Nagoya – mehr als ein Silberstreif am Horizont

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Vogelschutz
„Vögel in Deutschland 2010“ zieht Bilanz:
Nagoya – mehr als ein
Silberstreif am Horizont ?
Vor knapp 20 Jahren wurde das Übereinkommen über die biologische Vielfalt auf der Konferenz der Vereinten Nationen für
Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro verabschiedet. Seit
dem Inkrafttreten im Jahre 1993 ist Deutschland Vertragspartei. Die 10. Vertragsstaatenkonferenz, die vom 18. bis 29.
Oktober 2010 in Nagoya/Japan abgehalten wurde, stellte den
Höhepunkt des Internationalen Jahres der biologischen Vielfalt
2010 dar: Über 18 000 Delegierte aus 193 Vertragsparteien
(einschließlich der Europäischen Union) sowie Vertreter/innen
von nichtstaatlichen Organisationen verhandelten und diskutierten unter japanischem Vorsitz über Maßnahmen gegen die
anhaltende Naturzerstörung. Im aktuellen Bericht „Vögel in
Deutschland 2010“ befassen sich der Dachverband Deutscher
Avifaunisten, das Bundesamt für Naturschutz und die Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten mit der in Nagoya
verabschiedeten Mission 2020, die in der kommenden Dekade,
dem durch die UNO erklärten „Jahrzehnt der Biodiversität“, das
Maß aller Dinge beim Schutz der biologischen Vielfalt sein soll.
I
m Übereinkommen über die bio­
logische Vielfalt (Convention on
Biological Diversity, CBD) erkennt
die Weltvölkergemeinschaft an, dass
„die biologische Vielfalt die Funkti­
onsfähigkeit der Ökosysteme und die
Bereitstellung der Ökosystemleis­
tungen sichert, die für das mensch­
liche Wohlergehen von wesentlicher
Bedeutung sind. Sie sorgt für Ernäh­
rungssicherheit, Gesundheit, saubere
Luft und sauberes Wasser, sie trägt
zur lokalen Existenzsicherung und
zur wirtschaftlichen Entwicklung
bei und leistet einen maßgeblichen
Beitrag zur Erreichung der Millenni­
ums­Entwicklungsziele, namentlich
der Armutsbekämpfung.“* Die CBD
verfolgt dementsprechend drei Ziele:
die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer
*
60
Übersetzung des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom Januar 2011.
Der Falke 58, 2011
Bestandteile und die ausgewogene
und gerechte Aufteilung der sich aus
der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile.
» Neue Strategie, neue Ziele –
Erfolg garantiert?
Die Ausgangssituation vor Beginn
der 10. Vertragsstaatenkonferenz war
alles andere als ermutigend: Die 2002
beschlossenen globalen 2010­Ziele,
den weltweiten Verlust an biologischer Vielfalt erheblich zu reduzieren und die dafür verantwortlichen
Ursachen zu beseitigen, waren deutlich verfehlt worden. Deshalb stand
man vor der schwierigen Aufgabe,
die allgemein gehaltenen 2010­Ziele
zu präzisieren, eine Erfolgskontrolle
einzuführen und einen Rahmenplan
auszuarbeiten, der die Vertragsparteien zum Handeln auf breiter
Basis verpflichtet. Nach mehr als
14-tägigem Verhandlungsmarathon
wurde schließlich ein Strategiekonzept verabschiedet, das aus einer
gemeinsamen Vision, der Mission
2020, fünf allgemeinen strategischen
Zielen und zwanzig konkreten Kernzielen besteht. Ein ehrgeiziger Plan
zur Mobilisierung der finanziellen
Mittel, die erforderlich sind, um den
weltweiten Biodiversitätsverlust bis
2020 zu stoppen, soll die Umsetzung
begleiten.
