Kultur Dramatiker Shakespeare L I T E R AT U R Der Dichter und sein Doppelgänger AKG War William Shakespeare nur der Strohmann eines aristokratischen Poeten, der anonym bleiben wollte? Nun tritt ein deutscher Autor mit einer aufregenden neuen Biografie für den „anderen Shakespeare“ ein – und beflügelt einen alten Verdacht. 114 d e r s p i e g e l 4 7 / 2 0 0 9 tere Frau heiratete, die sechs Monate später die Tochter Susanna gebar. Nach zwei Jahren folgten die Zwillinge Judith und Hamnet. Und was dann? Welches Mirakel hat im Lauf von ein paar Jahren, über die man nichts weiß, den Autodidakten aus der Provinz nicht nur in einen äußerst umtriebigen Londoner Theatergeschäftsmann verwandelt, sondern auch in einen Dramatiker von unvergleichlicher Sprachmacht, Phantasiefülle und höchstem Kunstverstand, von abgründiger Menschenkenntnis und weitgespannter Bildung in klassischer Literatur, Juristerei, in Naturwissenschaften und höfischen Manieren? Die Antwort kann nur heißen: Das Genie ist inkommensurabel, das Genie ist eine Singularität. Wer daran nicht glauben mag, muss andere Erklärungen suchen. So haben sich ULLSTEIN BILD A ls William Shakespeare 1616 in dem Städtchen Stratford-upon-Avon stirbt, wo er 1564 geboren wurde, ist er ein reicher Mann. Er hat gut zwanzig Jahre lang in London – zwei Tagesreisen entfernt – bescheiden gewohnt und all das schöne Geld, das er am Theater verdiente, zu Hause in Stratford, wo seine Frau mit den Kindern lebt, in Immobilien investiert. Er stirbt mit 52 Jahren, kein schlechtes Alter zu jener Zeit. Vier seiner fünf jüngeren Geschwister, von denen keines durch besondere Talente auffiel, hat er überlebt. Das herrschaftliche Haus samt „Scheunen, Ställen, Obstgärten, Ländereien, Wohnhäusern“ sowie einträgliches Pachtland – all das ist in Shakespeares Testament von 1616 akkurat aufgeführt. Seine Verfügungen sind darauf angelegt, diesen Reichtum im Großen und Ganzen (aber auch „Tafelgeschirr und Haushaltsgegenstände“) der älteren Tochter Susanna und deren Erben zukommen zu lassen. Die jüngere Tochter Judith, die mit einem Taugenichts verheiratet war, wird nur knapp bedacht. Der einzige Sohn Hamnet ist früh gestorben. Drei alten Freunden in London spricht das Testament Geld zum Kauf von Erinnerungsringen zu. Von Büchern, Manuskripten oder Kunstwerken ist keine Rede. Seiner Ehefrau vermacht Shakespeare das „zweitbeste Bett“ im Haus. Wer sich von einem der größten Dichter der Menschheit ein Bild zu machen versucht, betrachtet das Lebensfazit in diesem Testament einer Krämerseele mit Fassungslosigkeit. Nichts außerhalb des wahrhaft überwältigenden Werks bringt einem die Person Shakespeare menschlich näher. Man muss sich damit abfinden, dass zwar die Londoner Aktivitäten des Theaterunternehmers Shakespeare aktenkundig sind, dass aber nach strengen Kriterien kein Zeugnis, keine Handschrift eindeutig seine Urheberschaft an den Werken beweist, die unter seinem Namen in jedem Lexikon stehen. Es scheint fast, als hätte der Dichter Shakespeare als Mensch gar nicht existiert. Oder war der Dichter ein anderer? Der vernünftigste Grund, an das einzigartige Genie des Mannes aus Stratford zu glauben, ist die Tatsache, dass ein paar hundert Jahre lang kein Mensch daran gezweifelt hat. Aber spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ließen die Bemühungen, seine Biografie zu erforschen, eine gewisse Ratlosigkeit aufkommen. So gut wie sicher durfte gelten, dass der als Sohn eines eher glücklosen Aufsteigers aus bäuerlichen Verhältnissen geborene William wie jeder Bürgerjunge im damaligen Stratford die kostenlose Lateinschule besuchte, in der vermutlich außer Latein wenig höhere Bildung vermittelt wurde. Für ein Studium war kein Geld da, von einer Berufslehre ist nichts bekannt. Fest steht, dass er Ende 1582, noch minderjährig, im Eilverfahren eine acht Jahre äl- Gräflicher Theaterenthusiast de