Identitätskrisen, Devianz und soziale Kontrolle

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Zentrum für psychosoziale Medizin
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. F. Resch
Identitätskrisen, Devianz und soziale Kontrolle
–
Die sozialisationstheoretische Dimension sozialen Handelns und die
Forschungsmethode der Psychoanalyse
Zur Erlangung des Doctor scientiarum humanarum (Dr.sc.hum.)
der Medizinischen Fakultät der
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
vorgelegt von
Maria-Christina Karnavou
Heidelberg, 10. März 2006
»Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber Liebe ist die größte unter ihnen.«
Aus der Heiligen Schrift. Der erste Brief des Paulus an die Korinther.
I. Korinther, Kapitel 13, Psalm13
Für meine Eltern
2
Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG....................................................................................................... 5
1. Gegenstand und Problemstellung – Präsentation der Kernfrage aller psychiatrierelevanten
Sozialisationstheorien ............................................................................................................5
2. Bemerkungen zum Forschungsstand ....................................................................................11
3. Relevanz: Was die vorliegende Arbeit leisten will und zu leisten vermag und was sie nicht
zu leisten vermag .................................................................................................................25
4. Zum Stellenwert der sog. „Psychoanalyse“..........................................................................35
II. HAUPTTEIL ..................................................................................................... 41
1. Max Webers „Begriffslehre des sozialen Handelns“ I – Der sozialstrukturelle
Gesichtspunkt.......................................................................................................................41
2. Die sozialanthropologische Grundlage der Humanwissenschaften: Verstehende Soziologie
und symbolischer Interaktionismus .....................................................................................66
3. Methodische Probleme und Probleme der Methodologie: Texthermeneutik, Begriffsanalyse
und ein wissenschaftstheoretischer Thesenkatalog..............................................................76
3.1. Allgemeines .......................................................................................................................76
3.2. Ein wissenschaftstheoretischer Thesenkatalog..................................................................84
4. Die Psychiatrie als Gegenstand der kultursoziologischen Analyse und als
kultursoziologische Disziplin ..............................................................................................99
4.1. Die kultursoziologische Grundlage der Psychiatrie und ein Grunddilemma derselben ....99
4.2. Das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und „Anwendung“ ..............................124
4.3. Ein kurzer (kulturwissenschaftlicher) Blick auf die Krankheitsformen(lehre) ...............127
4.4. Interpretation: Ätiologie und symptomatologische Genauigkeit.....................................132
3
5. Max Webers „Begriffslehre des sozialen Handelns“ II: Der Wissenschaftscharakter der
Soziologie ..........................................................................................................................134
5.1. Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaften und der Weg der Forschung – ein
Tafelbild ..........................................................................................................................134
5.2. Die „Objektivität“ der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis: Max Webers Postulate, der
wissenschaftstheoretische Thesenkatalog von II. 3 .2. und einige Überlegungen zu
Diagnostik, Prognostik und Therapie..............................................................................141
5.3. Grundlagenforschung und „angewandte Wissenschaft“ – Einige Bemerkungen zum
Problem der „Sozialverantwortlichkeit“ .........................................................................150
5.4. Das Gadamersche „Gespräch“ als Idealtypus rationalen Argumentierens – Der Begriff der
„Identitätsmetamorphose“..................................................................................................162
5.5. Das DN-Modell einer wissenschaftlicher Erklärung.......................................................178
5.6. Der systemische Gesichtspunkt und die Zerlegung der Erklärungen in Funktional- und in
Kausalerklärungen: Organismische und personale Systeme ..........................................212
6. Die Psychoanalyse und ihre Grundannahmen ....................................................................222
6.1. Rückblick und Fragen......................................................................................................222
6.2. Die Fundamentalannahmen .............................................................................................227
7. Devianzformen – Eine fundamentale Differenzierung.......................................................234
7.1. Das Kriterium der (gegenwärtigen) Moral- und Rechtsordnung und die Formen der
Devianz ...........................................................................................................................234
7.2. Zum Problem der Irrationalität – Das „Normal-Ich“ und die psychopathologischen
Erscheinungsformen von „Konformität“ und „Devianz“: Selbstverantwortliches Handeln
und zwanghaftes Verhalten.............................................................................................245
8. Zum Problem der Rationalität ............................................................................................265
8.1. Einige überleitende Bemerkungen – Der genuin soziologische Gesichtspunkt und die
zentrale Bedeutung des Handlungsbegriffs.....................................................................265
8.2. Personale Rationalität .....................................................................................................270
III. BILANZ UND AUSBLICK ............................................................................. 313
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................... 320
4
I. Einleitung
1. Gegenstand und Problemstellung – Präsentation der Kernfrage aller
psychiatrierelevanten Sozialisationstheorien
Gegenstand dieser Untersuchung ist das Identitätsproblem, genauer: das Problem der
Identitätskrisen. Gefragt wird nach der Rolle und der Funktion von Identitätskrisen zum einen
für gelungene, zum anderen für gründlich „schief“ gelaufene Sozialisationsvorgänge. Von
besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass die vorliegende Arbeit im
Bezugsrahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie angesiedelt ist, denn dadurch können
Stellenwert wie Erkenntniswert der hier aufgeworfenen Fragestellung recht genau bestimmt
werden: Von einem rigoros soziologischen Standpunkt aus werden diejenigen (pädo-)
psychiatrischen Problembereiche angesprochen, die aus deren Sicht mittels des Oberbegriffs
„Identitätskrise“ umschrieben und in einen systematischen Zusammenhang mit bestimmten
als „gestört“ zu bezeichnenden Verhaltensmustern gebracht zu werden pflegen.
In der vorliegenden Arbeit wird deswegen konsequent das gesamte Spektrum klinisch
auffälligen Verhaltens als differenzierte Erscheinungsform der „Identitätskrise“ behandelt.
Diese Aussage hat den Status einer Grundannahme: Wann immer wir von genuin
pathologischen Erscheinungsformen humanspezifischen Verhaltens sprechen, gilt, dass diesen
„im
Mentalbereich“
identitätskritische
Tatbestände
zugrunde-
und
vorausliegen.1
1
Man beachte, dass diese „Grundaussage“ keine spezifisch soziologische sondern vielmehr eine
psychologische Aussage ist, denn sie bezieht sich auf die Relation zwischen bestimmten „an einem Individuum“
beobachtbaren Verhaltensmustern und bestimmten diesen Verhaltensmustern zugrunde liegenden
Mentalzuständen. Der genuin „soziologische“ Aspekt ist freilich insofern „mitenthalten“, als es ja wohl kein
individuelles Verhalten gibt, welches nicht auf irgendeine Art und Weise in irgendeinem sozialen Kontext
„auftritt“.
Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen „Grundannahmen“ und „Hypothesen“ vgl. den Abschnitt II. 3.
Grundannahmen, Hypothesen und Theorien gestatten, weil sie alle drei die (linguistische bzw. logische) Struktur
streng allgemeiner Allsätze haben, gleichermaßen Rückschlüsse von „Beobachtbarem“ auf „Theoretisches“, von
„Theoretischem“ auf anderes „Theoretisches“ und von „Beobachtbarem“ auf anderes „Beobachtbares“. Während
jedoch Hypothesen und Theorien – zu deren Bedeutungen vgl. vor allem den „Thesenkatalog“ in Abschnitt II.3.2
– empirisch falsifizierbar sind bzw. es sein müssen, eignet den Grundannahmen eine wesentlich begriffliche
Struktur: Sie sind prinzipiell nicht falsifizierbar, beinhalten gleichwohl immer ganz bestimmte empirisch
falsifizierbare Hypothesen. Es ist eine der großen Leistungen der Freudschen Konzeption („Metapsychologie“),
auf ganz bestimmte beobachtbare Verhaltenstatbestände hingewiesen zu haben, die sich nur mit der
Grundannahme erklären lassen, dass es so etwas wie „Unbewusstes“ gibt. Prekär ist daran freilich, dass Freud,
5
Psychopathologische Erscheinungsformen des Alltagslebens, wie sie beispielsweise Sigmund
Freud als „Fehlleistungen“ bzw. „Symptomhandlungen“ so meisterhaft beschrieben hat,
lassen ebenso auf mentale Zustände schließen, welche der dieser Arbeit zugrundeliegenden
Auffassung
zufolge
als
Identitätskrisen
zu
diagnostizieren
sind,
wie
etwaige
identitätskritische Dauerzustände des psychosomatischen, des zwangsneurotischen oder gar
des psychotischen Formenkreises.
Die umgekehrte Beziehung gilt jedoch nicht: Identitätskrisen führen nicht immer zu genuin
pathologischen Erscheinungsformen humanspezifischen Verhaltens. Ganz im Gegenteil: Es
gibt Identitätskrisen, die keineswegs pathologische Verhaltensformen zur Folge haben, die
vielmehr die Voraussetzungen dafür bilden, dass u. U. künstlerische und wissenschaftliche
Höchstleistungen die Folge sind, so dass zunächst einmal die prima facie verblüffende, da
wissenschaftstheoretisch prekäre, allgemeine Aussage gilt:
Identitätskrisen sind – nicht direkt beobachtbare – mentale Zustände, welche auf ganz
bestimmten – nämlich: die Identitätsfrage betreffenden – Erfahrungen eines Individuums
beruhen und sich zum einen in pathologische Erscheinungsformen humanspezifischen
Verhaltens, zum anderen in nichtpathologische Erscheinungsformen des humanspezifischen
Verhaltens ausmünzen.2
weil er sich sehr stark auch eines handlungskonzeptionellen Vokabulars bedient hat, wobei „Verhalten“ und
„Handeln“ semantisch verschwimmen, sich gezwungen gesehen hat, bestimmte Fehlleistungen als Handlungen
zu deuten, weil dadurch der Eindruck entsteht, es gäbe so etwas wie ein nichtbewusstes Bewusstes. Ich sage
ganz bewusst „prekär“, nicht jedoch „falsch“, denn in der Tat besteht ja ein Unterschied zwischen dem eindeutig
„unbewussten“ Reagieren beim gereizten Patellarsehnenreflex und einer Fehlleistung.
Bei dem hier angesprochenen Problem der Unterscheidbarkeit zwischen (nicht falsifizierbaren)
„Grundannahmen“ und (empirisch falsifizierbaren) „Hypothesen“ handelt es sich um ein methodologisches bzw.
wissenschaftsund
erkenntnistheoretisches
Grundproblem
keineswegs
nur
der
sog.
„Gesellschaftswissenschaften“, dessen Lösung nach wie vor aussteht. Die vorliegende Arbeit favorisiert eine
Lösung, wie sie sich im [Forschungsantrag] bereits abgezeichnet hat: Wie insbesondere die Geschichte der
strengen Naturwissenschaften zeigt, verwandeln sich sehr oft bestimmte, zuvor nur und ausschließlich
hypothetisch unterstellte Grundannahmen, die, wie z. B. die Dalton-Vermutung, in der Regel auf ganz
bestimmten „(Neu-) Definitionen“ beruhen, in empirisch sodann sehr gut bestätigte empirisch falsifizierbare
Hypothesen.
2
Gehen Identitätskrisen in identitätskritische Dauerzustände über, so ergeben sich die im eigentlichen Sinne
psycho-pathologischen Verhaltensmuster, welche wir zum einen als Neurosen, zum anderen als Psychosen
diagnostizieren. Es funktionieren dann ganz einfach nicht mehr die identitätskonstituierenden
Konstruktprinzipien und die in diesem Zusammenhang auftretenden Syndrome designieren dann vermutlich
auch über kurz oder lang Erscheinungsformen der personalen Desintegration.
Trotz der erkenntnistheoretisch extrem schwierigen Problematik, ein Kriterium zu erarbeiten, welches
zwischen der sog. „Beobachtungssprache“ und der sog. „theoretischen Sprache“ triftig zu unterscheiden
gestattet, muss dennoch an der heuristischen Leitregel der prinzipiellen Unterscheidbarkeit zwischen den
beobachtbaren Verhaltensmustern von Individuen und den diesen zugrunde liegenden mentalen Zuständen,
welche erschlossen werden müssen, festgehalten werden. Ich folge hier konsequent der von Redlich und
Freedman in [Psychiatrie] entwickelten methodologischen Leitregel der psychiatrischen Symptomatologie.
6
Man sieht unschwer das damit sich andeutende gravierende methodologische Problem: Soll
diese Aussage nicht leer werden, so muss scharf unterschieden werden (können) zwischen
derjenigen Klasse von Identitätskrisen, die pathologische Erscheinungsformen des
menschlichen Verhaltens zur Folge haben – wir sprechen dann von malignen Identitätskrisen
–, und derjenigen Klasse von Verhaltensmustern, bei denen dies nicht der Fall ist. Die Rede
ist dann von den benignen Identitätskrisen, die entweder völlig „normale“ Lernzuwächse
designieren oder gar genuin innovative Leistungen im Gefolge haben. Um jedoch eine solche
scharfe Unterscheidung leisten zu können, bedarf es, wie wir sehen werden, der
idealtypologischen Konstruktion des Identitätsbegriffs, welcher konstitutives Element einer
allgemeinen empirisch gehaltvollen Sozialisationstheorie ist: Identitätskrisen sowie
Identitätsrekonstitutionen sind, da sie dem „subjektiv sinnhaften Sichverhalten der
Einzelindividuen“ (Max Weber) konstitutiv zugehören, wesentliche Bestandteile jedweden
Sozialisationsgeschehens, und folglich hängt von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur eines
Menschen, von seinem „Charakter“, ab, ob und in welcher Weise welche Formen von
Identitätskrisen zu welchen genuin pathologischen Erscheinungsformen humanspezifischen
Verhaltens führen und welche nicht. Denn dieser Charakter ist nun einmal immer eine
Resultante des den Lebensverlauf eines Menschen bestimmenden Sozialisationsgeschehens –
eine These, aus der sich nunmehr bereits an dieser Stelle die folgende zentrale Aussage
herleiten lässt:
Die Modalitäten des je individuellen Sozialisationsgeschehens bestimmen, da dadurch die
jeweilige „Persönlichkeitsstruktur“ geprägt wird, sowohl die jeweilige Struktur der
Identitätskrisen, welche jedes Individuum im Laufe seines Lebens durchzumachen
gezwungen ist, als auch die Dynamik der je individuellen Verhaltensmodifikation, des
Lerngeschehens also, welches im Humanbereich in der Regel als eine fortlaufende
Ereigniskette von kognitiven Umorientierungsprozessen aufgefasst werden kann und muss,
die, in der Sprache Max Webers formuliert, wesentlich die „Dynamik des (sozialen)
Handelns“ (menschlicher) Individuen ausmachen. In genau diesem Sinne sind dann benigne
und maligne Identitätskrisen die jeweiligen Resultanten unterschiedlich verlaufener
Sozialisationsvorgänge,
woraus
logisch
folgt:
Jedwede
Ätiologie
entwicklungspsychopathologischer Syndrome gründet in einer allgemeinen, empirisch
Die intime Verflochtenheit von „Identitätskrisen“ mit sozialen Konstellationen, welche einem „Individuum“
(soziale) Lernprozesse zumuten bzw. abverlangen, ist praktisch gegeben durch die extrem enge Verknüpfung
von Sozialisationsprozessen mit Lernvorgängen und deren „natürlichen“ wie „sozialen“ Bedingungen:
Lernleistungen und deren „Produkte“ sind die intersubjektive Beobachtung zugänglicher Resultanten von
„Identitätskrisen“.
7
falsifizierbaren, Sozialisationstheorie, welche – sozusagen „differenzialdiagnostisch“ –
benigne gegenüber malignen Identitätskrisen so zu diskriminieren vermag, dass sie die
Wurzeln der kognitiven Dynamik subjektiv sinnhaften (sozialen) Handelns aufzudecken
gestattet. Wäre diese Überlegung tragfähig, so würde das bedeuten, dass vor allem die PädoPsychiatrie, die sich als „Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters“
(Resch et al.) versteht, ihre Erkenntnisgrundlage in einer solchen allgemeinen empirisch
falsifizierbaren Sozialisationstheorie hätte – eine Sichtweise, die, wie wir sehen werden,
erhebliche Konsequenzen vor allem für die Anamnese und sodann auch naturgemäß für die
Diagnostik klinisch auffälliger Verhaltensmuster haben dürfte.
Was aber ist eigentlich „Sozialisation“ und was genau müsste eine „Sozialisationstheorie“
beinhalten, welche erstens die kognitive Dynamik humanspezifischen Verhaltens zu
beschreiben gestattete, zweitens deren Wurzeln in der frühen Kindheit freizulegen imstande
wäre und drittens den funktionalen Stellenwert der Identitätskrisen für die jeweilige
Charakterbildung eines Menschen bestimmen könnte, um so zum einen „erfolgreiche“, zum
anderen „gründlich schiefgelaufene“ Sozialisationsvorgänge erklären zu können?3
Halten wir hier zur Vorbereitung einer einigermaßen befriedigenden Beantwortung dieser
Fragen die (methodologische) Grundthese der vorliegenden Arbeit fest, die sich um der
Ausarbeitung einer allgemeinen Sozialisationstheorie willen auf eine mögliche Integration
des genuin psychologischen Ansatzes, der den Begriff des „individuellen Verhaltens“ als
„seinen“
Basalterm
ansieht,
mit
dem
genuin
soziologischen
Ansatz,
der
vom
„Handlungsbegriff“ ausgeht, konzentriert:
3
Zur Vorbeugung gegenüber Missverständnissen und eventuellen überzogenen Erwartungen sollte vielleicht
bereits an dieser Stelle explizit auf folgendes hingewiesen werden: Wie in den methodologischen Teilen der
vorliegenden Arbeit hervorgehoben wird, ist es die vornehmliche Aufgabe erfahrungswissenschaftlicher
Theorien, einigermaßen klar beschriebene Tatbestände unsere Wirklichkeit zu erklären. Dafür jedoch müssen
die entsprechenden Theoriegebilde in einer einigermaßen logischen transparenten Weise vorliegen, müssen
mithin vorher konstruiert und zumindest halbwegs empirisch validiert worden sein, sich also zumindest in
einigen Bereichen bewährt haben. Es wird durchweg übersehen, dass auch in den sog.
Gesellschaftswissenschaften die Konstruktion einer solchen empirisch falsifizierbaren Theorie ein äußerst
mühseliges Geschäft ist, welches niemals von einem Forscher bzw. einer Forscherin alleine geleistet werden
kann. Die hier vorgelegte Arbeit erstrebt deshalb auch nicht den Anspruch, bereits eine solche erklärungskräftige
Sozialisationstheorie vorlegen zu können, einen Anspruch nämlich, der schlichtweg vermessen wäre. Vorgestellt
wird hier vielmehr das methodologische Grundarsenal für eine solche (mögliche) Theorie, des
Sozialisationsgeschehens indem die Bedingungen genannt werden die erfüllt sein müssen, damit wir irgendwann
einmal über eine solche Theorie des Sozialisationsgeschehens verfügen, welche einer allgemeinen Ätiologie der
Mentalerkrankungen als (kognitive) Hintergrundsfolie dienen könnte. Die gesamte Argumentationsstruktur
meiner Arbeit stellt darauf ab, plausibel zu machen, dass bei systematischer Vernachlässigung des genuin
soziologischen „piont of view“, wie derzeit noch allenthalben zu beobachten ist, nie und nimmer eine solche
psychiatrie-relevante Sozialisationstheorie erarbeitet werden kann.
8
Psychologisch ist die Sozialisation zweifelsohne ein notorisch stattfindender Lernprozess, der
gekennzeichnet ist durch Verhaltensmodifikationsstrukturen, die sich im Zuge ihrer
primordialen Stadien zunächst einmal ausschließlich als „reine“, d. h. unmittelbar am sog.
„organismischen Geschehen“ ansetzende, Verhaltensmodifikationen abspielen und sodann
mehr und mehr auf kognitiven Umorientierungen, für die der Handlungsbegriff sozusagen
„verantwortlich zeichnet“, beruhen. Schlagwortartig formuliert: Das zunächst einmal noch
wesentlich bzw. ausschließlich triebgesteuerte „bloße“ Verhalten eines menschlichen
Individuums, wie wir es in der (unmittelbaren) Postnatalperiode beobachten können,
transformiert sich im Verlaufe von dessen Entwicklung zunehmend in ein kognitiv bzw.
evaluativ gesteuertes soziales Handeln, welches hinfort mehr und mehr seine gesamte
Verhaltensdynamik bestimmt. Und das Faszinosum der Freudschen Theorie in diesem
Zusammenhang besteht darin, dass hierbei behauptet wird, es fände gleichzeitig ein in sich
äußerst komplexes unbewusstes „Beiprogramm“ statt, welches die Modalitäten der kognitiven
Umorientierungen tiefgreifend beeinflusst und welches seine Wurzeln im Ursprung des „IchWerdungsprozesses“ eines jeden menschlichen Individuums hat. Damit aber stoßen wir, wie
unschwer zu sehen, auf einige in methodischer wie in methodologischer Hinsicht äußerst
prekäre Probleme, müssen wir doch nicht nur den genauen Status einer Theorie des
Sozialisationsgeschehens sowie den genauen Status des – wie zu vermuten ist – theoretischen
Begriffs der „Identitätskrise“ innerhalb derselben zum einen in der „Theorie und Praxis der
Psychiatrie“ (Redlich und Freedman), zum anderen im Kanon der Humanwissenschaften
insgesamt, sondern darüber hinaus auch noch den genauen Stellenwert unbewusst gewordener
Lernvorgänge in diesem Sozialisationsgeschehen bestimmen.4 Nur so nämlich, so will mir
scheinen, lässt sich sodann auch der Begriff der „Identität“ idealtypologisch konstruieren, der
offensichtlich zu den tragenden Begrifflichkeiten einer allgemeinen, empirisch falsifizierbaren
und aus genau diesem Grunde sodann eben auch erklärungskräftigen Sozialisationstheorie
gehört.5 Und in diesem Zusammenhang ergibt sich bereits ein erster kritischer Blick in die
4
Man beachte die Thetik: Unbewusst gewordene Lernvorgänge sind es, welche auf eine wie auch immer
genauer zu bestimmende Art und Weise das jeweilige subjektiv sinnhafte Handeln nebst dessen kognitiver
Dynamik beeinträchtigen!
Die Zerlegung des begrifflichen Arsenals eines Aussagensystems in theoretische und in
Beobachtungsbegriffe ist, wie bereits weiter oben betont, eines der kompliziertesten Probleme der strengen
Wissenschaftslehre, worauf in Abschnitt II. 3 zu sprechen zu kommen sein wird.
5
Identitätskonstruktionen und Identitätsrekonstitutionen gehören der kognitiven Dynamik jedweden
„subjektiv sinnhaften Sichverhaltens zu Objekten“ (Max Weber) wesentlich zu, sind sie doch ganz bestimmte,
im Zuge des Lerngeschehens fortlaufend notwendig werdende gedankliche Operationen, die allerdings nur dann
bewusst vollzogen zu werden pflegen, wenn ein komplexes Lerngeschehen problematisch zu werden droht, sich
9
derzeitig verfügbare sozialisationstheoretische Literatur: Dass der Begriff der „Identität“ –
nebst der mit ihm assoziierten Begriffe wie „Identitätskrise“, „Ich“, „Selbst“ etc. – zu den
tragenden Begrifflichkeiten einer allgemeinen Sozialisationstheorie, mithin also auch zur sog.
„Entwicklungspsychologie“ bzw. zur „Entwicklungspsychopathologie“, gehört, ist in der
Regel unstrittig, dass hingegen eine solche „Sozialisationstheorie“ eine streng empirisch
falsifizierbare Theorie sein muss, die konsequent mit idealtypischen Konstruktionen zu
arbeiten gezwungen ist, ist alles andere als selbstverständlich. Denn:
Was genau ist eigentlich eine „empirisch falsifizierbare Theorie“ und was ist eine
„idealtypische Konstruktion“?
Wie auch immer die Antwort auf dies methodologische Doppelfrage ausfallen wird, sicher ist
jedenfalls, dass eine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie, welche zu Recht den
Anspruch erheben kann, mittels einer plausiblen Explikation des Begriffs der malignen
Identitätskrise eine sowohl anamnestisch als auch diagnostisch als auch therapeutisch
verwertbare Ätiologie der Mentalerkrankungen zu ermöglichen, imstande sein muss, präzise
die Kernfrage allen (humanspezifischen) Sozialisationsgeschehens zu formulieren:
Wann und wie transformiert sich humanspezifisches Verhalten in (subjektiv sinnhaftes)
soziales Handeln?
Entwicklungspsychopathologisch aber bedeutet dies: Je präziser sich die au fond ätiologische
Frage nach den primordialen Konstitutionsbedingungen subjektiv sinnhaften sozialen
Handelns beantworten lässt, desto genauer lässt sich auch Auskunft erlangen bezüglich der
Frage, wann und wie sich bei diesem einzelnen Individuum zunehmend maligne werdende
Identitätskrisen haben herausbilden können, in deren Verlauf das (subjektiv sinnhafte)
rationale Handeln eines Individuums sich mehr und mehr mit „gestörten Verhaltensmustern“
(Redlich und Freedman) durchsetzte und dadurch zunehmend eben auch „zersetzt“ wurde.
Denn es gilt die streng allgemeine Aussage, die wir nunmehr problemlos „herleiten“ können:
Nehmen wegen ausgesprochen schlechter „Startbedingungen“ in der primordialen
also sicht mehr „so ganz glatt“ vollzieht. „Identität“ bedeutet aus diesem Blickwinkel – und wenn man hierbei
die weiter unten entwickelte These vom Primat der Konstitution des „sozialen Universums“ in den ersten
Lebensjahren hinzuzieht, dass eine ganz bestimmte soziale Position in einem (gedanklichen) sozialen Universum
gleichgesetzt wird mit einer anderen sozialen Position in genau diesem (gedanklichen) Universum. Denn – und
dies ist der entscheidende Punkt – die als Symptome sich geltend machenden „Signale aus dem Unbewussten“
müssen ja, vor allem auch und gerade dann, wenn sie massiv in die Handlungsdynamik eingreifende
Verhaltensstörungen sind, interpretiert werden, soll Handlungsfähigkeit nicht grundsätzlich in Gefahr geraten.
Verleugnung, Verdrängung, Sublimierung etc. fungieren offenkundig nur dann personalstabilisierend, wenn
wegen „glatten Aufgehens der Rechnung“ keine allzu massiven Dissonanzen bei der positionalen
Gleichsetzungsprozedur auftreten. Aber auch hierbei operiert ja das Individuum mit einem Idealtypus von sich
selbst, der, weil er mit der (erfolgreichen) Ausprägung der Kompetenz zur „Rollendistanz“ engstes
zusammenhängt, als unabhängig von allen nur möglichen positionalen Situierungen gedacht werden muss.
10
Sozialisationsphase eines menschlichen Wesens die seine kognitive Dynamik bestimmenden
Identitätskrisen mehr und mehr maligne werdende Gestalt an, ja gehen diese gar in
identitätskritische Dauerzustände über, so erodiert über kurz oder lang die ursprünglich
durchaus auf Rationalität hin angelegt gewesene kognitive Dynamik des Handelns dieses
Menschen. Wie sich bereits terminologisch andeutet, lässt sich freilich genau diese
Problematik nur im Bezugsrahmen einer genuin kultursoziologischen Paradigmatik, wie sie
die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ repräsentiert, überhaupt sinnvoll
formulieren: Personalsystemische Verhaltensstörungen, wie sie z.B. in dem – wie ich finde,
nach wie vor ausgezeichneten – Lehrbuch von Redlich und Freedman („Theorie und Praxis
der Psychiatrie“) seinerzeit zu beschreiben versucht worden sind, so die zentrale
methodologische These der hier vorgelegten Arbeit, lassen sich dann und nur dann auch in
einer begrifflich präzisen Sprache diagnostizieren, wenn sich eine Idealtypologie rationalen
(sozialen) Handelns konstruieren lässt, die Wesensbestandteil einer jeden empirisch
falsifizierbaren Sozialisationstheorie ist. Um die Ausarbeitung und Plausibilisierung genau
dieser Grundfragestellung geht es in der hier vorgelegten Arbeit.6
2. Bemerkungen zum Forschungsstand
Dass es einer sozialisationstheoretischen Fundierung sowohl der „Theorie und Praxis der
Psychiatrie“ (Redlich und Freedman) als auch der „Entwicklungspsychopathologie des
Kindes- und Jugendalters“ (Resch et al.) bedarf, ist seit dem Erscheinen der Jasperschen
„Psychopathologie“ allgemeiner Konsens.7 Darüber jedoch wie diese aussehen sollte, herrscht
6
Zur methodologischen Doppelfrage vgl. die Abschnitte II. 3. 2. und II. 5. 5., zur sozialisationstheoretischen
Grundfrage vgl. den Abschnitt. II. 8., wo es im Rahmen einer relativ ausführlichen Erörterung der
Rationalitätsproblematik um die Kernfrage aller psychiatrierelevanten Sozialisationstheorien gehen wird: Wie
sieht die strukturelle Dynamik dieses Überganges von den noch stark organismisch gebundenen
Verhaltensmodifikationen zu den ersten Ansätzen derjenigen Formen von kognitiven Umorientierungen aus, die
im weiteren Verlauf der Sozialisation eines Individuums dessen subjektiv sinnvolles soziales Handeln
bestimmen? Die sozialstrukturelle Präzisierung dieser „Kernfrage“ aller sozialisationstheoretischen Ansätze, die
sich auf das familiale Umfeld eines Sozialisanden in der primordialen Sozialisationsphase bezieht, bildet dann
den nächsten Schritt.