Die Mission 2020 umfasst „die
Ergreifung wirksamer und dringender
Maßnahmen zur Eindämmung des
Verlusts an biologischer Vielfalt, um
sicherzustellen, dass bis 2020 die
Ökosysteme widerstandsfähig sind und
weiterhin die wesentlichen Leistungen
bereitstellen und auf diese Weise die
Vielfalt des Lebens auf unserem Pla­
neten sichern und zum menschlichen
Wohlergehen und zur Beseitigung der
Armut beitragen; um dies zu gewähr­
leisten, werden die auf die biologische
Vielfalt einwirkenden Belastungen
verringert, die Ökosysteme wiederher­
gestellt, die biologischen Ressourcen
nachhaltig genutzt und die sich aus
der Nutzung der genetischen Res­
sourcen ergebenden Vorteile ausgewo­
gen und gerecht geteilt, angemessene
finanzielle Ressourcen bereitgestellt,
die Kapazitäten verstärkt, die Belange
und Werte der biologischen Vielfalt
durchgängig einbezogen, angemessene
Strategien wirksam umgesetzt und die
Entscheidungsfindung auf fundierte
wissenschaftliche Erkenntnisse und
den Vorsorgegrundsatz gestützt.“*
Da die Mission 2020 eher umsetzungsals ergebnisorientiert ist, kommt den
20 konkreten, auf der Nagoya-Konferenz festgesetzten Kernzielen eine
besondere Bedeutung zu, auch wenn
aus Sicht des Naturschutzes das eine
oder andere Ziel durchaus ambitionierter hätte gesteckt werden können.
Beschlossen wurden u. a. Maßnahmen zur Bekämpfung der Ursachen
des Biodiversitätsverlustes. Neue
Ziele wurden für den Artenschutz
und den Schutz der genetischen Vielfalt gesetzt. Zukünftig soll der Wert
der Biodiversität und ihrer Dienstleistungen in nationale Planungsprozesse und volkswirtschaftliche
Gesamtrechnungen integriert und
durchgängig berücksichtigt werden.
Wichtige Zielstellungen sind:
• Die Biodiversität schädigende
Anreizmaßnahmen, einschließlich
der Subventionen, sind bis 2020
eliminiert, ausgelaufen oder reformiert, so dass negative Effekte
minimiert oder vermieden werden.
für die biologische Vielfalt nicht
schädlich ist.
• Mindestens 17 % der Landfläche
einschließlich der Binnengewässer
(weltweit derzeit knapp 13 %) und
10 % aller Meere und Küstengebiete
(weltweit derzeit weniger als 1 %)
sind durch gut gemanagte, repräsentative und vernetzte Systeme
von Schutzgebieten und gebietsbezogene Schutzmaßnahmen zu
erhalten.
• Bis 2020 sollen das Aussterben von
gefährdeten Arten aufgehalten und
der Schutzstatus verbessert oder
zumindest nicht weiter verschlechtert sein.
• Mindestens 15 % ökologisch entwerteter Gebiete sollen wiederhergestellt und geschützt werden.
An diesen quantifizierten Kernzielen
wird sich jeder Mitgliedsstaat messen lassen müssen, wenn spätestens
im Jahr 2020 wieder Bilanz gezogen
wird. Dann wird sich auch herausstellen, ob der in Nagoya auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz gemeinschaftlich bekundete Willen, den Verlust
der biologischen Vielfalt endlich zu
stoppen, mehr war als der Silberstreif
am Horizont. Denn – um es mit den
Worten unseres Ex-Kanzlers Helmut
Kohl zu sagen: „Entscheidend ist,
was hinten rauskommt“. Konkreter:
Wir sollten, ja müssen umgehend
die Bemühungen zum Erreichen der
neuen CBD-Ziele verstärken, damit
uns kommende Generationen nicht
anklagen, aus dem Versagen bei
der Umsetzung der alten 2010-Ziele
nichts gelernt zu haben.
»»Artenvielfalt und Ökosysteme
Um handeln zu können, müssen wir
uns darüber im Klaren sein, worum
es überhaupt konkret geht. Warum
müssen wir die Artenvielfalt schützen? Sind artenreiche Ökosysteme
stabiler als artenarme? Übernimmt
jede Art in einem Ökosystem eine
bestimmte Funktion und ist sie deshalb unersetzlich? Oder können diese
Aufgaben in artenreicheren Lebensgemeinschaften von unterschiedlichen Arten übernommen werden
und sind sie deshalb austauschbar?
Wie beeinflusst die Artenvielfalt
die Funktionsfähigkeit von Lebensräumen? Wie hängen ökosystemare
Dienstleistungen für den Menschen
von der biologischen Vielfalt ab?