Vere Der wahre Speer-Schüttler? Spekulationen darüber, dass der Theaterunternehmer womöglich nur als Strohmann eines anonymen Dichters fungiert habe, zu einer Spezialsparte der Shakespeare-Forschung entwickelt: Aus vergilbten Papieren tauchte die Vorstellung erregender Kulissenverschwörungen auf, und sie fasziniert immer noch. Nun können sich auch deutsche Leser ein fundiertes und farbiges Bild machen: Auf fast 600 Seiten erzählt eine Biografie, für die das Verlagshaus Suhrkamp/Insel sein Prestige einsetzt, die Geschichte des Mannes, der einem Kreis von Wissenschaftlern als Favorit für die Rolle des wahren Autors gilt, und breitet die bekannten sowie überraschend neue Argumente für dessen literarisches Doppelleben als „William Shakespeare“ aus: Edward de Vere, Earl of Oxford (1550 bis 1604). Der Verfasser Kurt Kreiler, 59, promovierter Germanist, ist kein querköpfiger Privatgelehrter, sondern ein beschlagener und temperamentvoller Forscher. Der kond e r s p i e g e l 4 7 / 2 0 0 9 troversen Shakespeare-These habe er sich, so sagt er, anfangs mit großer Skepsis genähert: „Wenn ich auf einen einzigen unwiderlegbaren Beweis gegen de Veres Autorschaft gestoßen wäre, hätte ich kapituliert.“ Doch mit einem Nietzsche-Zitat machte er sich Mut: „Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.“ So heißt Kreilers Buch nun entschlossen: „Der Mann, der Shakespeare erfand“*. Es lag nahe, nach einem Höfling mit literarischen Interessen Ausschau zu halten, der all die Bildungsvoraussetzungen mitbrachte, die dem Mann aus Stratford abgehen mussten. Denn ein Aristokrat hätte gute Gründe gehabt, seine Theaterleidenschaft zu verheimlichen: Das Drechseln eleganter Sonette galt damals zwar als standesgemäße Freizeitbeschäftigung eines Edelmanns, aber als Stückeschreiber für das ordinäre Volkstheater hätte er sich unverzeihlich kompromittiert. Die Hofbühne hatte ihre eigenen Spielregeln. Als Erster plädierte der ShakespeareForscher J. Thomas Looney 1920 für Edward de Vere als den wahren Autor, und die Diskussion seiner These entwickelte sich zu einem spezifisch britischen Gedankenspiel: In rivalisierenden Zirkeln verteidigen die „Stratfordianer“ ihren Shakespeare, und die „Oxfordianer“ breiten ihre kunstvollen Argumente gegen sie aus. Zu den Vorzügen des Grafen von Oxford, der am Hof der Königin Elizabeth I. zu den brillantesten Schöngeistern zählte, gehört eine Kollektion eigener Gedichte, deren besten man gern shakespearesche Qualität zugesteht, dazu sein Enthusiasmus fürs Theater, seine Förderung junger Autoren sowie die Wertschätzung zeitgenössischer Kritiker, die ihn als den besten Komödienschreiber ihrer Tage bezeichnen – wobei wohl vom Hoftheater die Rede ist, nicht von den Schaubühnen fürs gemeine Volk. Ein Problem der Oxford-Theorie ist der Altersabstand von 14 Jahren zwischen de Vere und Shakespeare, der schlecht zu den üblichen Hypothesen der Werkchronologie passt, die um 1590 herum beginnt. Streng genommen ist jedoch die Entstehungszeit der Stücke unbekannt, nur das Datum der Zensurfreigabe für die Öffentlichkeit ist aktenkundig. Wenn de Vere primär zur königlichen Unterhaltung schrieb, könnten nach einer Hofaufführung oft etliche Jahre vergangen sein, bis – mit seinem stillen Einverständnis – ein Text anonym den Weg auf eine öffentliche Bühne fand. Kurt Kreiler gewinnt gerade aus der Frage nach der Entstehungszeit ein gewichtiges Argument für de Vere. Seit dem spanischen Invasionsversuch, der 1588 mit der Niederlage der Armada endete, sei – so Kreiler – am Londoner Hof nicht nur * Kurt Kreiler: „Der Mann, der Shakespeare erfand“. Insel Verlag, Frankfurt am Main; 596 Seiten; 29,80 Euro. 115 Kultur alles Spanische, sondern auch alles Italienische oder Katholische verpönt gewesen. Folglich müsse die Reihe der „italienischen“ Shakespeare-Stücke, von „Der Widerspenstigen Zähmung“ und „Romeo und Julia“ bis zum „Kaufmann