Vogelschutz „Vögel in Deutschland 2010“ zieht Bilanz: Nagoya – mehr als ein Silberstreif am Horizont ? Vor knapp 20 Jahren wurde das Übereinkommen über die biologische Vielfalt auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro verabschiedet. Seit dem Inkrafttreten im Jahre 1993 ist Deutschland Vertragspartei. Die 10. Vertragsstaatenkonferenz, die vom 18. bis 29. Oktober 2010 in Nagoya/Japan abgehalten wurde, stellte den Höhepunkt des Internationalen Jahres der biologischen Vielfalt 2010 dar: Über 18 000 Delegierte aus 193 Vertragsparteien (einschließlich der Europäischen Union) sowie Vertreter/innen von nichtstaatlichen Organisationen verhandelten und diskutierten unter japanischem Vorsitz über Maßnahmen gegen die anhaltende Naturzerstörung. Im aktuellen Bericht „Vögel in Deutschland 2010“ befassen sich der Dachverband Deutscher Avifaunisten, das Bundesamt für Naturschutz und die Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten mit der in Nagoya verabschiedeten Mission 2020, die in der kommenden Dekade, dem durch die UNO erklärten „Jahrzehnt der Biodiversität“, das Maß aller Dinge beim Schutz der biologischen Vielfalt sein soll. I m Übereinkommen über die bio­ logische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) erkennt die Weltvölkergemeinschaft an, dass „die biologische Vielfalt die Funkti­ onsfähigkeit der Ökosysteme und die Bereitstellung der Ökosystemleis­ tungen sichert, die für das mensch­ liche Wohlergehen von wesentlicher Bedeutung sind. Sie sorgt für Ernäh­ rungssicherheit, Gesundheit, saubere Luft und sauberes Wasser, sie trägt zur lokalen Existenzsicherung und zur wirtschaftlichen Entwicklung bei und leistet einen maßgeblichen Beitrag zur Erreichung der Millenni­ ums­Entwicklungsziele, namentlich der Armutsbekämpfung.“* Die CBD verfolgt dementsprechend drei Ziele: die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer * 60 Übersetzung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom Januar 2011. Der Falke 58, 2011 Bestandteile und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile. » Neue Strategie, neue Ziele – Erfolg garantiert? Die Ausgangssituation vor Beginn der 10. Vertragsstaatenkonferenz war alles andere als ermutigend: Die 2002 beschlossenen globalen 2010­Ziele, den weltweiten Verlust an biologischer Vielfalt erheblich zu reduzieren und die dafür verantwortlichen Ursachen zu beseitigen, waren deutlich verfehlt worden. Deshalb stand man vor der schwierigen Aufgabe, die allgemein gehaltenen 2010­Ziele zu präzisieren, eine Erfolgskontrolle einzuführen und einen Rahmenplan auszuarbeiten, der die Vertragsparteien zum Handeln auf breiter Basis verpflichtet. Nach mehr als 14-tägigem Verhandlungsmarathon wurde schließlich ein Strategiekonzept verabschiedet, das aus einer gemeinsamen Vision, der Mission 2020, fünf allgemeinen strategischen Zielen und zwanzig konkreten Kernzielen besteht. Ein ehrgeiziger Plan zur Mobilisierung der finanziellen Mittel, die erforderlich sind, um den weltweiten Biodiversitätsverlust bis 2020 zu stoppen, soll die Umsetzung begleiten. Die Mission 2020 umfasst „die Ergreifung wirksamer und dringender Maßnahmen zur Eindämmung des Verlusts an biologischer Vielfalt, um sicherzustellen, dass bis 2020 die Ökosysteme widerstandsfähig sind und weiterhin die wesentlichen Leistungen bereitstellen und auf diese Weise die Vielfalt des Lebens auf unserem Pla­ neten sichern und zum menschlichen Wohlergehen und zur Beseitigung der Armut beitragen; um dies zu gewähr­ leisten, werden die auf die biologische Vielfalt einwirkenden Belastungen verringert, die Ökosysteme wiederher­ gestellt, die biologischen Ressourcen nachhaltig genutzt und die sich aus der Nutzung der genetischen Res­ sourcen ergebenden Vorteile ausgewo­ gen und gerecht geteilt, angemessene finanzielle Ressourcen bereitgestellt, die Kapazitäten verstärkt, die Belange und Werte der biologischen Vielfalt durchgängig einbezogen, angemessene Strategien wirksam umgesetzt und die Entscheidungsfindung auf fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse und den Vorsorgegrundsatz gestützt.“* Da die Mission 2020 eher umsetzungsals ergebnisorientiert ist, kommt den 20 konkreten, auf der Nagoya-Konferenz festgesetzten Kernzielen eine besondere Bedeutung zu, auch wenn aus Sicht des Naturschutzes das eine oder andere Ziel durchaus ambitionierter hätte gesteckt werden können. Beschlossen wurden u. a. Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen des Biodiversitätsverlustes. Neue Ziele wurden für den Artenschutz und den Schutz der genetischen Vielfalt gesetzt. Zukünftig soll der Wert der Biodiversität und ihrer Dienstleistungen in nationale Planungsprozesse und volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen integriert und durchgängig berücksichtigt werden. Wichtige Zielstellungen sind: • Die Biodiversität schädigende Anreizmaßnahmen, einschließlich der Subventionen, sind bis 2020 eliminiert, ausgelaufen oder reformiert, so dass negative Effekte minimiert oder vermieden werden. für die biologische Vielfalt nicht schädlich ist. • Mindestens 17 % der Landfläche einschließlich der Binnengewässer (weltweit derzeit knapp 13 %) und 10 % aller Meere und Küstengebiete (weltweit derzeit weniger als 1 %) sind durch gut gemanagte, repräsentative und vernetzte Systeme von Schutzgebieten und gebietsbezogene Schutzmaßnahmen zu erhalten. • Bis 2020 sollen das Aussterben von gefährdeten Arten aufgehalten und der Schutzstatus verbessert oder zumindest nicht weiter verschlechtert sein. • Mindestens 15 % ökologisch entwerteter Gebiete sollen wiederhergestellt und geschützt werden. An diesen quantifizierten Kernzielen wird sich jeder Mitgliedsstaat messen lassen müssen, wenn spätestens im Jahr 2020 wieder Bilanz gezogen wird. Dann wird sich auch herausstellen, ob der in Nagoya auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz gemeinschaftlich bekundete Willen, den Verlust der biologischen Vielfalt endlich zu stoppen, mehr war als der Silberstreif am Horizont. Denn – um es mit den Worten unseres Ex-Kanzlers Helmut Kohl zu sagen: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Konkreter: Wir sollten, ja müssen umgehend die Bemühungen zum Erreichen der neuen CBD-Ziele verstärken, damit uns kommende Generationen nicht anklagen, aus dem Versagen bei der Umsetzung der alten 2010-Ziele nichts gelernt zu haben. »»Artenvielfalt und Ökosysteme Um handeln zu können, müssen wir uns darüber im Klaren sein, worum es überhaupt konkret geht. Warum müssen wir die Artenvielfalt schützen? Sind artenreiche Ökosysteme stabiler als artenarme? Übernimmt jede Art in einem Ökosystem eine bestimmte Funktion und ist sie deshalb unersetzlich? Oder können diese Aufgaben in artenreicheren Lebensgemeinschaften von unterschiedlichen Arten übernommen werden und sind sie deshalb austauschbar? Wie beeinflusst die Artenvielfalt die Funktionsfähigkeit von Lebensräumen? Wie hängen ökosystemare Dienstleistungen für den Menschen von der biologischen Vielfalt ab? Trotz jahrzehntelanger