Trotz jahrzehntelanger Forschung
lassen sich Fragen wie diese immer
noch nicht abschließend beantworten,
zu komplex ist das Faktorengefüge,
zu vielgestaltig und mannigfaltig sind
die gegenseitigen Wechselwirkungen,
als dass die Bedeutung einer einzelnen
Art darunter sichtbar werden würde.
• Die Verlustrate von natürlichen
Lebensräumen einschließlich der
Wälder ist mindestens zu halbieren und dort, wo es realisierbar ist,
gegen Null zu senken. Degradation
und Fragmentierung sind signifikant zu reduzieren.
• Bis 2020 sollen land- und forstwirtschaftlich genutzte Gebiete
nachhaltig bewirtschaftet werden,
um die Erhaltung der biologischen
Vielfalt sicherzustellen.
• Bis 2020 soll die Umweltverschmutzung, einschließlich überschüssiger Nährstoffe, auf ein
Niveau zurückgeführt werden, das
Seine Verbreitung wird Modellrechnungen zufolge in den kommenden Jahrzehnten
aufgrund des Klimawandels deutlich abnehmen: der Fitis. Foto: M. Putze.
Der Falke 58, 2011
61
Vogelschutz
Neueste Erkenntnisse weisen jedoch
darauf hin, dass „stabile“ Ökosysteme
für das Wohlergehen der Menschheit
vorteilhafter sind. Zur Beurteilung
der Stabilität unterscheidet man Persistenz (zeitliche Stabilität), Resistenz
(Widerstandsfähigkeit
gegenüber
Störungen) und Resilienz (Fähigkeit
eines Systems nach einer Störung
selbstständig in den Ausgangszustand
zurückzukehren).
Untersuchungen
belegen, dass die zeitliche Stabilität mit höherer Artenzahl ansteigt.
Bemerkenswert ist, dass in der Mis­
sion 2020 die Wiederherstellung der
Resilienz von Ökosystemen explizit
als eines der 20 Kernziele für das Jahr
2020 definiert ist.
»»Vogelartenvielfalt in
Deutschland
Im Zeitraum von 1980 bis 2005
gehörten 260 regelmäßige Brutvogelarten der einheimischen Fauna
an; 25 weitere Arten brüteten nur
unregelmäßig, zudem wurden 29 faunenfremde Neozoenarten. Weitere 65
Arten ziehen auf ihren Wanderungen
zwischen den Brut- und Überwinterungsgebieten regelmäßig durch
Deutschland oder verbleiben hier als
Wintergäste. Die übrigen Arten wurden nach 1950 nur ausnahmsweise
festgestellt. 40 weitere Arten wurden lediglich vor 1950 als Wildvogel
festgestellt. ­Darüber hinaus konnten
in Deutschland inzwischen rund 300
nicht-brütende Neozoenarten beobachtet werden – ganz überwiegend
aus Haltungen entflogene oder freigelassene Vögel.
Das Spektrum der Arten eines
Lebensraumes oder Gebietes wird
als Artenvielfalt bezeichnet. Sie ist
ebenso Teil der biologischen Vielfalt
(Biodiversität), wie die genetische
Vielfalt und die Vielfalt der Ökosys­
teme. Die heimischen Brutvogelarten
sind erwartungsgemäß ungleichmäßig über Deutschland verteilt. Aber
es sind nicht nur spezialisierte Arten,
die, weil sie beispielsweise ausschließlich Lebensräume der Küsten
oder in den Hochgebirgsregionen
der Alpen besiedeln, das regionale
Artenspektrum bereichern: Aktuelle
Ergebnisse zeigen insgesamt eine
Zunahme der Artenzahl von SWnach NO-Deutschland, insbesondere
die Flussniederungen der mittleren
Elbe, der Oder und die gewässerreichen Regionen der Nordostdeutschen Tiefebene zeichnen sich durch
eine vergleichsweise reichhaltige
Vogelartenvielfalt
aus, wie vorläufige Ergebnisse aus dem Atlas deutscher Brutvogelarten (ADEBAR) eindrucksvoll belegen.
Dieser Gradient könnte im
Zusammenhang mit der
intensiveren Landnutzung in
den westdeutschen Bundesländern stehen.
