Was ist analytische Philosophie?

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04.11.2014
16:25 Uhr
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as zeichnet die analytische Philosophie aus? Wie unterscheidet
sie sich in ihrer Methode, ihrem Stil und ihrem geschichtlichen
Ursprung von der nicht-analytischen Philosophie? Und was ist von der
Gegenüberstellung von analytischer und kontinentaler Philosophie
zu halten? Hans-Johann Glock, ein ausgewiesener Kenner der analytischen Philosophie, der viele Jahre an englischen Universitäten gelehrt
hat, geht in diesem fachlich fundierten, gut verständlichen und mit viel
Souveränität und Scharfsinn geschriebenen Buch diesen Fragen nach.
W
Hans-Johann Glock, geb. 1960, ist Professor für Philosophie an der Universität
Zürich und Visiting Professor an der Universität Reading. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Philosophie, insbesondere zur analytischen Philosophie. Bei der
Glock
WBG bereits erschienen: »Wittgenstein-Lexikon« (2., unveränd. Aufl. 2010).
Was ist analytische Philosophie?
PR009778_Glock_analytische_Philosophie_Druck:168x245
www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25496-5
Hans -Johann Glock
Was ist analytische
Philosophie?
Einleitung
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ben dazu tendiert, die analytische Philosophie als diejenige Philosophie zu identifizieren, die sie für richtig halten, und ich hoffe zu zeigen, dass diese Tendenz zu
verschiedenen Verzerrungen geführt hat.
Ich habe mir vorgenommen, mich dem Thema auf eine Weise zu nähern, die eher
analytisch und zugleich eher kontinental erscheinen mag. Eher analytisch, indem
ich den Status und Zweck von Grenzziehungen zwischen philosophischen Traditionen hinterfrage, das Pro und Contra verschiedener Definitionen der analytischen
Philosophie unvoreingenommen bewerte und einige der begrifflichen und methodologischen Probleme am Rande der Debatte diskutiere. Obschon ich die Tatsache,
dass ich ein analytischer Philosoph bin, nicht verhehle, möchte ich mich mit dem
Thema auseinandersetzen, ohne von vornherein anzunehmen, dass die analytische
Philosophie auf jeden Fall guter Philosophie gleichzusetzen ist. Mit anderen Worten,
mein Hauptanliegen in diesem Buch ist, einen Beitrag zur deskriptiven im Gegensatz
zur präskriptiven Metaphilosophie zu leisten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich
mein Projekt von den ausdrücklich apologetischen Projekten von Cohen (1986: 1–
2), Føllesdal (1997) und Charlton (1991). Das heißt nicht, dass ich Abstand davon
nehme, die analytische Philosophie gegen etwaige Einwände zu verteidigen. Aber
ich verleihe auch kritischen Einwänden, die mir wohlbegründet erscheinen, Nachdruck, indem ich Vorschläge vorlege, auf welche Weise die zeitgenössische analytische Philosophie verbessert werden könnte.
In jedem Fall wird sich meine Ansicht darüber, wie die analytische Philosophie
praktiziert werden sollte, darauf stützen, dass ich zunächst einmal versuche zu verstehen, was diese Philosophie ausmacht. Meine Herangehensweise an das Thema
mag insofern eher »kontinental« erscheinen, als ich auch dem historischen Hintergrund und den weiterreichenden kulturellen und politischen Implikationen der analytischen Philosophie sowie den sich entwickelnden Konflikten mit anderen Arten
des Philosophierens Aufmerksamkeit schenke. Ich bin jedoch nicht ausschließlich
oder primär an den Wurzeln der analytischen Philosophie interessiert, sondern daran, was sie gegenwärtig ausmacht, wozu auch der gegenwärtige Zustand des Analytisch-Kontinental-Gegensatzes gehört.
Meine Perspektive ist auch in einem wörtlich zu nehmenden Sinne eine kontinentale. Als Deutscher, der den größten Teil seines Berufslebens in Großbritannien
verbracht hat, kann ich mir sprachliche Probleme kaum leisten; zugleich bin ich mir
bewusst, dass es auch außerhalb der anglophonen Welt zeitgenössische analytische
Philosophen gibt. Wie in einer Diaspora üblich, zeigen diese Philosophen eine stark
ausgeprägte Selbstwahrnehmung, und über die letzten zwanzig Jahre hinweg haben
sie verschiedene Gesellschaften und Zeitschriften gegründet, die sich der Förderung
der analytischen Philosophie widmen. Die Absichtserklärungen dieser Unternehmungen stellen eine wichtige Informationsquelle dar, wenn es um das gegenwärtige
Selbstbild der analytischen Philosophie geht; dasselbe gilt für einige Schriften für,
wider und über die analytische Philosophie, die lediglich in so exotischen Sprachen
wie Französisch, Deutsch und Italienisch verfügbar sind. Aufgrund der etwas groß
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Einleitung
angelegten Untersuchung werde ich gelegentlich dazu gezwungen sein, mich zu historischen, exegetischen und substanziellen Themen zu äußern, ohne meine Thesen
im Detail zu begründen. Einige kontroverse Behauptungen werden in Fußnoten verteidigt, andere dagegen werden allein durch den Bezug auf die hierfür maßgebliche
Literatur gestützt. Ich hoffe jedoch, dass es klar werden wird, wie meine Ansichten
zu den allgemeinen Fragen, denen sich das Buch widmet, von den Ansichten zu
diesen spezifischeren Problemen abhängen.