Forschung lassen sich Fragen wie diese immer noch nicht abschließend beantworten, zu komplex ist das Faktorengefüge, zu vielgestaltig und mannigfaltig sind die gegenseitigen Wechselwirkungen, als dass die Bedeutung einer einzelnen Art darunter sichtbar werden würde. • Die Verlustrate von natürlichen Lebensräumen einschließlich der Wälder ist mindestens zu halbieren und dort, wo es realisierbar ist, gegen Null zu senken. Degradation und Fragmentierung sind signifikant zu reduzieren. • Bis 2020 sollen land- und forstwirtschaftlich genutzte Gebiete nachhaltig bewirtschaftet werden, um die Erhaltung der biologischen Vielfalt sicherzustellen. • Bis 2020 soll die Umweltverschmutzung, einschließlich überschüssiger Nährstoffe, auf ein Niveau zurückgeführt werden, das Seine Verbreitung wird Modellrechnungen zufolge in den kommenden Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels deutlich abnehmen: der Fitis. Foto: M. Putze. Der Falke 58, 2011 61 Vogelschutz Neueste Erkenntnisse weisen jedoch darauf hin, dass „stabile“ Ökosysteme für das Wohlergehen der Menschheit vorteilhafter sind. Zur Beurteilung der Stabilität unterscheidet man Persistenz (zeitliche Stabilität), Resistenz (Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen) und Resilienz (Fähigkeit eines Systems nach einer Störung selbstständig in den Ausgangszustand zurückzukehren). Untersuchungen belegen, dass die zeitliche Stabilität mit höherer Artenzahl ansteigt. Bemerkenswert ist, dass in der Mis­ sion 2020 die Wiederherstellung der Resilienz von Ökosystemen explizit als eines der 20 Kernziele für das Jahr 2020 definiert ist. »»Vogelartenvielfalt in Deutschland Im Zeitraum von 1980 bis 2005 gehörten 260 regelmäßige Brutvogelarten der einheimischen Fauna an; 25 weitere Arten brüteten nur unregelmäßig, zudem wurden 29 faunenfremde Neozoenarten. Weitere 65 Arten ziehen auf ihren Wanderungen zwischen den Brut- und Überwinterungsgebieten regelmäßig durch Deutschland oder verbleiben hier als Wintergäste. Die übrigen Arten wurden nach 1950 nur ausnahmsweise festgestellt. 40 weitere Arten wurden lediglich vor 1950 als Wildvogel festgestellt. ­Darüber hinaus konnten in Deutschland inzwischen rund 300 nicht-brütende Neozoenarten beobachtet werden – ganz überwiegend aus Haltungen entflogene oder freigelassene Vögel. Das Spektrum der Arten eines Lebensraumes oder Gebietes wird als Artenvielfalt bezeichnet. Sie ist ebenso Teil der biologischen Vielfalt (Biodiversität), wie die genetische Vielfalt und die Vielfalt der Ökosys­ teme. Die heimischen Brutvogelarten sind erwartungsgemäß ungleichmäßig über Deutschland verteilt. Aber es sind nicht nur spezialisierte Arten, die, weil sie beispielsweise ausschließlich Lebensräume der Küsten oder in den Hochgebirgsregionen der Alpen besiedeln, das regionale Artenspektrum bereichern: Aktuelle Ergebnisse zeigen insgesamt eine Zunahme der Artenzahl von SWnach NO-Deutschland, insbesondere die Flussniederungen der mittleren Elbe, der Oder und die gewässerreichen Regionen der Nordostdeutschen Tiefebene zeichnen sich durch eine vergleichsweise reichhaltige Vogelartenvielfalt aus, wie vorläufige Ergebnisse aus dem Atlas deutscher Brutvogelarten (ADEBAR) eindrucksvoll belegen. Dieser Gradient könnte im Zusammenhang mit der intensiveren Landnutzung in den westdeutschen Bundesländern stehen. »»Verlust und Gefährdung Massives Artensterben, ausgelöst durch geologische oder atmosphärisch-kosmische Ursachen, hat es immer wieder gegeben. Das letzte von insgesamt fünf großen erdgeschichtlichen Aussterbeereignissen fand vor 65 Millionen Brutvogelarten je Topographischer Karte 1 : 25 000 (ca. 125 km2). Quelle: ADEBAR (vorläufige Ergebnisse – Stand November 2010; aus Baden-Württemberg und Bayern werden noch Nachmeldungen erwartet). 