»»Verlust und Gefährdung
Massives Artensterben, ausgelöst durch geologische oder
atmosphärisch-kosmische
Ursachen, hat es immer wieder gegeben. Das letzte von
insgesamt fünf großen erdgeschichtlichen Aussterbeereignissen fand vor 65 Millionen
Brutvogelarten je Topographischer
Karte 1 : 25 000 (ca. 125 km2). Quelle: ADEBAR (vorläufige Ergebnisse –
Stand November 2010; aus Baden-Württemberg und Bayern werden noch Nachmeldungen
erwartet).
62
Der Falke 58, 2011
Jahren statt. Der aktuelle, um ein
Vielfaches beschleunigte Rückgang
der biologischen Vielfalt ist jedoch
maßgeblich auf das Handeln des
Menschen zurückzuführen und setzte
verstärkt nach Beginn der industriellen Revolution ein.
Neueste Erhebungen gehen davon
aus, dass die derzeitige Aussterberate
von 3 bis 130 Arten pro Tag um den
Faktor 100 bis 1000 über dem natürlichen Wert liegt. Weltweit sind mehr
als ein Drittel der untersuchten Tierund Pflanzenarten vom Aussterben
bedroht. Jede vierte Säugetierart, ein
Drittel aller Amphibienarten und jede
achte Vogelart sind gefährdet. Diese
erschreckende Bilanz zog die Weltnaturschutzunion IUCN im November
2009 anlässlich der Veröffentlichung
der aktuellen Rote Liste. Hauptursachen des ungünstigen Erhaltungszustandes vieler Arten sind Lebensraumzerstörung,
Übernutzung,
ille­galer Handel, das Einbringen
gebietsfremder Tiere und Pflanzen
sowie Umweltverschmutzung. Auch
der anthropogen verursachte Klimawandel wirkt sich in zunehmendem
Maße negativ auf Verbreitung und
Vorkommen von Arten aus. Auch
wenn man den Wert einer einzelnen
Art im ökologischen Gefüge nicht
genau bemessen kann – als sicher
kann gelten, dass der Artenschwund
ab einer bestimmten Schwelle auch
für den Menschen empfindliche Konsequenzen haben wird. Betroffen
sind beispielsweise die Speicherung
und Filterung von Trinkwasser, die
Bestäubung von Nutzpflanzen, der
Schutz vor Bodenerosion, die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit oder das
Entziehen des Treibhausgases CO2
aus der Atmosphäre.
Seit Beginn des 16. Jahrhunderts
sind 132 der weltweit rund 10 000
Vogelarten ausgestorben, davon 19
in den letzten 30 Jahren. Vier weitere kommen zumindest in der Natur
nicht mehr vor. Von 15 weiteren
Arten, die derzeit noch als „vom
Aussterben bedroht“ auf der Roten
Liste der IUCN geführt werden, konnten in jüngster Zeit keine Nachweise
mehr erbracht werden, sodass in den
letzten 500 Jahren etwa 150 Vogelarten verloren gegangen sind. Nur
aufgrund gezielter, meist sehr aufwändiger Artenschutzmaßnahmen
konnte das Aussterben von mindes-
tens 33 weiteren Vogelarten im letzten Jahrhundert verhindert werden.
In Deutschland sieht die Situation nicht besser aus: 42 % der heimischen Arten werden als mindestens „gefährdet“ eingestuft, weitere
8 % stehen auf der Vorwarnliste.
Auch die Hotspots artenreicher
Lebensräume mit hohem Anteil an
gefährdeten Vogelarten sind nicht
gleichmäßig über Deutschland verteilt: Neben den insgesamt artenreichen Regionen Ostdeutschlands
und des Oberrheingrabens fallen
hier insbesondere die Küsten und die
Alpen auf.
»»Artenvielfalt und Klimawandel
Unbestritten ist, dass sich der Klimawandel auf Vorkommen und Verbreitung von Pflanzen, Tieren und
Ökosystemen auswirkt: Areale verschieben sich unter dem Einfluss der
Klimaerwärmung, die Artenzusammensetzung innerhalb von Lebensräumen ändert sich, und etablierte
funktionale Wechselwirkungen zwischen einzelnen Arten oder Lebensgemeinschaften werden in nicht vorhersehbarer Weise beeinträchtigt. Der
Klimawandel gilt nach dem Landnutzungswandel als der wichtigste Einflussfaktor auf die biologische Vielfalt.