1. Warum die Frage wichtig ist
Wie der Titel verdeutlicht, liegt mein Hauptaugenmerk auf der Frage »Was ist analytische Philosophie?« und nicht auf »Woher kommt die analytische Philosophie?«.
Dennoch wird die zweite Frage eine wichtige Rolle spielen, nicht nur um ihrer selbst
willen, sondern auch aufgrund ihrer Konsequenzen für die erste. Aber sind diese
beiden Fragen überhaupt von Bedeutung? In gewissem Sinne ganz offenkundig. Die
meisten professionellen Philosophen haben eine feste Meinung zu diesen Fragen.
Viele von ihnen geben diese Meinung ausschließlich in mehr oder weniger höflichen
Gesprächen zum Besten. Aussagen darüber, was analytische Philosophie ist, finden
sich darüber hinaus jedoch auch in gedruckter Form, nicht zuletzt von jenen, die
dieses Thema offiziell als »unergiebig« bezeichnen (z. B. Williams 2006: 155). Diese
Aussagen liefern einen zweiten Grund dafür, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Während die meisten von ihnen instruktiv und interessant sind, sind darunter
auch viele falsche. Und ich kenne keinen besseren Grund für einen Philosophen, zur
Feder zu greifen, als die Notwendigkeit, falsche Ansichten zu widerlegen, gleichgültig, ob diese Ansichten von Philosophen, Wissenschaftlern, Historikern oder Laien
vertreten werden.
Aber sollte man nun diese falschen Antworten durch korrekte ersetzen oder
sollten die Fragen, was analytische Philosophie ist und woher sie kommt, schlicht
als nicht beantwortbar und verwirrend zurückgewiesen werden? Natürlich liegt der
endgültige Beweis hierfür in der Praxis. Aber es ist aufschlussreich, darüber zu
reflektieren, ob man sich überhaupt um eine Antwort auf diese Fragen bemühen
sollte.
Von Marx stammt die berühmte Bemerkung: »En tout cas, moi, je ne suis pas
marxiste.« Seither hatten viele das Gefühl, Bezeichnungen für philosophische Positionen, Schulen und Traditionen seien bloß leere Worte, bestenfalls überflüssig,
schlimmstenfalls ablenkend und verwirrend. Besonders heftig wird diese Meinung,
wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, übrigens von einigen angesehenen analytischen Philosophen vertreten. Einige frühe Pioniere waren Schulen gegenüber
misstrauisch eingestellt, weil sie dachten, alle Meinungsunterschiede zwischen Philosophen könnten durch den Einzug analytischer Methoden gelöst werden. In diesem Geiste schrieb Ayer, »dass es nichts im Wesen der Philosophie gibt, das die
Warum die Frage wichtig ist
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Existenz widerstreitender philosophischer Parteien oder ›Schulen‹ rechtfertigen
würde« (dt. 1972: 11/1936: 177; siehe auch 43). Solcherlei Hoffnungen haben sich
nicht erfüllt. Doch auch zeitgenössische analytische Philosophen assoziieren Schulen und Ismen mit Dogmatismus und Prokrastination.
So beklagt Dummett den Analytisch-Kontinental-Gegensatz wie folgt:
Da die Philosophie über keine Methodologie verfügt, über die man sich einig wäre,
und keine unbestreitbaren Triumphe kennt, ist sie im besonderen Maße anfällig für
Schismen und Sektierertum; aber diese sind dem Fach nur schädlich. (1993: xi)
Der entschiedenste analytische Angriff auf die Einteilung von Philosophen in Schulen und Positionen ist älter und stammt von Ryle:
In der Philosophie gibt es keinen Platz für Ismen. Die Fragen, über die sich die angeblichen Parteien streiten, sind niemals wichtige philosophische Fragen; und einer
erkennbaren Partei verbunden zu sein, heißt, Sklave eines nichtphilosophischen Vorurteils zugunsten eines (gewöhnlich nichtphilosophischen) Glaubensartikels zu sein.