62 Der Falke 58, 2011 Jahren statt. Der aktuelle, um ein Vielfaches beschleunigte Rückgang der biologischen Vielfalt ist jedoch maßgeblich auf das Handeln des Menschen zurückzuführen und setzte verstärkt nach Beginn der industriellen Revolution ein. Neueste Erhebungen gehen davon aus, dass die derzeitige Aussterberate von 3 bis 130 Arten pro Tag um den Faktor 100 bis 1000 über dem natürlichen Wert liegt. Weltweit sind mehr als ein Drittel der untersuchten Tierund Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Jede vierte Säugetierart, ein Drittel aller Amphibienarten und jede achte Vogelart sind gefährdet. Diese erschreckende Bilanz zog die Weltnaturschutzunion IUCN im November 2009 anlässlich der Veröffentlichung der aktuellen Rote Liste. Hauptursachen des ungünstigen Erhaltungszustandes vieler Arten sind Lebensraumzerstörung, Übernutzung, ille­galer Handel, das Einbringen gebietsfremder Tiere und Pflanzen sowie Umweltverschmutzung. Auch der anthropogen verursachte Klimawandel wirkt sich in zunehmendem Maße negativ auf Verbreitung und Vorkommen von Arten aus. Auch wenn man den Wert einer einzelnen Art im ökologischen Gefüge nicht genau bemessen kann – als sicher kann gelten, dass der Artenschwund ab einer bestimmten Schwelle auch für den Menschen empfindliche Konsequenzen haben wird. Betroffen sind beispielsweise die Speicherung und Filterung von Trinkwasser, die Bestäubung von Nutzpflanzen, der Schutz vor Bodenerosion, die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit oder das Entziehen des Treibhausgases CO2 aus der Atmosphäre. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts sind 132 der weltweit rund 10 000 Vogelarten ausgestorben, davon 19 in den letzten 30 Jahren. Vier weitere kommen zumindest in der Natur nicht mehr vor. Von 15 weiteren Arten, die derzeit noch als „vom Aussterben bedroht“ auf der Roten Liste der IUCN geführt werden, konnten in jüngster Zeit keine Nachweise mehr erbracht werden, sodass in den letzten 500 Jahren etwa 150 Vogelarten verloren gegangen sind. Nur aufgrund gezielter, meist sehr aufwändiger Artenschutzmaßnahmen konnte das Aussterben von mindes- tens 33 weiteren Vogelarten im letzten Jahrhundert verhindert werden. In Deutschland sieht die Situation nicht besser aus: 42 % der heimischen Arten werden als mindestens „gefährdet“ eingestuft, weitere 8 % stehen auf der Vorwarnliste. Auch die Hotspots artenreicher Lebensräume mit hohem Anteil an gefährdeten Vogelarten sind nicht gleichmäßig über Deutschland verteilt: Neben den insgesamt artenreichen Regionen Ostdeutschlands und des Oberrheingrabens fallen hier insbesondere die Küsten und die Alpen auf. »»Artenvielfalt und Klimawandel Unbestritten ist, dass sich der Klimawandel auf Vorkommen und Verbreitung von Pflanzen, Tieren und Ökosystemen auswirkt: Areale verschieben sich unter dem Einfluss der Klimaerwärmung, die Artenzusammensetzung innerhalb von Lebensräumen ändert sich, und etablierte funktionale Wechselwirkungen zwischen einzelnen Arten oder Lebensgemeinschaften werden in nicht vorhersehbarer Weise beeinträchtigt. Der Klimawandel gilt nach dem Landnutzungswandel als der wichtigste Einflussfaktor auf die biologische Vielfalt. Weitgehend unklar ist, wie sich die