7
Die Jaspersche „Psychopathologie“ mit ihren zahlreichen Auflagen, an denen sich, wie Schmitt [Karl
Jaspers] sehr schön herausgearbeitet hat, ablesen lässt, dass und warum sich dieses Grundlagenwerk zunehmend
„ins Philosophische“ verlagert hat, ist Beleg für die Notwendigkeit des permanenten Rückbezuges der
Psychiatrie auf methodische und methodologische Überlegungen. Zugleich aber zeigt sich hieran, dass eine
11
seit gut einhundert Jahren Uneinigkeit, was nicht zuletzt wohl auch daran liegt, dass die
„Psychiatrie der Gegenwart ..... methodologisch betrachtet ein Irrgarten“8,der Psychiater, wie
Tellenbach es in den 70er Jahren ausgedrückt hat, ein „Methodenchamäleon“ ist.9 Vielleicht
muss das auch so sein. Vielleicht gibt es ja tatsächlich keine Möglichkeit, der
Facettenmannigfaltigkeit des Verhaltens- und Handlungsrepertoires und deren Irritationen,
wodurch das menschliche Wesen sich nun einmal auszeichnet, anders als mittels
methodischer Vielfalt Rechung zu tragen. Das mag hier offen bleiben. Zu kritisieren jedoch
ist – und dies betrifft die gesamte moderne Literatur hierzu – dass in den einschlägigen
Handbuchartikeln und Sammelreferaten wie auch in den Monographien diese von Tellenbach
diagnostizierte chamäleoneske Methodik einfach „abgespiegelt“ zu werden pflegt, was dazu
geführt hat, dass überhaupt keine dezidierten methodischen wie auch methodologischen
Positionen mehr so richtig bezogen werden.10
Davon versucht sich die vorliegende Arbeit zu unterscheiden und nimmt deshalb ganz
bewusst den möglichen Vorwurf der Einseitigkeit in Kauf, die jedoch, wie ich meine,
zumindest den einen wirklichen Vorzug hat, kritisiert, angegriffen und argumentativ diskutiert
werden zu können.11 In genau diesem Sinne wird hier Stellung bezogen aus dem Blickwinkel
einer dezidiert soziologischen Position, die sich, wie ich meine, zu Recht,konsequent zum
einen in der Weberschen „Verstehenden Soziologie“, zum anderen in der sog. „Analytischen
wirkliche „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ bei genauerem Zusehen notorisch Gefahr läuft, sich vom
lebendigen Zusammenhang der Klinik abzulösen. Die „Entwicklungspsychopathologie“ ist natürlich ein
Versuch, die Psychiatrie sozialisationstheoretisch zu fundieren. Nur besteht eben die Gefahr, dass eine solche
sozialisationstheoretische Fundierung sich mehr und mehr von einer möglichen wissenschaftlichen
Verpflichtung zu emanzipieren versucht.
Zum Beleg dafür, dass bezüglich einer sozialisationstheoretischen Fundierung der Psychiatrie unter den
Fachleuten Konsens herrscht, genügt ein oberflächlicher Blick in die entsprechenden Sammelwerke, von denen
ich hier nur die folgenden nenne: Die beiden Teilbände der „Psychologie des 20. Jahrhunderts“, die sich als
Band X mit den Ergebnissen für die Medizin befassen, die seinerzeitige Monographie von Heinz Remplein
[Seelische Entwicklung], Resch’s Lehrbuch [Entwicklungspsychopathologie], Redlich und Freedman’s
[Psychiatrie], sowie das Heft 4 der Zeitschrift für „Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis“ mit dem
Schwerpunkt „Therapie der Schizophrenie“ aus dem Jahre 2002.
8
so Wolfram Schmitt in [Karl Jaspers] S.46
9
Tellenbach [Wesen des Menschen] S.138ff
10
Vgl. hierzu vor allem meine in Abschnitt II. 4. dargelegte Analyse des seinerzeitigen Lehrbuchs von
Redlich und Freedman [Psychiatrie], deren Ergebnisse, wie ich glaube, durchaus übertragbar sind. Es ist
natürlich ein Manko der hier vorgelegten Arbeit, dass diese Überlegung nicht intensiver hat überprüft werden
können.
11
Zum Postulat der „Einseitigkeit“ vgl. die Erörterung der Weberschen „Objektivitätspostulate“ in Abschnitt
II. 5. 2.
12
Wissenschaftslehre“ verankert.12 Blickt man von einer solchen Position her sowohl in die
ältere als auch die jüngere Literatur der psychiatrisch-medizinischen Forschung, so macht
man eine verblüffende Feststellung: Generell fehlt eine Würdigung des genuin soziologischen
Standpunktes und selbst bestimmte in der Fachsoziologie kaum strittige Grundorientierungen
werden in der Regel noch nicht einmal erwähnt. Hierzu einige Beispiele: Obwohl in der
Psychiatrie wie auch in der Pädo-Psychiatrie ganz allgemein die Bedeutung des frühkindlichfamilialen Umfeldes für die Ätiologie der Mentalerkrankungen betont zu werden pflegt, bleibt
zumeist völlig unklar, was denn nun die „Familie“ soziologisch eigentlich ist. Ich bin auf
keine
einzige
Untersuchung
gestoßen,
die
im
Rahmen
ihrer
psychiatrischen
Forschungsorientierung die begriffliche Unterscheidung zwischen einer makrosoziologischen
und einer mikrosoziologischen Bestimmung des Begriffs der „Familie“ konsequent beachtet.
Makrosoziologisch ist nämlich die „Familie“ eine Sozialisationsagentur, eine Institution und
ein System der sozialen Kontrolle. Dies ist von Bedeutung deshalb, weil makrosoziologisch
die medizinisch-klinischen Institutionen ja genau dasselbe sind. Die erwähnte psychiatrische
Literatur sieht dies zwar sehr wohl, schließt jedoch daran niemals irgendwelche Überlegungen
an, die sich auf die Analogisierbarkeit der diesen beiden Systemen der sozialen Kontrolle
gesamtgesellschaftlich obliegenden Sozialisationsverpflichtungen beziehen. Dasselbe gilt
hinsichtlich der mikrosoziologischen Interpretation des sozialen Tatbestandes „Familie“. Dies
ist
umso
unverständlicher,
als
ja
ganz
sicher
die
Ergebnisse
der
bisherigen
Kleingruppenforschung für die Ausarbeitung einer Ätiologie der Mentalerkrankungen
hochbedeutsam sein dürften. Selbst ein so ausgezeichnetes Grundlagenwerk wie der
„Redlich/Freedman“, welches große Mühe darauf verwendet, um die Ergebnisse der
seinerzeitigen „Double-Bind-Forschung“ zu verarbeiten, rekurriert selbst nicht auf die damals
ja bereits sehr stark entwickelte sozialpsychologische Literatur. Das fällt bereits auf, wenn
man nur die Bibliographie durchschaut: Die Namen Homans, Festinger, Newcomb, Sherif,
etc., die ja für eine blühende Kleingruppenforschung, ja sogar für eine experimentelle
Kleingruppenforschung stehen, sucht man vergeblich.
12
Nach gängiger Auffassung (sog. „herrschender Lehre“) erzeugt genau diese Verknüpfung der Weberschen
„Wissenschaftslehre“ mit den Grundpostulaten der sog. „strengen Wissenschaftslogik“ einen Selbstwiderspruch,
der in der sog. „methodischen Dichotomie“ von „Verstehen und Erklären“ liege. Anlässlich der Demonstration
des sog. „DN-Schemas einer wissenschaftlichen Erklärung“ (HO-Modell) in Abschnitt II. 5. 5. soll gezeigt
werden, dass ein solcher Widerspruch nicht besteht, dass sich vielmehr das hierbei involvierte methodologische
Grundproblem der Kulturwissenschaften sehr gut auflösen lässt. Ich stütze mich in meiner Argumentation vor
allem auf die Forschungen der „Dossenheimer Arbeitsgruppe“, wie sie in kompakter Form im
[Forschungsantrag] zusammengefasst worden sind.
13
Selbstverständlich kann man verstehen, dass vor allem die klinische Medizin davor
zurückschreckt, sich auf das Gebiet der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung zu
begeben, hat doch bereits Max Weber bezüglich der „Soziologie“ auf den problematischen
„Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes“ explizit hingewiesen. Denn was ist
eigentlich diese „Soziologie“?, fragt sich auch gegenwärtig ja keineswegs nur jeder Laie. An
der Weberschen „Diagnose“ und dem Grundlagenstreit zwischen Durkheim und den sog.
„Massenpsychologen“ in der französischen Sozialforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
scheint sich ja nun tatsächlich in der Zwischenzeit nicht allzu viel geändert zu haben. Dies
lehrt bereits ein auch nur oberflächlicher Blick in die großen Grundlagenkontroversen der
60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, wie sie sich im sog. „Positivismusstreit in
der deutschen Soziologie“ und in der sog. „Konstruktivismuskontroverse“ in der
Methodologie ebenso abgespielt haben wie in der empirischen Forschungspraxis der
Sozialforschung. Selbst der methodologisch einigermaßen sensibilisierte Psychiater dürfte
wirkliche Schwierigkeiten haben, sich in diesem Tellenbach’schen „methodologischen
Irrgarten“ einigermaßen zu Recht zu finden: Die Psychologen haben behauptet, die
„Soziologie“ sei überhaupt überflüssig, die Historiker sprachen gar von einem
„Wortmaskenverleihinstitut“ und definieren diese „Soziologie“ ironisch als „Historie ohne
harte Arbeit“. Die Verwirrung dürfte komplett sein, wenn man versucht den Fachsoziologen
selbst in diesem Zusammenhang Gehör zu verschaffen. Selbst namhafte Fachsoziologen
nämlich vertreten nach wie vor die Auffassung, „wahre“ Soziologie sei bei genauerem
Hinsehen, insofern sie tatsächlich wissenschaftlich sein wolle, nichts anderes als
„Psychologie“. Selbst der fachsoziologisch durch seine „Theorie der sozialen Gruppe“
hervorragend ausgewiesene Parsonsschüler G.C. Homans vertritt bzw. vertrat die These, die
„Soziologie“ sei vollständig reduzierbar auf „Psychologie“ und sprach folgerichtig auch nicht
mehr von „sozialem Handeln“ als dem eigentlichen Gegenstandsbereich der Sozialforschung,
sondern von den „Elementarformen des sozialen Verhaltens“ und plädiert nach wie vor in
seiner Polemik gegen den „Durkheimianismus“ für eine systematische forschungsstrategische
Bagatellisierung der institutionellen Zusammenhänge des sozialen Lebens. Namhafte
Soziologen und Wissenschaftstheoretiker wie der Popperianer Hans Albert, Stendenbach,
Hummell, Opp, Lindenberg und Esser sind ihm in ihren Lehrbüchern ebenso gefolgt wie es
die renommierte „Mannheimer Schule der modernen deutschen Sozialpsychologie“ getan hat.
Man denke nur an die nach wie vor vorzüglich gestalteten Lehrbücher der Sozialpsychologie
von Martin Irle und seinen Schülern.
14
Wie auch immer: Verständlich ist zweifelsohne angesichts dieser Problemlage die vorsichtige
Zurückhaltung der meisten Psychiater, vornehmlich dann, wenn sie klinisch praktisch
arbeitende Ärzte sind. Die entscheidende Frage jedoch ist meiner Meinung nach, ob sie
letzten Endes es sich leisten können, bezüglich genau dieser Problemlage Zurückhaltung zu
üben. Meiner Auffassung nach ist das nämlich nicht möglich, und aus diesem Grunde wird
die vorliegende Arbeit auf die hier angeschnittene Problematik zumindest bezugnehmen, um
das hierbei involvierte Problem als Problem immerhin kenntlich machen zu können. Zu
hoffen ist, dass zumindest die Bedeutsamkeit dieser „Grundlagenprobleme“ plausibel
gemacht werden kann. In den Mittelpunkt gestellt habe ich deshalb auch eine in dieser Arbeit
erstmalig mit Blick auf die sozialisationstheoretische Grundlage der Psychiatrie entwickelte
Stellungnahme zu dem prekären Problem des Verhältnisses zwischen „Psychologie“ und
„Soziologie“.
Diese
Problematik
sowie
die
mit
dieser
engstes
verbundene
erkenntnistheoretische Problemlage ist notorischer Gegenstand eigentlich aller Arbeiten der
„Dossenheimer Forschungsgruppe“. Naturgemäß sind die Auffassungen hierzu kontrovers,
jedoch ist es meine Meinung, dass eine dezidierte Stellungnahme, wie ich sie hier vorstelle, in
jedem Fall besser ist als gar keine.
Nimmt man sich von dieser Position her zum einen das in den 60er Jahren erschienene – wie
ich finde: nach wie vor ausgezeichnete – Lehrbuch von Redlich und Freedman und sodann
das erst in den letzten Jahren erschienene Lehrbuch von Resch et al. mit dem anspruchvollen
Titel „Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters“, welches „in seiner Art“
gleichfalls vorzüglich ist, zur Hand, so zeigt sich die bereits oben skizzierte Problemlage.
Beide Lehrbücher erwähnen noch nicht einmal die Arbeiten von Max Weber, eine
Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung sucht man
vergeblich, ja selbst ein auch nur halbwegs ernsthafter Versuch zu einer wirklich integrativen
Behandlung der verfügbaren psychologischen Theorien wird nicht gemacht. Genau dasselbe
gilt für die eigentliche methodologische Dimension der ja wesentlich kulturwissenschaftlich
zu diskutierenden sog. „Kooperations- und Integrationsproblematik“: Obwohl sehr stark die
Notwendigkeit der „Integration“ der mittlerweile in einer unüberschaubaren Fülle
vorliegenden Theorien, Modelle, Ansätze, Konzepte, Methoden etc. beklagend hervorgehoben
wird,
ist
beispielsweise
die
Grundlagenkontroverse
zum
sog.
„methodologischen
Individualismus“, die ja ausschließlich um das „Integrationsproblem in den Kultur- und
Sozialwissenschaften“ zentriert gewesen ist, völlig unbekannt. Dasselbe gilt für die in diesem
Zusammenhang ja gleichfalls wichtige Kontroverse um den sog. „labeling-approach“
zwischen Fritz Sack und den sog. „methodologischen Individualisten“.
15
Ich meine, dass die Vermeidung von Problemen, welche vor allem die methodologische
Fragestellung betreffen, unerwünschte Konsequenzen haben muss insbesondere für das
Verhältnis von Ätiologie und Diagnostik, ist doch hier das genuin wissenschaftstheoretische
Problem des Verhältnisses von klassifikatorischen Systemen und komparativem Hintergrund,
welches ich im „Rationalitätsabschnitt“ ausführlich zur Sprache bringen werde, mit Händen
zu greifen. Einige methodologisch orientierte Arbeiten wie z.B. die Übersichtsartikel von
Schmitt und Kraus, sprechen zwar das Problem einer Abklärung des Verhältnisses von
„Verstehen“
und
„Erklären“
an,
erwähnen
auch
das
sog.
„DN-Schema
einer
wissenschaftlichen Erklärung“, vermeiden jedoch eine entsprechend klare auf den
Ergebnissen der strengen Wissenschaftslehre fußenden Begriffssprache: Die Begriffe
„Theorie“, „Hypothese“, „Gesetzmäßigkeit“, „empirischer Gehalt“, „Erklärung“, „Prognose“,
„Idealtypus“, etc., denen ja mittlerweile ganz bestimmte fachterminologisch abgeklärte
Bedeutungen
in
der
strengen
Wissenschaftslehre
zukommen,
werden
kunterbunt
durcheinandergeworfen und je nach unmittelbarem Bedarf umdefiniert. Ich habe es deshalb
als meine Pflicht angesehen, in einem „Thesenkatalog“ zumindest postulatorisch aufzulisten,
was ein dezidiert soziologischer Standpunkt hierzu sagen muss. Die dort vorgeführten
Begriffe sind sozusagen mein begriffsanalytisches Inventar.
Solcherart
methodologische
Sorglosigkeit
erzeugt
bisweilen
z.
T.
absurde
„Zusammenstellungen“: Resch’s Lehrbuch beispielweise, welches, wie gesagt, zweifelsohne
ein wirklich gutes Lehrbuch ist, verwendet zum einen zwecks Charakterisierung kognitiver
Sozialisationsvorgänge die Piaget’sche „Theorie“, bezieht sich sodann jedoch auf die
Russische Schule (Luria und Wygotski), deren Theoriegebilde, wie Luckmann in seiner
Einleitung zu Wygotski’s [Denken und Sprechen] zu Recht hervorgehoben hat, im
Widerspruch mit dem Piaget’schen Forschungsansatz steht. Dies geschieht hier ganz
selbstverständlich als praktisch geübter Eklektizismus: Offenkundig findet niemand etwas
dabei, ohne explizite Erörterung der sog. Integrationsproblematik sich widersprechende
Theoriegebilde zu einem einheitlichen „Ansatz“ zu verknüpfen, wenn „praktische
Urteilskraft“ dies als geboten erscheinen lässt.
Jeder auch nur oberflächliche
Blick in
ein beliebiges
Lehrbuch der
strengen
Wissenschaftslehre hätte Auskunft darüber geben können, dass und inwiefern Eklektizismen
und Synkretismen zu logischen Katastrophen führen: Die auf solch eine Art und Weise
zusammengestellte „Theorie“ ist prinzipiell ohne Informationsgehalt, kann mithin auch nichts
16
erklären, ist also auch bar jeglichen Wertes auch und gerade für die Ausarbeitung einer
halbwegs präzisen Diagnostik und Ätiologie.13
Doch nicht allein hier liegt der Fehler. Ebenso gravierend scheint mir der Tatbestand zu sein,
dass die meisten psychiatrischen Grundlagenforschungen ein ganz offenkundig gestörtes
Verhältnis zu dem methodologisch hochsensiblen Problem der Beziehungen zwischen
klassifikatorischen Systemen und komparativen begrifflichen Strukturen haben: Die
Diagnostik muss natürlich wegen der eventuellen therapeutischen Konsequenzen, die eine
bestimmte Diagnose haben könnte, konsequent mit klassifikatorischen Begriffen verfahren. In
dieser Hinsicht besteht eine sehr weitreichende Analogie zwischen klinischer Diagnostik und
praktischer Jurisprudenz: Scharfe Begrifflichkeiten mit eindeutigen semantischen Kernen
bilden nun einmal das wichtigste methodische Arsenal „angewandter“ Wissenschaften.
Jedoch muss auch gesehen werden, wie weit diese Analogie reicht und wo sie endet. Die
Psychiatrie wendet Theoriegebilde an, deren Validität unabhängig von der anwendenden
Praxis feststehen muss.14 Die medizinische Diagnostik beruht also gerade nicht auf
Theoriegebilden mit wesentlich klassifikatorischer Grundstruktur, sondern steht stets auf dem
Boden
von
empirisch
falsifizierbaren
Hypothesenkonstruktionen,
die
wegen
des
(notwendigen) Gebrauchs von operativen Begrifflichkeiten in ihnen eine wesentlich
komparative Struktur besitzen müssen, die ja selbst wiederum nur solange ein Notbehelf ist,
solange sich die fraglichen Begriffe nicht quantifizieren lassen. Soweit ich das zu
überschauen vermag, wird die damit angeschnittene Begriffsproblematik in der Regel in der
psychiatrischen Fachliteratur nicht gesehen. In Abschnitt II. 8. 2. wird deswegen ad nauseam
diese Problematik so kleinschrittig vorgeführt, dass deutlich werden kann, worin der
methodologische „Knackpunkt“ meiner hier vorgelegten Arbeit liegt.
Die vorliegende Arbeit wird in Anlehnung an die Forschungen von Ernst Topitsch und Rainer
M. Lepsius scharf unterscheiden zwischen den aus lebenspraktischen Zusammenhängen
heraus entstehenden bzw. entstandenen Sozialtheorien und den sozialwissenschaftlichen
Theorien. Nur dann nämlich, wenn diese Unterscheidung konsequent durchgehalten wird,
lässt sich das Identitätskonstrukt so fassen, dass es als ein Grundbegriff einer
13
In seiner Kritik an der Wirtschaft- und Sozialgeschichtsforschung hat Porath in [Narratives Paradigma] den
Nachweis geführt, dass der methodisch gepflegte Eklektizismus in der „Modernen deutschen Wirtschafts- und
Sozialgeschichte“ (Wehler, Conze, Groh, Kocka) notwendigerweise zu zirkulären Erklärungen führt.
14
Vgl. hierzu meine Analyse des Lehrbuchs Redlich und Freedman [Psychiatrie], in Abschnitt II. 4.
17
Sozialisationstheorie fungieren kann.15 Hier liegt ein weiteres Manko in der psychiatrischen
Literatur, die diesen Unterschied normalerweise genauso wenig beachtet, wie es nicht nur die
Psychoanalytiker, sondern eben auch die kognitivistischen Lerntheoretiker tun. Selbst dann,
wenn sozialpsychologisch vorgegangen wird, ja sogar auf die Wichtigkeit des sog.
„symbolischen Interaktionismus“ hingewiesen wird, wird zwischen diesen Sozialtheorien, die
in ihrem Insgesamt die jeweiligen kognitiven Universen der Individuen bevölkern, und den
sozialwissenschaftlichen Theorien, welche ja bezugzunehmen haben auf diese wohl
wichtigste Klasse von „sozialen Kognitionen“, nicht unterschieden. Folgerichtig wird auch
die „Doppelsemantik“ des „Identitätskonstruktes“ in expliziter Weise jedenfalls nirgendwo
beachtet.16 Hier halte ich lediglich die zentrale These fest: Die scharfe Differenzierung
zwischen den sozusagen naturwüchsig entstehenden wie entstandenen „Sozialtheorien“, in
deren Rahmen subjektiv sinnhaft sich verhaltende menschliche Wesen ihre je spezifischen
Identitätskonstruktionen vornehmen, und den „sozialwissenschaftlichen Theorien“, welche
sich wahrheitsfähig auf genau diese je subjektiven Identitätskonstruktionsprinzipien beziehen,
um so deren Funktionen für die jeweiligen personalen Stabilisierungen beschreiben zu
können, ist wohl die wichtigste Unterscheidung der gesamten empirischen Sozialforschung,
deren wissenschaftstheoretischer Problemkern die – bislang nichtgelöste – Ideologiefrage
ausmacht. Wie auch immer letztendlich dieses Problem gelöst werden mag, – sicher ist
jedenfalls,
dass
sich
ohne
die
Unterscheidung
zwischen
Sozialtheorie
und
sozialwissenschaftlichen Theorien die Begriffe „Identität“ bzw. „Identitätskrise“ gar nicht
idealtypisch konstruieren lassen und sich folglich auch der Mechanismus der (subjektiven)
„Identitätskonstruktionsprinzipien“ nicht richtig erläutern lässt.
Vom soziologischen Standpunkt her lässt sich noch ein weiteres Manko in der
psychiatrischen Literatur feststellen. Gemeint ist die Umgehensweise mit der sog.
„Rollentheorie“. Diese ist, wie sehr oft zu Recht festgestellt worden ist, im strengen Sinne
eigentlich keine Theorie, sondern eher ein klassifikatorisch angelegtes Inventar von
15
Die in der primordialen Sozialisationsphase eines Menschen sich abspielende „Enkulturation“ ist der
Erwerb genau dieser Sozialisationstheorie, mittels derer ein „subjektiv sinnhaft sich verhaltendes
Einzelindividuum“ (so die Webersche „Definition“ des eigentlichen „Trägers“ allen gesellschaftlichen
Geschehens, dessen „Atom“ sozusagen) nicht nur „sein“ soziales Universum sondern eben auch „seine“ Identität
konstruiert.
16
Später werden wir sehen: Identität wird den personalen Systemen, welche die „Agenten“ sozialer Systeme
sind bzw. es werden sollen, gesellschaftlich zugeschrieben, und die Art und Weise, wie dies in welchen
(familialen) Rollenkontexten geschieht, konstituiert, da so die jeweiligen Identitätskonstruktionsprinzipien
vermittelt werden, zugleich auch die jeweiligen Bedingungen des Identitätserlebens, die jeweiligen Strukturen
der Identitätskrisen und die jeweiligen Kompetenzen zur Identitätsrekonstitution.
18
Beschreibungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Die Rollentheorie erklärt nichts und kann
dies trivialerweise auch nicht, ganz einfach deshalb, weil sie ausschließlich zu dem Zweck
entworfen worden ist, ein halbwegs wertneutrales Begriffsschema zur Verfügung zu haben für
die Beschreibung von Sozialstrukturen, die der neuzeitlich-okzidentalen Kulturwelt fremd
(gewesen) sind. In diesem Sinne hat 1936 Linton den Rollenbegriff als Mittel der
sozialstrukturellen Analyse eingeführt. Als ein Beschreibungsinstrument, mittels dessen sich
relativ neutral institutionelle Tatbestände sowohl des eigenen als auch des fremden
Kulturkreises analysieren lassen, ist diese „Rollentheorie“ allerdings vor allem deswegen von
außerordentlich hohem Wert, weil sie Beschreibungen von Sozialstrukturen ermöglicht, ohne
dass man Gefahr läuft, psychologische Selbstverständlichkeiten in die betreffenden sozialen
Agenten hineinzuprojizieren. Anders formuliert: Es lassen sich Verhaltensregelmäßigkeiten
auch dann „strukturell“ beschreiben, die man einfach nur beobachtet, ohne dass man über ein
entsprechendes psychologisches Hintergrundswissen verfügt. Rollenverhalten jedenfalls –
und darauf kommt es hier an – kann beobachtet und beschrieben werden, ohne irgendwelche
Personalastrologien betreiben zu müssen.
In diesem Sinne ist die „Rollentheorie“ auch in der Psychiatrie sehr oft verwendet worden.
Übersehen worden ist dabei jedoch zumeist, dass dieses analytische Instrument erst dann
seine eigentliche Fruchtbarkeit erweist, wenn man es mit empirisch falsifizierbaren Theorien
in einen Zusammenhang bringt. So steht in der Tat die „Rollentheorie“ als fruchtbares
„Brückenvokabular“ in der Mitte zwischen Psychologie und Soziologie. Es ist genau dieser
Punkt, der in der Literatur viel zu wenig gesehen wird. Überschärft formuliert: Mit den
analytischen „Angeboten“ der Rollentheorie kann nur dann fruchtbringend verfahren werden,
wenn man sie mit dem dezidierten Interesse an einer theoretischen Integration von
soziologischen und psychologischen Hypothesen konsequent texthermeneutisch behandelt. So
ist insbesondere der ansonsten recht gute, da durchaus informative, Übersichtsartikel von
Kraus
[Rollentheorie]
fast
wertlos:
Die
theoretische
Hintergrundsfolie
leidet
an
eklektizistischer und synkretistischer Mixtur, so dass einige von Kraus eingeführte Begriffe,
wie z. B. der der „Rollenüberidentifikation“, überhaupt nicht mehr klar zuzuordnen sind:
Völlig willkürlich wird dieser Begriff eingeführt und in einen definitorischen Zusammenhang
z.B. mit dem hochtheoretischen Begriff der „manischen Depression“ gebracht. Da Kraus
jedoch nicht klar macht, ob er hierbei eine Definition, eine Operationalisierung oder aber eine
empirische Hypothese im Sinne hat, ist seine gesamte argumentative Aussagenkombination
fast wertlos. Überhaupt lässt sich Kritik formulieren an der Art und Weise, wie sehr oft mit
19
der verfügbaren Literatur umgegangen zu werden pflegt. Ganz allgemein lässt sich die
„Sünde“ feststellen, dass bei der vornehmlichen Verwendung von Fachzeitschriftenmaterial
konsequent texthermeneutisch gar nicht vorgegangen werden kann. So haben selbst
Handbuchartikel kaum einen größeren Wert als den einer kommentierten Literaturliste. In
diesem Zusammenhang ist wiederum das von Bedeutung, was bereits weiter oben kritisch
angemerkt wurde: Theoretische und methodische Positionen werden nur sporadisch referiert,
nicht jedoch im Hinblick auf eine präzise ausformulierte Fragestellung hin analysiert, was
notwendigerweise zu genau derjenigen „handwerkelnden Ad-hoc-Strategie“ führen muss, die
weiter oben als eklektizistisch und synkretistisch kritisiert wurde.