Ein »So-und-so-ist« zu sein, heißt, philosophisch schwach zu sein. Und während ich
bereit bin, eine solche Schwäche zuzugeben oder sie mir vorwerfen zu lassen, sollte
ich damit genauso wenig angeben wie mit meiner Sehschwäche oder Seekrankheit.
(1937: 153–154)
Diese Worte enthalten eine heilsame Botschaft, und nicht nur für diejenigen, die
Ryle als engstirnigen und verbohrten logischen Behavioristen verunglimpfen. Erstens ist die »Abneigung«, zu der sich Ryle bekennt, gegen jene gerichtet, die nicht
nur sich selbst und ihren Gegnern philosophische Etiketten verpassen, sondern
diese als Waffen in philosophischen Auseinandersetzungen einsetzen. Ein solches
Vorgehen ist ebenso ärgerlich wie weit verbreitet, besonders dann, wenn dabei »Abqualifizierungsphrasen« (Passmore 1961: 2) wie »grober Materialismus«, »naiver
Realismus«, »wilder Idealismus« oder »Scholastizismus« gebraucht werden. Selbst
dort, wo einem philosophischen Ismus ein klarer Sinn anhaftet und dieser auf einen
bestimmten Denker oder eine bestimmte Theorie hervorragend passt, muss das argumentative Gewicht von den Überlegungen zugunsten oder gegen die betreffende
Position getragen werden.
Bedauerlicherweise werden wir sehen, dass sich Ryle selbst nach dem Zweiten
Weltkrieg einer in der Geschichte des Analytisch-Kontinental-Gegensatzes mit am
heftigsten polarisierenden und damit schulbildenden »Wir-und-sie«-Rhetorik bediente (Kap. 3.1). Allerdings ist auch eine weniger anstößige Verwendung von philosophischen Etiketten möglich. Wir können Denker, Werke, Positionen ohne polemische oder dialektische Absicht klassifizieren, und zwar, um ihre Bedeutung zu
klären und um zu erörtern, worum es in einer aufgrund dieser Denker, Werke oder
Positionen entstandenen Kontroverse geht. Ryle räumt ein, dass
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Einleitung
es zu bestimmten Zwecken, wie jenen der Biographie oder der Geschichte von Kulturen (jedoch nicht die der Philosophie selbst), oft nützlich und korrekt ist, Philosophen
entsprechend gewisser allgemeiner Gesinnungen oder Temperamente zu klassifizieren. (1937: 157)
Ihm schweben dabei Dichotomien vor wie die zwischen »zartfühlenden« und »hartgesottenen« (James 1907: 10–19, 118–120), »inflationären« und »deflationären«
(Berlin 1950) oder »prophetischen« und »technischen« Philosophen.
Es versteht sich jedoch nicht von selbst, dass solche Klassifikationen in der Philosophie selber keinen Platz haben. Zum einen ist es nämlich fraglich (und wird auch
in Kap. 4 hinterfragt werden), ob es zwischen Philosophie, Geschichte der Philosophie und Ideengeschichte überhaupt feststehende und verbindliche Trennlinien
gibt. Zum anderen aber, selbst wenn diese Trennlinien existieren, warum sollte es
nicht legitim sein, in all diesen Disziplinen auf Etikettierungen zurückzugreifen? Es
wäre falsch, diesen Vorschlag zurückzuweisen, indem man sich auf den von mir
gerade eingeräumten Punkt beruft, dass nämlich philosophische Etiketten kein argumentatives Gewicht tragen. Ryle zum Beispiel würde vermutlich zugestehen, dass
Argumentieren nicht die einzig legitime Tätigkeit von Philosophen darstellt. Daneben beschreiben Philosophen auch, sie klassifizieren, klären, interpretieren, erläutern, paraphrasieren, formalisieren, illustrieren, fassen zusammen, predigen usw.
Ob all diese anderen Aktivitäten letztlich der Argumentation dienen müssen, ist ein
strittiger Punkt. Unbestreitbar ist aber, dass sich Philosophieren nicht auf Argumentieren reduzieren lässt, selbst wenn man Letzteres in einem sehr weiten Sinne auffasst.
Tatsächlich beruht Ryles Ablehnung von »Ismen« auf zwei unterschiedlichen
Überlegungen. Der ersten zufolge kann es keine verschiedenen Schulen A und B
geben, die sich im Hinblick auf grundlegende Prinzipien- und Methodenfragen bekämpfen. Denn in diesem Falle dürften die Befürworter von A die Vertreter von B
weder so darstellen, als gingen diese einer anderen Art von Philosophie nach, noch
als würden sie schlechte Philosophie betreiben; sie müssten sie vielmehr so darstellen, als wäre das, was sie tun, überhaupt keine Philosophie (und umgekehrt).