prognostizierten Klimaveränderungen auf Verbreitungsareale unserer heimischen Vogelarten genau auswirken werden. Schließlich wird sich auch die Landnutzung an die Veränderungen anpassen, was zusätzlich die Artenvielfalt beeinflussen wird. Als hochmobile Tiere können Vögel, dies gilt gleichermaßen für Brut- wie für Rastvögel, rasch auf veränderte Umweltbedingungen reagieren, gleichzeitig können verschiedene Arten sehr unterschiedliche Reaktionen gegenüber veränderten Klimabedingungen zeigen. So hat der zeitigere Beginn des Frühjahrs in den letzten Jahren beispielsweise dazu geführt, dass sich die Brutgebiete mancher Arten nach Norden oder in höher gelegene Gebiete verlagert haben. Die zeitlichen Verschiebungen betreffen auch das Nahrungs­angebot, z. B. zum Zeitpunkt der Jungenaufzucht, was erheblichen Einfluss auf den Bruterfolg mancher Vogelarten IUCN Red List alle Arten gefährdete Arten In freier Wildbahn Vom ausgestorben Aussterben 4 (< 1%) bedroht 190 (15%) keine ausreichenden Daten 66 (< 1%) Gefährdet 1226 (12%) Vorwarnliste 835 (8%) Gefährdet 669 (55%) Stark gefährdet 363 (30%) ungefährdet 7729 (79%) Rote Liste Brutvögel Deutschland alle Arten gefährdete Arten Ausgestorben oder verschollen 16 (15%) Extrem selten 26 (24%) Gefährdet 110 (42%) Vom Aussterben bedroht 30 (27%) Gefährdet 14 (13%) ungefährdet 129 (50%) Vorwarnliste 21 (8%) Stark gefährdet 24 (22%) Gefährdungsstatus aller Vogelarten weltweit (oben; basierend auf Angaben der WorldDataBase 2008 von BirdLife International; ausgestorbene Arten nicht bilanziert) und der deutschen Brutvogelarten (unten; nach Südbeck et al. 2007; ausgestorbene oder verschollene Arten sind in der Bilanz enthalten). nehmen kann. Für die hier überwinternden Zugvogelarten gilt überwiegend: Die milden Winter der vergangenen beiden Jahrzehnte führten zur Verlagerung von Überwinterungsgebieten nach Nordosten. Zu den räumlichen Veränderungen kommen zeitliche Verschiebungen der Zugzeiten. Im Rahmen eines vom Dachverband Deutscher Avifaunisten in Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Gottschalk von der JustusVorkommen von gefährdeten Vogelarten in Deutschland. Angegeben ist der prozentuale Anteil der gefährdeten Brutvogelarten pro Kartenblatt der Topographischen Karte 1 : 25 000 (ca. 125 km2) an den mittelhäufigen und seltenen Vogelarten Deutschlands. Die Ergebnisse basieren auf vorläufigen Daten des Projektes ADEBAR (Atlas deutscher Brutvogel­arten). Trotz der noch zu erwartenden Verbesserungen lassen sich aus der Karte schon jetzt die Hotspots der gefährdeten Brutvögel Deutschlands gut erkennen. Der Falke 58, 2011 63 Vogelschutz Der Bluthänfling wird in Deutschland mittlerweile auf der Vorwarnliste der gefährdeten Arten geführt. Die Bestände gehen sowohl lang- als auch kurzfristig zurück. Foto: M. Grimm. Liebig-Universität Gießen durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsvorhabens, das vom Bundesamt für Naturschutz finanziell unterstützt wurde, konnten erstmals hochauflösende Karten über die Brutverbreitung häufiger Brutvogelarten erstellt und deren klimainduzierte Veränderungen prognostiziert werden. Die Prognosen basieren auf Daten der Landnutzung und berücksichtigen die klimatischen und topographischen Verhältnisse Deutschlands. Zur Berechnung von zukünftigen Vogelverbreitungen wurde beispielhaft das Klimaszenario A2 des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) verwendet. In diesem wird eine ökonomisch orientierte, regional handelnde (also nicht globalisierte) Welt