Weitgehend unklar ist, wie sich
die prognostizierten Klimaveränderungen
auf
Verbreitungsareale unserer heimischen Vogelarten
genau auswirken werden. Schließlich
wird sich auch die Landnutzung an
die Veränderungen anpassen, was
zusätzlich die Artenvielfalt beeinflussen wird. Als hochmobile Tiere können Vögel, dies gilt gleichermaßen
für Brut- wie für Rastvögel, rasch auf
veränderte Umweltbedingungen reagieren, gleichzeitig können verschiedene Arten sehr unterschiedliche
Reaktionen gegenüber veränderten
Klimabedingungen zeigen. So hat der
zeitigere Beginn des Frühjahrs in den
letzten Jahren beispielsweise dazu
geführt, dass sich die Brutgebiete
mancher Arten nach Norden oder
in höher gelegene Gebiete verlagert
haben. Die zeitlichen Verschiebungen
betreffen auch das Nahrungs­angebot,
z. B. zum Zeitpunkt der Jungenaufzucht, was erheblichen Einfluss auf
den Bruterfolg mancher Vogelarten
IUCN Red List
alle Arten
gefährdete Arten
In freier Wildbahn
Vom
ausgestorben
Aussterben
4 (< 1%)
bedroht
190 (15%)
keine ausreichenden
Daten
66 (< 1%)
Gefährdet
1226 (12%)
Vorwarnliste
835 (8%)
Gefährdet
669 (55%)
Stark
gefährdet
363 (30%)
ungefährdet
7729 (79%)
Rote Liste Brutvögel Deutschland
alle Arten
gefährdete Arten
Ausgestorben
oder verschollen
16 (15%)
Extrem selten
26 (24%)
Gefährdet
110 (42%)
Vom
Aussterben
bedroht
30 (27%)
Gefährdet
14 (13%)
ungefährdet
129 (50%)
Vorwarnliste
21 (8%)
Stark gefährdet
24 (22%)
Gefährdungsstatus aller Vogelarten weltweit (oben; basierend auf Angaben der
WorldDataBase 2008 von BirdLife International; ausgestorbene Arten nicht bilanziert)
und der deutschen Brutvogelarten (unten; nach Südbeck et al. 2007; ausgestorbene
oder verschollene Arten sind in der Bilanz enthalten).
nehmen kann. Für die hier überwinternden Zugvogelarten gilt
überwiegend: Die milden Winter
der vergangenen beiden Jahrzehnte führten zur Verlagerung
von
Überwinterungsgebieten
nach Nordosten. Zu den räumlichen Veränderungen kommen
zeitliche Verschiebungen der
Zugzeiten.
Im Rahmen eines vom Dachverband Deutscher Avifaunisten
in Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Gottschalk von der JustusVorkommen von gefährdeten Vogelarten in Deutschland. Angegeben ist
der prozentuale Anteil der gefährdeten
Brutvogelarten pro Kartenblatt der
Topographischen Karte 1 : 25 000 (ca.
125 km2) an den mittelhäufigen und
seltenen Vogelarten Deutschlands. Die
Ergebnisse basieren auf vorläufigen Daten des Projektes ADEBAR (Atlas deutscher Brutvogel­arten). Trotz der noch zu
erwartenden Verbesserungen lassen sich
aus der Karte schon jetzt die Hotspots
der gefährdeten Brutvögel Deutschlands
gut erkennen.
Der Falke 58, 2011
63
Vogelschutz
Der Bluthänfling wird in Deutschland mittlerweile auf der Vorwarnliste der gefährdeten Arten geführt.
Die Bestände gehen sowohl lang- als auch kurzfristig zurück.
Foto: M. Grimm.
Liebig-Universität Gießen durchgeführten Forschungs- und Entwicklungsvorhabens, das vom Bundesamt
für Naturschutz finanziell unterstützt
wurde, konnten erstmals hochauflösende Karten über die Brutverbreitung häufiger Brutvogelarten erstellt
und deren klimainduzierte Veränderungen prognostiziert werden.
Die Prognosen basieren auf Daten
der Landnutzung und berücksichtigen die klimatischen und topographischen Verhältnisse Deutschlands.