Die Kluft bestünde also zwischen Philosophen und Nichtphilosophen und nicht zwischen einer Klasse von Philosophen und einer anderen. (Astronomen etwa haben
keine Partei von Anti-Astrologen) … Die Angehörigen der gegnerischen Schule, die
sich ja für eine Philosophie einsetzen, die in die falsche Richtung geht, sind Opfer
eines prinzipiellen Irrtums, ganz gleich welchen Scharfsinn sie in Fragen des Details an
den Tag legen. Folglich muss jede Denkschule, die sich ihrer selbst als solche bewusst
ist, behaupten, dass die gegnerische Denkschule oder Denkschulen in irgendeiner
Weise philosophisch prinzipienlos sei bzw. seien; und dies tut sie auch. Denn diese
seien blind, was die Prinzipien angeht, die ihre Philosophie zu einer Philosophie und
der Philosophie machen. (1937: 158, 161)
Warum die Frage wichtig ist
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Leider beruht dieses Argument auf einer Annahme, die nicht nur fraglich, sondern
schlicht falsch ist. Ryle setzt voraus, dass die Philosophie den Einzelwissenschaften
insofern gleichgestellt ist, als eine hinreichend fundamentale Meinungsverschiedenheit, insbesondere eine über Prinzipien, Aufgaben und Methoden, einen der Disputanten als Praktizierenden der Disziplin schlicht disqualifizieren würde. Anders
aber als die Einzelwissenschaften ermangelt es der Philosophie an einem allgemein
akzeptierten methodologischen Bezugsrahmen. Das Wesen der Philosophie selbst ist
ja eine strittige Frage der Philosophie, und Ansichten zu dieser Frage sind philosophisch kontrovers. Obschon die Untersuchung der richtigen Ziele und Methoden der
Philosophie heutzutage unter der Bezeichnung »Metaphilosophie« bekannt ist, ist
sie keine eigene, höherstufige Disziplin, sondern ein integraler Bestandteil der Philosophie selbst (Tugendhat 1976: 17–18; Cohen 1986: 1).
Ebenso wie die Philosophie müssen auch die Naturwissenschaften ihre eigenen
Gebiete und Methoden begründen. Sie haben dies jedoch, spätestens seit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, in einer Weise getan, die immer
unumstrittener wurde, mit dem Ergebnis, dass Diskussionen über die Natur der Disziplin keine signifikante Rolle mehr spielen. Selbst in Zeiten wissenschaftlicher Revolutionen betreffen wissenschaftliche Debatten gewöhnlich keine Frage wie die,
was Astronomie ist. Eine Einführung in das Fach wird keinen Überblick über die
sich in dieser Frage bekämpfenden Schulen enthalten – anders als in der Philosophie, wo dies gut möglich wäre.
Es gibt zwei miteinander zusammenhängende Gründe für diese Neigung zum
Konsens. Jemand, der abweichende Ansichten zum Gegenstand einer bestimmten
Wissenschaft hat, beschäftigt sich schlicht und einfach nicht mit diesem besonderen
Feld. Und obwohl es während wissenschaftlicher Revolutionen zu methodologischen Debatten kommt, gilt jemand mit radikal abweichenden Methoden, der zum
Beispiel Beobachtungen und Experimente zugunsten ästhetischer Erwägungen völlig missachtet, schlicht nicht mehr als Wissenschaftler. Dagegen werden grundverschiedene intellektuelle Tätigkeiten, die Behandlung unterschiedlicher Probleme mit
inkompatiblen Methoden und unterschiedlichen Zielen immer noch Philosophie genannt. Es gibt beispielsweise Philosophen, die behaupten würden, Philosophie sollte
weder nach Erkenntnissen noch nach zwingenden Argumenten suchen, sondern
stattdessen Schönheit und geistige Inspiration anstreben. Ob jemand, der jegliche
Auseinandersetzung konsequent vermeidet, noch als Philosoph gelten sollte, ist
eine weitere strittige Frage. Es gibt jedoch Philosophen, darunter auch analytische
Philosophen, die Ryles These zurückweisen würden, dass die Prinzipien »jeglicher
seriöser Ismen allein durch philosophische Argumente begründet werden« (1937:
162; vgl. unten Kap. 6.5).
Das führt uns zu Ryles zweitem Argument gegen die Existenz genuin verschiedenartiger und genuin philosophischer Schulen und Traditionen.
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