von Venedig“, schon vor 1588 auf die Hofbühne gelangt sein. Will sagen: Shakespeare, damals erst 24, könne nicht ihr Autor gewesen sein. Fest steht: Den Reichtum einer humanistischen Bildung auf höchstem RenaissanceNiveau, den Shakespeares Werk entfaltet, genießt Edward de Vere von klein auf. Sein so kunstsinniger wie abenteuerlustiger Vater stirbt, als der Junge zwölf ist, und Edward zieht in den Londoner Palast seines königlichen Vormunds ein, des mächtigen Schatzkanzlers Burghley, der jahrzehntelang als rechte Hand der Queen den Staat durch alle Krisen lenkt und erstaunliche 76 Jahre alt wird. Burghley sorgt für die bestmögliche Erziehung seiner adeligen Mündel durch eine Reihe von Gelehrten; Edwards Tutor wird sein Onkel Arthur Golding, berühmter Übersetzer lateinischer Klassiker, besonders der „Metamorphosen“ des Ovid (zweifellos Shakespeares meistzitierte Lektüre). Natürlich gehören nicht nur Sprachen und Wissenschaften, sondern auch aristokratische Sportarten zum Pensum. Edwards Volljährigkeit wird 1571 mit einem mehrtägigen Ritterturnier gefeiert, bei dem er sich als Lanzen- oder Speerkämpfer zu Pferd hervortut, und am Ende des Jahres heiratet er, natürlich in der Westminster Abbey, Burghleys 15-jährige Tochter Anne – die Königin lädt zum Hochzeitsbankett in ihr Schloss. Als Graf von Oxford hat de Vere beträchtliche Ländereien geerbt, doch auch beträchtliche Schulden; ein guter Teil seiner überlieferten Korrespondenz aus drei Jahrzehnten (mit der Unterschrift „Edward Oxenford“) handelt von finanziellen Nöten und Engpässen. Der standesgemäß luxuriöse Lebensstil zwingt ihn, ererbte Landgüter und Dörfer nach und nach zu verkaufen. 1586 gewährt die Königin dem Grafen, der ihr bei offiziellen Anlässen das Staatsschwert vorauszutragen hat, doch sonst kein Hofamt ausübt, lebenslang die stattliche Rente von jährlich tausend Pfund, ohne besonderen Anlass – es sei denn, man betrachtet sie, wie die Oxfordianer, als Honorar für herausragende Dienste als Hoftheaterdichter. Allerlei literarische Aktivitäten des Grafen sind bekannt, etwa lateinische oder englische Einleitungen zu philosophischen Werken, deren Übersetzung und Herausgabe er finanzierte – darunter das Buch, das Hamlet (nach Meinung vieler Experten) auf der Bühne liest. Für die poetische Produktion des Grafen von Oxford, wie für die seiner noblen Zeitgenossen, haben sich Historiker seit dem 19. Jahrhundert interessiert. Die Gedichte finden sich in 116 Moderne Shakespeare-Inszenierung („Romeo und Julia“ am Berliner Gorki-Theater), Shakespeares höfischen Manuskriptsammlungen und in gedruckten Anthologien, mal anonym, mal unter verschiedenen Pseudonymen, mal mit den Initialen „E. O.“. Die Zuordnung im Einzelnen ist oft Sache des literarischen Feingefühls, zum Beispiel bei angeblichen De-Vere-Gedichten, die in Shakespeares „Romeo und Julia“ oder dem „Kaufmann von Venedig“ zitiert werden. Kreiler hat sich in den Jahren der biografischen Forschung auch als Übersetzer der oxfordschen Lyrik hervorgetan, und er nimmt, scharfsinnig argumentierend, eine neue Zuordnung für sich in Anspruch: eine eigenartig „shakespearisch“ anmutende Novelle mit der Hauptfigur Fortunatus Infoelix, die 1573 anonym gedruckt wurde*. Im Alter von 24 Jahren begibt Edward de Vere sich auf kontinentale Bildungsreise: ein paar Monate als Gast am französischen Hof, dann kreuz und quer durch Nord- und Mittelitalien. Als er nach 14 Monaten zurückkommt, trennt er sich von seiner Frau. Sie hat ein halbes Jahr nach seiner Abreise eine Tochter geboren, und vermutlich verdächtigt er sie, ohne das je publik zu machen, des Ehebruchs. In den Jahren nach seiner Rückkehr beginnt – nach Überzeugung der Oxfordianer, für die es freilich so wenig handfeste Beweise gibt wie für die ganz andere Chronologie der Stratfordianer – die regelmäßige Aufführung von de Veres Stücken durch professionelle Schauspieler * Edward de Vere: „The Poems / Gedichte“. Deutsch von Kurt Kreiler. Verlag Uwe Laugwitz, Buchholz; 104 Seiten; 15 Euro. – Edward de Vere: „Fortunatus im Unglück“. Deutsch von Chris Hirte und Kurt Kreiler. Insel Verlag, Frankfurt am Main; 260 Seiten; 19,80 Euro. d e r s p i e g e l 4 7 / 2 0 0 9 am Hofe. 1578 schenkt die Queen ihm ein Schloss; im Januar 1581, nach einem glanzvollen Turnier, küsst sie ihn als Zeichen höchster Gunst öffentlich auf den Mund. Zwei Monate später ist alles aus: Eine der adeligen jungen Hofdamen, deren Keuschheit die Keuschheit der Königin umkränzen soll, bringt einen Jungen auf die Welt und nennt ihn nach seinem Vater Edward. Die Queen lässt das ehebrecherische Paar für einige Monate in den Tower sperren, danach wird der Graf vom Hof verbannt und erst nach zwei Jahren (und einer förmlichen Versöhnung mit seiner Ehefrau) wieder in Gnaden zur Audienz empfangen. In dieser Zeit erzwungener Zurückgezogenheit könnte er zum großen Künstler gereift sein. Die Tücken der Datierung von Shakespeare-Stücken machen einen guten Teil der Kleinarbeit in der Kontroverse aus. Doch auch das Gewicht eines Bindestrichs ist nicht zu unterschätzen. Auf Buchtitelseiten heißt der Autor oft Shake-speare. In Dokumenten kommen diverse Schreibweisen von Shagspere bis Shaxpere vor, das Testament ist krakelig mit Shakspere unterschrieben. Wäre es denkbar, dass de Vere zufällig den jungen Schauspieler aus Stratford kennengelernt hatte, etwa als Mitwirkenden in einer Hofaufführung, und wie einem diskreten Agenten den „Vertrieb“ seiner Stücke fern vom Hof anvertraute? Vorstellbar ist das, wenn man sich etwa an Prinz Hamlets zwanglosen Umgang mit einer Schauspieltruppe erinnert. Doch im realen London von damals waren die Standesgrenzen strikt und die sozialen Abstände riesig. BRIDGEMANART.COM STEFFI LOOS / DDP Globe Theatre in London (1599 erbaut): Umtriebiger Geschäftsmann Kreiler hält deshalb eine andere These trotz aller Merkwürdigkeit für plausibler, nämlich, der dichtende Aristokrat habe sich, um Literarisches zu publizieren, um 1590 das Pseudonym William Shake-speare (mit Bindestrich) ausgedacht: „SpeerSchüttler“, in Anspielung auf seinen Ruhm als Turnierkämpfer und auf seine literarische Schutzgöttin, die speerschwingende Pallas Athene. Kühne Spekulation: Ein Jahrzehnt später könnte die zufällige Namensgleichheit zu einer Verwechslung mit dem Theatermann geführt haben. In einer berühmten, wohl um 1592 entstandenen (doch erst 1609 veröffentlichten) Reihe von Shakespeare-Sonetten preist ein alternder Mann schwärmerisch die Schönheit eines namenlosen Jünglings, versucht ihn aber zugleich zum Heiraten zu überreden. Die Oxfordianer wie die Stratfordianer neigen dazu, diesen Jüngling als den 1573 geborenen Henry Wriothesley, Earl of Southampton, zu identifizieren, und die Oxford-Partei hat in diesem Fall die entschieden besseren Argumente, denn Wriothesley war damals de Veres Schwiegersohn in spe. De Veres Schwiegervater Burghley (den er, wie die Oxfordianer meinen, als Polonius in „Hamlet“ porträtiert hat) war nämlich auch heiratspolitisch aktiv. Für seine Enkelin, de Veres Tochter, handelte er früh einen Ehekontrakt mit einem seiner Mündel aus – eben dem halbwüchsigen Wriothesley. Doch dieser widersetzte sich, als seine Volljährigkeit nahte, der Ehe. Die Sonette, so schön sie auch sind, konnten ihn nicht umstimmen; Wriothesley zahlte die enorme Konventionalstrafe von 5000 Pfund, um frei zu bleiben. Ein paar Jahre später ruinierte er seine Hofkarriere, indem er denselben Fauxpas wie einst de Vere beging: Er verführte eine der Hofjungfrauen der Königin – doch da er frei war, konnte er sie heiraten und wurde, wie es heißt, glücklich mit ihr. Edward de Vere, dessen Frau früh starb, heiratete 1591 ein zweites Mal; er bekam endlich auch einen standesgemäßen männlichen Erben, doch in ein ruhiges Eheleben schickte