Dass „der Kranke“, der „mental Kranke“ und vor allen Dingen das „mental kranke Kind“
Gegenstand des ärztlichen Verständnisses sein muss, dürfte unbestritten sein. Das gilt
selbstverständlich auch dann, wenn ein solches Verständnis sich des ganzen mittlerweile
verfügbaren Inventars streng naturwissenschaftlich gesicherten Wissens zu versichern und zu
bedienen versucht. „Ganz versteht den Menschen nur der Mensch“, lautet bekanntlich eine
mittlerweile bereits zur Phrase gewordene Formel psychologischen wie hermeneutischen
„Verstehens“. Und überhaupt: Die sog. „Verstehenslehre“ steht mit Recht auf der Grenzlinie
zwischen den Naturwissenschaften und den sog. Humanwissenschaften, bildet also auch –
oder sollte es zumindest tun – den eigentlichen Gegenstand einer Methodologie der
Heilkunde. Die „Psychopathologie“ Jaspers ist bekanntlich sehr stark an die Rickert’sche
Fundierung der sog. Kulturwissenschaften angelehnt, wie eine akribische Max-WeberForschung mittlerweile hat herausarbeiten können.
Es ergibt sich von daher bereits eine Grundlagenproblematik der Medizin, welche diesen
„Riss in der Methodik“ sozusagen als ein Grundstigma in sich birgt. Selbstverständlich wird
die hier vorgelegte Arbeit versuchen, diesen „methodischen Irrgarten“ so weitgehend wie
möglich zu vermeiden. Jedoch gilt auch in diesem Zusammenhang die weiter oben
formulierte Grundmaxime meiner Arbeit: Man muss Stellung beziehen. Aus diesem
Blickwinkel ergibt sich ein weiterer gravierender Kritikpunkt an der psychiatrisch orientierten
Erkenntnispraxis: Obwohl jeder auch nur oberflächliche Blick in die sog. „Philosophische
Hermeneutik“ (Gadamer) darüber belehren kann, dass methodisch scharf unterschieden
werden muss zwischen der sog. „psychologischen Konzeption des Verstehens“ und der sog.
„hermeneutischen Konzeption des Verstehens“, wird genau dieser Unterschied in der Regel
nicht
beachtet.
Für
eine
dezidiert
sozialisationstheoretisch
ausgerichtete
Interessensorientierung ist gleichwohl diese Unterscheidung hoch bedeutsam. Dies gilt gerade
nicht lediglich nur dann ausschließlich, wenn man, wie ich es tue, die „Verstehende
20
Soziologie“ Max Webers favorisiert. Um die spezifische Abhängigkeit ganz bestimmter
personeller Einstellungssysteme von ganz bestimmten Weltbildern und Ideen in Hypothesen
präzise fassen zu können – und das muss eine konsequente Sozialisationsforschung natürlich
–, muss zwischen den „objektiven Sinngebilden“, die es zu „verstehen“ gilt und den
„motivierenden
Weltbildern“,
die
Bestandteil
subjektiver
Sinnkonstruktion
sind,
terminologisch scharf unterschieden werden. Wir benötigen doch eine Rekonstruktion z.B.
der Ethik wie der Weltbilder einer medizinischen Institution, um sodann das Ausmaß
abschätzen zu können, in welchem diese institutionelle Ethik bei den Personen, die als Ärzte
fungieren, in deren Einstellungen präsent sind. Und dasselbe gilt natürlich für die Patienten.
Würde man die Unterscheidung nicht beachten, um die es hier geht, so könnte man niemals
die Beziehungen analysieren zwischen einer durch eine ganz bestimmte Idee sowie durch ein
ganz bestimmtes Wertsystem dominierten Sozialstruktur und dem subjektiv sinnhaften
Handeln derjenigen Individuen, die im Rahmen dieser Sozialstruktur sozialisiert worden sind.
Aus diesem Grunde muss ganz einfach eine wirkliche auch und gerade ethisch engagierte
„Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters“, welche das „Verstehen des
Kindes“ in den Mittelpunkt aller ihrer Bemühungen stellt, wesentlich unzulänglich bleiben,
wenn sie diese fundamentale methodische Unterscheidung der Philosophischen Hermeneutik
zu sehr vernachlässigt. Hier schließt sich zwanglos meine diesbezügliche Kritik mit meiner
bereits oben geäußerten Kritik an der gänzlichen Außerachtlassung insbesondere der
Weberschen Verstehenslehre zusammen. Bislang nämlich gibt es nur einen einzigen wirklich
diskutablen Versuch, genau diese methodische Maxime der Philosophischen Hermeneutik in
ein genuin wissenschaftliches Erkenntnisprogramm zu überführen: die Webersche
„Begriffslehre des sozialen Handelns“.
Damit in engem Zusammenhang steht auch die allenthalben zu beobachtende völlige
Ausblendung der „Kulturwerte-Diskussion“, was, wie ich meine, massive Konsequenzen vor
allen Dingen für die Formulierung der Therapieziele hat, deren Realisation ja den
„Funktionären“ der medizinisch-klinischen Systeme der sozialen Kontrolle als verbindliche
Pflicht
obliegt:
durchorganisiertes
Makrosoziologisch
System
der
ist
die
sozialen
Psychiatrie
Kontrolle,
ein
mittlerweile
welchem
ganz
perfekt
bestimmte
Sozialisationsaufgaben und Re-Sozialisationsaufgaben auferlegt sind, die sie zu bewältigen
hat, wenn sie nicht mit der Werte- und Normstruktur unseres derzeitig geltenden Moral- und
Rechtssystems in Konflikt geraten will. Auf die Frage: „Was ist, will und kann die
Psychiatrie?“, muss die erste und wichtigste Antwort lauten: Sie ist ein System der sozialen
Kontrolle, dem die Realisation ganz bestimmter Sozialisationszielvorgaben und Re21
Sozialisationszielvorgaben seitens unserer derzeitig geltenden Moral- und Rechtsordnung
auferlegt ist, die samt und sonders mit den Werten der „Mündigkeit“, „Selbstverantwortung“
etc. etc. assoziiert ist. Dass unsere Rechtsordnung dabei genau diesem System der sozialen
Kontrolle – und dies unterscheidet es z.B. von unserem Strafrechtssystem – zuweilen
erstaunlich weitgefasste Handlungsspielräume bei der Erfüllung ihrer „gesellschaftlichen
Aufgaben“ einräumt, ändert nichts an dem grundsätzlichen Tatbestand, dass es nun einmal
„Grenzen der Wirksamkeitsmöglichkeiten“ gibt, deren Überschreitung unabdingbar die
„Aufmerksamkeit“ anderer – nämlich justiziärer Systeme der sozialen Kontrolle auf sich
ziehen würde.
Ich komme nunmehr zu dem gravierensten aber auch präkersten Vorwurf, der den meisten
Arbeiten in der Psychiatrie gemacht werden muss: Es fehlt der forschungsheuristische
Ausgriff auf die mögliche Ausarbeitung erklärungsrelevanter Theorien, die allein, wie es
seitens der Naturwissenschaften der Fall ist, die Möglichkeit in sich bergen würde, wirklich
ätiologisch vorgehen zu können. Die Verschiebung der Schwerpunkte zur Naturwissenschaft,
wie sie in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat und zumeist relativ hilflos bisweilen auch
beklagt wird, ist allein deshalb verständlich, weil diese naturwissenschaftlichen Theorien ja
tatsächlich so etwas wie eine halbwegs gesicherte Hintergrundsfolie für die Ätiologie der
Mentalerkrankungen abgeben. Dass damit gleichwohl eine Einengung der Blickrichtung
erfolgt, ist nur natürlich. In der strengen Wissenschaftslehre ist angeblich vor allem seitens
der sog. „Positivisten“, so wird behauptet, immer wieder darauf aufmerksam gemacht
worden, dass die sog. „Geisteswissenschaften“ wesentlich daran kranken, sie würden sich
nicht nach dem Vorbild der Naturwissenschaften ausbilden. Die Forschungen des
„Dossenheimer Arbeitskreises“ haben zeigen können, dass das Bild, was hier von den
Positivisten gezeichnet wird, „so“ gar nicht stimmt. Insbesondere die „Wiener Schule des
Neopositivismus“ hat diesen Vorwurf nämlich völlig anders formuliert. Es geht nicht darum,
den Humanwissenschaften vorzuwerfen, sie richteten sich zu wenig naturwissenschaftlich
aus. Der Vorwurf lautet vielmehr: Die Humanwissenschaften bemühen sich zu wenig um die
Konstruktion empirisch falsifizierbarer Hypothesen, und es ist dieser Mangel an Bemühung,
der kritisiert wird. Ob tatsächlich irgendwann einmal Theorien konstruiert werden können in
den Humanwissenschaften, die das Ausmaß an Exaktheit und Allgemeinheit aufweisen, wie
es die zumeist in mathematischer Sprache formulierten naturwissenschaftlichen Theorien tun,
steht durchaus in den Sternen. Aber darum geht es überhaupt nicht.
Worum es vielmehr geht, ist folgendes: Die geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung
dramatisiert viel zu sehr den vermeintlich grundsätzlichen Widerspruch zwischen
22
Hypothesen, die sich einer quantitativen Begriffssprache bedienen, und Hypothesen die mit
qualitativen Begriffen arbeiten. Durch die Maschen dieser vermeintlich erschöpfenden
Alternative fällt nämlich die real gegebene Möglichkeit hindurch, dezidierte empirische
Hypothesen konstruieren zu können, die sich einer komparativen Begrifflichkeit bedienen.
Diese Hypothesen haben jedoch dieselbe logische Struktur wie die bewunderten quantitativ
verfassten Hypothesen der strengen Naturwissenschaften. Der Hauptteil und das
Hauptgewicht der hier vorgelegten Arbeit wird auf genau diesem – wie ich meine:
entscheidenden – Punkt liegen. Dafür allerdings muss scharf unterschieden werden zwischen
„Definitionen“, „Arbeitsbegriffen“, „Grundannahmen“ und „Hypothesen“.
In sehr engem Zusammenhang damit steht meine Kritik an der Art und Weise, wie
„Fallbeschreibungen“ sich präsentieren. Hier ist ein, wie ich finde, unerträgliches
Mischverhältnis von hochtheoretischem Fachvokabular und zuweilen bis ans Primitive
grenzender Umgangssprachlichkeit gegeben, welche dem Postulat der intersubjektiven
Überprüfbarkeit widerspricht. Doch dies nur nebenbei.
Ich komme zum Abschluss:
Der therapeutischen Heuristik der Forschungsgruppe Resch zufolge steht zu Recht im
Zentrum die Frage: Wie können wir als klinisch ausgerichtete Pädo-Psychiater die Welt des
Kindes verstehen? „Forschung“ heißt in diesem Fall ja tatsächlich: Entdeckungsreise in eine
uns unbekannte geistige Welt. Diese „Grundfragestellung der Pädo-Pyschiatrie“ hat sehr
weitreichende Implikationen. Vor allem lässt sie sich problemlos in die Fragestellung
„einbinden“, die in der vorliegenden Arbeit im Abschnitt „Wissenschaft und Forschung“
explizit aufgeworfen werden wird: Eine uns eigentlich wohlvertraute Welt ist „uns
Erwachsenen“, die wir ja einen relativ langen Sozialisationsweg hinter uns haben,
mittlerweile so völlig unvertraut geworden, dass wir sie ganz neu zu entdecken haben. In der
Tat müssen wir, wie Resch es formuliert hat, lernen zu verstehen. Ein wirklich interessanter
Gedanke – wenn man ihn konsequent zu Ende denkt. Selbstverständlich nämlich beinhaltet er
ja auch eine ganz bestimmte Moral, die sich problemlos auf die Kant’sche Ethik beziehen
lässt: Verobjekte Dein Gegenüber nicht, nimm es ernst – nämlich als „Zweck an sich“ –, sei
Dir jedoch bewusst, dass es noch kein Erwachsener ist, mit dem Du es zu tun hast und mit
dem Du sprichst. Notwendige Bedingung dafür jedoch, dass sich solche Maximen überhaupt
beherzigen lassen, ist die forschende Bemühung um die Erschließung der „Welt des Kindes“,
conditio sine qua non auch für mögliche Therapien.
23
Wie aber sollte wohl eine solche Erschließung aussehen, wenn bereits auf Grund des
theoretischen Ansatzes nicht hinreichend unterschieden werden kann zwischen den jeweiligen
subjektiven Sinnkonstruktionen des Kindes und dessen objektiv bestehender sozialer Welt?
Nur
auf
Grundlage
dieser
genuin
psychologischen
und
zugleich
soziologischen
Problemstellung lassen sich, wie ich meine, auch solche Fragen sinnvoll stellen:
Wie sieht das soziale Universum eines Kindes aus? Wie konstruiert es seine „innere“, wie
seine „äußere Realität“? Und vor allem: Wann, wie und unter welchen sozialstrukturellen
Rahmenbedingungen in der primordialen Sozialisationsphase hat eigentlich ein Kind gelernt,
zwischen seiner „inneren Realität“ und der „äußeren Realität“ entscheidungsrelevant zu
differenzieren?
Selbstverständlich ist der methodische Grundansatz der Forschungsgruppe Resch, welcher
besagt, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie lernen müsse, das Kind zu verstehen, völlig
korrekt und stimmt mit demjenigen, der in der vorliegenden Arbeit entwickelt wird, völlig
überein. Nur überschärfe ich ihn noch dahingehend: Nicht nur die Forschungsethik der PädoPsychiatrie, sondern die Forschungsethik der Humanwissenschaften überhaupt sollte „lernen“
vor allem und an erster Stelle „das Kind zu verstehen“. Dafür aber bedarf es einer
Beantwortung genau derjenigen Kernfrage der Sozialisationstheorie wie ich sie gegen Ende
des ersten Abschnitts dieser Einleitung aufgeworfen habe und in Abschnitt II. 8. 4. im
direkten Anschluss an die Erörterung der Rationalitätsproblematik explizit als Kern- und
Kardinalfrage der sozialisationstheoretischen Forschung formulieren werde. Nur so scheint es
mir möglich, in die Struktur und Dynamik eines uns allen einst völlig vertraut gewesenen und
mittlerweile fremd gewordenen sozialen Universums irgendwelche therapierelevante
Einblicke nehmen zu können. Denn dann und nur dann, wenn es gelingt, genau diese
Kernfrage aller psychiatrierelevanten sozialisationstheoretischen Entwürfe zu beantworten,
haben wir auch eine Chance, die inhaltliche Vielfalt der infantilen, juvenalen und
adoleszenten Sozialtheorien („Weltbilder“) zu verstehen, von denen wir annehmen, dass sie
als „Weichensteller“ die „Bahnen“ bestimmen, in denen die Dynamik des Handelns von
Kindern und Jugendlichen sich bewegt. Auch und gerade in diesem Zusammenhang gilt, wie
ich meine, eine der methodologischen Grundregeln der sog. „Verstehenden Soziologie“ Max
Webers, wie dieser sie in seiner 1916 verfassten „Einleitung in die Wirtschaftsethik der
Weltreligionen“ so prägnant formuliert hat: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen,
bestimmen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die »Weltbilder«, welche durch
»Ideen«
geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen
die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“
24
3. Relevanz: Was die vorliegende Arbeit leisten will und zu leisten vermag und
was sie nicht zu leisten vermag
Aus den aufgeführten Kritikpunkten leitet sich die Frage ab, was die hier verfolgte Arbeit, die
ja bezüglich der klinisch psychiatrischen Praxis als fachfremd angesehen werden muss, zu
leisten sich vornehmen kann, was zu leisten sie imstande ist und was zu leisten sie nicht
imstande ist.
Es geht also um die Erörterung des Problems der Relevanz der hier vorgelegten Arbeit.
Als erstes muss klar gesehen werden, dass und inwiefern die vorliegende Arbeit durch ein
gewisses Dilemma gekennzeichnet ist, was sich bereits deutlich abzeichnet, wenn man die im
letzten Abschnitt (Forschungsstand) der gegenwärtigen Psychiatrie gegenüber erhobenen
Vorwürfe konstruktiv zu wenden versucht: Der Aufbau einer psychiatrierelevanten
Sozialisationstheorie, wie er einleitend gefordert worden ist, krankt ja genau daran, dass die
im letzten Abschnitt angesprochenen Probleme der kultur- und sozialwissenschaftlichen
Grundlagenforschung nicht gelöst sind, was ein auch nur oberflächlicher Blick z.B. in den
[Forschungsantrag] zeigt. Dennoch bleibt kein anderer Weg als der in der vorliegenden Arbeit
beschrittene, was deutlich werden wird, wenn man sich die Mühe macht, die Argumentation
vor allem des Abschnitt II. 8 über die „Rationalität“ mit seinen „Definitions- und
Hypothesenkatalogen“ minutiös nachzuvollziehen.
Und trotzdem: Die Arbeit beansprucht Relevanz im Hinblick auf eine mögliche
Differenzierung klinisch auffälligen Verhaltens und muss dies tun. Denn der mit Bedacht
gewählte Untertitel der hier vorgelegten Arbeit, der sich auf die „Werdestruktur“ jeglicher
Formen des Humanverhaltens bezieht, beschreibt ja nun tatsächlich ein objektiv bestehendes
Desiderat: Bisher wurde nicht nur noch keine Theorie entwickelt, die sich auf den
Zusammenhang bezieht zwischen der sozialisationstheoretischen Dimension sozialen
Handelns und denjenigen Tatbeständen, die mittels der Begriffe „Identitätskrise“, „Devianz“
und „soziale Kontrolle“ bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil: Es wurde darüber hinaus
noch nicht einmal ein methodologisch zumindest halbwegs sensibilisierter Versuch dazu
gemacht. Und um einen solchen Versuch geht es hier: Wenn es gelingt – und das genau
versucht der Titel und der Untertitel der hier vorgelegten Arbeit anzudeuten – die
sozialisationstheoretische Dimension sozialen Handelns für die Etablierung sowohl
25
kompetenten sozialen Handelns als auch wesentlich defizienten „Handelns“ sichtbar zu
machen,17 dann müsste sich ein sozialisationstheoretisches Modell ergeben, in welchem die
Begriffe „Identitätskrise“, „Devianz“ und „soziale Kontrolle“ nicht nur eine klar
umschreibbare Bedeutung haben. Diese Begriffe müssten überdies so aufeinander bezogen
sein, dass sich aus einem solchen „Erklärungsmodell“ eine Reihe von empirisch
falsifizierbaren Hypothesen herleiten ließe, die einen Kausalzusammenhang zwischen den
mittels dieser Konstrukte umschreibbaren Tatbeständen postulieren.18 Vor allem geht es mir
darum zu zeigen, was es tatsächlich bedeutet, wenn man einen Kausalzusammenhang zu
postulieren versucht zwischen den sozialstrukturellen Bedingungen der frühen Kindheit und
im Krankheitsfall auftretender entwicklungspsychopathologischer Syndromlage: Die diese
erfassende Symptomatologie muss auf der Grundlage einer empirisch falsifizierbaren
Sozialisationstheorie ätiologisch zurückführbar – d. h. kausal beziehbar – sein nicht nur auf
die psychosomatische Befindlichkeit „des Kindes“ in der primordialen Sozialisationsphase,
sondern auch und gerade – und genau hier liegt der systematische Stellenwert der
„Soziologie“ – auf die Bedingungskonstellationen des seinerzeitigen sozialen Umfeldes dieses
Kindes. Aus dieser Überlegung folgt trivialerweise, dass ein Modell des sozialen Handelns,
welches sich mit all denjenigen Formen abweichenden Verhaltens befasst, die nicht eindeutig
dem „Delinquenzmodell“ oder aber dem „Widerstandsmodell“19 zuzuordnen sind, wesentlich
ergänzungsbedürftig ist im Hinblick auf eine Theorie des Sozialisationsgeschehens.20 Wenden
17
D.h. eine Lerntheorie auszuarbeiten, welche angeben kann, unter welchen sozialstrukturellen Bedingungen
sich genetisch bzw. konstitutionell relativ „normal“ ausgestattete menschliche Wesen zu sozial kompetenten
Handlungsträgern entwickeln können. Aus diesem Blickwinkel ergibt sich ja dann ganz automatisch die
„Ableitung“ einer Theorie, welche aufzeigt, unter welchen Bedingungen wesentlich defizientes Verhalten das
wahrscheinliche Resultat sein wird.
18
Damit ist bereits hinreichend deutlich die Aufgabenstellung einer sowohl für die Pädiatrie als auch für die
Neuropädiatrie als auch für die Pädo-Psychiatrie bedeutsamen Sozialisationstheorie umschrieben: In Form von
empirisch falsifizierbaren Hypothesen, muss ein Kausalzusammenhang behauptet werden zwischen denjenigen
Wechselwirkungsverhältnissen, welche die primordiale Sozialisations- und Enkulturationsphase ausmachen, der
(Patho-)Genese ganz bestimmter, nämlich maligne strukturierter Identitätskrisen und dem Auftreten ganz
bestimmter, nämlich pathologischer, devianter Verhaltensmuster. Zur Klassifikation devianter bzw.
pathologischer Verhaltensmuster vgl. das Tafelbild in Abschnitt II. 7. 1. und dessen Variation nach Maßgabe
bestimmter Rationalitäts- und Irrationalitätskriterien das Tafelbild II. 7. 2.
19
Vgl. hierzu die Ausführungen in II. 7.
20
Der Unterschied ist, wie wir sehen werden, sehr wichtig: Ein Modell sozialen Handelns, welches ein
(logisch konsistentes) Gefüge von Grundannahmen repräsentiert, ist eine idealtypische Konstruktion, ein
begriffliches Gebilde, welches folglich nicht selbst wahr oder falsch sein kann. Weber definiert das
Begriffsgefüge des „sozialen Handelns“ und legt so den genuinen Gegenstandsbereich der „Soziologie“
kategorisch fest. Eine Theorie des Sozialisationsgeschehens hingegen ist ein System von wahrheitsfähigen
Sätzen. Nur eine Theorie nämlich hat eine erklärende Funktion. Vgl. hierzu vor allem den „Thesenkatalog“ in
26
wir diese Überlegung nun konsequent makrosoziologisch, so lässt sich derselbe Tatbestand
auch folgendermaßen formulieren: Es gibt Sozialisationsverläufe, welche zu Formen der
Devianz führen auf welche nicht die „sanktionierenden“ Systeme der sozialen Kontrolle einer
Gesellschaft, sondern vielmehr die „fürsorgenden“ Systeme derselben zu reagieren
ermächtigt, d.h. legitimiert und verpflichtet sind. Wie in der Skizzierung des
Forschungsstandes bereits angedeutet, ist genau dieser Gesichtspunkt in den einschlägigen
psychiatrieorientierten Analysen viel zu sehr vernachlässigt worden. Man hat nicht gesehen,
dass und inwiefern wie auch in welchem Umfang den „fürsorgenden“ Systemen der sozialen
Kontrolle die Pflicht auferlegt ist, ganz bestimmte „Kulturwerte“ in ihrer Praxis zu realisieren.
Es ist eine soziale Tatsache unserer Gesellschaftsform, dass diese von sich aus recht klar die
Kriterien vorgibt dafür, was als „gesund“ und „krank“, was als „normal“ und was als
„anomal“ zu gelten hat, und vom streng soziologischen – oder genauer noch: vom streng
kultursoziologischen – Gesichtspunkt aus ist dieser Tatbestand alles andere als unwichtig.
Psychiatrie, Medizin und Psychologie tun sich bekanntlich schwer damit, Kriterien für die
Unterscheidbarkeit von „gesund“ und „krank“ von „normal“ und „anomal“ von „rational“ und
„irrational“ zu entwickeln. Soziologisch aber ist völlig klar, warum dies im Rahmen dieser
Institutionen gar nicht bewerkstelligt werden kann: Es handelt sich dabei um Kulturwerte,
denen ganz bestimmte normative Prinzipien zugeordnet werden. „Werte“ werden, wie vor
allem Max Weber mustergültig herausgearbeitet hat, den Wissenschaften nun einmal
vorgegeben, sie können sich gar nicht aus ihnen selbst ergeben. Es ist eines der wichtigsten
Resultate der Weberschen Forschungen zum sog. „Objektivitäts- und Wertfreiheitsproblem“,
gezeigt zu haben, dass Erfahrungswissenschaften „Werte“ zwar analysieren, sie jedoch
niemals selbst begründen können. Auf das methodologisch sehr schwierige Problem, wie sich
kulturell vorgegebene Werte mit den Mitteln der Wissenschaft kritisieren lassen, ohne dass
dadurch die Wissenschaftlichkeit fragwürdig wird, wird später noch genauer einzugehen sein.
Hier halte ich dazu lediglich schlagwortartig fest: Angewandte Wissenschaften realisieren
sozialstrukturell vorgegebene Kulturwerte, ihre jeweiligen Grundlagenforschungen jedoch
müssen so „gebaut“ sein, dass sie zeigen können, was im gegebenem Fall an
„Wertrealisation“ möglich ist und was nicht.21 Wenn es also gelingt, mittels einer präzisen
Aufklärung des Bedeutungsgehaltes der Begriffe „Identitätskrise“, „Devianz“ und „soziale
Abschnitt II. 3. 2. sowie die Ausführungen zum sog. „DN-Schema einer wissenschaftliche Erklärung“ in
Abschnitt II. 5. 5.
21
Vgl. hierzu die Abschnitte II. 4. und II. 5 .1. bzw. II. 5. 2.
27
Kontrolle“, Rolle und Funktion von „Identitätskrisen“ für das Sozialisationsgeschehen
menschlicher Wesen dergestalt genau zu bestimmen, dass sich ein Erklärungsmodell für
klinisch auffälliges abweichendes Verhalten ergibt, dann müsste sich im Hinblick auf die
Ätiologie der sog. „Geistes- und Gemütskrankheiten“ auch eine verbesserte Diagnostik
ergeben. Eine Analyse der sozialisationstheoretischen Dimension (rationalen) sozialen
Handelns wäre dann die eigentliche Grundlage für sorgfältig erstellbare Anamnesen, und
bekanntlich gilt ja nun einmal die alte medizinische Faustregel, 90% einer guten Diagnostik
sei sorgfältige Anamnese.22
In genau dieser Hinsicht erstrebt die vorliegende Arbeit Relevanz: Sie möchte theoretische
bzw. methodologische „Hilfsdienste“ im Hinblick auf die klinisch psychiatrische Diagnostik
leisten. Damit nimmt sie ernst, was mit dem Titel eines Dr. sc. hum (Doctor scientiarum
humanarum) eigentlich angestrebt sein sollte: Geleistet werden soll ein konstruktiver Beitrag
zur Verbesserung der medizinischen Forschung und Diagnostik, wobei in genuinem Sinne die
Medizin als eine „Humanwissenschaft in praktischer Absicht“ aufgefasst wird.23
Bereits so gefasst ist die Arbeit, wie bereits im Abschnitt über den „Forschungsstand“
angedeutet,
in
methodischer
Hinsicht
mit
einer
ausgesprochen
schwierigen
erkenntnistheoretischen Problemlage konfrontiert: Es ist das Problem des Verhältnisses der
sog. „Methode des Verstehens“ zu der angeblich ausschließlich in den strengen
22
Zu berücksichtigen ist allerdings in diesem Zusammenhang – und dies kompliziert die ganze
Angelegenheit natürlich –, dass es ja durchaus klinisch auffälliges Verhalten bzw. klinisch auffällige
Verhaltensmuster gibt, die nicht deviant sind, sondern sich vielmehr durch exzessive Konformität auszeichnen.
Ich werde hierfür den Begriff der „realitätsfugativen Roffelfixation“ einführen und diesen abzugrenzen
versuchen gegenüber dem von Kraus [Rollentheorie] eingeführten Begriff der „Rollenüberidentifikation“.
