Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Prof. Dr. Notger Slenczka, Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin Septuagesimae, 5. Februar 2012, 18 Uhr Predigt über Jeremiah 9,22-23 und Matthäus 9,9-13 I. Reden wir doch einmal über die Sünde. Kommt selten genug vor in unseren Predigten heutzutage, irgendwie antiquiert, das Thema, man fragt sich doch unwillkürlich: Gibt es das eigentlich noch, außerhalb der Kirche: Die Sünde? Einerseits nicht – den Begriff verwendet kaum jemand. Aber das ist ein oberflächlicher Blick. Wer genauer hinsieht, der fragt sich doch, was eigentlich geschieht, wenn das Verhalten von Politikern auf dem Prüfstand steht: Dann fordert die veröffentlichte Meinung lautstark, dass sie nicht sein sollen wie wir, sondern Vorbilder, Maßstäbe, Normerfüller. Dann gehen wir ja schon davon aus, dass irgendwie bei uns und in unserem Alltagsleben die Maßstäbe verrutscht sind; dass wir Präsidenten, Bischöfinnen, Minister, Sportler, Moderatoren brauchen, die ihre Vorbildfunktion wahrnehmen und es uns vorleben, wie man eigentlich sein sollte. Und wir sind enttäuscht – oder auch heimlich begeistert –, wenn sich herausstellt, dass sie eigentlich nicht besser sind als wir. Eben: Nicht makellos. Sünder. Doch, Sünde gibt es. Wir nennen es nicht so, aber wir unterscheiden in den öffentlichen Tribunalen, die wir uns mit schöner Regelmäßigkeit leisten – Vorbilder von schlechten Beispielen. Sünder von Gerechten. Reden wir also von der Sünde. Reden wir aber nicht, so leid es mir tut, von den vielen schillernden und doch so eigentümlich interessanten Taten und Lastern, die jahrhundertelang und bis heute unter diesem Titel laufen und die sich doch meistens um den Umgang mit der Sexualität und mit dem lieben Geld drehen: die Wollust. Der Ehebruch. Der Geiz. Die Gier – hochinteressant, wenn wir sie, zu Recht oder zu Unrecht, bei anderen diagnostizieren und bereden können! Reden wir über die Sünde, aber eben nicht über diese schillernden und interessanten Taten und Handlungen, sondern über eine weniger auffällige, viel weniger bunte, viel weniger interessantere Sünde: Die superbia – Stolz oder Hochmut. Inanis gloria heißt sie bei den scholastischen Ethikern auch: Der leere Glanz. Das leere Rühmen. Denn diese Sünde hat der Predigttext, der erste der beiden, zum Gegenstand: "So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR." (Jer 9,22-23) 1 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Ein Weiser, der mit seiner Weisheit angibt, ein Starker, ein Reicher, der mit seiner Stärke oder seinem Reichtum prahlt. Stolz. Hochmut, zweifellos. Aber was ist eigentlich 'Stolz'? Und warum ist Stolz nach Auffassung der meisten Theologen eine Sünde? II. Lesehilfe von einem spätantiken oder frühmittelalterlichen Theologen aus dem 6. Jh., Papst Gregor I., der den Beinamen 'der Große' erhielt: Stolz, Hochmut hat immer mit der Art und Weise zu tun, wie wir uns zu dem verhalten, was wir haben. Vorausgesetzt also: Wir haben etwas, was uns auszeichnet – Stärke. Reichtum. Weisheit. Fügen wir zur Liste des Jeremia hinzu: Talent. Schönheit. Einfluss. Das können und das sollen wir nicht ignorieren, nichts davon ist an sich irgendwie Sünde. Aber alles birgt eine Gefahr in sich, denn wir müssen uns dazu verhalten. Irgendwie müssen wir uns dazu stellen: Was sagt diese Stärke, dieser Reichtum, diese Weisheit – Talent, Schönheit, Einfluss – über uns? Wie prägt das unser Selbstbild? Macht es uns hochmütig? Was ist genau Hochmut? III. Vier Arten von Stolz oder Hochmut gibt es, sagt Gregor der Große: Die Meinung, dass man dies Gute von sich selbst hat; nah damit verwandt die zweite: die Meinung, dass man das Gute, was man hat, selbst verdient hat – mir hat auch niemand etwas geschenkt, ich habe es mir hart erarbeitet. Jetzt gehört es mir: die Stärke, der Reichtum, die Weisheit, und so fort. Ferner, drittens, gibt es eine Seite des Hochmuts, die mit der Dummheit verwandt ist – das wirklich leere Prahlen: Jemand glaubt, er sei stark, reich, weise, schön talentiert, einflussreich – ist es aber gar nicht: Das Phänomen 'Deutschland sucht den Superstar. Und zuletzt, viertens: Hochmut, Stolz hat es immer mit einem Vergleichen zu tun. Nicht einfach stark, reich, weise sein, sondern allein ausgezeichnet: der Stärkste. Der Reichste, der Weiseste, vielleicht nicht an sich, aber im eigenen Umfeld. Der Hochmütige will alle Bewunderung auf sich vereinen, lehnt alle Götter neben sich