er sich offenbar nicht. Sein Wunsch, der Königin auch durch militärische Ruhmestaten zu dienen, blieb unerfüllt – vielleicht, weil die Königin ihn als Entertainer nicht missen mochte. Die Oxfordianer meinen, er habe seine Berufung und sein Glück darin gefunden, die Hofgesellschaft zweimal im Jahr mit einem neuen Stück zu überraschen, seit 1594 meist vom Ensemble der „Chamberlain’s Men“ einstudiert. In ebendiesem Ensemble hatte der junge, als Schauspieler offenbar nicht herausragende William Shakespeare aus Stratford seine Talente als Manager entwickelt. Als die „Chamberlain’s Men“ 1599 das neue Globe Theatre eröffneten, eine Freilichtbühne für mehr als 2000 Zuschauer am südlichen Themse-Ufer, war Shakespeare als Teilhaber und als Miteigentümer der Immobilie dabei. Die Autoren der Stücke wurden damals von den Theatern in der Regel nicht erwähnt und blieben dem Publikum unbekannt (ihre Namen stehen meistens auch nicht in den Zensurakten) – insofern spricht nichts gegen die Hypothese, der beste Teil des Globe-Repertoires könnte von de Vere stammen. 1603 stirbt Elizabeth I. Ihr aus Schottland stammender Nachfolger James I., der d e r s p i e g e l 4 7 / 2 0 0 9 Sohn Maria Stuarts, ist nicht weniger theaterliebend. Im Winter 1603/1604 lässt er die Truppe aus dem Globe Theatre achtmal am Hof auftreten, wahrscheinlich ist unter den Stücken als Novität die schottische Tragödie „Macbeth“, die das besondere Interesse des Königs an Hexenwesen und Weissagungen befriedigt und quasi dessen Thronbesteigung prophezeit. Das Ensemble des Globe Theatre wird mit dem Ehrentitel „The King’s Men“ belohnt. Edward de Vere bekommt vom König einen Landsitz geschenkt, doch er stirbt, 54 Jahre alt, ein paar Monate später. William Shakespeare aber war bis 1612 am Globe Theatre aktiv, das auch neue Stücke herausbrachte: Deshalb fühlen sich die Stratfordianer ihrer Sache sicher. Die Oxfordianer jedoch entgegnen: Es gibt keinen Beweis dafür, dass irgendein Shakespeare-Stück nach 1604 entstanden ist; und die Reihe sorgfältig gemachter Buchausgaben der Stücke unter dem Namen William Shake-speare, die 1598 zu erscheinen begann, bricht 1604 ab – eines der bedenkenswertesten Argumente für de Vere. Jahre später erst, so die Theorie der Oxfordianer, hätten die Erben des Grafen beschlossen, dessen sämtliche Stücke (darunter 18 noch nie gedruckte) in einer monumentalen Ausgabe zu veröffentlichen, dabei aber das selbstgewählte Pseudonym seinem Wunsch entsprechend gewahrt. Deshalb hätten sie nun die zufällige Verwechslung mit dem 1616 verstorbenen Theatermann aus Stratford mit Absicht verewigt. Dessen jüngerer Freund Ben Jonson, selbst ein erfolgreicher Dramatiker, habe, so vermutet Kreiler, die außerordentlich aufwendige Edition betreut. Jedenfalls hat Jonson zu dieser als „First Folio“ berühmt gewordenen Ausgabe von 1623 eine Lobeshymne beigesteuert, die Shakespeare als größten Dichter aller Zeiten preist, und mit der Wendung „Süßer Schwan von Avon“ eine – bewusst falsche oder doch richtige? – Spur nach Stratford-upon-Avon gelegt. Dort in der Kirche wurde dann auch, man weiß nicht, von wem, ein sehr teures Grabdenkmal aufgestellt. Kein Zweifel: Kreilers Buch ist spannend und macht nachdenklich. So brillant er mit einer Fülle verblüffender Details für seine These plädiert, so temperamentvoll er über alle Kabalen des Literaturbetriebs am elisabethanischen Hof hinaus ein zeitgeschichtliches Panorama entwickelt – es bleibt die Frage, ob Edward de Vere, ein Mensch mit großen Leidenschaften und großen Talenten, wirklich so wenig adelsstolz und eitel gewesen ist, dass er bis in alle Ewigkeit hinter einem bürgerlichen Pseudonym verschwinden wollte. Die Debatte wird weitergehen. Vielleicht ist das Geheimnis des Autodidakten Shakespeare aus der Provinz ganz einfach: Eben weil man nichts über ihn weiß, traut man dem Mann aus Stratford alles zu. Urs Jenny 117