Selbstverständlich stehen auch diese beiden Begriffe, unserer allgemeinen Aussage gemäß, in einem ganz
bestimmten Zusammenhang mit ganz bestimmten Formen von Identitätskrisen: Jedweder
Verhaltensmodifikation, die in den Bereich der kognitiven Umorientierungen fällt, gehen irgendwelche
identitätskritische Zustände voraus, sind diese doch immer der Preis, der zu zahlen ist für mögliche
Lernzuwächse. Psychiatrisch interessant sind natürlich dann diejenigen Fälle, in denen sich Lernblockaden
nachweisen lassen, haben doch auch diese, wie wir sehen werden, identitätsstabilisierende Funktionen.
Nebenbei gesagt: Auch und gerade der Begriff der „Identitätskrise“ bedarf, um als operativer Begriff fungieren
zu können, der Komparativierung. Nur so lassen sich empirisch falsifizierbare Hypothesen konstruieren.
23
Vgl. Max Weber über die Einordnung der klinischen Medizin in [Objektivität]. Weber spricht dort von den
„klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“, die er als Paradigma aller Versuche auffasst,
grundlagenorientierte Forschung welche vor allem dem Wertfreiheitspostulat verpflichtet ist, Technologie zu
transformieren. Wir werden weiter unten explizit auf diese Problemlage eingehen.
28
Naturwissenschaften geübte Methode des „Erklärens“, mithin also die bekannte Frage nach
der methodischen Dichotomie von Kultur- und Naturwissenschaften. Dies ist, wie sich
nunmehr klar feststellen lässt, wegen der „Grenzlage“ der medizinischen Forschung und
Praxis alles andere als eine bloß akademisches Problem, stellt sich doch die Frage, ob
vornehmlich derjenige Teil der medizinischen Forschung und Diagnostik, der mit dem
Bereich der „Geistes- und Gemütskrankheiten“ befasst ist, streng naturwissenschaftlich oder
streng kulturwissenschaftlich ausgerichtet sein soll. „Beides natürlich“, wird in der Regel
ganz spontan der klinisch arbeitende Psychiater antworten.24 Was jedoch bedeutet das ganz
konkret?
Die gegenwärtige Medizin ist bekanntlich sehr stark naturwissenschaftlich ausgerichtet,
orientiert sich also in ihrer Praxis vor allem an demjenigen „Wissen“, welches seitens der
Physik, Chemie und Biologie hat ausgearbeitet werden können und nunmehr in Gestalt ganz
bestimmter Theoriegebilde „verfügbar“ ist.
Meine Arbeit setzt sich das bescheidene Ziel, in genau diesem Zusammenhang auf einen
Aspekt aufmerksam zu machen, der – und dies nicht zuletzt wegen der gegenwärtigen
naturwissenschaftlichen Dominanz – in der Psychiatrie derzeitig Gefahr läuft, verloren zu
gehen. Es ist nicht die Absicht dieser Arbeit, gegen die naturwissenschaftliche Präsenz in der
Humanmedizin zu polemisieren – ganz im Gegenteil! – oder gar den Grundlagenstreit der
methodischen Dichotomie zu entscheiden. Allerdings scheint mir die derzeitige Konjunktur
der sich neuentfaltenden interdisziplinären Aktivitäten darauf hinzudeuten, dass dieses
traditionelle zentrale Problem sich erneut aktualisiert. Ich möchte das damit aufgeworfene
Problem ein wenig anders akzentuieren und stelle mit der Frage, ob nicht vielleicht doch eine
„gute Portion“ kulturwissenschaftlichen Denkens der derzeitig naturwissenschaftlich
ausgerichteten Medizin ganz allgemein gut täte, die, wie ich mit Porath finde, sehr viel
spannendere Frage, ob nicht unter Umständen um einer verbesserten Diagnostik willen auch
die
sog.
Geisteswissenschaften
(=Kulturwissenschaften)
nach
dem
Vorbild
der
Naturwissenschaften streng erfahrungswissenschaftlich organisiert werden sollten oder gar
müssen.25
24
Vgl. Resch’s Ausführungen in der Besprechung am 13. Juni 2005
25
Vgl. hierzu auch die Ausführungen in den Abschnitten II. 3. 2. sowie II. 5., wo es um den Zusammenhang
zwischen dem Wissenschaftscharakter der Kulturwissenschaften und dem Problem der kulturwissenschaftlichen
Integration gehen wird.
29
Hierbei ist scharf zu unterscheiden zwischen der Frage ob dies möglich ist oder ob dies
wünschenswert ist. Die bisherige hierzu entwickelte Diskurskultur hat nämlich genau diese
beiden Fragen notorisch konfundiert, was zu einer wirklichen „Schieflage“ aller hierbei
relevanten Argumentationsstrukturen geführt hat.
Ich zitiere zur Verdeutlichung meiner grundsätzlichen Position in dieser Frage eine
Passage aus dem bereits des öfteren erwähnten [Forschungsantrag] der „Dossenheimer
Arbeitsgruppe“ aus dem Jahre 2001, der sich um des möglichen Aufbaus einer streng
wissenschaftstheoretisch
Sozialwissenschaften
disziplinierten
willen
wesentlich
Methodologie
mit
der
der
Geschichts-
Möglichkeit
einer
Kultur-
und
konsequenten
kulturwissenschaftlichen Analyse der Struktur und Dynamik der Entwicklungsgeschichte der
Naturwissenschaften befasst. Es heißt dort:
„Prekär ist hierbei vor allem der folgende Gesichtspunkt: Sollen die (methodologische) Struktur,
die
Genese,
die
(endogene)
Dynamik
und
die
(gesellschaftliche)
Funktion
der
Naturwissenschaften einerseits sowie die Struktur, Genese, Dynamik und (gesellschaftliche)
Funktion der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften andererseits Gegenstandsbereich
derjenigen Abteilung der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften sein, die den Namen
Analytische Wissenschaftslehre trägt und die ich [Porath] als historische Forschungslogik zu
konzeptualisieren versuchen werde, so bedarf es hierfür vorab einer Entscheidung darüber, ob
man überhaupt eine streng erfahrungswissenschaftlich organisierte Durchdringung des
Gegenstandsbereiches der Gesellschaftswissenschaften ganz allgemein will. Und bezüglich
dieses Problems sollten sodann zwei, wie mir scheint: wesentliche, Unterscheidungen getroffen
werden:
Erstens ist die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion erfahrungswissenschaftlich
organisierter Weltbewältigung – dies schließt gleichermaßen die Natur- wie die Sozialforschung
ein –, da selbst eine historisch-empirische Frage, legitimer Gegenstand der Geschichts-, Kulturund Sozialwissenschaften, wohingegen die Frage nach der Aufgabe bzw. der Zielsetzung der
Natur- wie der Sozialforschung ein "Willensverzweigungsproblem" im Reichenbachschen Sinne
ist und folgerichtig nicht selbst wiederum "wissenschaftlich" entschieden werden kann. In
diesem Sinne ist der "Wille zur Wissenschaft" (Holzkamp) in der Tat entweder konstitutives
Element des Versuches einer (konsequenten) "Erneuerung der Historik" (Rüsen) oder er ist es
eben nicht: Willensverzweigungsprobleme designieren, bringt man hierbei die Carl-Schmittsche
Terminologie
in
Anschlag,
Erfahrungswissenschaften.
Und
gewissermaßen
auftreten
30
tun
die
selbige
politische
zu
Hauf
Dimension
in
der
denjenigen
Ausnahmesituationen des "normalen" Forschungsprozedere, die wir Paradigmakrisen nennen.
Da ich der Auffassung bin, daß wir uns nach wie vor in einer auf der Symptomebene von
Forschungstechnik und Methodik nicht mehr therapierbaren Grundlagenkrise befinden, die als
Paradigmakrise im Sinne der Kuhnschen Wissenschaftslehre zu deuten ist, folgt trivialerweise,
daß wir uns entscheiden müssen, ob es uns in unseren Grundlagenkontroversen um eine
wahrhaft
wissenschaftliche
Konzeptualisierung
des
Erfahrungsraumes
„menschlich-
gesellschaftliche Wirklichkeit“ (Dilthey) gehen soll oder nicht. Nach meinem Dafürhalten
jedenfalls
ist
es
an
der
Zeit,
die
Verwissenschaftlichungsmöglichkeiten
der
Gesellschaftswissenschaften (erneut) zu überprüfen.
Dies die eine Unterscheidung, und die zweite, eng damit zusammenhängende, läßt sich
folgendermaßen formulieren: Die Frage, ob es wünschenswert ist, die "Geschichts-, Kultur- und
Sozialforschung als strenge Wissenschaft" (Viktor Kraft) zu konzeptualisieren, muß strikt
getrennt werden von der Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Geschichts-, Kultur- und
Sozialforschung als Erfahrungswissenschaft stricto sensu zu konzeptualisieren. Dies nämlich
eine
Unterscheidung,
welche
ob
der
hoffnungslos
mehrdeutigen
Metaphorik
des
Wissenschaftsbegriffs in der Regel nicht hinreichend präzise getroffen zu werden pflegt:
Während die erste Frage ebenfalls ein "Willensverzweigungsproblem" ist, umschreibt die zweite
Frage ein eindeutiges wissenschaftstheoretisches Problem und ist im Prinzip auch mit Blick auf
das paradigmatische Belegstück der strengen Naturwissenschaften durchaus beantwortbar, wie
ich
meine:
Gelingt
mit
der
Aufklärung
der
methodologischen
Problemlage
der
Naturwissenschaften die Beantwortung der Frage, wie in deren institutionellem Rahmen z. B.
das Wertfreiheitsproblem faktisch hat gelöst werden können, so gelingt auch die Erstellung eines
Bezugssystems, welches das Ausmaß an "Wissenschaftlichkeit" bestimmbar macht, welches den
Humanwissenschaften möglich ist. Zu zeigen wird also sein, daß und inwiefern der
Wissenschaftsbegriff als ein au fond komparatives Prädikativgebilde gefaßt werden kann und
muß, wobei das Lehrbeispiel der strengen Naturwissenschaften als Extremtypus fungiert. Dies
wird vornehmlich Gegenstand der Argumentation in dem dritten größeren Denkschritt der hier
vorgelegten insgesamt auf vier Bände angelegten Historischen Forschungslogik sein.“26
Das hier ja nur ganz grob „angerissene“ Problem ist eigentlich das zentrale Dauerthema des
„Forschungskreises Dossenheim“ mit Gelehrten, die unsere Symposien besucht haben,
gewesen. Der Moralphilosoph Rolf Zimmermann, der zum engeren Umkreis unserer
Forschungsgruppe gerechnet werden kann, vertritt ebenso wie der Rechtsphilosoph Bernhard
Schlink den Standpunkt einer prinzipiellen methodischen Dichotomie von Geistes- und
26
Vgl. [Forschungsantrag]
31
Naturwissenschaften. Ich selbst vertrete in enger Anlehnung an die Forschungen von Porath
die
Auffassung
von
der
methodischen
Einheit
der
Erfahrungswissenschaften
(Einheitskonzeption). Aus diesem Grunde deute ich ja auch die Forschungsmethode der
Psychoanalyse in durchaus klassischem, nämlich Freud’schen Sinne, indem ich sie als ein
naturwissenschaftliches Forschungsprogramm stricto sensu auffasse. Dass ich damit der in
der gängigen Sozialphilosophie dominierenden Freudinterpretation (Lorenzer, Habermas,
Zimmermann) widerspreche bzw. widersprechen muss, ist mir natürlich bewusst.27
Stellen wir abschließend die Frage, was die vorliegende Arbeit zu leisten vermag und was sie
nicht zu leisten vermag.
Die sog. „Rollentheorie“ wird ebenso wie die Homans’sche Kleingruppenforschung genuin
„soziologisch“, d.h. auf dem Boden der Weberschen Handlungssoziologie, zur Sprache
gebracht. Dies, wie bereits mehrfach angedeutet, zum einen im Hinblick auf die mögliche
Konstruktion einer Sozialisationstheorie, zum anderen im Hinblick auf das Problem der
sozial- und kulturwissenschaftlichen Integration. Aus diesem Blickwinkel wird dann auch die
Möglichkeit
gegeben
sein,
die
gesellschaftliche
Institution
„Psychiatrie“
sowohl
kultursoziologisch zu deuten als auch die Frage zu stellen, ob und inwiefern diese
„Psychiatrie“ selbst als eine Kulturwissenschaft aufzufassen ist.28 Dennoch muss vieles, was
kritisch weiter oben anlässlich der Skizzierung des „Forschungsstandes“ angemerkt wurde,
auch gegen die hier vorgelegte Arbeit eingewendet werden. Diese ist erstens selbst zu wenig
„institutionentheoretisch“, was bedeutet, dass der makrosoziologische Gesichtspunkt nur in
Ansätzen zur Geltung kommen kann, zweitens ist sie insofern viel zu wenig
„sozialpsychologisch“,
als sie die in
den
sog.
„Konsistenztheorien“ wurzelnden
27
Am 17. März 2004 hat der Moralphilosoph Rolf Zimmermann im Rahmen der Veranstaltung unserer
Forschungsgruppe sein Projekt „Gattungsbruch und Transformationsmoral“ vorgestellt. Hierbei ist dann auch
intensiv das Problem der „methodischen Dichotomie“ zur Sprache gekommen. Mittlerweile hat Herr
Zimmermann seinen Ansatz erst in einer philosophischen Fachzeitschrift unter dem Titel [Gattungsbruch] und
sodann als Buch [Auschwitz] publiziert und auf die Ergebnisse unserer Auseinandersetzungen explizit Bezug
genommen.
Um einer diskursiv möglichst fruchtbaren Bezugnahme meiner Arbeitsergebnisse willen, habe ich meinen
Kontrahenten, Herrn Prof. Zimmermann, neben Herrn Resch, Herrn Schwinn und Herrn Tsiakalos ebenfalls um
seine begutachtende Stellungnahme gebeten. Herr Prof. Resch, für dessen Fairness ich mehr als nur einmal
Gelegenheit hatte, mich zu bedanken, hatte mir die Suche nach dem Zweitgutachter bzw. nach den
Zweitgutachtern überlassen und lediglich die Auflage gemacht, es müsse auch ein institutionell ausgewiesener
Fachsoziologe dabei sein, was Herr Prof. Zimmermann als Habermasschüler, als der er sich versteht,
zweifelsohne ist, hat er doch selbst in seiner Habilitation ein geradezu klassisches sozialphilosophisches Thema
[Utopie-Rationalität-Politik] gewählt. Mir ist völlig unerfindlich, warum Herr Prof. Zimmermann sich meiner
Bitte verweigert hat, vor allem leuchtet mir seine Begründung ganz und gar nicht ein.
28
Siehe hierzu den Abschnitt II. 4.
32
sozialpsychologischen Ansätze viel zu wenig berücksichtigt, und drittens wird ihre
methodologische Hintergrundsfolie nur in groben Zügen deutlich werden können: Ein
konsequent kulturwissenschaftlich ausgerichteter Ansatz, der „auszugreifen“ versucht auf die
mögliche Konstruktion einer psychiatrierelevanten Sozialisationstheorie, hätte, wie Porath es
in seinem „Warschauvortrag“ [Endlösung] postuliert hat, ein Integrationsprogramm
entwickeln müssen, welches Kulturpsychologie mit Kultursoziologie auf der Grundlage der
weiter unten noch zu behandelnden „kulturwissenschaftlichen Faustregel“ integrativ
vernetzt.29
Eine weitere wesentliche Unzulänglichkeit der vorliegenden Arbeit, die ganz besonders
bedauerlich ist, muss auf jeden Fall benannt werden. Sie betrifft den Umgang mit der
psychiatrischen Fachliteratur im engeren Sinne. Es liegt in der Natur der Sache, dass
texthermeneutische Analyse immer nur exemplarisch verfahren kann. Ihr methodischer
Vorzug der analytischen Akribie hat den großen Nachteil, im Hinblick auf die zu
verarbeitenden Menge der Literatur zu schwerfällig zu sein. Selbst das Werk von Redlich und
Freedman oder auch das Resch’sche Lehrbuch wurde nicht wirklich texthermeneutisch so
analysiert, wie es eigentlich erforderlich gewesen wäre.
Die Arbeit musste sich aus diesem Grunde vornehmlich auf zwei Ziele konzentrieren und
dabei entsprechende Schwächen in Kauf nehmen: Es ist ihr Anliegen, die jedweder
Psychiatrie uneingestanden innewohnende Implizitsoziologie herauszustellen und sich
überdies der Deutlichmachung all derjenigen Probleme zu widmen, die mit der Konstruktion
einer psychiatrierelevanten Sozialisationstheorie in irgendeinem Zusammenhang stehen
könnten.30 Kernstück meines Anliegens ist jedoch die Herausschälung des Unterschiedes
zwischen
„Grundannahmen“,
„komparativen
Begrifflichkeiten“
und
„empirisch
falsifizierbaren Hypothesen“. Die im Abschnitt über die „Personale Rationalität“ vorgelegte
„Katalogarbeit“ dient vor allem diesem Ziel.
Wie bereits einleitend angedeutet, sind es zwei Kernfragen, die in diesem Zusammenhang
eine entscheidende Rolle spielen, auf deren präzise Formulierung hingearbeitet werden muss
29
Vgl. hierzu II. 2., wo es um die „sozialbehavioristische“ Komplementarisierung der Weberschen
Sozialanthropologie gehen wird.
30
Deswegen ist mir zum einen der Argumentgang von Abschnitt II. 4. zum anderen der Argumentgang von
Abschnitt II. 5. 5 ganz besonders wichtig. Insbesondere der Argumentgang von Abschnitt II. 5. 5. schlägt den
Bogen zur Rationalitäts- und Irrationalitätsproblematik, wie ich sie in Abschnitt II. 7. 2. und sodann in Abschnitt
II. 8. behandeln werde.
33
und zu deren mögliche Beantwortung in der vorliegenden Arbeit zumindest ein Weg
aufgezeigt werden muss:
1. Wie transformiert sich die primordiale Verhaltensdynamik des Kindes, die ja in der
Tat, wie es insbesondere die Gelehrten der Lorenzschule31 betont haben, auf weite
Strecken hin nicht nur ethologisch, sondern sogar streng behavioristisch „gedeutet“
werden muss, in subjektiv sinnvolles soziales Handeln? Lässt sich diese Frage
beantworten, so wären wir dem Resch’schen Postulat, die Welt des Kindes wirklich
verstehen zu wollen, wie ich meine, ein gutes Stück näher. Eng damit verbunden ist
nämlich die Frage, die allerdings von Resch und seinen Mitarbeitern nicht richtig
aufgeworfen wird:
2. Welches sind die unabdingbaren – in der Regel „familialen“ – sozialstrukturellen
Voraussetzungen dafür, dass sich die unmittelbar am Organismusgeschehen
ansetzenden Verhaltensmodifikationen in absichtsgeleitetes, d.h. subjektiv sinnvolles
soziales Handeln, transformieren bzw. transformieren können? Eine Beantwortung
dieser Frage beantwortet zugleich auch die Frage nach den sozialstrukturellen
Voraussetzungen für die Herausbildung von „Individualität“ und „Identität“.
Letztendlich lässt sich freilich diese Frage nur anhand einer texthermeneutischen
Feinanalyse der seinerzeit begonnenen Forschungsarbeiten und in der Zwischenzeit
nur sporadisch weitergeführten Untersuchungen zu dem Zusammenhang von
„familialem
Sozialisationsgeschehen“
und
„Ätiologie
der
Schizophrenien“
durchführen, eine Arbeit die sich anschließend anbietet.
Sind diese beiden Fragenkomplexe beantwortbar so lässt sich auch erklären, wie sich die
primordialen Identitätskonstruktionsprinzipien bilden können, welche die kognitive Dynamik
eines menschlichen Lebens in der Gesellschaft, in der es lebt, sein ganzes Leben lang
ausmachen. Von der mehr oder weniger erfolgreichen Bewältigung dieser Problematik ist
nämlich wiederum das Schicksal der Versuche eines „Individuums“ abhängig, Identitätskrisen
erfolgreich bewältigen zu können. Trivialerweise ergibt sich:
Die Kette der malignen Identitätskrisen, welche zunehmend identitätskritische Dauerzustände
mit entsprechend gravierenden psychopathologischen Verhaltensmustern „einschleifen“ und
31
Vgl. hierzu den Sammelband [Lorenz und die Folgen].
34
sodann eben auch entsprechenden personalen Zerrüttungserscheinungen den Weg bereiten, ist
letztendlich zurückführbar auf ganz bestimmte in der Primordialphase von Sozialisation und
Enkulturation
dominierende
sozialstrukturelle
Bedingungen,
unter
denen
sich
die
methodischen Prinzipien der je individuellen Identitätskonstruktionskompetenzen etabliert
haben. Denn es ist die Art und Weise, wie Identitätskonstruktion habitualisiert zu werden
pflegt – eben die „Methode“ –, nicht jedoch die jeweilige Persönlichkeitsstruktur der
primordial ausschlaggebenden Bezugspersonen als solche („schizophrenogene Mutter“ bzw.
„ich-schwacher Vater“), die darüber entscheidet, ob jemand eine eher maligne oder eher eine
benigne „Identitätskarriere“ durchläuft. Und bezogen auf die Ausarbeitung einer empirisch
falsifizierbaren Sozialisationstheorie, welche diese Problematik zu klären hat, fällt der
„Soziologie“ die Aufgabe zu die sozialstrukturellen Bedingungen zu beschreiben und zu
erklären, die jeweils gegeben sein müssen, damit sich überhaupt eine ganz bestimmte
Identitätskonstruktionsmethode herausbilden kann.
Im Abschnitt III., wo es um Bilanz, Schlussbemerkung und Ausblick gehen wird, sollen die
weiteren Schritte skizziert werden: Letztendlich bewährt sich nämlich der nachstehend von
mir entwickelte Ansatz nur und ausschließlich mittels einer texthermeneutisch akribischen
Analyse der psychiatrischen Fachliteratur selbst.
4. Zum Stellenwert der sog. „Psychoanalyse“
Ein weiterer Aspekt der vorliegenden Arbeit, der mittels des Untertitels zu umschreiben
versucht worden ist, ist bereits hier in der Einleitung zur Sprache zu bringen. Er betrifft den
Stellenwert der Psychoanalyse für den Aufbau einer ansonsten streng soziologisch zu
fassenden Sozialisationstheorie, welche im Kern, wie mehrfach hervorgehoben, eine
Lerntheorie sein muss. Sie und nur sie, nicht jedoch die sog. „kognitivistischen Lerntheorien
als solche“, so meine These, beinhaltet eine wirklich tragfähige Möglichkeit, den genuin
lerntheoretisch erfaßbarenen Aspekt des Sozialisations- und Enkulturationsgeschehens
„abzudecken“. Denn wie eine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie, welche ihre
ersten Kinderkrankheiten bereits hinter sich gebracht hat, wird zeigen müssen, sind die –
interdependenzfunktional aufeinander bezogenen – Prozesse der „Sozialisation“ und
„Enkulturation“ aus dem Blickwinkel der Soziologie Prozesse der Einbindung (potentiell
handlungsfähiger) menschlicher Organismen in – vorab bestehende und sich fortlaufend
35
ändernde – Sozialgebilde (Institutionen bzw. Gruppen), die rollenbegrifflich als
sozialstrukturell verobjektivierte Verhaltensschemata beschreibbar sind, und aus dem
Blickwinkel der Entwicklungspsychologie sind diese Prozesse Lernprozesse.32 Dieser Punkt
ist wohl auch nicht strittig, das Problem allerdings besteht darin, die Frage zu beantworten,
welche Klasse von Lerntheorien zur Beschreibung und zur Erklärung genau dieser Art von
Lernprozessen in Frage kommt, müsste sie doch, wie eingangs hervorgehoben, dreierlei
leisten: Sie müsste erstens die kognitive Dynamik humanspezifischen Verhaltens zu
beschreiben gestatten, zweitens deren Wurzeln in der frühen Kindheit freizulegen imstande
sein und drittens den funktionalen Stellenwert der Identitätskrisen für die jeweilige
Charakterbildung eines Menschen bestimmen können, um so zum einen „erfolgreiche“, zum
anderen „gründlich schiefgelaufene“ Sozialisationsvorgänge erklären zu können. Überdies
müsste sie natürlich in Einklang zu bringen sein mit der Weberschen „Begriffslehre des
sozialen Handelns“, denn um diese geht es ja nun einmal wesentlich, soll der Begriff der
Identitätskrise präzise gefasst werden wollen. Denn wie gesagt: Eine Sozialisationstheorie,
welche „Identitätskrisen“ nicht zu zerlegen vermag in maligne und in benigne, bildet mit
Sicherheit keine hinreichende kognitive Grundlage für eine erfolgreiche „Theorie und Praxis
der Psychiatrie“.
Warum aber, so lautet dann ja wohl die Frage, ist es ausgerechnet die Psychoanalyse, die uns
die für eine auch psychiatrisch relevante Sozialisationstheorie benötigte Hintergrundsfolie
32
Zur Verdeutlichung der Richtung, in welcher sich meine Überlegungen bewegen, hierzu ein Beispiel: Ein
bisher im Rahmen des Rollengefüges „Familie“, einer sozialen Institution also, aufgewachsenes dreijähriges
Kleinkind, welches sprechen gelernt und die ersten Hürden seiner Individualitätsbildung mehr oder weniger
erfolgreich „hinter sich gebracht“ hat, indem es ganz bestimmte familialspezifische Verhaltensmuster gelernt
hat, geht von Ostern ab in das ihm bis dahin noch unbekannte Rollengefüge „Kindergarten“, wird mithin in
selbiges „eingefügt“ oder auch „eingebunden“ – sprich: sozialisiert – und in das dort herrschende kulturelle
System (Wertesystem, Sozialtheorien, „Ideen“) enkulturiert. Zwar überschneiden sich die kulturellen Systeme
der beiden sozialen Einrichtungen (Institutionen) in einigen Segmenten – z. B. in der gemeinsamen deutschen
„Sprache“ –, weisen jedoch zugleich auch Unmengen von „Werten“ und „Ideen“ (Ideologien, Sozialtheorien)
auf, die sich völlig voneinander unterscheiden (können). Hierbei ist das Erste und Wichtigste, was ein Kind
gelernt haben muss: Es bleibt mit sich selbst gleich, obwohl es beim Übergang vom familialen Sozialgefüge zu
demjenigen des Kinderhortes nunmehr z. T. gänzlich anderen Rollenanforderungen genügen muss. Dieser
Aspekt des sozialen Lernens ist es, der als das Identitätsproblem das in dieser Arbeit ins Zentrum der
Aufmerksamkeit gerückte eigentliche Problem darstellt, dem wir in Gestalt der weiter unten zu behandelnden
„Kernfrage aller Sozialisationstheorien“ Rechnung zu tragen versuchen werden: Wie erwirbt das Kind die
Fähigkeit zu subjektiv sinnvollem sozialen Verhalten? Der für die Identitätsproblematik entscheidende Punkt
nämlich besteht darin: Hat es seine „Ich-Rolle“ bis dahin nur unvollkommen gelernt, so kommt es ganz sicher zu
Identitätsirritationen. Dieser, wie ich meine, entscheidende Punkt lässt sich nunmehr in die eigentliche
Generalfrage der vorliegenden Arbeit überhaupt kleiden: Wie muss wohl – idealtypisch gesehen – die
Sozialisationsagentur beschaffen sein, die es einem Kind in unserer Gesellschaft ermöglicht, die „Ich-Rolle“ zu
lernen? Auf diese Generalfrage, die als genuin soziologische Frage allen pädagogischen wie therapeutischen
Aufgabenstellungen zugrunde liegt, läuft letztendlich alles hinaus.
36
liefern soll? Was an ihr macht sie für das in dieser Arbeit avisierte Vorhaben besonders
geeignet und in was für einem Verhältnis steht sie zu der Weberschen „Begriffslehre des
sozialen Handelns“? Wären denn nicht die im engeren Sinne kognitiven Lerntheorien
wesentlich besser geeignet, da diese doch expressis verbis streng behavioral beschreibbare
Verhaltensmodifikationen nach Maßgabe der sog. „Hypothesentheorie der Wahrnehmung“
als kognitive Umorientierungen interpretieren? Steht denn vor allem die Freudsche Theorie
des Lernens nicht insofern der analytischen Heuristik des „dogmatischen Behaviorismus“ sehr
viel näher, als sie gerade, wie es z. B. die kognitivistische Psychologie Piaget’s tut, nicht die
Divergenz von humanspezifischen und infrahumanen Lernprozessen über Gebühr strapaziert?
Betont nicht gerade sie expressis verbis die unbewusste Dimension von Lernprozessen, die sie
doch als sehr viel wichtiger erachtet als die dem Rationalitätsprinzip sehr viel näher stehenden
kognitiven Umorientierungen?