Zur Berechnung von zukünftigen
Vogelverbreitungen
wurde
beispielhaft das Klimaszenario A2 des
Intergovernmental Panel on Climate
Change (IPCC) verwendet. In diesem
wird eine ökonomisch orientierte,
regional handelnde (also nicht globalisierte) Welt angenommen, in der
eine starke Technologieentwicklung
stattfindet, die sich aber nur langsam
in andere Weltregionen verbreitet.
Danach muss im Verlauf dieses Jahrhunderts in Deutschland mit einer
Erhöhung der mittleren Lufttemperatur von 2,5 °C gerechnet werden.
Die Sommerniederschlagsmenge soll
bis Mitte dieses Jahrhunderts um
mindestens 15 % abnehmen und die
Winterniederschlagsmenge um rund
50 % zunehmen – Veränderungen,
64
Der Falke 58, 2011
die auf regionaler oder gar lokaler
Ebene allerdings sehr unterschiedlich
ausfallen können.
Der Klimawandel für den prognostizierten Zeitraum 2021–2050 wirkt
sich bei angenommener gleicher
Landnutzung in Deutschland auf
Vogelarten sehr unterschiedlich aus.
Die Modellprognosen ergeben z. B.
eine Verkleinerung des Verbreitungsgebietes beim Fitis um 22 %, die von
einer Abnahme von derzeit rund 1
Mio. auf einen Bestand von nur noch
rund 400 000 Brutpaaren begleitet
wird. Solche Modellrechnungen sind
sicher noch recht grob, doch legen
sie tendenziell nahe, dass zumindest
einige Arten der heimischen Brutvogelwelt in erheblichem Maße auf
die prognostizierten Klimaveränderungen reagieren werden.
Wenngleich der Einfluss des Klimawandels auf die Verbreitung der
heimischen Vogelarten nachweislich
groß ist, soll hier doch betont werden, dass die zu erwartenden Änderungen der Landnutzung – sie wurde
bei den Modellberechnungen zum
Einfluss des Klimawandels konstant
gehalten – absehbar einen wesentlich
größeren Effekt auf Verbreitung und
Vorkommen der heimischen Brutvogelarten haben werden. Dennoch gilt:
Insbesondere die Identifikation von
Arealen mit starken klimabedingten
Veränderungen ist aus naturschutzplanerischer Sicht von großer Bedeutung, eröffnen sich doch dadurch
Möglichkeiten, auf den betroffenen
Flächen artspezifische Maßnahmen
zu treffen, die unerwünschten Auswirkungen auf Habitateignung oder
Brutbestand entgegenwirken können.
Prognostizierte Veränderung der Verbreitung und Abundanz des Fitis in Deutschland
infolge des Klimawandels. Danach wird der Fitis bis 2050 heute noch besiedelte Habitate vor allem im Süden Deutschlands aufgeben. Hellgrüne Bereiche stellen Flächen mit
geringer, dunkelgrüne Flächen mit hoher Dichte und weiße Flächen ungeeignete Habitate dar. Links: heutige Verbreitung, rechts: Verbreitung 2050.
Die zukünftige Verbreitung basiert auf dem Emissionsszenario A2 des IPCC zum Klimawandel.
» Werte der biologischen Vielfalt
gesellschaftlich verankern
120
+1 %
100
– 11 %
80
60
40
– 49 %
alle häufigen Arten (137 Arten)
Arten der Wälder (30 Arten)
Arten der Agrarlandschaft (36 Arten)
20
EBCC/RSPB/BirdLife/Statistics Netherlands
0
1980
1985
2000
1995
1990
2005
Im „Bericht zur Bewertung der biologischen Vielfalt Europas 2010“ der Europäischen
Umweltagentur wird die Populationsentwicklung häufiger Brutvögel Europas als
Index dargestellt. Dieser gehört zu den Schlüsselindikatoren einer nachhaltigen Entwicklung in Europa.
120
Zielwerterreichung in %
Zielwert
100
80
69 %
60
40
20
BfN (2010)
0
2015
2014
2012
2010
2008
Kein statistisch signifikanter
Trend feststellbar.