angenommen, in der eine starke Technologieentwicklung stattfindet, die sich aber nur langsam in andere Weltregionen verbreitet. Danach muss im Verlauf dieses Jahrhunderts in Deutschland mit einer Erhöhung der mittleren Lufttemperatur von 2,5 °C gerechnet werden. Die Sommerniederschlagsmenge soll bis Mitte dieses Jahrhunderts um mindestens 15 % abnehmen und die Winterniederschlagsmenge um rund 50 % zunehmen – Veränderungen, 64 Der Falke 58, 2011 die auf regionaler oder gar lokaler Ebene allerdings sehr unterschiedlich ausfallen können. Der Klimawandel für den prognostizierten Zeitraum 2021–2050 wirkt sich bei angenommener gleicher Landnutzung in Deutschland auf Vogelarten sehr unterschiedlich aus. Die Modellprognosen ergeben z. B. eine Verkleinerung des Verbreitungsgebietes beim Fitis um 22 %, die von einer Abnahme von derzeit rund 1 Mio. auf einen Bestand von nur noch rund 400 000 Brutpaaren begleitet wird. Solche Modellrechnungen sind sicher noch recht grob, doch legen sie tendenziell nahe, dass zumindest einige Arten der heimischen Brutvogelwelt in erheblichem Maße auf die prognostizierten Klimaveränderungen reagieren werden. Wenngleich der Einfluss des Klimawandels auf die Verbreitung der heimischen Vogelarten nachweislich groß ist, soll hier doch betont werden, dass die zu erwartenden Änderungen der Landnutzung – sie wurde bei den Modellberechnungen zum Einfluss des Klimawandels konstant gehalten – absehbar einen wesentlich größeren Effekt auf Verbreitung und Vorkommen der heimischen Brutvogelarten haben werden. Dennoch gilt: Insbesondere die Identifikation von Arealen mit starken klimabedingten Veränderungen ist aus naturschutzplanerischer Sicht von großer Bedeutung, eröffnen sich doch dadurch Möglichkeiten, auf den betroffenen Flächen artspezifische Maßnahmen zu treffen, die unerwünschten Auswirkungen auf Habitateignung oder Brutbestand entgegenwirken können. Prognostizierte Veränderung der Verbreitung und Abundanz des Fitis in Deutschland infolge des Klimawandels. Danach wird der Fitis bis 2050 heute noch besiedelte Habitate vor allem im Süden Deutschlands aufgeben. Hellgrüne Bereiche stellen Flächen mit geringer, dunkelgrüne Flächen mit hoher Dichte und weiße Flächen ungeeignete Habitate dar. Links: heutige Verbreitung, rechts: Verbreitung 2050. Die zukünftige Verbreitung basiert auf dem Emissionsszenario A2 des IPCC zum Klimawandel. » Werte der biologischen Vielfalt gesellschaftlich verankern 120 +1 % 100 – 11 % 80 60 40 – 49 % alle häufigen Arten (137 Arten) Arten der Wälder (30 Arten) Arten der Agrarlandschaft (36 Arten) 20 EBCC/RSPB/BirdLife/Statistics Netherlands 0 1980 1985 2000 1995 1990 2005 Im „Bericht zur Bewertung der biologischen Vielfalt Europas 2010“ der Europäischen Umweltagentur wird die Populationsentwicklung häufiger Brutvögel Europas als Index dargestellt. Dieser gehört zu den Schlüsselindikatoren einer nachhaltigen Entwicklung in Europa. 120 Zielwerterreichung in % Zielwert 100 80 69 % 60 40 20 BfN (2010) 0 2015 2014 2012 2010 2008 Kein statistisch signifikanter Trend feststellbar. 