Die Beantwortung dieser Fragen macht, wie sich noch des öfteren zeigen wird, das hier
avisierte Unternehmen schwierig, führt eine solche Beantwortung uns doch ganz automatisch
auf genuin methodologisches Gebiet. Darauf soll bereits an dieser Stelle zumindest
hingewiesen werden. Im Abschnitt II. 6 wird auf diese Fragen näher eingegangen werden.
Was aber ist denn nun eigentlich diese bekanntlich mehr als umstrittene Psychoanalyse?
Bei der Psychoanalyse handelt es sich ja nicht nur um eine empirisch gehaltvolle Theorie,
mittels derer wir „fehlgelaufene“ Sozialisationsverläufe beschreiben und erklären können, und
es handelt sich dabei auch nicht nur um eine neue Forschungsmethode bzw. eine neue
therapeutische Methode. Ihrem Erkenntnisanspruch nach ist die Psychoanalyse der
Auffassung ihres Gründungsvaters zufolge eine Metapsychologie, „umgreift“ mithin
integrativ als „Tiefenpsychologie“ sowohl die spezifisch neurologische Sichtweise als auch
den sog. „strengen Behaviorismus“ als auch die kognitiven Lerntheorien und ist überdies eine
wesentlich
kulturwissenschaftlich
ausgerichtete
Sozialpsychologie.33
Die
Wissenschaftsverpflichtung meiner Arbeit muss scharf analytisch trennen zwischen diesen
Aspekten der Freudschen „Metapsychologie“. Hier geht es mir zunächst einmal um die
„Forschungsmethodik der Psychoanalyse“, genauer: um die Relevanz der psychoanalytischen
Forschungsmethode im Hinblick auf das eingangs skizzierte Unternehmen einer Explikation
33
Wichtig in diesem Zusammenhang sind vor allem die folgenden Schriften, welche im Lichte des in dieser
Arbeit entwickelten sozialisationstheoretischen Ansatzes einer akribischen texthermeneutischen Analyse zu
unterziehen wären: Freud [Enttäuschung], ders. [Massenpsychologie], ders. [Illusion]. Insbesondere die
„Massenpsychologie“ ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung, da Freud hierin zu zeigen
versucht, dass streng genommen jede „Individualpsychologie“ Sozialpsychologie sei.
37
des Begriffes der „Identitätskrise“.34 Und wir können nunmehr auch bereits präzisieren, was
eingangs nur als These formuliert wurde: Mittels einer Analyse genau derjenigen
sozialisationstheoretischen
Dimension sozialen Handelns, welche den Erwerb der
kommunikativen Kompetenzen eines sozial kompetenten Individuums betrifft, soll der
Zusammenhang zwischen „Identitätskrisen“, „Devianz“ und „sozialer Kontrolle“ dergestalt
aufgeklärt werden, dass sich damit die – im weiteren Sinne – irrationalen Formen
menschlichen Verhaltens – das sind, wie wir sehen werden, sowohl „zu gut“ angepasste wie
überhaupt nicht (mehr) angepasste – genauer charakterisieren und erklären lassen.35 Wie sich
34
Im Unterschied zu den meisten anderen sozialisationstheoretischen Ansätzen ist die Forschungsmethode
der Psychoanalyse wesentlich historisch-genetisch, das heißt: Sie konstruiert einen Kausalzusammenhang
zwischen den primordialen Anfängen eines individuellen Sozialisationsgeschehens und seinem gegenwärtigen
„Resultat“. Weil sie strikt auf die wissenschaftslogische Leitregel des methodologischen Determinismus
verpflichtet ist, gibt es streng genommen aus psychoanalytischer Sicht so etwas wie ein für sich selbst
verantwortliches Individuum, wie es die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ ja voraussetzt, gar
nicht. Zwischen der in der Weberschen Konzeption vercodeten Grundannahme unseres Rechts- und
Moralsystems und der Psychoanalyse besteht mithin ein Grundwiderspruch, den es „irgendwie“ aufzulösen gilt.
Vgl. hierzu demnächst Porath [Psychiatrische Historik].
35
Das subjektiv sinnhafte Sichverhalten können des Einzelindividuums zu (imaginierten wie „wirklichen“)
Objekten – dies ja das idealtypologische Konstrukt, welches Max Weber als (soziales) „Atom“ postuliert – ist
wesentlich gebunden an die Fähigkeit dieses Individuums, mit sich und anderen zu kommunizieren. Aus genau
diesem Grunde ist ja die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ wesentlich ergänzungsbedürftig
durch bestimmte „Grundannahmen“ des sog. „symbolischen Interaktionismus“, wie wir in Abschnitt II. 2. Sehen
werden.
Der vornehmlich im familialen Sozialisationsverband erfolgende Erwerb der kommunikativen
Kompetenz(en) – dies ein Grundbegriff aller Sozialisationstheorien – scheint der wichtigste Bestandteil für
„erfolgreich“ verlaufende Sozialisationsprozesse zu sein. Die entscheidende Frage ist nur, was genau dieser
Begriff alles beinhaltet. Der Begriff der „kommunikativen Kompetenz“ stammt von Jürgen Habermas, der es
jedoch verabsäumt hat, die genuin psychologische Literatur hierbei systematisch einzuarbeiten. So ist ihm auch
das reichhaltige Material aus der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung unerschlossen geblieben. Auch
sind die Habermas’schen Anleihen bei der Chicagoer Schule des „symbolischen Interaktionismus“ ganz
unzulänglich. Selbst das lexikalische Material, wie Graumann es in seinem Handbuchartikel „Interaktion und
Kommunikation“ bereits in den 60er Jahren monographisch zusammengestellt hat, ist von Habermas nicht
einbezogen worden. Hier liegt der Grund dafür, dass die sehr stark psychoanalytisch ausgerichtete „Frankfurter
Schule“ auch nicht die Ergebnisse des seinerzeitigen Sammelbandes „Schizophrenie und Familie“
erkenntnisfruchtbar hat nutzen können. Zum Nachfolgenden vgl. Abschnitt II. 8., wo es um ein gewisses „Fazit“
aus den Rationalitätskatalogen geht.
An dieser Stelle ist nur darauf aufmerksam zu machen, dass zu dem Annahmegefüge der „kommunikativen
Kompetenz“ wesentlich die Kompetenz hinzugehört, metakommunikative Dimensionen von Interaktions- und
Kommunikationszusammenhängen wahrzunehmen und handelnd einzubeziehen bzw. handlungsintentional zu
berücksichtigen: Subjektiv sinnhaftes Sichverhalten zu Objekten beruht auf der Fähigkeit, Entscheidungen
treffen zu können, was voraussetzt, dass ein menschliches Wesen die Fähigkeit erworben hat, sich als ein
Einzelindividuum zu begreifen, welches zu subjektiv sinnhaftem Sichverhalten zu (imaginierten wie wirklichen)
Objekten fähig ist. Hat ein bestimmtes Individuum genau diese Dimensionen kompetenten sozialen Handelns
nicht erworben, so entbehrt es des Basalcharakteristikums für Rationalität überhaupt. Vgl. dazu den Abschnitt II.
7. 2. und II. 8. 2.
Wie ein Blick in die Homans’schen Kleingruppenanalysen zeigt, scheinen insbesondere Fehlhandlungen die
Resultanten spezifischer Erwartungskonflikte in Kleingruppen zu sein, die als rollendilemmatisch zu
38
nämlich herausstellen wird, sind dafür die überkommenen lerntheoretischen Ansätze nur
unzulänglich imstande. Damit wird folgendes behauptet: Nicht nur aus dem Blickwinkel der
„strengen Soziologie“, sondern auch und gerade aus dem Blickwinkel der lerntheoretischen
Ergänzungsversuche derselben, wie sie z. B. G.C. Homans vorgeschlagen hat, ist die Genese
sowohl des kompetent sozialen Handelns als auch des „entschuldbar“ inkompetenten sozialen
Handelns nur unzulänglich aufklärbar, weil der Sozialisationsprozess als solcher auch und
gerade seitens der überkommenen entwicklungspsychologischen Lern- und Lehrmodelle nicht
präzise
genug
beschreibbar
ist.
Es
bedarf
also
einer
empirisch
gehaltvollen
Sozialisationstheorie, die es, wie es nur die Psychoanalyse tut, gestattet, zum einen die in der
primordialen Sozialisationsphase „wurzelnde“ Genese kompetenten sozialen Handelns, zum
anderen aber auch die gleichfalls in der primordialen Sozialisationsphase wurzelnde Genese
massiver Beeinträchtigungen kompetenten sozialen Handelns aufzuklären.36 Unabdingbares
Erfordernis auch hierfür ist allerdings, wie eingangs expressis verbis betont, die Konstruktion
eines Idealtypus „kompetentes soziales Handeln“, welcher mithin auch für die Psychoanalyse
diagnostizieren sind. Hierbei geht es um Konflikte, die daraus resultieren, dass jemand den Gruppenwerten und normen gemäß durchaus zweckrational bzw. richtigkeitsrational zu handeln in der Lage ist und dies auch tut,
dass er sodann jedoch mit voller Wucht die Gruppensanktionen zu spüren bekommt, weil sein Verhalten nicht in
Einklang mit den Erwartungen zu bringen ist, die sich an die ihm zugeschriebene soziale Position knüpfen.
Hierbei geht es also nicht um Fehlleistungen, die ihren Ursprung in der Welt der „unbewussten Triebregungen
und Wunschvorstellungen“ haben, wie die klassische Psychoanalyse sie postuliert, sondern um sozialstrukturell
bedingte Fehlleistungen, und diese Fehlleistungen sind interessanterweise relativ milde Formen von
„personalsystemischen Verhaltensstörungen“, die jeder „Normale“ problemlos nachvollziehen kann, weil er
Ähnliches irgendwann einmal „am eigenen Leib verspürt“ haben dürfte. Hochkohäsive Kleingruppen – juvenale
Gangs bzw. sektiöse Formen der Vergemeinschaftung aber eben auch Familien – verfügen über erstaunlich
sensible Mechanismen der sozialen Kontrolle, die sofort „in Kraft treten“, wenn positional fest zugeordnete
Habituale „aus der Rolle fallen“ und das Gruppengleichgewicht in Gefahr zu bringen drohen. Hierbei sind
„Selbstidentifikation“ und „positionale Zuschreibung“ von Habitualen so eng miteinander „verlötet“, dass
eindeutig pathologische Formen des Verhaltens auffällig werden. Genau diese nenne ich die
personalsystemischen Verhaltensstörungen, die als Fehlleistungen z. B. symptomatisch werden. In diesem Sinne
ist vornehmlich die fünfte Hauptthese der Homans’schen „Elementarformen“, die sich sehr eng an die bekannte
„Frustrations-Aggressionsthese“ von Dollard und Miller anlehnt, zu interpretieren. Hier würde sich
paradigmatisch belegen lassen, wie eng der Zusammenhang zwischen der psychoanalytischen
Forschungsmethode und der Weberschen Begriffslehre des sozialen Handelns ist: Der jugendliche
Kegelvirtuose, der sich „verwirft“, reagiert auf zielblockierende Maßnahmen der Gruppenmitglieder, was
sozusagen in den Kompetenzbereich der „Frustrationshypothese“ fällt. Aggressives Verhalten gegenüber den
störend eingreifenden Gruppenmitgliedern wäre sinngetragenes Verhalten und als solches ein rational-normales
Verhalten. Dieser Weg jedoch ist ihm versperrt und folgerichtig gerät er in eine maligne Identitätskrise, die sich
in massiven Fehlleistungen manifestiert. Aus diesem Blickwinkel ergäbe sich dann die folgende Hypothese: Ist
einem Individuum aufgrund der vorgegebenen Gruppenstruktur das eigentlich angebrachte aggressive Reagieren
auf eine bestimmte Verhaltenszumutung unmöglich gemacht, so gerät es in eine „Identitätskrise“, die sich wegen
der vorhandenen sozialstrukturellen Bedingungen nicht in aggressiven Verhaltensmustern äußern kann und
deshalb die Kompromissverhaltensweisen der sog. „Fehlleistungen“ hervorrufen.
36
Siehe hierzu den Abschnitt II. 6., wie auch den Abschnitt II. 7. 2.
39
Geltung hat.37 Mit anderen Worten: Um Formen abweichenden sozialen Handelns erklären zu
können, die wegen ihrer „Irrationalität“ nicht in den Kompetenzbereich der juristischen
Formen
der
sozialen
Kontrolle
fallen,
bedarf
es
einer
empirisch
gehaltvollen
Sozialisationstheorie, die weder von der „formalen Soziologie“ noch von deren
Komplementärformen in Gestalt der entwicklungspsychologischen Modelle geliefert werden
kann, die wir vielmehr der Psychoanalyse verdanken, wie die vorliegende Arbeit behauptet.
Die methodologischen Probleme, die sich damit herauskristallisieren, interessieren mich an
dieser Stelle zunächst einmal noch nicht. Hier geht es vorerst lediglich um die These, dass nur
mittels der psychoanalytischen Methodik die sozialisationstheoretische Dimension sozialen
Handelns adäquat erfasst werden kann, dass jedoch diese psychoanalytische Methodik
wiederum nicht nur rollentheoretisch sondern eben auch streng handlungssoziologisch im
„klassischen“ Weberschen Sinne ergänzt werden muss.38
37
Woraus logisch folgt, dass eine differenzialdiagnostisch handhabbare Verwendung des Begriffs
„Identitätskrise“, die es gestatten würde, zwischen malignen und benignen Verlaufsformen des (möglichen)
Krankheitsgeschehens zu unterscheiden, wesentlich auf dem Konstrukt des rationalen sozialen Handelns
Weberscher Observanz beruht. Siehe hierzu den siebten Abschnitt des Hauptteils, wo es um das Kriterium der
derzeitig geltenden rechtlichen Praxis für die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Formen der
Devianz gehen wird: Die gängige rechtliche Praxis befindet nämlich (derzeitig) darüber, ob wir es mit einem
Patienten zu tun haben, der ja per definitionem in dem Sinne nicht sozial kompetent genannt werden kann, weil
er vor Gericht nicht für sein Handeln verantwortlich gemacht wird. Bei der Zerlegung des „abweichenden
sozialen Handelns“ in „delinquentes Verhalten“ und anderen Formen der Devianz verfügen wir also über ein
Belegstück dessen, was Weber einen „scharfen Begriff“ nennt: Delinquenz ist eindeutig durch ihren Bezug zum
rationalen Sozialverhalten gekennzeichnet.
38
Zu der damit aufgeworfenen wissenschaftslogischen Problemlage vgl. demnächst Porath [Psychiatrische
Historik], wo die Webersche „Methode der Begriffsdefinition“ systematisch verknüpft wird mit der in
[Narratives Paradigma] formulierten „Kernproblematik der historischen Forschungslogik“. Diese Arbeit, welche
die Ergebnisse der hier vorgelegten Arbeit systematisch auswertet, versucht vor allem einen Zugang aufzuzeigen
für eine mögliche Lösung des sog. „Integrationsproblems“. Den eigentlichen prekären Kern dieses Problems
bildet, wie Porath zeigen kann, die methodologisch präzise Umsetzung der in der nächsten Anmerkung
genannten „Faustregel kulturwissenschaftlichen Denkens und Fragens“ auch und gerade im Zusammenhang mit
dem Bemühen, den „Werdegang“ (personaler) Habitualprofile zu rekonstruieren, was ja, wie wiederum ich
meine, die eigentliche Aufgabe jedweder Ätiologie von Mentalerkrankungen überhaupt ist. In genau diesem
Sinne lässt sich, wie Porath meint, anhand des paradigmatischen Belegstückes vor allem der psychiatrischen
Diagnostik ganz besonders sinnenfällig demonstrieren, wie eine „Vergangenheitserforschung“ funktionieren
kann, die es sich zum Ziel setzt, dem Objektivitätsprinzip als solchem zu genügen.
40
II. Hauptteil
1. Max Webers „Begriffslehre des sozialen Handelns“ I – Der sozialstrukturelle
Gesichtspunkt
Wie erinnerlich, wurde in der Einleitungsthetik auf die integrative Vernetzung von
„Psychologie“ und „Soziologie“ abgehoben, denn nur so könne, so wurde behauptet, eine für
die Anamnese wie auch für die Diagnostik psychiatrierelevante Sozialisationstheorie
konstruiert werden. Um diese gehe es, denn diese bilde, so wurde gesagt, die kognitive
Grundlage dafür, dass „Identitätskrisen“, sich zerlegend in „maligne“ und „benigne“, in ihrem
funktionalen Stellenwert für den Sozialisationsverlauf menschlicher Individuen eingeschätzt
werden können.
Bereits in diesem Zusammenhang wurde auf die „Begriffslehre des sozialen Handelns“
verwiesen, die den allgemeinen Hintergrund dafür bilde, um Lerntheorien mit dem
soziologischen „point of view“ integrativ so zu vernetzen, dass sich Erklärungen gewinnen
ließen für „gründlich schief gelaufene“ Sozialisationsvorgänge. Gleichfalls wurde bereits
darauf hingewiesen, dass auch der Psychoanalyse hierbei ein zentraler Stellenwert
beigemessen werden müsste, denn nur diese gestatte es, jenes äußerst komplexe unbewusste
„Beiprogramm“ zu analysieren, welches die Modalitäten der kognitiven Umorientierungen in
der Verhaltensdynamik menschlicher Individuen tiefgreifend beeinflusse. Schlagwortartig
lässt sich der damit angedeutete Zusammenhang folgendermaßen formulieren: Während die
Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ den Hintergrund dafür liefert, dass die dem
Rationalitätsprinzip verpflichteten kognitiven Umorientierungen des Sozialisationsprozesses
lerntheoretisch erfasst werden könnten, liefert die Psychoanalyse das methodische bzw.
begriffliche Arsenal, um auch den sog. „irrationalen“ Dimensionen in den „Elementarformen
sozialen Verhaltens“ (Homans) genügend Aufmerksamkeit widmen zu können.39 Generell
geht es dabei dann um die These, dass nur und ausschließlich die Freud’sche
„Metapsychologie“ eine wirklich umfassende Analyse von Lernvorgängen im Humanbereich
39
Insbesondere die in der „Psychopathologie des Alltagslebens“ beschriebenen Fehlleistungen liefern eine
umfangreiche Kasuistik für genau diese „Störungen“, wie sie massenhaft in nahezu allen „Elementarformen des
41
überhaupt ermögliche, denn diese beinhaltet mit ihrem Basalkonstrukt des „Unbewussten“ die
Möglichkeit, die Modifikationsvariablen genauer zu bestimmen, welche Prozesse der
kognitiven Umorientierung maßgeblich beeinflussen. Dies der eigentliche Kern des
„Dossenheimer Forschungsprogramms“, auf den allerdings in der vorliegenden Arbeit nur
aufmerksam gemacht werden kann.40
Lassen wir diesen zuletzt genannten Problempunkt – er betrifft die sehr viel weitergehende
These,
dass
nur
und
ausschließlich
die
Psychoanalyse
für
die
genuin
sozialisationstheoretische Dimension des sog. „sozialen Handelns“ zuständig sei, die wir in
Abschnitt II. 6. behandeln werden – hier vorläufig außer Betracht, so sind wir, insofern es uns
wirklich
um
die
Ausarbeitung
einer
allgemeinen
und
empirisch
falsifizierbaren
Sozialisationstheorie gehen soll, die eine funktionale Verortung der sog. „Identitätskrisen“
zum einen für „erfolgreiche“, zum anderen für „schiefgelaufene“ Sozialisationsvorgänge
gestattet, zunächst einmal mit dem Problem einer genaueren Abklärung des Verhältnisses
sozialen Verhaltens“ aufzutreten pflegen. Sie können daher ganz besonders gut auch und gerade in experimentell
angeordneten Kleingruppenkonstellationen studiert werden.
40
Ich zitiere hier der Deutlichkeit halber aus dem bereits mehrfach erwähnten „Warschau-Vortrag“ Poraths,
den dieser anlässlich des sechzigsten Jahrestages der Niederschlagung des Ghetto-Aufstandes auf Einladung des
Jüdischen Historischen Instituts und der Friedrich-Ebert-Stiftung am 16. Mai 2003 gehalten hat, die folgende
Passage, die die „Faustregel kulturwissenschaftlichen Denkens und Forschens“ beinhaltet. Es heißt dort:
„Der Punkt, um den es mir in diesem Vortrag vor allem geht, ist der folgende: Die befriedigende
kulturwissenschaftliche Erklärung eines kulturhistorisch bedeutsamen Tatbestandes besteht letzten Endes in der
integrativen Vernetzung der beiden hier herausgestellten Gesichtspunkte: des kulturpsychologischen und des
kultursoziologischen. Selbstverständlich gehört zur vollen kulturwissenschaftlichen Erkenntnis beides, jedoch –
und dies in seinem berühmten „Objektivitätsaufsatz“ von 1904 nachgewiesen zu haben, ist das bleibende
Verdienst Max Webers – nicht beides gleichzeitig. Wir haben eine „Prioritätsentscheidung“ zu fällen, die uns die
kulturwissenschaftliche Fragestellung als solche aufnötigt, wenn wir uns entschließen, in diesem Zusammenhang
dem Weberschen kulturhistorischen Paradigma zu folgen, dessen Kernthese besagt: Man kann die
psychologische Dimension des Gesellschaftsgeschehens, die Art und Weise also, wie Menschen denken, fühlen
und handeln, dann und nur dann im Hinblick auf bestimmte Ereigniskonstellationen, um deren Erklärung es uns
geht, kausalrelevant gewichten, wenn zuvor in „relativer Reingestalt“ die institutionelle Dynamik des
Geschehens, welche die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, Fühlens und Handelns der Menschen
beinhalten, hinreichend aufgehellt worden ist. Ich bezeichne dieses „Prioritätspostulat“ als die methodische
Faustregel kulturwissenschaftlichen Denkens und Fragens und leite aus ihr die folgende Konsequenz ab:
Wenn wir uns entschließen, die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ als ein kulturhistorisch bedeutsames
Phänomen aufzufassen, dann haben wir es zunächst einmal nicht mit der Psychologie der „Täter“ und auch nicht
mit der Psychologie der „Opfer“ zu tun, sondern mit den strukturellen Mechanismen der institutionellen
Dynamik, in die die Täter wie die Opfer „eingesponnen“ gewesen sind. Und die alles entscheidende Frage in
diesem Zusammenhang lautet: Wie sollen wir diese „strukturellen Mechanismen der institutionellen Dynamik“
im 20. Jahrhundert eigentlich beschreiben?“
Dass, inwiefern und warum nur und ausschließlich die – entsprechend umformulierungsbedürftige –
Freud’sche „Metapsychologie“ es ist, welche mithin auch als die eigentliche metatheoretische Grundlage für die
lerntheoretische Forschung insgesamt in Frage komme, kann in der vorliegenden Arbeit natürlich nur
unzulänglich zum Ausdruck kommen. Hier wird, wie bereits einleitend hervorgehoben, lediglich Plausibilität
42
zwischen „Soziologie“ und „Psychologie“ konfrontiert. Im Zentrum steht dabei die Frage
nach dem methodologischen Stellenwert der Weberschen „Begriffslehre des sozialen
Handelns“, welche dem vorliegenden Ansatz zufolge die eigentliche analytisch-heuristische
Grundlage bildet für eine systematische Erforschung zum einen der sozialstrukturellen
Aspekte des Gesellschaftsgeschehens, zum anderen für die Erforschung von deren
Verhaltensdimension.41
Dies bedarf der Erläuterung:
Psychologisch, d. h. aus dem Blickwinkel einer wesentlich das sich verhaltende Individuum
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückenden Betrachtungsweise, ist der „Charakter“ eines
menschlichen Wesens zum einen durch seine „Anlagen“, zum anderen durch seine
„Lebenserfahrungen“ geprägt, was wesentlich lerntheoretisch interpretiert werden kann und
muss. Der Begriff des „Lernens“ macht nämlich nur Sinn im Bezugsrahmen einer Theorie,
die sich mit bestimmten (organismischen) Lebensformen befasst, hinsichtlich der
institutionellen bzw. rollenstrukturellen Aspekte des Sozialgeschehens hingegen, die ja
„irgendwie“ auch in die Sozialisationsvorgänge „eingreifen“, ist er vollständig sinnlos: In
einem genuinen Sinne sich dergestalt verhalten, dass ihr Verhalten als „subjektiv sinnhaftes“
gedeutet oder gar verstanden werden könnte bzw. müsste, können nur menschliche
Individuen.42 Ist jedoch das der Fall, dann haben wir es eben nicht mehr mit „bloßem
angestrebt, wofür allerdings die Offenlegung der argumentativen Hintergründe unabdingbar ist. Nur darum geht
es mir an dieser Stelle zunächst einmal.
41
Vgl. die im nächsten Abschnitt zu behandelnden Heuristik des sog. „symbolischen Interaktionismus“, den
ich in dem von Stryker vorgestellten „Gefüge von Grundannahmen“ präsentieren werde.
42
„Menschliches (»äußeres« oder »inneres«) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten
des Verlaufs wie alles Geschehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur menschlichem Verhalten eignet,
sind Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist“, heißt es schon in dem
„Kategorienaufsatz“ Max Webers aus dem Jahre 1913. Dass, inwiefern und warum es dabei immer um
„subjektiv sinnhaftes“, auf irgendeiner Art und Weise also auch „rationales“ Verhalten geht, wird uns später in
extenso interessieren.
Das mit dem Problem der kultur- und sozialwissenschaftlichen Integration befasste Forschungsprogramm der
„Dossenheimer Arbeitsgruppe“ zerlegt, dem „Forschungsantrag“ vom Sommer 2001 folgend, die – derzeitig
verfügbaren – Lern- und Entwicklungstheorien in drei große Teilmengen und unterscheidet folglich
arbeitsbegrifflich zwischen drei Lernbegriffen, wobei der Begriff der „Verhaltensmodifikation“ als Oberbegriff
fungiert: Streng behavioristisch ist „Lernen“ die „Wahrscheinlichkeit des Auftretens von
Verhaltensänderungen“, kognitivistisch ist „Lernen“ in Anlehnung an die berühmte Bruner-Postman-Vermutung
gleichbedeutend mit „Umorientierung des kognitiven Feldes“ und psychoanalytisch ist das (primordiale) Lernen
definiert als „Transformation des Lustprinzips in das Realitätsprinzip“. Wie bereits angedeutet, geht das
Forschungsprogramm der „Dossenheimer Arbeitsgruppe“ davon aus, dass es vornehmlich die Freud’sche
„Metapsychologie“ ist, deren „paradigmatische Grundorientierung“ (Porath) als hinreichend kompetent
aufgefasst werden kann, um sowohl die streng behavioristischen als auch die „kognitivistischen“ Lerntheorien zu
einer umfassenden und in sich kohärenten Allgemeinen Verhaltenstheorie zu integrieren. Die dabei auftretenden
43
Verhalten“, sondern mit sozialem Handeln zu tun, betreten also das Gebiet der Soziologie.43
Denn:
„Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes)“, schreibt
Max Weber in seiner berühmt gewordenen, viel zitierten und dennoch analytisch in der Regel
kaum wirklich durchdrungenen (Arbeits-) Definition, auf die wir aus genau diesem Grunde
wieder und wieder zurückkommen werden, „soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales
Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich
erklären will.“44
methodischen wie auch methodologischen Detailprobleme sind ausgesprochen kompliziert und ihre auch nur
halbwegs befriedigende Lösung liegt noch in weiter Ferne.