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1975
1970
In Deutschland ist der Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen als
Staatsziel in die Verfassung aufgenommen worden. Mit der Nationalen
Strategie zur biologischen Vielfalt
(NBS) hat die Bundesregierung im
Jahr 2007 eine wesentliche Grundlage für die Verankerung der biologischen Vielfalt in einer Vielzahl
von gesellschaftlichen Bereichen
gelegt. Die Umsetzung der NBS verlangt nach einer verlässlichen und
transparenten Erfolgskontrolle. Diese
erfolgt mithilfe von 19 Indikatoren,
die sich an den Zielen der NBS orientieren und regelmäßig aktualisiert werden. Die aktuelle Bilanz im
Indikatorenbericht 2010 zur NBS ist
ernüchternd: Bei allen wesentlichen
Einflussfaktoren wie Nährstoffeintrag und Flächenverbrauch ebenso
wie bei Zustandsgrößen der Gewässerqualität, der Struktur der Auen,
des Erhaltungszustands von FFHArten und -Lebensraumtypen sowie
der Bestände von Vogelarten liegen
die Indikatorwerte weit oder sehr
weit vom Zielbereich entfernt.
Die Bestandssituation der heimischen Brutvogelarten wird in der
NBS für zwei Indikatoren herangezogen: Der Indikator „Artenvielfalt
und Landschaftsqualität“ basiert auf
den Bestandsgrößen und -trends
von 59 Vogelarten und der Indikator
„Gefährdete Arten“ auf der Gefährdungssituation heimischer Wirbeltiere. Ebenso wie auf Bundesebene
wird in vielen Bundesländern an
vogelbasierten Indikatoren gearbeitet, um die Nachhaltigkeit der Landnutzung und die Auswirkungen der
Agrarumweltförderung darzustellen.
Der Indikator „Artenvielfalt und
Landschaftsqualität“ liefert eine
Maßzahl über die bundesweiten
Bestandsgrößen ausgewählter repräsentativer Vogelarten, die in Beziehung zum Zielwert für das Jahr 2015
gesetzt wird. Die Größe der Bestände
zeigt die Eignung der Landschaft
als Lebensraum für die ausgewählten Vogelarten an. Da neben diesen Vogelarten auch Pflanzen und
andere Tierarten an eine reichhaltig
gegliederte Landschaft mit intakten,
nachhaltig genutzten Lebensräumen
gebunden sind, bildet der Indikator
Index
140
Der aktuelle Wert liegt noch
weit vom Zielwert entfernt.
Die 6 Hauptlebensraumtypen fließen mit folgenden Anteilen in den Gesamtindikator ein:
Agrarland
Wälder
50 %
27 %
Siedlungen
Binnengewässer
11 %
6%
Küsten/Meere
Alpen
3%
3%
Wie ein Fieberthermometer zeigt der Nachhaltigkeitsindikator für die Artenvielfalt
(NHI) die Landschaftsqualität und Nachhaltigkeit der Landnutzung an. Der Indikator
ist Bestandteil der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt und der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Für den NHI werden die artspezifischen Bestandsentwicklungen von 59 ausgewählten Brutvogelarten zusammengefasst.
Der NHI bestätigt das Bild: Im Jahr 2008 liegt der Wert des Nachhaltigkeitsindikators für Artenvielfalt und Landschaftsqualität bei 69 % des Zielwertes für das Jahr
2015. Der Indikatorwert stagniert in den Jahren 1998 bis 2008 und liegt noch weit
vom Zielwert entfernt.
indirekt auch die Entwicklung zahlreicher weiterer Arten in der Landschaft und die Nachhaltigkeit der
Landnutzung ab. Bisher wurde auf
positive Entwicklungen des Indikators jedoch vergeblich gewartet: Der
Indikatorwert stagnierte in den letzten zehn Jahren und liegt weit vom
Zielwert entfernt – ein weiterer Beleg
dafür, dass die 2010-Ziele in Deutschland nicht erreicht wurden.
» Ausblick
Um die Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt
und ihres neuen strategischen Plans
zu unterstützen, sprachen sich die
Der Falke 58, 2011
65
Vogelschutz
Ab Mitte Februar 2011 erhältlich:
Vögel in Deutschland 2010
Schwerpunkt der Ausgabe sind die neuen,
auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz
festgesetzten Kernziele des Übereinkommens über die biologische Vielfalt und
ihre Relevanz für den Vogelschutz in
Deutschland.
