50 Prozent

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W I S S E N S C H A F T
Psychische Erkrankungen in Europa
Lebenszeitrisiko mehr als
50 Prozent
Metaanalyse der Technischen Universität Dresden:
27 Studien mit mehr als 150 000 Teilnehmern untersucht
D
epression, bipolare Störung, Schizophrenie,Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Sozialphobie, Panikstörung, generalisierte Angst, Zwangsstörungen, somatoforme Störungen oder
Demenz – psychische Störungen dieser
Art sind bei Europäern keine Seltenheit. Nach einer in European Neuropsychopharmacology (2005: 15: 357–76)
publizierten Metaanalyse entwickelt
jeder vierte Europäer (27 Prozent) wenigstens einmal pro Jahr eine der genannten psychischen Störungen. Das
Lebenszeitrisiko liegt sogar bei mehr
als 50 Prozent. Am häufigsten sind
Angststörungen, Substanzstörungen und
somatoforme Störungen. Prof. Dr. med.
Hans-Ulrich Wittchen und Dr. Frank
Jacobi von der Technischen Universität
Dresden fassten in der Metaanalyse die
Ergebnisse von 27 Studien mit mehr als
150 000 Teilnehmern zusammen.
Die Prävalenz von 27 Prozent macht
psychische Störungen zu einer Zivilisationskrankheit wie Hypertonie und
Diabetes mellitus. Wie diese kommen
die Störungen nicht isoliert vor. Viele
Menschen leiden häufig in verschiedenen Lebensphasen an unterschiedlichen Störungen. Eine „reine Depression“ oder eine „reine Panikstörung“
trete verhältnismäßig selten auf, erklärt
Wittchen. Die häufigsten Muster seien
frühe Angststörungen, an die sich im
weiteren Verlauf oft somatoforme,
Sucht- und depressive Erkrankungen
anschließen.
Höheres Risiko für Frauen
Die Mehrheit der psychischen Störungen manifestiere sich im wichtigen Zeitabschnitt für eine erfolgreiche gesundheitliche Entwicklung und Sozialisation
– nämlich in der Kindheit und Adoleszenz. In dieser Zeit würden häufig die
Weichen für einen lebenslangen Leidensweg gestellt, der dann auch andere
Lebensbereiche (zum Beispiel berufli-
Geschätzte Zahl psychisch Kranker und 12-Monats-Prävalenz (%) in der
Europäischen Union
Essstörung
Substanzstörung
Zwangsstörung
psychotische Störung
biopolare Störung
Agoraphobie
generalisierte Angststörung
Panikstörung
soziale Phobie
Alkoholabhängigkeit
somatoforme Störung
spezifische Phobie
Major Depression
1,1 Mio.
2,0 Mio.
2,6 Mio.
3,6 Mio.
2,4 Mio.
3,9 Mio.
5,8 Mio.
5,2 Mio.
7,1 Mio.
18,9 Mio.
18,4 Mio.
18,5 Mio.
0
1
2
⏐ PP⏐
⏐ Heft 1⏐
⏐ Januar 2006
Deutsches Ärzteblatt⏐
3
4
5
Prozent
6
7
8
9
Quelle: Technische Universität Dresden
6,6 Mio.
PP
che Karriere, Partnerschaft und Familienleben) beeinträchtigte. Frauen haben
nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler ein höheres Risiko, an psychischen Störungen wie Angst, Depression
und somatoformen Störungen zu erkranken, als Männer. Ausnahmen gebe
es nur bei der Substanzabhängigkeit, bei
Psychosen und bipolaren Störungen.
Frauen hätten zudem ein erhöhtes Risiko, komplexe komorbide Störungsmuster zu entwickeln. Frauen würden überwiegend in den gebärfähigen Jahren erkranken, was sich wiederum negativ auf
die Entwicklung ihrer Kinder auswirke.
Nur selten würden psychische Störungen früh erkannt und adäquat behandelt. 26 Prozent der Betroffenen erhielten eine unspezifische und noch weniger
eine adäquate Behandlung. Ausnahmen
seien Psychosen, schwere Depressionen
und komplexe komorbide Muster. Unbehandelt verlaufen viele psychische
Störungen häufig chronisch mit zunehmenden Komplikationen.Auf die Folgen
machte kürzlich ein Green Paper der
EU-Kommission aufmerksam, das sich
ebenfalls auf die Untersuchung aus
Dresden berief. In der Europäischen
Union würden sich jedes Jahr 58 000
Menschen das Leben nehmen. Das seien
mehr Todesfälle als infolge von Verkehrsunfällen, Morden und Aids.
Mentale Erkrankungen verursachen
nach Schätzungen der EU Kosten in
Höhe von drei bis vier Prozent des
Bruttosozialproduktes, vor allem durch
Produktivitätsverluste. Mentale Erkrankungen seien auch die häufigste
Ursache von Frühberentungen. Wittchen schätzte die Kosten auf fast 300
Milliarden Euro pro Jahr, von denen allein 132 Milliarden Euro auf indirekte
Kosten (krankheitsbedingte Ausfalltage, früher Ruhestand, vorzeitige Sterblichkeit und verringerte Arbeitsproduktivität) entfallen.
Nur 110 Milliarden Euro würden
demgegenüber für direkte Kosten
(Hospitalisierung und Hausbesuche
von Patienten) ausgegeben. Die Kosten
für die medikamentöse Therapie –
als die am häufigsten eingesetzte Behandlungsart – würden dagegen nur
vier Prozent der Gesamtausgaben betragen. Die Kosten für psychotherapeutische Leistungen lägen bei weit unter
Rüdiger Meyer
einem Prozent.
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