43
Wie Porath in [Psychiatrische Historik] beziehungsweise in [Historische Forschungslogik] zu zeigen
versucht, ist bislang der Webersche Forschungsansatz gründlich mißverstanden worden, was vor allem daran
liege, dass wir alle noch viel zu sehr in genuin „aristotelischen Kategorien“ (Lewin), d.h. vor allem
klassifikatorisch, zu denken gewohnt und folglich unfähig seien, den von Kurt Lewin postulierten
„Galileisierungsschritt“ auch und gerade in gesellschaftswissenschaftlichen Denken nachzuvollziehen. Webers
nicht zufällig Fragment gebliebenes Gesamtwerk – das betrifft vor allem den „in Spiritus gesetzten
theorieembryonalen Torso“ [Wirtschaft und Gesellschaft], welcher bekanntlich posthum erschienen ist – müsse
als ein „sisyphosionaler“ Versuch gelesen werden, genau diesen galileischen Übergang auch in der Erforschung
der „menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit (Dilthey) zu vollziehen. Dieser Deutung zufolge
habe Max Weber in seiner „Begriffslehre des sozialen Handelns“ keineswegs den Versuch gemacht, eine neue
Fachdisziplin mit dem Namen „Soziologie“ bzw. die „Verstehende Soziologie“ zu begründen, es sei ihm
vielmehr wesentlich darum gegangen, um einer auf Objektivität ausgreifenden Erforschung der „menschlichgesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit“ willen, die notwendige Komplementarstruktur von Psychologie
und (Kultur-)Soziologie methodologisch mittels notorischer Kasuistik plausibel zu machen. Meine
wissenschaftstheoretischen wie auch wissenschaftsgeschichtlichen Kenntnisse erlauben es mir nicht, mich voll
und ganz mit dieser Deutung zu identifizieren, mir leuchtet jedoch der (texthermeneutische) Grundgedanke
Poraths ein, vor allem die Webersche „Definitionsmethode“, wie er sie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ zur
Perfektion entwickelt hat, wie ein Vexierbild zu lesen, was bedeutet: Dem institutionentheoretisch orientierten
Soziologen wird deutlich gemacht, wie er mit den genuin psychologischen Verhaltenstheorien verfahren müsse,
und dem Verhaltenstheoretiker wird deutlich gemacht, dass er genau dann, wenn er sich humanspezifischen
Formen des Verhaltens annähert, um diese zu erforschen, mit „linguistiko-kognitiven Strukturen“ (Porath)
konfrontiert werde, die sich nur sozialstrukturell – auf der Grundlage einer allgemeinen Institutionentheorie –
analysieren ließen. Der jedoch in der Tat bei Weber nachweisbare Primat genuin „soziologischen“ Denkens und
Forschens ergebe sich ganz einfach, so Porath, aus dem genuin historischen Basalinteresse Max Webers, wie vor
allem dessen „Rationalitätsforschungen“ im Rahmen seiner Religionssoziologie belegten. Genau hier hat dann
natürlich die idealtypologische Methodik, wie ich sie in den „Rationalitätskatalogen“ zu demonstrieren
versuchen werde, ihren systematischen Stellenwert.
44
Weber [Wirtschaft und Gesellschaft] S. 1. Später werden wir das Implikat dieser „definitorischen“
Festlegung des eigentlichen Gegenstandsbereiches der Soziologie genauer unter die Lupe nehmen: In der
Weberschen Verstehenslehre wird die von Gadamer erarbeitete scharfe Unterscheidung zwischen der sog.
„hermeneutischen“ und der „psychologischen Konzeption des Verstehens“ zwar begrifflich noch nicht
befriedigend durchgeführt, ist jedoch „im Prinzip“ vorhanden, wie Porath behauptet. Wie auch immer: Die
Unterscheidung ist jedenfalls in den methodologischen Schriften selbst „so“ nicht vorhanden, so dass die
folgende Faustregel gilt: Das Verständnis eines subjektiv sinnvollen Verhaltensmusters benötigt in demselben
Umfang genuin psychologisches Wissen, in welchem es sich als irrational im klinischen Sinne erweist. In
diesem Sinne sind die „Affekte“, die das rationale Handeln verzerren und beeinflussen auf gar keinen Fall
irrational, können wir doch, insofern uns „nichts Menschliches fremd ist“, in der Regel sehr wohl „verstehen“,
warum sich jemand in einer ganz bestimmten Situation, in der er sich eigentlich streng situationsadäquat und
zweck- bzw. wertrational hätte verhalten müssen, mehr von seinen Leidenschaften leiten lässt. Es ist ein
44
Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang, d. h. bei dem Versuch, den nur und
ausschließlich der „Soziologie“ genuin zueigenen Gegenstandsbereich bestimmen zu wollen,
der Begriff des „Handelns“, den Weber offensichtlich ganz bewusst von dem Begriff des
„Verhaltens“ unterscheidet, um so den Begriff des „sozialen Handelns“ gewinnen zu können?
Nun „»Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches
Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit
ihm einen subjektiven Sinn verbinden.45 »Soziales« Handeln aber soll ein solches Handeln
heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das
Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“46
Hinsichtlich des nach wie vor bestehenden Desiderats einer auch und gerade für die
„Entwicklungspsychopathologie
des
Kindes-
und
Jugendalters“
bedeutsamen
Sozialisationstheorie ergibt sich nämlich soziologisch – dies gilt zumindest für die Soziologie
Max Webers, der wir hier folgen wollen – eine etwas andere Blickrichtung als wie sie uns die
Lern- und Verhaltenstheorien aufherrschen: Die Persönlichkeitsstruktur eines menschlichen
Wesens ist wesentlich geprägt von denjenigen Sozialstrukturen, die dieses menschliche
Wesen in seinem Leben „durchlaufen“ hat und die es streng soziologisch, d. h. gerade nicht
mittels eines genuin lern- und verhaltenstheoretischen Jargons zu bestimmen gilt, soll das
Handeln eines Menschen oder gar sein soziales Handeln als situationsadäquat, d. h. „rational“,
oder aber als situationsinadäquat, d. h. „irrational“, wirklich verstanden werden.
Merkwürdigerweise – und dies zeigt sich erst bei wirklich genauem Hinsehen – lässt sich
nämlich das „Begriffspaar „rational – irrational“, dem zweifelsohne psychiatrisch ein
konstitutiver Stellenwert zukommt, lerntheoretisch gar nicht recht bestimmen: Gerade weil es
zentrales Prinzip der Weberschen Methodik, dass psychologisches bzw. naturwissenschaftliches Wissen die
Aufgabe des „Verstehens“ zwar erleichtern, nicht jedoch ersetzen kann. Zu dem Problem einer genaueren
Bestimmung des „Grenzbereiches“ zwischen den noch verstehbaren affektgeladenen – und in diesem Sinne
„irrationalen“ – Formen des „Sichverhaltens“ und den nur noch psychologisch „Irrationalismen“ vgl. den
Abschnitt II. 7. 2.
45
Wie stark hierbei die „Bewusstseinskomponente“ ist, lässt sich daran ablesen, dass ja die Frage Antwort
erheischt, warum ein bestimmtes Individuum sich auf eine bestimmte Art und Weise hat bzw. sich zu verhalten
gewohnt ist (Habitualprofil). Es ist so von vorneherein in einen pragmatischen Kontext gestellt. Weber selbst
verwendet hierfür den Begriff des „Sinnzusammenhangs“.
46
Ist also subjektiv sinnhaftes Verhalten zweier Individuen komplementär zueinander, d.h. wechselseitig
aufeinander bezogen, so bildet dieses „Gemeinschaftshandeln“ einen Sinnzusammenhang. Vgl. hierzu das
„Radfahrerbeispiel“ in Abschnitt II. 8. 1. Zu einer ersten systematischen Verknüpfung der Weberschen
Soziologiedefinition mit den Grundannahmen des sog. „symbolischen Interaktionismus“ vgl. den nächsten
Abschnitt II. 2.
45
wesentlich mit dem Begriff der „Situationsadäquatheit“ und damit letztendlich mit dem
Realitätsbegriff konnotiert ist, macht das Begriffspaar „rational – irrational“ nur aus dem
sozialstrukturellen Blickwinkel, d. h. soziologisch, überhaupt Sinn. Das jeweilige
institutionelle
Arrangement
der
Sozialstrukturen
nämlich,
bestehend
aus
Familie,
Kindergärten, Schulen, Lehrstelle etc., wirkt als ein Gefüge von Sozialisationsagenturen,
welche rollensystematisch beschrieben und in ihrem jeweiligen Einfluss auf den
Sozialisationsprozess einer „Persönlichkeit“ bestimmt werden können bzw. müssen: Gelingt
es nicht, die sozialstrukturellen Hintergründe eines Individuums, die seinen Erfahrungsraum
und damit auch seine dominierenden Verhaltens- und Handlungsmuster wesentlich geprägt
haben, aufzuklären, so dürfte es wohl kaum möglich sein, zu erklären, warum sich jemand
genau so verhält wie er sich verhält. Darum aber geht es naturgemäß letztendlich bei einer
empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie, welche nun einmal die allgemeine kognitive
Grundlage einer jeden „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ (Redlich und Freedman) ist und
bleiben muss.
Unter dem Blickwinkel einer genau in diesem Sinne als streng soziologisch zu
verstehenden Sichtweise, die von dem Grundbegriff des sozialen Handelns, nicht jedoch von
dem des individuellen Verhaltens ausgeht, ausgehen muss, soll in der vorliegenden Arbeit
diskutiert werden, was eigentlich eine „Identitätskrise“ ist, und in welchem Zusammenhang
sie mit den Verhaltensstörungen des neurotischen bzw. psychosomatischen oder auch des
psychotischen Formenkreises stehen könnte. Betreten wir nämlich dieses Gebiet, so betreten
wir das „Reich der Irrationalität“ und damit, wie in Abschnitt II. 7. 2. auszuführen sein wird,
das „Reich der (Freud’schen) Psychoanalyse“.47
47
Damit haben wir immerhin bereits so etwas wie eine erste Arbeitsdefinition dessen, was bei Redlich und
Freedmann mit dem Begriff des „gestörten“ bzw. des „abnormen Verhaltens“ zu umschreiben versucht worden
ist: Gemeint sein können damit nur Verhaltensmuster, welche darauf schließen lassen, dass entweder das
„subjektiv sinnvolle Verhalten“ eines Individuums als solches oder/und das „subjektiv sinnhafte Verhalten“
eines Individuums, welches sich „auf das Verhalten anderer“ bezieht, beeinträchtigt ist. Der eigentliche Clou des
Weberschen Ansatzes besteht, wie wir sehen werden, darin, dass damit nicht die jeweilige „Affektbesetzung“
eines Handlungsaktes gemeint ist: Verstehbar ist Weber zufolge sehr wohl, dass „ein Kulturmensch, begabt mit
der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“, aus Stolz,
Eifersucht, Liebe oder Hass keineswegs „zweckrational“ bzw. „richtigkeitsrational“ oder auch „wertrational“
handelt. Das Webersche Kriterium ist das Ausmaß der Beeinträchtigung „subjektiv sinnhaften Verhaltens,
welches wir an Hand des idealtypologischen Rationalitätsschemas bemessen können. Die Webersche Motivlehre
ist ja gerade keine Psychologie! Dieser Aspekt der Weberschen Kategorienlehre ist offensichtlich ungemein
schwer zu begreifen, macht doch nahezu die gesamte Weber-Interpretation den Grundfehler,
„Normalvorstellungen“ von Rationalität und Irrationalität in die Webersche Fachbegrifflichkeit
hineinzuprojezieren. Nebenbei gesagt liegt hier einer der Hauptgründe dafür, dass ich mich um eine
Begutachtung meiner Arbeit durch so ausgewiesene Weber-Kenner, wie es sowohl der Sozialphilosoph Prof.
Rolf Zimmermann als auch der Schluchter-Schüler Prof. Thomas Schwinn sind, so intensiv bemüht habe. Ich
46
Wie aber geht das zusammen? Was bedeutet es, dass ein offenkundig genuin
psychologischer Begriff wie der der „Identitätskrise“, der doch wesentlich dem
Grundvokabular einer Lerntheorie und damit der „Psychologie“ angehört, nur und
ausschließlich, wie es die hier vorgelegte Arbeit behauptet, aus dem Blickwinkel einer streng
soziologisch „vorausdefinierten“ Sozialisationstheorie, welche einen offenkundig nicht
psychologisch gemeinten Begriff – den des „subjektiv sinnvollen sozialen Handelns“ nämlich
– zum Ausgangspunkt nimmt, so bestimmt werden kann, dass zum einen der Begriff der
malignen, zum anderen der Begriff der benignen Identitätskrise gewonnen werden kann?
Schauen wir näher zu, denn natürlich wird zwar das hier Angedeutete noch wesentlich
präziser zu fassen sein, jedoch sollte der Deutlichkeit halber bereits an dieser Stelle zumindest
so etwas wie die Richtung angegeben werden, in welcher sich meine Überlegungen bewegen.
Die nachfolgenden Denkschritte werden sodann mehr und mehr zu präzisieren versuchen,
worum es geht, wenn von einem genuin soziologischen „point of view“ in den Kultur- und
Sozialwissenschaften die Rede ist, der ganz bewusst die „Verstehende Soziologie“ Max
Webers und damit den Begriff des sozialen Handelns, zum Ausgangspunkt nimmt.
Die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen – geprägt durch eine sequenzielle Kette mehr
oder weniger erfolgreich bewältigter Identitätskrisen – ist Resultante eines (individuellen)
Lerngeschehens, welches sich, wie nachstehend zu zeigen versucht wird, in zwei
soziologische Stränge, den Sozialisations- sowie den Enkulturationsprozess, und in einen
psychologischen
Strang,
den
Affektstrukturierungssprozess,
zerlegt.
Der
Sozialisationsprozess besorgt dabei die Fähigkeit, soziale Positionen einzunehmen und die
mit diesen verbundenen sozialen Rollen zu spielen, der Enkulturationsprozess führt zur
Internalisierung der mit den „stattgehabten“ Rollenübernahmen verbundenen Kognitiv- und
Wertestrukturen und je nachdem, wie diese beiden Strukturen des personalen Aufbaus – des
Sozialisationsprozesses und des Enkulturationsprozesses – aufeinander bezogen sind, erfolgen
die Modalitäten der je individuellen Affektstrukturierung (Sublimierung bzw. Verdrängung),
die sich, wie die weiter unten zu behandelnden „psychoanalytischen Grundannahmen“
glaube nämlich, dass auch diese beiden vorzüglichen Weber-Kenner genau diesen Aspekt der Weberschen
Kategorienlehre nicht gesehen haben. Aus diesem Blickwinkel lassen sich sodann auch, wie mir scheint,
Kompetenzbereich und Stellenwert der Psychoanalyse sehr viel genauer bestimmen, als es der bloße Verweis auf
„Irrationalität“ vermag.
Aus diesem Blickwinkel lassen sich sodann auch, wie mir scheint, Kompetenzbereich und Stellenwert der
Psychoanalyse sehr viel genauer bestimmen, als es der bloße Verweis auf „Irrationalität“ vermag.
47
postulieren, nur mittels des Begriffs des „Unbewussten“ erforschen und aufklären lassen.
Hierzu erst im Abschnitt II. 6. bzw. im Abschnitt II. 7. 2. Genaueres.48
Ich behaupte nämlich, dass ein Zusammenhang zwischen diesen drei Determinanten der
Persönlichkeitsentstehung, der jeweiligen Struktur der Identitätskrisen derselben, den klinisch
auffälligen Verhaltensmustern wie auch den delinquenten Verhaltensmustern besteht, welche
aus der hier angedeuteten genuin soziologischen Perspektive wesentlich genauer gefasst
werden kann als aus einer bloß entwicklungspsychologischen Perspektive, die gegenwärtig
noch eigentlich alle Formen der „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ dominiert. Denn die im
engeren Sinne soziologische Perspektive – und nur diese – gestattet, wie ich bereits in meiner
Magisterarbeit habe zeigen können49, die eindeutige Differenzierung zwischen delinquenten,
48
Wie in der Schlussbemerkung (III.) explizit hervorzuheben sein wird, bildet die Analyse des
Enkulturationsvorganges, dem als Komplementarvorgang das Internalisierungsgeschehen korrespondiert, den
eigentlich neuralgischen Punkt des hier vorgelegten Ansatzes zu einer möglichen empirisch falsifizierbaren
Sozialisationstheorie. Aus dem Blickwinkel der Psychologie, welche die strukturelle Dynamik von
Verhaltensmodifikationen organismischer Systeme erforscht und empirisch gehaltvolle streng allgemein
formulierbare Sätze bezüglich dieser Verhaltensdynamik zu finden versucht, ist die „Soziologie“ derjenige
„point of view“, von dem aus diese strukturelle Dynamik des Verhaltens von (menschlichen Individuen) nach
Maßgabe des Begriffsgefüges „soziales Handeln“ gedeutet und verstanden zu werden versucht wird. Dabei
werden einige trivialpsychologische Gesetzmäßigkeiten zugrunde gelegt, um das Konstrukt des rationalen
Handelns zu gewinnen, denn nur mittels dieses Konstruktes lassen sich dann auch die psychologisch nicht
trivialen Gesetzmäßigkeiten der Verhaltensmodifikation erforschen. Deshalb benötigt jedwede „Psychologie“
eben diesen genuin soziologischen „point of view“ aus genau zwei Gründen: Erstens um die
sozialkonfigurativen Rahmenbedingungen beschreiben zu können, „unter“ denen sich das Verhalten
menschlicher Individuen abspielt und zweitens, um gedankenexperimentell den jeweiligen reinen Fall des
Verhaltens konstruieren zu können, bei dem die die psychologischen Trivialgesetze konstituierenden
Bedingungen erfüllt sind.
49
In meiner Magisterarbeit [Delinquenzdisposition] die sich wesentlich auf die Sacksche
[Kriminalsoziologie] Analyse des Zusammenhangs von sozialer Kontrolle und Delinquenzdisposition stützt,
habe ich erstens zeigen können, in welchem Umfang „Delinquenzkarrieren“ abhängig sein können von dem
Modus des Umgehens der Kontrollorgane und Institutionen mit Delinquenzverdächtigen. Sack spricht in diesem
Zusammenhang von „delinquenter Karriere“. Und zweitens habe ich zeigen können, dass unter bestimmten
Umständen, der Einstieg eines Jugendlichen in eine Delinquenzkarriere diesem die genuin psychiatrische
Karriere erspart: Dann nämlich, wenn bei bestehender rollenkonfliktiös verursachter drohender
Identitätsdiffusion einem Jugendlichen seitens der rechtlichen Systeme der sozialen Kontrolle die Rolle des
„Diebes“ – z. B. in Gestalt eines Gerichtsurteils – zugeschrieben wird, mit der sich dieser Jugendliche sodann
identifizieren kann, festigt sich sein sozialer Standort und genau dieser Tatbestand wirkt pathologiehemmend.
Zu überlegen wäre also, ob diesem Sackschen Terminus nicht der Begriff der „psychiatrischen Karriere“
zugeordnet werden kann. Wie unschwer zu erkennen, liegt hier ein schwieriges Problem. Sack hat
nachgewiesen, dass erst durch das Wirken der sozialen Kontrollen „Delinquenz“ in schwerem Sinne erzeugt
werden kann: Offenkundig benötigen ganz bestimmte Erscheinungsformen von Schwerstkriminalität, wenn sich
diese als persönlichkeitsspezifische Handlungsmuster mit entsprechenden Qualifikationsprofilen ausbilden
sollen, ganz bestimmte Sozialisationsmodi, die sich nur und ausschließlich in entsprechenden
Strafvollzugseinrichtungen antreffen lassen. Das Erregende dieser These besteht, wenn man sie streng allgemein
fasst, darin, dass damit die Möglichkeit eingeräumt wird, die Systeme der sozialen Kontrolle könnten, obwohl
sie doch als Reaktion auf delinquentes Verhalten gedacht werden müssen, delinquentes Verhalten erst
48
d. h. rationalen, und psychiatrisch auffälligen, d. h. irrationalen, Formen der Devianz
insbesondere bei Kindern- und Jugendlichen, eine Differenzierung, die sich folgendermaßen
formulieren lässt:
Schwere Identitätskrisen bzw. identitätskritische Dauerzustände, die sich wegen ihrer
irritierenden irrationalen Erscheinungsformen mittels der psychiatrischen Symptomatologie
umschreiben lassen, wirken sich dahingehend aus, dass Individuen nicht mehr in einer
halbwegs adäquaten Form sozial – bzw. rational – zu handeln imstande sind und sich deshalb
auf eine bestimmte Art und Weise dergestalt abweichend verhalten (müssen), dass ihre
soziale Umwelt gezwungen ist, sie in die Obhut der medizinischen Betreuung zu geben.50
Dasselbe gilt nämlich – und hier liegt bereits ein bestimmter Aspekt genuin soziologischen
Vorgehens – nicht für diejenige Klasse von Identitätskrisen, die mit delinquenten
Verhaltensmustern verknüpft sind: Personale Desintegrationen vor allem des sog.
„psychotischen Formenkreises“ sind die Resultanten gänzlich anders gearteter massiver
Identitätskrisen, die selbst wiederum auf gänzlich anders gearteten Sozialisationsverläufen
beruhen, als derjenigen, die zu delinquenten Formen abweichenden Verhaltens führen, denn
hervorbringen. Analog dazu wäre es doch immerhin denkbar, dass die medizinischen Institutionen, deren
Aufgabe es doch eigentlich sein muss, innerhalb der Grenzen ihrer Möglichkeiten aus einem „Patienten“ einen
normal funktionierenden „Gesunden“ zu machen, eben diesen Patienten erst richtig „krank“ machen. Im
Zusammenhang mit der Analyse der „Wirkfaktoren“ pathologisierender Gesprächsformen sollte man sich, wie
ich meine, mit diesen Problemen genauer befassen.
Die in der vorliegenden Arbeit sehr stark betonte Analogie zwischen dem genuin juristischen Umgehen mit
Formen der Devianz und dem psychiatrischen Umgehen mit diesen hat vor allem einen, wie ich meine,
ungemein großen analytisch-heuristischen Vorteil: Man kann mit Blick auf das entsprechende Prozedere der
Organe unserer Rechtsordnung die seitens der Psychiatrie in den Blick genommenen Verhaltensstörungen,
insofern sie sozial auffällig geworden sind rollenstrukturell beschreiben und somit dem methodologischen
Postulat der intersubjektiven Überprüfbarkeit in durchaus „behavioristischen Sinne“ Rechnung tragen, wie es ja
auch von Redlich und Freedman gefordert wird.
Die von Sigmund Freud beispielsweise so eindrucksvoll beschriebenen „Fehlleistungen“ sind ausnahmslos in
ganz bestimmten sozialen Kontexten angesiedelt. Ich verweise hier nur auf den von Freud beschriebenen
Vorsitzenden einer Journalistenvereinigung der sich mit seiner völlig unpassenden Eröffnungsformel „Die
Sitzung ist geschlossen, pardon, ich meine natürlich eröffnet“, ja nicht nur auffällig benimmt, sondern ganz
einfach „aus seiner Rolle fällt“. Zu dem Problem des Zusammenhanges zwischen den in der „Theorie“ der
Psychoanalyse avisierten Fehl- und Symptomhandlungen und den diesen zuordbaren beobachtbaren
Verhaltensmustern vgl. die Interpretation des Tafelbildes in Abschnitt II. 7. 2.
50
Dies ja wohl der eigentlich wichtige Punkt bezüglich einer Analyse auftretender Devianz, der z.B.
gegenüber den sehr viel wageren Kriterien für die definitorische Festlegung des Begriffs für die
„Verhaltensstörung“ in dem Lehrbuch von Redlich und Freedman [Psychiatrie] geltend gemacht werden muss,
wie wir in Abschnitt II. 4. sehen werden: Personale Systeme, die sich in notorisch anhaltendem
identitätskritischem Zustand befinden, müssen sich auf eine bestimmte Art und Weise deviant verhalten,
wohingegen „Widerständler“ und „Delinquente“ die Wahl haben, sich deviant oder konform zu verhalten. Der
weitere Punkt, die Reaktion der sozialen Mitwelt, die darüber befindet, ob oder ob nicht „abnormes Verhalten“
im klinischen Sinne vorliegt, ist strengstens zu beachten: Die Kriterien für die „Irrationalitätsevaluation“ ergeben
sich immer aus einem Wertesystem, welches kulturspezifisch ist.
49
bei diesen bleiben die sozialen Kompetenzen und die diesen genuin zugehörigen
Rationalitätsprinzipien erhalten.51
Wenn dergestalt ein Zusammenhang postuliert werden muss zwischen schweren („malignen“)
Formen von Identitätskrisen und massiv „gestörten Verhaltensmustern“ (Redlich und
Freedman), was ist dann eigentlich überhaupt eine „Identitätskrise“ und in welchem
Zusammenhang steht diese wiederum mit denjenigen Verhaltensmustern, die ganz allgemein
in der soziologischen Fachsprache als „Devianz“ bezeichnet zu werden pflegen? Gibt es
hierbei vielleicht einen Zusammenhang mit den genuin soziologisch definierten „Systemen
der sozialen Kontrolle“, der bislang vom „rein medizinischen“ Standpunkt aus nicht zuletzt
auch deshalb übersehen wurde, weil es sich bei den Einrichtungen, die für die mentale und
körperliche Gesundheit in unserer Gesellschaft zuständig sind, selbst um komplexe und
nahezu perfekt durchorganisierte Systeme der sozialen Kontrolle handelt? Erklärt sich die
vielzitierte Hilflosigkeit der Psychiatrie, das Begriffspaar „normal-anomal“ in einem wirklich
therapierelevanten präzisen Sinne zu definieren, vielleicht doch vor allem dadurch, dass man
trotz einer Unmenge von rollentheoretischen Ansätzen in der Psychiatrie den genuin
soziologischen Aspekt der Problematik viel zu sehr vernachlässigt hat? Was aber ist dann
dieser „soziologische Aspekt“? Worin genau besteht er?
Wie sich zeigen wird, liegt in der Beantwortung dieser Fragen einer der sowohl diagnostisch
als auch therapeutisch relevanten Vorzüge einer konsequent soziologischen Verfeinerung der
51
Bei aller wohlwollenden Bereitschaft meinerseits, die mehr als genug Grund hat, von den Ergebnissen
ihrer (bisherigen) Arbeit bescheiden zu denken, sehe ich nicht, wo in der gängigen Literatur genau dieser
Gedanke bereits aufgetreten ist. Ganz im Gegenteil: Gerade den Eriksonschen Bemühungen verdanken wir das
Konstrukt der „Sozio-Pathie“. Dies ein Konstrukt, welches bereits begriffsnotwendig, d. h. bereits vom
(methodischen) Grundansatz her, nahelegt, die Divergenz von besonders schwerwiegender Delinquenz und
„Krankheit“ aufzuheben.
Meisterhaft beschrieben ist das komplizierte Netzwerk von kriminellen und psychopathologischen Strukturen
in dem Döblin’schen Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“. Hier in diesem Roman wird virtuos dargestellt,
dass und inwiefern eine „Schizophrenie“ ein Lebensverlaufsgeschehen designiert, welches notorisch von sich
einander ablösenden und immer gravierender sich maligne auswirkenden Identitätskrisen des Protagonisten
„durchsetzt“ ist. Weil Döblin, wie das Arbeitspapier meiner Kollegin Janna Rinderknecht minutiös
nachgewiesen hat, den zunehmend desaströsen Lebensprozess seines Protagonisten Franz Biberkopf als
Funktion der in der Großstadt „Berlin“ in der Nachkriegsaera der 20er Jahre bestehenden Sozialmilieus und
gerade nicht als „endogen“ beschreibt, wird in musterhafter Weise eine wirkliche „Sozialpathologie“ entworfen,
die sozialstrukturelle Konstellationen ätiologisch zu gewichten gestattet. Diesen Gedanken gilt es nunmehr, wie
ich meine, auch streng wissenschaftlich zu sichern.
Eines der interessantesten Problembereiche der psychosozialen medizinischen Forschung erschließt sich,
wenn man im Bezugsrahmen einer streng soziologischen Sichtweise, wie sie z.B. die Sacksche Heuristik
darstellt, kriminogene und psycho-pathogene Karrieren differenzialdiagnostisch zu klären versucht wie ich
meine.