2006 2004 2002 2000 1998 1996 1994 1992 1990 1975 1970 In Deutschland ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen worden. Mit der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS) hat die Bundesregierung im Jahr 2007 eine wesentliche Grundlage für die Verankerung der biologischen Vielfalt in einer Vielzahl von gesellschaftlichen Bereichen gelegt. Die Umsetzung der NBS verlangt nach einer verlässlichen und transparenten Erfolgskontrolle. Diese erfolgt mithilfe von 19 Indikatoren, die sich an den Zielen der NBS orientieren und regelmäßig aktualisiert werden. Die aktuelle Bilanz im Indikatorenbericht 2010 zur NBS ist ernüchternd: Bei allen wesentlichen Einflussfaktoren wie Nährstoffeintrag und Flächenverbrauch ebenso wie bei Zustandsgrößen der Gewässerqualität, der Struktur der Auen, des Erhaltungszustands von FFHArten und -Lebensraumtypen sowie der Bestände von Vogelarten liegen die Indikatorwerte weit oder sehr weit vom Zielbereich entfernt. Die Bestandssituation der heimischen Brutvogelarten wird in der NBS für zwei Indikatoren herangezogen: Der Indikator „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ basiert auf den Bestandsgrößen und -trends von 59 Vogelarten und der Indikator „Gefährdete Arten“ auf der Gefährdungssituation heimischer Wirbeltiere. Ebenso wie auf Bundesebene wird in vielen Bundesländern an vogelbasierten Indikatoren gearbeitet, um die Nachhaltigkeit der Landnutzung und die Auswirkungen der Agrarumweltförderung darzustellen. Der Indikator „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“ liefert eine Maßzahl über die bundesweiten Bestandsgrößen ausgewählter repräsentativer Vogelarten, die in Beziehung zum Zielwert für das Jahr 2015 gesetzt wird. Die Größe der Bestände zeigt die Eignung der Landschaft als Lebensraum für die ausgewählten Vogelarten an. Da neben diesen Vogelarten auch Pflanzen und andere Tierarten an eine reichhaltig gegliederte Landschaft mit intakten, nachhaltig genutzten Lebensräumen gebunden sind, bildet der Indikator Index 140 Der aktuelle Wert liegt noch weit vom Zielwert entfernt. Die 6 Hauptlebensraumtypen fließen mit folgenden Anteilen in den Gesamtindikator ein: Agrarland Wälder 50 % 27 % Siedlungen Binnengewässer 11 % 6% Küsten/Meere Alpen 3% 3% Wie ein Fieberthermometer zeigt der Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt (NHI) die Landschaftsqualität und Nachhaltigkeit der Landnutzung an. Der Indikator ist Bestandteil der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt und der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Für den NHI werden die artspezifischen Bestandsentwicklungen von 59 ausgewählten Brutvogelarten zusammengefasst. Der NHI bestätigt das Bild: Im Jahr 2008 liegt der Wert des Nachhaltigkeitsindikators für Artenvielfalt und Landschaftsqualität bei 69 % des Zielwertes für das Jahr 2015. Der Indikatorwert stagniert in den Jahren 1998 bis 2008 und liegt noch weit vom Zielwert entfernt. indirekt auch die Entwicklung zahlreicher weiterer Arten in der Landschaft und die Nachhaltigkeit der Landnutzung ab. Bisher wurde auf positive Entwicklungen des Indikators jedoch vergeblich gewartet: Der Indikatorwert stagnierte in den letzten zehn Jahren und liegt weit vom Zielwert entfernt – ein weiterer Beleg dafür, dass die 2010-Ziele in Deutschland nicht erreicht wurden. » Ausblick Um die Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt und ihres neuen strategischen Plans zu unterstützen, sprachen sich die Der Falke 58, 2011 65 Vogelschutz Ab Mitte Februar 2011 erhältlich: Vögel in Deutschland 2010 Schwerpunkt der Ausgabe sind die neuen, auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz festgesetzten Kernziele des Übereinkommens über die biologische Vielfalt und ihre Relevanz für den Vogelschutz in Deutschland. Bezug: DDA-Schriftenversand, z. H. Thomas Thissen, An den Speichern 4a, 48157 Münster. Tel: 0251/ 2101400, E-Mail: [email protected], Internet: www.dda-web.de Schutzgebühr: 7,00 EUR zzgl. Versandkosten Vertragsstaaten dafür aus, 2011 bis 2020 zur UN-Jahrzehnt der Biodiversität zu erklären. Eine solche Dekade soll helfen, den im Internationalen Jahr der Biodiversität wieder aufgenommenen Schwung mitzunehmen und die dringend notwendige Integration des Biodiversitätsschutzes in alle Politikbereiche zu fördern. Die Bundesregierung ist aufgefordert, den neuen strategischen Plan der CBD und seine 20 Kernziele – sofern nicht bereits Bestandteil – in die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt zu integrieren und umgehend umzusetzen. Die Länder tragen bei der Umsetzung eine wesentliche Verantwortung und sind aufgerufen, mit wirksamen Maßnahmen den Schutz von Natur und Landschaft zu verbessern. Ein erster Schritt wurde bereits getan: Mit dem „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ soll die Umsetzung der NBS ab 2011 finanziell unterstützt werden – vorgesehen sind jährlich 15 Mio. Euro an Fördermitteln. Gefördert werden Maßnahmen zur Verbesserung ökosystemarer Dienstleistungen von Lebensräumen, zum Schutz von Tier- und Pflanzenarten, für deren Erhaltung Deutschland in besonderem Maße Verantwortung trägt, und in Zentren biologischer Vielfalt (sogenannte Hotspots); auch Maßnahmen zur Erreichung anderer Ziele der NBS sollen gefördert werden. In das „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ wurden sieben Vogelarten aufgenommen, für deren Erhaltung Deutschland besonders verantwortlich zeichnet: Bergente, Goldregenpfeifer, Kiebitz, Mittelspecht, Rotmilan, Trauerente und Zwergschwan. Neben dem verstärkten Schutz dieser Vogelarten strebt Keine Stromleitungen, keine Straßen und weite Sicht, so wünschen sich Großtrappen ihren Lebensraum. In Deutschland ist davon wenig übrig geblieben. Foto: H. Glader die NBS die effektive Umsetzung der Vogelschutzrichtlinie in Deutschland und den Ausbau des Schutzgebietssystems Natura 2000 zu einem wirksamen Netz für den Schutz europäischer Vogelarten an. Christoph Sudfeldt, Rainer Dröschmeister, Torsten Langgemach, Johannes Wahl Informationen zum Thema: Ausführliche Informationen zu den Beschlüssen der CBD sind unter folgendem Link abrufbar (ausschließlich in englischer Sprache): www.cbd. int/nagoya/outcomes. Seit Januar 2011 liegt eine deutsche Übersetzung des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vor, die noch ins Internet gestellt werden soll. http://www.birdlife.org/action/science/ species/global_species_programme/ red_list.html Südbeck P, Bauer H-G, Boschert M, Boye P, Knief W 2007: Rote Liste der Brutvögel Deutschlands. 4. Fassung. Ber. Vogelschutz 44: 23-81. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) 2010: Indikatorenbericht 2010 zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. BMU, Bonn. Dr. Christoph Sudfeldt ist Geschäftsführer des Dachverbandes Deutscher Avifaunisten und Beiratsmitglied im Präsidium des Deutschen Rates für Vogelschutz. Rainer Dröschmeister ist seit 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Naturschutz tätig. Schwerpunkte: bundesweites Monitoring von Tieren und Indikatorenentwicklung. Dr. Johannes Wahl koordiniert das bundesweite Monitoring rastender Wasservögel im DDA und vertritt die Nichtregierungsorganisiationen Deutschlands bei Wetlands International. Dr. Torsten Langgemach ist Leiter der Staatlichen Vogelschutzwarte im Landesumweltamt Brandenburg und Geschäftsführer der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten 66 Der Falke 58, 2011