Weibliche und männliche Sexualität (S. 63-65)

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SOPHINETTE BECKER
Weibliche und männliche Sexualität (S. 63-65)
In den medizinisch-biologischen Wissenschaften gilt die weibliche Sexualität – nicht nur zum Ärger der
Pharmaindustrie – immer noch als »sträflich untererforscht« (Dick 2005: 28). Trotz massiver
Anstrengungen in den letzten Jahren unter Einsatz von Fragebögen, Messungen der Lubrikation, des
vaginalen Säuremilieus, der Klitoris-Durchblutung oder der Reizschwelle für vaginale Vibrationen
»mussten die Forscher zu ihrem Bedauern feststellen, dass der sinnliche Aufruhr bei Frauen ungleich
schwieriger festzumachen ist als jener des Mannes. Während sich beim Mann – funktionierende
Hardware vorausgesetzt – die subjektive Erregung ziemlich genau im körperlichen Ertragswinkel
widerspiegelt […], findet sich bei der Frau kein vergleichbares Maß« (ebd.). Die Zusammenhänge
zwischen psychischer und physischer sexueller Erregung bei der Frau seien »sehr komplex« und
erwiesen sich als statistisch nicht signifikant.
Eine der hartnäckigsten Behauptungen über die biologische Ursache der männlichen Homosexualität,
diese sei auf einem bestimmten Gen-Komplex zu finden (z. B. auf der Xq28-Region), konnte in einer
groß angelegten, bei homosexuellen Männern mit mindestens einem homosexuellen Bruder (und
möglichst auch noch einer homosexuellen Mutter) durchgeführten »genomweiten Suche nach der
sexuellen Orientierung des Mannes« (Müller-Jung 2005: 34) nicht bestätigt werden: »Unsere
Vermutung ist, dass zahlreiche Gene, vermutlich im Zusammenspiel mit vielen Umwelteinflüssen, die
Andersartigkeit der sexuellen Orientierung begründen« (ebd.). Das Fazit der Forscher ist so vage, dass
es sich gleichermaßen über die heterosexuelle Orientierung formulieren ließe.
Diese beiden Befunde zum Stand der Sexualforschung zeigen, dass die von Freud in den Drei
Abhandlungen behandelten Fragen keineswegs in der Zwischenzeit von den »Hardcore-Wissenschaften
« beantwortet worden sind. So sind etwa die Zusammenhänge zwischen Geschlechtsidentität und
sexueller Orientierung nach wie vor (innerhalb und außerhalb der Psychoanalyse) wenig aufgeklärt und
werden kontrovers diskutiert; das beginnt schon mit der Frage, ob Geschlechtsidentität und sexuelle
Orientierung sich nacheinander oder parallel entwickeln. Weitgehend Konsens besteht darüber, dass
eine stabil-flexible Geschlechtsidentität (das heißt eine sichere Geschlechtsidentität, verbunden mit der
Fähigkeit zur Identifikation mit dem anderen Geschlecht) ebenso wie eine stabil-flexible sexuelle
Orientierung (beispielsweise Heterosexualität ohne Homophobie) nichts Naturhaftes, sondern das
Ergebnis gewaltiger Integrations- und Abwehrleistungen ist, die sich für Männer und Frauen
unterschiedlich gestalten.
Für beide Geschlechter stellt sich ein komplexer und konflikthafter Prozess der Integration: Dieser
umfasst körperliche Lust- und Unlust-Empfindungen, aktive und passive Bedürfnisse, libidinöse und
aggressive Triebimpulse, gute und böse Selbst- und Objektrepräsentanzen ebenso wie den Widerspruch
zwischen dem auftauchenden Selbstbewusstsein und den »rätselhaften Botschaften « (Laplanche 1988)
der Erwachsenen. Jungen und Mädchen haben aktive und passive Wünsche, beide identifizieren sich mit
Mutter und Vater, beide begehren beide als Objekt und beide reagieren auf die Beziehung zwischen den
Eltern. Geschlechtsspezifische Brechungen gibt es hingegen durch die Wahrnehmung des
Geschlechtsunterschiedes und der Beziehung zwischen den Eltern sowie durch die geschlechtsspezifisch
aufgeladenen unbewussten Botschaften und Zuschreibungen seitens der Eltern (wie etwa die spezifische
Reaktion der Mutter auf die orale Gier des weiblichen bzw. männlichen Säuglings oder die spezifische
Reaktion des Vaters auf die abhängige Bedürftigkeit des männlichen bzw. weiblichen Säuglings) und
durch das unterschiedliche Erle ben des eigenen Körpers aufgrund verschiedener körperlicher
Gegebenheiten, wozu auch der verbale und averbale Umgang der Eltern mit diesem Körper gehört.
Die Bisexualität ist ein Schlüsselkonstrukt in den Drei Abhandlungen und meines Erachtens ein heute
noch spannendes Konzept – auch wenn man wohl nicht mehr von »konstitutioneller«, sondern eher von
»basaler« oder »psychischer« Bisexualität sprechen würde. Freud ringt um ein Verständnis von
»männlich« und »weiblich«, wobei ihm die Geschlechtsidentität und sexuelles Begehren oft ebenso
durcheinander geraten wie Triebschicksale und Frauenschicksale. Freud sucht zwar Tendenzen zur
Ontologisierung von Begriffen zu vermeiden (wie die Zuordnung von aktiv/ passiv zu männlich/
weiblich oder »Geschlechtscharakter« zur sexuellen Orientierung usw.), kann das aber nicht durchhalten
und erliegt ihnen auch immer wieder – und argumentiert gerade dann dezidiert biologisch.
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