50
psychiatrischen Forschung und Praxis, wie sie vor allem – und wie ich meine: letzten Endes
nur – die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ zu bieten vermag.52
Dies deshalb, weil diese – und letztendlich eben nur diese – in Gestalt eines
idealtypologischen Schemas ein logisch kohärentes Gefüge von Kriterien offeriert, die es
gestatten, dass rationale Handeln menschlicher Individuen als situationsadäquates Verhalten
gegenüber irrationalen Verhaltensmustern wertfrei zu diskriminieren.53
Halten wir bereits an dieser Stelle eine der zentralen Thesen der vorliegenden Abhandlung –
die andere betrifft, wie gesagt, den Stellen- und Erkenntniswert der Psychoanalyse – in
expliziter Form fest:
Ausschließlich der Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ verdanken wir den
bislang einzigen gelungenen Versuch, normales (individuelles) menschliches Verhalten als
objektbezogenes sowie „(subjektiv) sinngetragenes soziales Handeln“ so zu bestimmen, dass
es arbeitsdefinitorisch als Richtschnur zur Analyse aller genuin humanen Formen des
Verhaltens dienen kann. Und nur aus dem Blickwinkel eines so verstandenen
kultursoziologischen Ansatzes macht letztendlich auch eine Theorie der kognitiven
Sozialisation, wie sie z. B. von Piaget entwickelt worden ist, überhaupt Sinn. Dies deshalb,
weil eine solche Theorie die idealtypologische Konstruktion des Rationalitätsbegriffs
benötigt, der in „reiner“ Form bisher nur von Max Weber in seiner Theorie des
zweckrationalen Handelns elaboriert worden ist: Pathologische Erscheinungsformen
humanspezifischen individuellen Verhaltens sind sodann solche, bei denen das „(subjektiv)
sinngetragene“ und normalerweise objektbezogene „soziale Handeln“ auf irgendeine mehr
oder weniger starke Weise beeinträchtigt ist. Trivialerweise folgt hieraus im Zusammenhang
mit den obigen Ausführungen: Ist das „(subjektiv) sinngetragene soziale Handeln“
52
Wie sich zeigen wird, gestattet allerdings erst die rollenbegriffliche Komplementarisierung der
Weberschen Handlungssoziologie, wie wir sie vor allem Linton verdanken, die Differenzierung in institutionelle
Tatbestände („Dieb“ bzw. „Diebstahl“) und individuelle Verhaltensmuster („Stehlen“). Und bei genauem
Hinsehen ist auch völlig klar, warum das so ist: Mittels des Begriffs „Diebstahl“ wird seitens der Systeme der
sozialen Kontrolle ein ganz bestimmtes Habitualprofil erstellt, ob allerdings eine ganz bestimmte Handlung bzw.
ein ganz bestimmtes Verhalten diesem sozialstrukturell vorauserstellten Habitualprofil entspricht, kann u. U. ein
durchaus kniffliges Problem sein, welches erst in einem geregelten Verfahren sich klären lässt: Auch und gerade
die Systeme der sozialen Kontrolle schreiben Rollen zu, was auf dem Boden einer ganz bestimmten
Sozialtheorie geschieht: Dass jemand einen Lippenstift im Kaufhaus an sich nimmt, dass er dann ohne zu
bezahlen das Kaufhaus verlässt, ist zweifelsohne beobachtbar, dass er jedoch einen Diebstahl begangen hat, wird
erst z. B. vom Kaufhausdetektiv dadurch erschlossen, dass er beide Verhaltensvorgänge auf der Grundlage einer
ganz bestimmten Sozialtheorie, die sich auf das Eigentumsinstitut bezieht, in einen Kausalzusammenhang bringt.
53
Wie in Abschnitt II. 4. zu zeigen sein wird, verwendet ganz automatisch die Psychiatrie zur
Charakterisierung ihres Gegenstandsbereiches eine krypto-(kultur)soziologische Sprache, was alles andere als
zufällig ist. Sie tut es jedoch nicht explizit und zahlt deshalb, wie ich meine einen sehr hohen Preis.
51
menschlicher Individuen beeinträchtigt, so liegt dieser Beeinträchtigung eine Identitätskrise
zugrunde – d. h. der Betreffende weiß weder genau noch was er will, noch wie er sich
verhalten soll, weil er „nicht mehr er selbst“ ist –, welche insofern nicht konstruktiv hat
bewältigt werden können, als das weitere Lernverhalten negativ beeinträchtigt wird:
Identitätskrisen und Lernverhalten in ganz bestimmten rollenstrukturell interpretierbaren
Handlungskontexten sind komplementär aufeinander bezogen.54
Die Webersche Konstruktion des „sozialen Handelns“ repräsentiert nämlich in diesem
Sinne – und dies wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich methodologisch in der
sozialphilosophischen Tradition der Kantschen Vernunftphilosophie stehend begreift – eine
(anthropologische)
Ausgangspunkt
Grundkategorie
sowohl
für
die
aller
Sozialwissenschaften,
Soziologie
als
auch
für
bildet
die
mithin
den
Psychologie
und
Sozialpsychologie. Wie der Sozialbehaviorist Stryker, auf den ich im nächsten Abschnitt
genauer zu sprechen kommen werde, treffend sagt, kann mittels der Weberschen Formel die
Analyse der Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens wie auch jeden individuellen
Verhaltens ihren Ausgangspunkt nehmen. Man könne nämlich, so Stryker, „daraus sowohl
das Individuum als auch die Gesellschaft [ableiten]. Auf diese Weise“ sei „für eine klare
Soziologie und Sozialpsychologie“ gesorgt: „Die erstere beginnt mit dem sozialen Handeln
54
Man muss freilich sehen, warum das Lernverhalten bisweilen so massiv gestört ist bzw. sein kann. Die
Konfrontation mit einer komplexen Reizmannigfaltigkeit, welche es irgendwie zu „begreifen“ gilt, um sich mit
ihr zurechtzufinden, macht wegen des Ineinanderspiels von Leibreizmannigfaltigkeiten und (sozialer) „Umwelt“
zuweilen äußerst schwierige Umbauten des sozialen Universums erforderlich, für die das betreffende Individuum
insofern nicht „beschaffen“ ist, als es nicht über entsprechende Kapazitäten verfügt, zugleich auch noch seine
jeweiligen Identitätskonstruktionen besorgen zu können.
Wohlgemerkt, das ist der genuin soziologische Standpunkt. Eine etwas andere Blickrichtung ergibt sich,
wenn man konsequent den „dogmatisch“ festgelegten Standpunkt der Psychoanalyse hierzu einnimmt: Ist das
Sozialverhalten eines Menschen bzw. das sein Sozialverhalten bestimmende „Gefühlsleben“ gravierend
beeinträchtigt, wohingegen seine kognitiven Fähigkeiten keine Auffälligkeiten aufweisen, so muss irgendetwas
in der „Objektphase“, in der die – das Sozialverhalten eines Menschen steuernde – „Erotik“ aufgebaut wird,
schief gelaufen sein. Eine texthermeneutische Feinanalyse insbesondere des Freudschen Artikels „Enttäuschung
des Krieges“ müsste über diesen Punkt genauere Auskunft geben können.
Überaus sensibel und subtil hat Freud in seinen Arbeiten, die sich auf die „Psychopathologie des
Alltagslebens“ beziehen, die Fähigkeiten derjenigen beschrieben, die nach einer ganz offenkundig
„hochverräterischen“ Fehlleistung mit selbiger umzugehen versuchen und daran entsprechende
charakterologische Überlegungen geknüpft: Immer geht es dabei darum, die soziale Maskerade „irgendwie“
wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wenn der Betreffende nur an dem Prinzip des „sozialen Handelns“
festzuhalten bestrebt ist.
Später werden wir eine – wie ich meine: hochinteressante – mögliche Implikation dieses Satzes diskutieren:
Bei einer bereits personalsystemisch verfestigten Disposition zu genuin malignen Formen von Identitätskrisen
hängt es u. U. vom sozialen Kontext ab, ob sich eine solche Disposition weiter verstärkt oder nicht.
52
und baut darauf auf bis zur Gesellschaft; die letztere beginnt ebenfalls mit dem sozialen
Handeln und arbeitet in die andere Richtung, nämlich in Richtung auf das Individuum“.
Zweifellos – aber wie?
Die nachfolgenden Denkschritte werden eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen.
Der entscheidende Punkt, um den es jedoch hier – zunächst einmal – geht, ist der folgende:
Webers Idealtypologie des sozialen Handelns beinhaltet die hypothetische Konstruktion eines
„Normal-Ich“, d. h. eines menschlichen Individuums, welches in dem Sinne rational zu
handeln im Stande ist, dass es seine Interessen und Bedürfnisse sinnadäquat zu interpretieren
und zu deren Durchsetzung bzw. Befriedigung entsprechend zu handeln vermag, welches „aus
Schaden klug zu werden“ und Fehlverhalten zu korrigieren vermag. Der in allen
Normalsprachen
dieser
Welt
anzutreffende
Sprichwörterbestand
belegt
diese
„Normalkonstruktion“ sinnfällig: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente
sinnvollen menschlichen Handelns“, sagt Max Weber bereits in seinem „Objektivitätsaufsatz“
aus dem Jahre 1904, „ist zunächst gebunden an die Kategorien „Zweck“ und „Mittel“. Wir
wollen etwas in concreto entweder „um seines eigenen Wertes willen“ oder als Mittel im
Dienste des in letzter Linie Gewollten.“ Und hätte die Menschheit im Laufe ihrer natürlichen
wie sozialen Evolution nicht die Fähigkeit entwickelt, bei dem, was gewollt wird, rational zu
unterscheiden, was bei gegebenem Stand der verfügbaren Mittel möglich ist, und was nicht,
so hätte sie wohl kaum überlebt.55 Die beiden entscheidenden Punkte jedoch in diesem
Zusammenhang sind die folgenden, welche explizit festzuhalten mir bereits an dieser Stelle
wichtig zu sein scheint:
Erstens präjudiziert diese Webersche Idealtypologie des sozialen Handelns nicht bereits als
solche eine ganz bestimmte „Sozialisationshypothese“, welche vor allem die Wurzeln
55
In genau derselben Richtung bewegt sich ja auch die Freudsche Kulturdefinition, was ganz sicher kein
Zufall ist, berücksichtigt man hierbei die allen Sozialwissenschaftlern des 19. und 20. Jahrhunderts gemeinsame
Tradition der Kant’schen Vernunft- und Aufklärungsphilosophie: Wenn wir von „sozialem Handeln“, dem
Handeln von „Kulturmenschen“ sprechen, d. h. von menschlichen Wesen, die „begabt mit der Fähigkeit und dem
Willen [sind], bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Max Weber), gilt:
„Die menschliche Kultur – ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen
Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet – und ich verschmähe es, Kultur
und Zivilisation zu trennen – zeigt uns bekanntlich zwei Seiten. Sie umfasst einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung
der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die
Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln. Diese
beiden Richtungen der Kultur sind nicht unabhängig voneinander ...“ Freud [Illusion], S. 139f
53
subjektiv sinnhaften (sozialen) Handelns zu beschreiben und zu erklären imstande wäre und
zweitens ist Webers „zweckrational handelndes Individuum“ eine sozialwissenschaftliche
Konstruktion, die es „real“ so nicht gibt, ja gar nicht geben kann. Nur und ausschließlich in
dieser Weise und nur und ausschließlich aus diesem Grunde kommt ihr nämlich für die
verhaltenstheoretische Zerlegung der „Identitätskrisen“ in maligne und benigne, die sich auf
das Lernverhalten der betreffenden Individuen kapriziert, ein methodisch schlechterdings
ausschlaggebender Erkenntniswert zu, worauf später noch genauer einzugehen sein wird.
Die mittels der Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ gegebene Möglichkeit –
und, wie ich betonen möchte, nur mittels dieser –, so etwas wie ein rational sich verhaltendes
„Normal-Ich“ konstruieren zu können, scheint mir sowohl im Hinblick auf eine (allgemeine)
„Theorie und Praxis der Psychiatrie“, wie Redlich und Freedman sie seinerzeit entworfen
haben, als auch im Hinblick auf die „Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und
Jugendalters“, wie Resch et al. sie in jüngerer Zeit erarbeitet haben, ungemein wichtig. Einer
genuin soziologischen und zugleich dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit verpflichteten
„Allgemeine[n] Psychopathologie“ (Jaspers), die ganz bewusst Abstand zu halten versucht
von einer metaphorisch durchseuchten „Phänomenologie der Intersubjektivität“ (Kisker),
muss es ganz einfach darum gehen, die Begriffe „Identitätskrise“, „Devianz“ und „soziale
Kontrolle“ in ihrem Bedeutungsgehalt so zu explizieren, dass sich dabei ein Erklärungsmodell
ergibt, aus dem sich empirisch überprüfbare Hypothesen ableiten lassen, die sich auf die
strukturellen Prinzipien humanspezifischer Sozialisationsprozesse beziehen. Denn ein solches
Modell hat ja nicht nur eine Differenzierung abweichenden sozialen Verhaltens zu leisten. Es
hat darüber hinaus ja auch die Funktion, Vorstellungen über mögliche Therapieziele zu
entwickeln. Und in genau dieser Beziehung scheint mir die hypothetische Konstruktion eines
„Normal-Ich“, wie sie Max Weber erarbeitet hat, unabdingbar, ist sie doch zugleich auch, wie
ich meine die Voraussetzung dafür, dass sich das Identitätskonzept selbst idealtypologisch
konstruieren lässt. Um die hinreichende Plausibilisierung genau dieses Grundgedankens geht
es mit bei der hier vorgelegten Arbeit.
Gelingt es nämlich, in diesem Sinne den Terminus „Identitätskrise“ so zu differenzieren, dass
sich daraus differenzialdiagnostische Möglichkeiten ergeben, so fungiert dieses Konstrukt als
Basalbegriff einer Ätiologie abnormen Verhaltens, die den bislang – nach der hier vertretenen
Meinung – viel zu sehr vernachlässigten Aspekt streng soziologischen Denkens
nachdrücklich hervorhebt und dies auch kann, weil die idealtypische Konstruktion des
54
Identitätsbegriffs selbst wiederum in einem streng begriffssoziologischen Sinne verankerbar
ist in einem genuin soziologisch präformierten Sozialisationsmodell.56
Es ist mithin, wie bereits angedeutet, ein erklärtes Ziel dieser Untersuchung, aus genau diesem
– dem genuin soziologischen – Blickwinkel, der das von Max Weber idealtypologisch
erarbeitete Konstrukt des „sozialen Handelns“ ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, die
sozialisationstheoretische Dimension sozialen Handelns wie auch seiner Devianzvariationen
sichtbar zu machen. Dies ist meiner Meinung nach bislang vor allem deshalb nicht geschehen,
weil viel zu oft auf die sozialisationstheoretische Dimension sozialen Handelns aufmerksam
gemacht worden ist, ohne dass man sich zum einen des Weberschen Idealtypus „soziales
Handeln“, zum anderen der dabei involvierten Lerntheorien explizit zu versichern versucht
hat.57 Denn es geht mir nicht nur um diese sozialisationstheoretische Dimension als solche,
die zumeist in einer eklektizistisch wie synkretistisch zusammengestellten Mixtur von
„soziologischen“ und „psychologischen“ Begrifflichkeiten thematisiert zu werden pflegt,
sondern vielmehr darum, zu zeigen, dass dann und nur dann, wenn es gelingt, die
sozialisationstheoretische Dimension sozialen Handelns im strengen Weberschen Sinne
56
Jedoch in einer ganz bestimmten Hinsicht nachdrücklich hervorhebt. Es wird sich nämlich, wie wir sehen
werden, herausstellen, dass abnorme Formen der Devianz auf Identitätskrisen beruhen, die mit genuin
pathologischen Formen des Lernens einhergehen. Auch aus diesem Grunde bedarf es einer Ätiologie, welche
Identitätskrisen differenzialdiagnostisch zu behandeln gestattet. Der weiter oben angedeutete Vorzug einer
konsequent soziologischen Verfeinerung der psychiatrischen Forschung und Praxis wird hierdurch nicht nur
nicht beeinträchtigt. Wir werden vielmehr sehen, wie beide Aspekte sich widerspruchsfrei zusammenschließen
lassen.
57
Denn selbstverständlich hängt die Fähigkeit eines Individuums zu rationalem Sozialhandeln mit seiner
Fähigkeit zur (subjektiven) Identitätskonstruktion engstens zusammen, und Webers Idealtypologie des sozialen
Handelns designiert ein Konstrukt, welches mit der weitestgehenden Absage an „irrationale Verhaltensmuster“
operiert: Das subjektiv sinnhafte objektbezogene Sichverhalten eines Individuums beruht auf der je individuell
gegebenen Fähigkeit – und diese ist natürlich immer eine Resultante des bis dahin abgelaufenen
Sozialisationsgeschehens – im Zweifelsfalle „seiner“ Identität integrativ und kohärent konstruieren zu können.
Der im Weberschen Sinne „sozial Handelnde“ ist dasjenige „ich-starke“ Individuum, welches in optimaler
Weise um Realitätsprüfung bemüht und dessen „Handeln“ darauf ausgerichtet ist, „die Realität“ zu bearbeiten,
was gleichwohl nur dann funktioniert, wenn im Zweifelsfalle erfolgreich Identitätskonstruktion bewerkstelligt
werden kann. „Ich-Schwäche“ ist von daher gerade nicht mit mangelnder „Willensstärke“ assoziiert, sondern
vielmehr zum einen mit der Unfähigkeit zur Realitätsprüfung, zum anderen mit der Unfähigkeit zur subjektiven
Identitätskonstruktion. Der „Wille“ nämlich ist dieser Konzeption zufolge wesentlich an die Vollausbildung der
Kognitivstrukturen und damit naturgemäß an die Statthabe bestimmter Enkulturations- und
Sozialisationsprozesse gebunden. „Triebstärke“ und (echte) „Willensstärke“ sind Gegenbegriffe. Und das
Kernproblem der vorliegenden Arbeit besteht natürlich darin, die Identitätskonstruktion hierbei systematisch so
zu
„verorten“,
dass
damit
die
personalstabilisierenden
Funktionen
der
je
subjektiven
Identitätskonstruktionsprinzipien deutlich werden können.
Es ist immer wieder übersehen worden, dass der Begriff der „Ich-Stärke“, wenn man ihn in die Nomenklatur
der Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ einfügt, gleichbedeutend sein muss mit dem
idealtypologisch konstruierten Begriff des rationalen Sozialhandelns. „Ich-Stärke“ beschreibt den gelungenen
„Endpunkt“ eines erfolgreich verlaufenen Adaptionsprozesses an die sozialstrukturellen Erfordernisse einer
bestimmten Sozialordnung.
55
sichtbar zu machen, um so einigermaßen triftig zwischen der Dynamik der kognitiven
Umorientierungen und „bloßen“ Verhaltensmodifikationen unterscheiden zu können, auch
eine Chance besteht, zwischen den Konstrukten „Identitätskrise“, „Devianz“ und „soziale
Kontrolle“ einen Zusammenhang herzustellen, welcher streng institutionentheoretisch und
damit eben konsequent rollenstrukturell gefasst werden kann. Genau diese nämlich benötigt
eine jede Lerntheorie, welche sich an eine mögliche Beschreibung und Erklärung
humanspezifischer Sozialisationsvorgänge heranwagt: Der Jargon des rollentheoretischen
Beschreibungsarsenals bildet so das „Mittelstück“ zwischen den lerntheoretisch zu
interpretierenden Sozialisationsverläufen der „Agenten“ des Sozialgeschehens, die sich auf
eine je spezifische Art und Weise – „rational“ oder eben auch „irrational“ – verhalten, und der
institutionellen Dynamik des Sozialgeschehens, welches sich notorisch strukturell wandelt,
woraus sich trivialerweise die Doppelstruktur jedweder Theorie des Sozialisationsgeschehens
ergibt: Um das real aufweisbare Verhalten menschlicher Individuen sowie die strukturelle
Dynamik desselben beschreiben und erklären zu können, ist zum einen eine Theorie der
institutionellen Dynamik der Gesellschaftsformation, in welche dieses Individuum
hineingeboren ist und in welchem es lebt, erheischt, zum anderen bedarf es einer Lerntheorie,
welche sich auf die „Werdestruktur“ des „Charakters“ eben dieses Individuums bezieht. Denn
es ist genau dieser Punkt, der mir in den meisten hier einschlägigen Untersuchungen viel zu
kurz gekommen zu sein scheint und dem ich mittels des genuin soziologischen „point of
view“ Geltung zu schaffen versuche: Gesellschaften sind wesentlich institutionell geordnete
dynamische Gebilde, die im Rahmen einer Idealtypologie rationalen sozialen Handelns als
komplexe, arbeitsteilig organisierte Rollensysteme beschreibbar sind, ohne dass man dabei in
direkter Weise auf die Verhaltensdynamik der sozialen Agenten bezugzunehmen braucht, ja
es nicht einmal darf. Sie differenzieren sich sozial in einem notorisch stattfindenden Prozess,
den Popitz sehr einleuchtend als „Normenfächerung“ charakterisiert hat, und bilden gemäß
diesen sozialen Differenzierungen Systeme der sozialen Kontrolle aus, deren Funktion es ist,
auf ein stets sich neu bildendes Universum von Formen der – rationalen wie irrationalen –
Devianz um einer Austarierung „neuer“ Gleichgewichtslagen willen konfliktregulativ zu
reagieren.58 Und eines dieser Systeme der sozialen Kontrolle ist eben die Pädo-Psychiatrie,
58
Wie bereits Durkheim zu Recht explizit hervorgehoben hat, tritt Devianz nicht nur notorisch auf, ihr
Auftreten gehört vielmehr konstitutiv der Regulierungsfunktion der sozialen Institutionen zu: Gäbe es kein
„Verbrechen“, so gäbe es keinen sozialen Wandel. Überschärft formuliert: Die institutionelle Dynamik einer
historisch realisierten Gesellschaftsformation erzeugt von sich aus permanent zum einen genuin delinquente,
zum anderen psychopathologisch auffällige Formen der Devianz, was zugestandenermaßen aus der Perspektive
des jeweiligen sozialen Umfeldes sehr oft „zusammengeblendet“ zu werden pflegt. Zur genaueren
56
die sich unter ganz bestimmten, „allgemeingesellschaftlichen“ und mit einem ganz
bestimmten – gleichfalls „allgemeingesellschaftlichen“ – Auftrag mit genau denjenigen
Formen der Devianz befasst, die wegen ihrer „Irrationalität“ als psycho-pathologisch auffällig
angesehen zu werden pflegen.59 Denn bezeichnenderweise sind das genau diejenigen Formen
der Devianz, mit denen die justiziären Systeme der sozialen Kontrolle nichts anfangen
können, weil ihre Funktionäre sie eben gerade nicht „verstehen“ können60: Dass und in
Unterscheidung zwischen den „rationalen“ und den „irrationalen“ Formen der Konformität wie der Devianz vgl.
die weiter unten gegebenen Tafelbilder (II. 7. 1., II. 7. 2.)
59
Auf die vorzügliche und nach wie vor nicht übertroffene Analyse des „Begriffs der sozialen Rolle“ durch
Popitz verweise ich an dieser Stelle ausdrücklich, denn auf diese beziehe ich mich bei meinen Ausführungen
wesentlich. Folgt man ihr, so ergibt sich das folgende Bild: Im strengen Weberschen Sinne lassen sich die
Institutionen einer Gesellschaft durchwegs als Systeme der sozialen Kontrolle deuten, jedoch geraten diese
keineswegs nur „reaktiv“ in Bewegung. Ihnen eignet erstens eine ziemliche Eigendynamik, wie insbesondere
Fritz Sack [Kriminalsoziologie] zu Recht betont hat, und außerdem eignen ihnen, da die meisten von ihnen ja
auch eine Sozialisationsfunktion haben, wesentlich immer zugleich auch pädagogische Funktionen. Aus diesem
Blickwinkel böte es sich an, die „Familie“ als die primäre, Kindergärten, Schulen hingegen – und eben auch
Strafanstalten wie „Landeskrankenanstalten“ – als sekundäre bzw. als wesentlich „reaktive“
Sozialisationsagenturen und somit als pädagogisch wirkende Systeme der sozialen Kontrolle zu interpretieren.
Ich komme noch des öfteren, vor allem, wo es wesentlich um die – in der Regel evaluativ gefassten –
institutionell definierten Tatbestände unserer Gesellschaftsformation und die diesen jeweils zugeordneten
Verhaltensmuster gehen wird, hierauf zurück. Derjenigen Institution, die wir als „Familie“ auffassen werden,
kommt allerdings insofern eine Sonderstellung zu, als sie ja sozusagen die „Bedingungen der Möglichkeit“ aller
anderen Sozialisations- und Enkulturationsprozesse „setzt“. Hier nämlich, im familialen Rollenfeld, wird die
Methode des Lernens, mithin also auch und gerade die Methode der Identitätskonstruktion als solche erworben.
Zu einer konsequent handlungssoziologischen Deutung sog. „pädagogischer Grundsituation“ vgl. die
Doktorarbeit meiner Kollegin Dietlinde Michael [Ästhetische Sensibilisierung], wo explizit gezeigt wird, was
pädagogisch angerichtet wird, wenn adoleszentes bzw. juvenales schulisches Lernen nicht nach Maßgabe der
Rationalitätskriterien der Weberschen Handlungskonzeption organisiert wird: Adoleszentes Lernen ist
wesentlich aktives Handeln im Weberschen Sinne. Vgl. hierzu bereits das von Frau Michael erstellte
Arbeitspapier, welches die Vorlage für einen Vortrag im Doktorandenkolleg Karlsruhe (Lehrstuhl Schweitzer)
bildete: „Die Funktion des Gadamerschen »Gesprächs« für den pädagogischen Prozess“, wo dankenswerterweise
explizit auf den von mir eingeführten Begriff der „Identitätsmetamorphose“ bezuggenommen wird. Die
Idealtypologie des Gadamerschen „Gesprächs“ erzeugt – oder besser noch: bewirkt – nämlich
„Identitätsmetamorphosen“, die wesentlich auf benignen Identitätskrisen beruhen. Auch hierbei lässt sich eine in
komparativer Sprache abgefasste Hypothese ableiten.
Auf die Rolle, Funktion und Aufgabenstellung insbesondere der Pädo-Psychiatrie müsste eigentlich sehr viel
eingehender, als es hier geschehen kann, eingegangen werden: Wie alle unsere Institutionen, die sich mit den
Adoleszenzformen des sozialen Handelns befassen, ist auch und gerade die Pädo-Psychiatrie ein System der
sozialen Kontrolle, dem wesentlich Sozialisations- und Enkulturationsfunktionen obliegen. Da sie in laufende
Formen des sozialen Lernens aktiv einzugreifen befugt und genötigt ist, eignet der Pädo-Psychiatrie nicht nur
ganz allgemein – wie z. B. unseren schulischen Institutionen – die Aufgabe einer Sozialisationsagentur par
exellence, sie übernimmt vielmehr ganz automatisch familial-komplementäre pädagogische Funktionen und
repräsentiert folgerichtig eine familial-analoge pädagogische Struktur.
60
Dass jemand aus Eifersucht mordet, kann jeder halbwegs normal denkende Jurist, dem, wie man so schön
sagt, „nichts Menschliches fremd ist“, problemlos nachvollziehen, mithin also auch „verstehen“. Wirkliche
Schwierigkeiten dürfte er allerdings mit jemandem haben, dem ein Fachpsychologe Eifersuchtswahn
bescheinigt. An dieser Stelle kommt es mir lediglich darauf an, dem (möglichen) Missverständnis vorzubeugen,
„Irrationalität“ sei so etwas wie ein „automatischer“ Gegenbegriff zum Rationalitätskonstrukt. Vgl. hierzu die
minutiöse Vorgehensweise bei den „Rationalitätskatalogen“ in Abschnitt II. 8. 2.
57
welchem Umfang sie überhaupt auftreten, bedarf natürlich der soziologischen Erklärung, zu
beschreiben und zu erklären jedoch, wie sie auftreten, fällt in den Kompetenzbereich der
„Psychologie“, und eine den genuin „soziologischen“ mit dem genuin „psychologischen“
Ansatz vereinigenden Ansatz bietet eben eine Sozialisationstheorie, um die es uns hier geht.
Ich halte auch diesen Punkt bereits an dieser Stelle explizit in thetischer Form fest:
Die zumeist als Systeme der sozialen Kontrolle fungierenden sozialen Institutionen wandeln
sich nach Maßgabe von bislang noch weitgehend undurchschauten Selbstgesetzlichkeiten,
deren Mechanik, wie Porath vermutet, tiefenstrukturell organisiert ist61, und dieser
„Strukturwandel“ arbeitsteilig organisierter Rollensysteme kovariiert mit dem je spezifischen
Verhalten der Agenten des gesellschaftlichen Geschehens – den Individuen –, welche sich
diesem Wandlungsprozess adaptieren müssen, wenn sie psychisch oder auch somatisch
einigermaßen normal überleben wollen. Und es ist die zentrale These der vorliegenden
Untersuchung, dass sich diese Kovariation – „porathianisch“ ausgedrückt – dann und nur
dann in einer wissenschaftsanalytisch korrekten Weise als ein interdependenzfunktionaler
Zusammenhang beschreiben und erklären lässt, wenn man dabei explizit auf die in der
Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ erarbeitete Idealtypologie rekurriert, was
bedeutet: Sowohl den Lerntheorien, mittels derer die Verhaltensdynamik der Sozialisationsund Enkulturationsverläufe der sozialen Agenten beschrieben und erklärt werden soll, als
auch
denjenigen
Theorien,
mittels
derer
der
strukturelle
Wandel
der
das
Gesellschaftsgeschehen tragenden Systeme der sozialen Kontrolle beschrieben und erklärt
werden kann, ist das von Max Weber erarbeitete idealtypische Konstrukt des „sozialen
Handelns“, mithin also eine ganz bestimmte Sozialanthropologie, die, wie ich glaube, letzten
Endes auf Kant zurückgeht, als Selbstverständlichkeit implantiert.