Bezug: DDA-Schriftenversand, z. H. Thomas Thissen, An den Speichern 4a, 48157
Münster. Tel: 0251/ 2101400, E-Mail:
[email protected], Internet:
www.dda-web.de
Schutzgebühr: 7,00 EUR zzgl. Versandkosten
Vertragsstaaten dafür aus, 2011 bis
2020 zur UN-Jahrzehnt der Biodiversität zu erklären. Eine solche Dekade
soll helfen, den im Internationalen
Jahr der Biodiversität wieder aufgenommenen Schwung mitzunehmen
und die dringend notwendige Integration des Biodiversitätsschutzes in
alle Politikbereiche zu fördern.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, den neuen strategischen Plan der
CBD und seine 20 Kernziele – sofern
nicht bereits Bestandteil – in die
Nationale Strategie zur biologischen
Vielfalt zu integrieren und umgehend umzusetzen. Die Länder tragen
bei der Umsetzung eine wesentliche
Verantwortung und sind aufgerufen, mit wirksamen Maßnahmen den
Schutz von Natur und Landschaft zu
verbessern.
Ein erster Schritt wurde bereits
getan: Mit dem „Bundesprogramm
Biologische Vielfalt“ soll die Umsetzung der NBS ab 2011 finanziell
unterstützt werden – vorgesehen sind
jährlich 15 Mio. Euro an Fördermitteln. Gefördert werden Maßnahmen
zur Verbesserung ökosystemarer
Dienstleistungen von Lebensräumen,
zum Schutz von Tier- und Pflanzenarten, für deren Erhaltung Deutschland in besonderem Maße Verantwortung trägt, und in Zentren biologischer Vielfalt (sogenannte Hotspots); auch Maßnahmen zur Erreichung anderer Ziele der NBS sollen
gefördert werden. In das „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ wurden
sieben Vogelarten aufgenommen, für
deren Erhaltung Deutschland besonders verantwortlich zeichnet: Bergente, Goldregenpfeifer, Kiebitz, Mittelspecht, Rotmilan, Trauerente und
Zwergschwan. Neben dem verstärkten Schutz dieser Vogelarten strebt
Keine Stromleitungen, keine Straßen und weite Sicht, so wünschen sich Großtrappen ihren Lebensraum.
In Deutschland ist davon wenig übrig geblieben.
Foto: H. Glader
die NBS die effektive Umsetzung der
Vogelschutzrichtlinie in Deutschland
und den Ausbau des Schutzgebietssystems Natura 2000 zu einem wirksamen Netz für den Schutz europäischer Vogelarten an.
Christoph Sudfeldt,
Rainer Dröschmeister,
Torsten Langgemach,
Johannes Wahl
Informationen zum Thema:
Ausführliche Informationen zu den
Beschlüssen der CBD sind unter
folgendem Link abrufbar (ausschließlich in englischer Sprache): www.cbd.
int/nagoya/outcomes. Seit Januar 2011
liegt eine deutsche Übersetzung des
Bundesministeriums für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit
vor, die noch ins Internet gestellt
werden soll.
http://www.birdlife.org/action/science/
species/global_species_programme/
red_list.html
Südbeck P, Bauer H-G, Boschert M,
Boye P, Knief W 2007: Rote Liste
der Brutvögel Deutschlands. 4. Fassung. Ber. Vogelschutz 44: 23-81.
Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit
(BMU) 2010: Indikatorenbericht
2010 zur Nationalen Strategie zur
biologischen Vielfalt. BMU, Bonn.
Dr. Christoph Sudfeldt
ist Geschäftsführer des
Dachverbandes Deutscher
Avifaunisten und Beiratsmitglied im Präsidium
des Deutschen Rates für
Vogelschutz.
Rainer Dröschmeister ist
seit 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Naturschutz
tätig. Schwerpunkte: bundesweites Monitoring von
Tieren und Indikatorenentwicklung.
Dr. Johannes Wahl koordiniert das bundesweite
Monitoring rastender
Wasservögel im DDA
und vertritt die Nichtregierungsorganisiationen
Deutschlands bei Wetlands
International.
Dr. Torsten Langgemach
ist Leiter der Staatlichen
Vogelschutzwarte im Landesumweltamt Brandenburg und Geschäftsführer
der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten
66
Der Falke 58, 2011
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