ab. IV. Denn um Bewunderung geht es. Hochmut, Stolz ist nicht einfach das Hochgefühl darüber, dass man etwas hat, ausgezeichnet ist vor anderen. Hochmut, Stolz ist auch nicht einfach das Eigenlob: Dass wir uns im stillen Kämmerlein vor den Spiegel stellen und uns auf die Schulter klopfen. Sondern der Hochmütige, die Stolze fragt nach Anerkennung. Er will, sie will, dass andere einstimmen in das Rühmen. Die Hochmütige, der Stolze will bewundert werden für seinen Reichtum, Stärke, Weisheit, Talent, Einfluss und so fort. V. Warum ist Hochmut, warum ist Stolz eigentlich eine Sünde – und das ist beides in der Sicht der christlichen Tradition. Nicht irgendeine Sünde übrigens neben den anderen hochinteressanten, bunten 2 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin und schillernden, auf das Geld und den Sex bezogenen Sünden. Nicht irgendeine neben diesen, sondern die Grundsünde, sagt Augustin, sagt Thomas von Aquin, sagt Luther, hier wird sichtbar, was Sünde eigentlich ist. Fragen wir bei ihnen nach: Was ist das Gegenteil von Hochmut und Stolz? Das Gegenteil ist eine Tugend, die unter die Kardinaltugend des Maßhaltens fällt: Die Haltung der Bescheidenheit. Bescheiden jetzt nicht in dem Sinne, in dem wir von einer Theatervorstellung sagen, sie sei bescheiden gewesen, sondern die Bescheidenheit als Haltung gegenüber dem Guten, was wir haben – Stärke. Reichtum. Weisheit, und so fort. Wer ist bescheiden? Doch wohl der Mensch, antworten diese Theologen, der die eigene Stärke, das Talent, die Weisheit, den Einfluss nicht als etwas betrachtet, was er von sich selbst hat, was er selbst erarbeitet hat, was er sich selbst verdankt. Bescheiden ist ein Mensch, der für seine Stärke, seinen Reichtum, seine Weisheit nicht selbst gerühmt sein will, sondern der weiß, dass das eine unverdiente Gabe ist. Bescheiden ist ein Mensch, der jeden, der ihn bewundert, darauf verweist, dass er eigentlich nichts dafür kann, sondern nur unverdienter Empfänger ist. Bescheiden ist ein Mensch, der für seine Stärke, seinen Reichtum, seine Weisheit dankbar ist. Sie als Geschenk betrachtet. Ein Geschenk, das er nicht mehr als alle anderen verdient hat, das ihm zugefallen ist. Bescheiden ist ein Mensch, der weiß, dass er durch seine Stärke, seinen Reichtum, seine Weisheit nicht vor anderen ausgezeichnet ist, sondern dass er ist und bleibt wie jeder andere – nur eben anders beschenkt. "… wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR." Der Bescheidene ist der Kluge. Der nicht nur weiß, dass er beschenkt ist, sondern, der den Geber kennt und sich mit diesem Geschenk diesem Geber verantwortlich weiß. Ein Geschenk nicht einfach für mich. Nicht eigentlich mir gehört es. Es geht bei dem, was wir haben, nicht um uns. Sondern darum, dass "Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit geschieht auf Erden." VI. Reden wir über die Sünde. Die Sünde ist der Hochmut, der Stolz, sagt Augustin, sprechen Thomas von Aquin und Luther ihm nach. Das genau ist es, was wir meinen, wenn wir 'Sünde' sagen: Der Mensch, der nicht dankbar ist. Der das, was er hat, nicht als unverdientes Geschenk betrachtet, sondern als Privateigentum, das er andern entzieht und für sich behält – mir hat ja auch niemand etwas geschenkt! Ich habe dafür gearbeitet. Meins! Alles für mich. Im Zentrum der Sünde steht die Liebe zu sich selbst – Hochmut und Stolz. Und alles andere folgt – Neid und Habgier und Geiz und Raub und all die anderen Formen, in denen ein Mensch sich auf Kosten anderer bereichert. Das Gegenteil der Sünde ist die Dankbarkeit. Das Wissen darum, dass ich nicht mehr als ein beliebiger anderer wert und würdig bin, dieses Geschenk zu haben. Das Wissen darum, dass ich für dieses Geschenk und den Umgang mit ihm verantwortlich bin – dem "Herrn, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden." 3 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin VII. Soweit hören wir das gern, wenn den Reichen, Starken, Schönen und meinethalben auch den Weisen heimgeleuchtet wird. Nun aber ein Neueinsatz: "Und Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.' Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten." (Matthäus 9,9-13) Der Zöllner. Die Evangelien überliefern das Bild, das die damaligen Zeitgenossen hatten: Der Steuereintreiber für die Römer, der dieses Amt erworben hatte und nun für die verhassten Römer die Steuern einzog, dabei von dem, was er über das gesetzliche Einkommen hinaus verlangte, lebte. Und zwar sehr gut. Mit dem Zöllner verbindet sich der Ruch des Unehrenhaften, der Bestechlichkeit, der Habgier. Die Grundhaltung der Sünde: Alles für mich. Der Zöllner und der Sünder – in einem Atemzug. Reichtum also, aber ohne Anerkennung – so stellen die Evangelien die Zöllner dar. Das Streben nach Bewunderung, das scheitert. Stärke und Reichtum, die von Verachtung begleitet sind. Weisheit, Talent, Einfluss, die von dem Ruch des Erschlichenen, des unrechtmäßigen Besitzes umgeben sind. VIII. "Und Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern." Ein Zöllner. Mit ihm geschieht dasselbe Eigentümliche, was auch bei allen Jüngerberufungen berichtet wird: Wie die Jünger, Petrus, Johannes von ihren Booten und Netzen weggerufen werden und ohne jede Rückfrage und Diskussion folgen, so auch dieser Zöllner. Keine Vorwürfe, kein Kopfwaschen, kein Untersuchungsausschuss, keine 400 Fragen, keine Mahnung zur Transparenz. Jesus sieht keinen Zöllner, sondern er sieht – ausdrücklich – "einen Menschen", der beim Zoll sitzt. Er trennt den Menschen von dem, was er hat und was er tut. Sieht mehr als einen Zöllner und Sünder, sieht mehr als einen Habgierigen, Bestechlichen, mehr als einen Starken, Reichen, Weisen, Talentierten oder Einflussreichen. Sieht unter alledem einen Menschen. Er erkennt ihn an als Mensch. Ruft ihn zu sich: Folge mir. Und er stand auf und folgte ihm. 4 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin Und es bleibt nicht bei dem einen – viele Zöllner und Sünder sitzen mit Jesus zu Tisch. Tischgemeinschaft. Wir essen nicht mit jedem, mit manchen Menschen nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Wer mit einem anderen isst, bei ihm zu Gast ist, ihn zu Gast hat, der erkennt ihn als gemeinschaftsfähig an, als gleichberechtigt und gleichgestellt. Wieder wird unterschieden – nicht Zöllner und Sünder, nicht Starke, Reiche oder Weise, sondern unter all dem und jenseits alles dessen: Menschen. Gleichen Rechtes. Alle der Gemeinschaft wert. IX. "Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?" Die Frage zeigt: Diese Unterscheidung – des Menschen von dem, was er hat und getan hat – ist nicht selbstverständlich. Wissen wir, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir jemandem, der doch so ein Schweinehund ist, die Hand geben sollen. Wissen wir auch, wenn wir uns eigentümlich gebauchpinselt fühlen, wenn wir wichtigen Menschen – Einflussreichen, Weisen, Talentierten – die Hand geben dürfen. Normalerweise identifizieren wir die Menschen mit dem, was sie sind und getan haben – der Mörder, der Dieb, der Betrüger, der Beleidiger. Normalerweise können wir das nicht: unterscheiden zwischen dem Tun – und dem Menschen, der ist wie du und ich. X. Barmherzigkeit. Die Anerkennung, dass ein Mensch immer mehr ist, als er aus sich gemacht hat oder mehr ist, als er besitzt. Dass er am Grunde seines brüchigen und hochmütigen oder verzweifelten Lebens ein von Gott geliebter Mensch ist. Klar, das wissen wir irgendwo alle, und irgendwo finden wir es alle gut. Aber das festzuhalten fällt schwer, wenn es wirklich zum Treffen kommt und wenn diese Einsicht uns auf den Leib rückt. Wenn wir nämlich am Grunde dessen, worauf wir stolz sind und wofür wir Bewunderung erwarten, als Menschen angesprochen werden, die nichts Besonderes sind, die nur in besonderer Weise beschenkt sind, nichts von sich selbst, sondern alles empfangen haben: "Ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke …". Nur ein Mensch! Nichts Besonderes im Vergleich zu denen, die wir verachten. Zöllner und Sünder - behandelt wie Jünger, nicht schlechter als die Pharisäer, wahrgenommen jenseits dessen, was sie haben und getan haben: als Menschen. Gottes geliebte Kinder. Tröstlich nur, wenn man solch ein Verachteter ist. Tröstlich nur, wenn man es hört – über die Verzweiflung an sich selbst hinweg, wenn man angesprochen wird als zu Jesus Christus Gehöriger: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das alte ist vergangen – siehe, es ist alles neu. XI. Dann werden wir dankbar leben. Und dann werden wir vielleicht auch einmal nachdenken, selbständig nachdenken, wenn wieder jemand im Mediendorf – zu Recht oder Unrecht – als Zöllner und Sünder 5 Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin herumgereicht wird. Daran denken, vielleicht, dass wir, als Christen, mehr über ihn oder sie zu sagen haben als dies, dass er ein Zöllner und Sünder ist. Das verleihe Gott uns allen. 6