Dies zu sehen ist, wie gesagt nötig, denn nur dann, wenn ein solcher Zusammenhang streng
idealtypologisch konstruierbar ist, lässt sich auch ein Erklärungsmodell ableiten, welches eine
Differenzierung devianten sozialen Handelns ermöglicht.
61
Ich erwähne diesen (prekären) Punkt nicht nur deshalb, weil ich mich einer intellektuellen Dankesschuld
verpflichtet fühle. Vielmehr bin ich keineswegs der Porath’schen Überzeugung, man könne – und müsse – die
„Tiefengrammatik“ der modernen kapitalistischen Produktionsweise mittels derselben methodischen Prinzipen
erforschen, wie es die modernen Naturwissenschaften „vorgemacht“ haben. Ich stütze mich (vorläufig?)
jedenfalls mehr auf Max Weber als auf Karl Marx. Porath ist nämlich der Überzeugung, dass der Schritt zur
Marxschen Kapitaltheorie der über Max Weber hinausgehende weitere Wissenschaftsschritt sein muss. Zur –
wie Porath meint: grundsätzlichen – Divergenz von „Sozialwissenschaft und Kulturwissenschaft“ vgl. die hierzu
einschlägigen Passagen des [Forschungsantrages]. Zum Problem der Übereinstimmungen und Divergenzen in
den methodischen bzw. methodologischen Basalüberzeugungen in unserer Forschungsgruppe vgl. jetzt das von
Porath und mir gemeinsam verfasste Arbeitspapier [Identitätskrisen in der Entwicklungspsychopathologie],
welches wir in den nächsten Monaten zur Publikation in der Reihe „Schriften der Gesellschaft für Wissenschaft
als Beruf“ vorbereiten werden.
58
In thetischer Weise halten wir an dieser Stelle zunächst einmal fest, was wir hierzu bislang
haben zusammenstellen können:
1. Wird die Allgemeine Psychiatrie und insbesondere die Pädopsychiatrie als
Entwicklungspsychopathologie
aufgefasst,
der
es
darauf
ankommt,
psychopathologische Verhaltensmuster ätiologisch in einer (allgemeinen) Theorie der
Identitätskrisen zu verorten, dann muss eine solche Theorie symptomatologisch scharf
zu unterscheiden gestatten zwischen benignen und malignen Identitätskrisen, und dies
ist nur möglich, wenn eine streng allgemein konzipierte empirisch falsifizierbare
Sozialisationstheorie verfügbar ist, welche die Grundlage bildet für eine solche
„Entwicklungspsychopathologie“, so dass logisch (trivialerweise) folgt:
2. Dann
und
nur
dann,
wenn
es
gelingt
eine
empirisch
falsifizierbare
Sozialisationstheorie auszuarbeiten, in deren Kontext sich das idealtypische Konstrukt
der „Identität“ erarbeiten lässt, lässt sich auch eine Ätiologie psychopathologisch
auffälliger Verhaltensmuster ausarbeiten, welche eine entsprechende Anamnese sowie
eine entsprechende Diagnostik und Prognostik derselben ermöglicht.
3. Eine solche Theorie des Sozialisationsgeschehens ist eine Lerntheorie, so dass gilt:
Der Begriff der „Identitätskrise“, der sich auf bestimmte mentale Zustände eines
menschlichen Organismus bezieht, gehört dem (theoretischen) begrifflichen Arsenal
einer
Lerntheorie62
und
damit
wesentlich
dem
Grundvokabular
der
Verhaltenswissenschaften zu, was bedeutet: Nur organismische Entitäten können
lernen und nur diejenigen Organismen, welche im streng biologischen Sinne
Menschen sind, machen, da sie der einzigen Spezies angehören, deren Angehörige
sich zweckrational und situationsadäquat verhalten können, Identitätskrisen durch, die
auf jener Klasse von Lernvorgängen beruhen, welche „kognitive Umorientierungen“
genannt zu werden pflegen, woraus sich ergibt: Der Begriff der „Identitätskrise“ ist
wesentlich „eingenetzt“ in ein System von Hypothesen, die sich mit denjenigen
Verhaltensmodifikationen von menschlichen Individuen befassen, die wesentlich die
62
Es ist, wie wir später immer deutlicher sehen werden, sehr wichtig, sich permanent vor Augen zu halten,
dass die Grundbegrifflichkeit, mit der wir in den Humanwissenschaften arbeiten, Theoriecharakter hat und nur
indirekt mit „Beobachtbarem“ verknüpft ist. Wäre dem nicht so, so bräuchten wir uns ja auch nicht um
entsprechende idealtypologische Konstruktionen bemühen. Es gilt hierbei, wie Porath es formuliert hat, die
behavioralheuristische Grundregel, welche besagt, dass das Verhalten sowie die Verhaltensänderungen von
Individuen zwar beobachtbar sind, dass jedoch deren Deutung sich immer im Bezugsrahmen von Theorien
vollzieht. Wie sich zeigen lässt, geht diese Aussage viel weiter als die allgemein akzeptierte Erkenntnis,
„Wahrnehmung“ und „Beobachtung“ seien wesentlich theorienimprägniert.
59
kognitiven Dimensionen von Sozialisationsprozessen betreffen: Verhalten ist
beobachtbar,
wohingegen
das
„Lernen“
nur
und
ausschließlich
als
Verhaltensmodifikation – auf der Grundlage von Informationszufuhr –, nicht jedoch
als kognitive Umorientierung beobachtbar ist. Macht jedoch deshalb auch jedes
menschliche Wesen im Verlaufe seiner Sozialisation Identitätskrisen durch und
nehmen selbige nicht vielleicht lediglich in „unserer“ Kultur so dramatische Formen
an? Sozialisation als beobachtbares – oder zumindest „im Prinzip“ beobachtbares –
Rollenerwerbsverhalten ist Verhaltensmodifikation menschlicher Individuen, die auf
prinzipiell der Beobachtung nicht zugänglichen Internalisierungsprozessen bestimmter
objektiver Sinngebilde beruht.
4. Da wir mittels lerntheoretischer Begriffe und Hypothesen die im Lebensverlauf von
humanen Organismen auftretenden Verhaltensmodifikation(en) beschreiben und
erklären, repräsentieren „Identitätskrisen“ ganz bestimmte „Knotenpunkte“ bzw.
„Haltestationen“ im Lebensverlauf eines menschlichen Wesens, die mittels
bestimmter „Daten“ aus dem jeweils stattgehabten Sozialisationsverlauf erschlossen
werden müssen. Identitätskrisen als solche „Lebenshaltestationen“ – das sind
sozusagen „Anhaltestationen“ im Leben eines Menschen, in denen sich mehr oder
weniger bewusst die Identitätsfrage stellt63 – designieren, insofern sie sich
„symptomatisch“, z.B. als „Fehlleistungen“ irgendwie bemerkbar machen, in der
Regel Identitätsmetamorphosen, weisen sie doch immer zugleich auf (mögliche)
„Umbauten“ in der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen hin.64 Wie auch immer.
Identitätskrisen – mögen sie sich nun symptomatisch bemerkbar machen oder nicht –
sind jedenfalls konstitutive Momente des genuin kognitivsystemisch statthabenden
63
Die Floskel „mehr oder weniger bewusst“ ist absolut ernst zu nehmen. Genauso wenig, wie irgend Jemand
bewusst in eine Identitätskrise geraten will wie nicht will, genauso wenig erlebt dieser Jemand bewusst eine
Identitätskrise. Vielmehr macht sich eine solche an Symptomen geltend, die sodann – mehr oder weniger
„bewusst“ – interpretiert werden, und erst dieser Interpretationsvorgang enthält in der Regel
„Bewusstseinsanteile“.
64
Der Begriff der „Identitätsmetamorphose“ ist mir, obwohl ich ihn bislang noch nicht in wünschenswerter
Klarheit explizieren kann, dennoch aus verschiedenen Gründen sehr wichtig, wie wir weiter unten sehen werden.
Fasst man gemäß der klassischen strukturell-funktionalen Nomenklatur das (menschliche) „Einzelindividuum“
als personales System auf, wie es in gewisser Weise ja auch Redlich und Freedman tun (vgl. hierzu den
Abschnitt II. 5. 6.), dann designiert das idealtypische Konstrukt der Identitätsmetamorphose nämlich denjengen
Aspekt des Gestaltwandels einer „Persönlichkeit“, der sich wesentlich auf die kognitive Dimension derselben
bezieht, ohne dass das betreffende Individuum diesen Gestaltwandel seiner selbst überhaupt zu bemerken
braucht. In Abschnitt II. 5. 4. wird dieses prima facie ja etwas paradox anmutende Ergebnis meiner
Überlegungen hierzu, welches sich letztendlich, wie ich annehme, nur psychoanalytisch präzise beschreiben
lässt, noch etwas genauer zu erläutern sein.
60
Sozialisationsprozesses, die immer dann mehr oder weniger dramatische Formen
annehmen, wenn ausgesprochen komplexe Lernzumutungen anstehen, welche vor
allem ein mittlerweile drastisch gewandeltes Rollenfeld eines Menschen betreffen. Ob
und inwiefern sie gar in identitätskritische Dauerzustände mit entsprechend
gravierenden psychopathologischen Verhaltensmustern übergehen und so eventuell
sogar bestimmten personalen Zerrüttungserscheinungen den Weg bereiten, hängt
letztendlich ab von jenen einst dominierend gewesenen sozialstrukturellen
Bedingungskonstellationen, in deren Rahmen sich ursprünglich die methodischen
Prinzipien der je individuellen Identitätskonstruktionskompetenzen ausgebildet haben.
Denn es ist, wie bereits gesagt, die Art und Weise, wie sich eine bestimmte
Identitätskonstruktionsmethode in der Primordialphase des Sozialisationsprozesses
„eingeschliffen hat“, von welcher abhängig ist, ob jemand mit einer gravierenden
Identitätskrise zurechtkommt oder nicht: Identität wird konstruiert, wofür es ganz
bestimmter Kompetenzen bedarf, und die dabei jeweils angewandte „Methode“
variiert
nach
Maßgabe
der
je
individuell
„erfahrenen“
sozialstrukturellen
(„familialen“) Bedingungen in derjenigen Übergangsperiode von den postnatal
dominierenden Verhaltensmodifikationen zu den ersten Ansätzen subjektiv sinnhaften
sozialen Handelns, in der sich das Lernverhalten grundlegend ändert, woraus sich
nunmehr eine erste im Prinzip empirisch validierbare sozialisationstheoretische
Hypothese ergibt: Vor der Transformation der noch wesentlich „organismisch“
gesteuerten Verhaltensmodifikationen eines menschlichen Wesens in subjektiv
sinnhaftes (soziales) Handeln, kann es keine Identitätskrisen oder irgendwelche
identitätskritischen Zustände geben, denn diese sind wesentliche Momente derjenigen
humanspezifischen Formen des jeweiligen „Lernens“, die kognitive Umorientierungen
genannt zu werden pflegen. Aus diesem Blickwinkel wird sodann auch das
ausgesprochen turbulente Geschehen in der Pubertätsphase fast jedes Adoleszenten
verständlich:
Leibreizmannigfaltigkeiten
und
(soziale)
Umweltkomplexität
überschneiden sich in einem Ausmaß und Umfang, dass sich – „systemisch“
gesprochen – die für rationales Handeln unabdingbare Komplexitätsreduktion, die ja
die
Voraussetzung
für
ein
einigermaßen
gut
funktionierendes
„Identitätskrisenmanagement“ ist, exorbitant schwierig gestaltet, so dass dadurch
schon beinahe „naturnotwendig“ hebephrene bzw. hebephrenoide Verhaltensmuster
mit notorisch auftretender Rollendiffusivität erzeugt werden: Zwischen den bis dahin
erworbenen Identitätskonstruktionskapazitäten eines „personalen Systems“ und dem
61
(internen wie externen) Katalog von Bewältigungsnotwendigkeiten nach Maßgabe des
Realitätsprinzips, die integrativ „bedient“ werden müssen, besteht eine zunächst auf
Dauer gestellt zu sein scheinende Diskrepanz und gibt entsprechende Impulse für die
bis dahin eingeübten Formenmannigfaltigkeiten der Realitätsfugativität. Entsprechend
hoch ist in einer solchen Phase sodann natürlich auch die Affektaufgeladenheit der
„normalen“ Verhaltensdynamik.65
5. Es
ist
eine
Weiterentwicklung
der
bereits
in
der
Einleitung
genannten
(methodologischen) Grundthese der hier vorgelegten Arbeit, dass sich völlig
unabhängig
davon,
was
für
eine
Lerntheorie
zur
Erkenntnisbasis
einer
psychiatrierelevanten Sozialisationstheorie gemacht wird, diese methodisch auf jeden
Fall von jenem genuin soziologischen „point of view“ her konstruiert werden muss,
welche die Webersche Idealtypologie der sog. „Verstehenden Soziologie“ zu bieten
vermag. Diese zerlegt sich in eine „Makro-Soziologie“, welche die institutionelle
Dynamik der Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens zu beschreiben und zu
erklären versucht, und in eine „Mikro-Soziologie“, welche die „Elementarformen des
sozialen Verhaltens“ zu beschreiben und zu erklären versucht.
6. Diese Webersche „Verstehenslehre“ ist wesentlich eine Kulturwissenschaft. Dies
bedeutet, dass sie in ihrer „Grundbegrifflichkeit“ nicht nur die Konstrukte
„Institutionen“, „Organisationen“, „Herrschaftsverbände“ sowie die Begriffe „soziale
Differenzierung“, „Norm“, „soziale Kontrolle“, „Rolle“ etc., sondern auch – und dies
vor allen Dingen – den Begriff des „Wertes“ zu ihrem kategorialen Arsenal zählt:
Kulturwertanalyse, die auf solche (Evaluativ-) Konstrukte wie „Mündigkeit“,
„Selbstverantwortlichkeit“, „Bildung“, „(geistige wie körperliche) Gesundheit“,
„Wahrheitsstreben“, „Rationalität“ etc. ihre Aufmerksamkeit richtet, ist konstitutiver
methodischer Bestandteil ihres von Grunde auf hermeneutischen Ansatzes. In
vorbildlicher Weise hat vor allem der Weberianer Rainer M. Lepsius diese genuin
kulturwissenschaftliche Heuristik auf den Begriff gebracht, weswegen ich sie
nachstehend zitiere:
65
Aus diesem Blickwinkel hochinteressant sind sodann natürlich vor allem diejenigen
Identitätsmetamorphosen, die sich in solchen Diskursmilieus „abspielen“, welche dem Gadamerschen
Gesprächstyp sehr nahekommen: Soziale Positionierung der Diskurskontrahenten ist hierbei relativ
festgeschrieben und folglich ist auch das jeweilige auf „Dialektik“ eingestimmte bzw. ausgerichtete
Rollenverhalten als solches relativ starr „konditioniert“. Entsprechend groß ist hierbei die auf die jeweilige
„Sache“ bezogene Vigilanzabsorption, die dazu zwingt, dem mitlaufenden Affektgeschehen so wenig
Aufmerksamkeit, wie nur möglich, zu schenken. Gesprächsdominierte Interaktionsstrukturen sind aus diesem
Grunde toto coelo verschieden von den entspannenden „Gesellschaftsspielen“.
62
7. Die das soziale Handeln menschlicher Individuen unmittelbar beherrschenden
„Interessen, sind ideenbezogen, sie bedürfen eines Wertbezuges für die Formulierung
ihrer Ziele und für die Rechtfertigung der Mittel, mit denen diese Ziele verfolgt
werden. Ideen sind interessenbezogen, sie konkretisieren sich an Interessenlagen und
erhalten durch diese Deutungsmacht. Institutionen formen Interessen und bieten
Verfahrensweisen für ihre Durchsetzung, Institutionen geben Ideen Geltung in
bestimmten Handlungskontexten. Der Kampf der Interessen, der Streit über Ideen, der
Konflikt zwischen Institutionen lassen stets neue soziale Konstellationen entstehen,
die die historische Entwicklung offen halten. Aus Interessen, Ideen und Institutionen
entstehen soziale Ordnungen, die die Lebensverhältnisse, die Personalität und die
Wertorientierung der Menschen bestimmen“.66 Festzuhalten: Soziale Ordnungen
bestimmen die (Formen der) Personalität, weil sie die „Lebensverhältnisse“ sowie die
Wertorientierung(en) der Menschen bestimmen, was heißt: Die sozialstrukturellen
Bedingungen, welche die – z. B. familialen – Lebensverhältnisse eines Menschen
„bestimmen“, bestimmen eben auch dessen „Wertorientierung(en)“. Daraus aber
ergibt sich trivialerweise:
8. Die sozialstrukturellen Milieubedingungen von „Gesellschaften“, mithin auch deren
Wandlungen, wirken sich in einer wie auch immer genau zu bestimmenden Art und
Weise auf die strukturelle Dynamik der Verhaltensmodifikationen von (humanen)
Organismen aus, verursachen mithin auch bestimmte Verhaltensmodifikationen
strukturell. Dass sie dabei in der Regel „subjektiv umgerechnet“ zu werden pflegen,
berührt nicht den Tatbestand, dass sie ja „irgendwie“ zunächst einmal – als soziale
Ordnungen – objektiv vorhanden (gewesen) sein müssen, um überhaupt „subjektiv
umgerechnet“ werden zu können. Streng lerntheoretisch repräsentieren also die
Rollensysteme der Sozialisationsagenturen, welche die Verhaltensdynamik ihrer
Sozialisanden „bestimmen“ – was immer das auch heißen mag – Stimuli bzw.
Stimuluskonfigurationen, die in der Regel, da sie ja auf eine jeweils ganz bestimmte
Art und Weise „irgendwie“ wahrgenommen werden müssen, Cue-Charakter haben,
denn sonst würden sie ja wohl kaum bestimmte Verhaltensmodifikationen „bewirken“.
Erfassen tun wir diesen „Einfluss“ freilich nur dann, wenn zuvor in relativer Reinform
die Lerngesetzmäßigkeiten ausgearbeitet worden sind. Der hier angesprochene Aspekt
fällt unter den Oberbegriff bzw. in den Bereich der sozialen Kognition.
66
Lepsius, M. R. [Vorwort] zu ders. [Institutionen], S. 7
63
9. Während die strukturelle Dynamik der Verhaltensmodifikationen menschlicher
Individuen mittels bestimmter lerntheoretischer Hypothesen zu beschreiben und zu
erklären ist, ist die Metamorphose sozialer Institutionen, auch und gerade dann, wenn
diese als Sozialisationsagenturen fungieren, nicht mittels lerntheoretischer Hypothesen
beschreibbar und erklärbar: Institutionen lernen nicht, weil Institutionen sich nicht
verhalten (können), folglich auch keine Verhaltensmodifikationen aufweisen
(können). Aber das ist auch sowieso klar: Institutionen sind die sozialen Bedingungen
der Möglichkeit für Sozialisationsprozesse, können aber natürlich nicht selbst
„sozialisiert“ werden. Doch wir müssen hier sogar noch einen Schritt weiter gehen:
Institutionen verhalten sich nicht und sie handeln auch nicht, eine Aussage, die
natürlich auch für soziale Gruppen gilt, woraus folgt, dass es streng genommen auch
nur eine metaphorische Bedeutung für die Ausdrücke „Gruppenerwartungen“,
„gesellschaftliche Erwartungen“ etc. geben kann, was, wie wir sehen werden, wichtig
für die systematische Verwendung des Rollenbegriffs sein wird. Wird beispielsweise
eine Institution als Erwartungskomplex „definiert“, so kann eine solche Definition nur
metaphorischen Charakter haben. Damit aber ist zehntens klar:
10. Die Menge derjenigen Theorien, mittels derer wir soziale Tatbestände zu beschreiben
und zu erklären versuchen, zerlegt sich erschöpfend in mindestens zwei Teiltheorien
(ob und wie diese wiederum sich weiter zerlegen lassen, mag hier zunächst einmal
völlig offen bleiben): In Lerntheorien, die sich auf die Verhaltensmodifikationen von
(humanen) Individuen beziehen, und in Institutionentheorien, die sich auf soziale
Systeme beziehen, deren Struktur (und Dynamik) wesentlich rollenbegrifflich
beschreibbar bzw. erklärbar ist. Und damit ist, unter der Voraussetzung, dass ja auch
menschliche Wesen – und letztendlich eben nur diese – bestimmte „Rollen spielen“,
elftens klar:
11. Das rollenbegriffliche Arsenal fungiert, da rollenadäquates und rollendiskrepantes
Verhalten beobachtbar ist, als „Brückenvokabular“ zum einen bei der Beschreibung
und Erklärung von sozialen Institutionen und deren Dynamik, zum anderen bei der
Beschreibung von individuellen Verhaltensweisen und deren Modifikationen.
Allerdings muss dafür sowohl die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“
als
auch
die
entsprechende
lerntheoretische
Idealtypologie
rollenbegrifflich
„angereichert“ werden, denn wie wir sehen werden, designiert das rollentheoretische
begriffliche Arsenal ganz bestimmte Verhaltensmuster: Diebstahl z. B. ist zugleich ein
ganz bestimmter institutioneller bzw. institutionell definierter sozialer Tatbestand und
64
ein Verhaltensmuster. Und dasselbe gilt für den „Dieb“ bzw. für die Verhaltensweise
des „Stehlens“: Ein Individuum kann das „Stehlen“ lernen, identifiziert sich also,
indem es die sozial „vorgestanzte“ Position des Diebes einnimmt, – zumindest
zeitweise – mit der Rolle des Diebes, wofür in unserer Gesellschaft mittels ganz
bestimmter hypothetisch gefasster Normen ganz bestimmte Sanktionen angedroht
werden. Der entscheidende Punkt jedoch hierbei ist der folgende: Damit sich ein
Individuum überhaupt mit einer bestimmten sozialstrukturell „vorausgestanzten“
Position identifizieren kann, muss es erstens zuvor ein Individuum geworden sein,
was im Rahmen derjenigen Institution geschieht, die wir „Familie“ nennen (werden)
und es müssen zweitens natürlich solche „sozialstrukturell vorausgestanzte“ Positionen
mit ganz bestimmten, diesen jeweils bereits objektiv zugeordneten Rollen vorhanden
sein, mit denen sich ein solches Individuum überhaupt identifizieren kann. Es ergibt
sich mithin ein zwölfter Punkt, den die vorliegende Arbeit allerdings nicht behandeln
kann und den wir deshalb auch als Frage formulieren wollen:
12. Wie kommt sozialstruktureller Wandel zustande?
13. Das zuletzt angesprochene Problem ist ein Grundlagenproblem der gesamten sozialund kulturwissenschaftlichen Forschung, welches sich vom genuin soziologischen
Standpunkt
bemerkbar
macht
als
Frage
nach
dem
Verhältnis
zwischen
Makrosoziologie und Mikrosoziologie.
14. Das jedoch sind streng genommen eigentlich bereits inhaltliche Probleme. Wir sollten
uns jedoch, bevor wir auf solcherart Probleme zu sprechen kommen, der eingangs
gestellten Frage zuwenden, was denn wohl überhaupt eine empirisch falsifizierbare
Sozialisationstheorie ist bzw. sein könnte, von der wir in erster Linie ja erwarten, dass
sie uns etwas erklärt. Damit betreten wir das Gebiet der Methodik bzw. der
Methodologie, welches im übernächsten Abschnitt zu behandeln sein wird.
Wie erinnerlich, wurde anlässlich der Skizzierung des „Forschungsstandes“ in der Einleitung
an der Psychiatrie bzw. der Pädo-Psychiatrie ganz allgemein kritisiert, dass selbst beste
Lehrbücher praktisch überhaupt nicht – zumindest nicht in systematischer Form – auf die
Ergebnisse von Kleingruppenforschung und Sozialpsychologie bezugnehmen. Im nächsten
Abschnitt wird deshalb dieser Punkt zur Sprache kommen. Dabei wird auf das faszinierende
„Paradigma“ des sog. „symbolischen Interaktionsimus“ einzugehen sein. Zugleich soll damit
zumindest angedeutet werden, inwiefern es vor allem wegen des Begriffs der
„Kommunikativen Kompetenz“ (Habermas) für eine grundbegriffliche Ergänzung der
65
Weberschen „Sozialanthropologie“ des Blicks insbesondere auf die Strykersche Präsentation
des „symbolischen Interaktionismus“ bedarf. Dies ist erforderlich, ansonsten nämlich würden
die
in
den
Abschnitten
II.
7.
3.
und
II.
7.
4.
zur
Sprache
kommenden
sozialisationstheoretischen Konsequenzen der Weberschen „Rationalitätsargumentation“
gewissermaßen „in der Luft hängen“ bleiben.
2.
Die
sozialanthropologische
Grundlage
der
Humanwissenschaften:
Verstehende Soziologie und symbolischer Interaktionismus
In sehr vielen Arbeiten zur Methodologie der systematischen Gesellschaftswissenschaften
wird im vorangegangenen Abschnitt aus methodischen Gründen notwendige Unterscheidung
zwischen einer „Soziologie“, die sich mit dem sozialen Handeln um des Aufbaus einer
allgemeinen Theorie der gesellschaftlichen Institutionen (Theorie von Rollensystemen) willen
bemüht, und einer „Psychologie“, die sich mit den elementaren Voraussetzungen,
Bedingungen und Strukturen des individuellen Verhaltens befasst zu wenig beachtet, und
deshalb der Fehler gemacht, die „Sozialpsychologie“ als eine Wissenschaft anzusehen, die
lediglich eine „Mixtur“ von Soziologie und Psychologie darstelle.
Gewiss ist das Feld der Sozialpsychologie die Kleingruppenforschung, die, wie ja auch bei
Redlich und Freedman nachzulesen, das eigentliche Bezugsfeld für die Erforschung der
Mentalerkrankungen ist. Vor allem die experimentelle Kleingruppenforschung, wie sie in der
Mannheimer Schule in Deutschland sich etabliert hat, hat in diesem Sinne ganz erstaunliche
theoriekonstruierende Arbeit geleistet.67 Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass sie auf ein
reichhaltiges Forschungsfeld hat zurückgreifen können, welches in den 30er, 40er und 50er
Jahren in den USA erfolgreich „beackert“ worden ist.68
67
Vgl. vor allem die Arbeit die Arbeiten von M. Irle und seiner Schule, wie sie in den [Lehrbücher]n zur
Sozialpsychologie vorliegen.
68
Wie die beiden schon zu „Klassikern“ gewordenen Aufsätze von Carl F. Graumann [Sozialpsychologie]
bzw. [Kommunikation] belegen, ist die Sozialpsychologie dasjenige Forschungsgebiet, auf dem sich Soziologie
und Psychologie wohl am intensivsten berühren, wenn nicht gar sich überschneiden. Sie ist als „experimentelle
Kleingruppenforschung“ sozusagen das paradigmatische Belegfeld für die Ausarbeitung einer allgemeinen
Sozialisationstheorie, in deren Zentrum das Identitätsproblem steht.
66
Eine Variante, auf die es mir an dieser Stelle vor allen Dingen ankommt, ist die sog.
„Chicago-Schule“, die unter dem Sammelbegriff „symbolischer Interaktionismus“ bekannt
geworden ist. Der Einfachheit halber beziehe ich mich auf die Arbeit von Sheldon Stryker,
der den Versuch unternommen hat, die Grundannahmen des „symbolischen Interaktionismus“
in einigen strengen Lehrsätzen zusammenzufassen.
Wie Stryker deutlich gemacht hat – und ausschließlich in dieser Hinsicht ist er an dieser
Stelle für mich interessant – ist der symbolische Interaktionismus nicht lediglich ein anderer
theoretischer
Erklärungsansatz
sozialisationstheoretische
der
Neuorientierung
Modelle,
für
er
entwicklungspsychologische
stellt
vielmehr
Gesellschaftswissenschaften
ein
als
oder
sozialpsychologische
durchaus
eigenständiges
humanwissenschaftliches Paradigma dar, welches, wie ich meine, die Webersche
„Begriffslehre des sozialen Handelns“ vorzüglich ergänzt.
In der vorliegenden Arbeit geht es darum, genau dieses „Paradigma“ mit der Weberschen
Handlungssoziologie zusammenzuschließen, dass sich daraus eine empirisch gehaltvolle
Sozialisationstheorie „ableiten“ lässt. Dafür wird es nötig sein, die Strykerschen
„Grundannahmen“ genauso idealtypisch zu formulieren, wie wir es in den späteren
Abschnitten zum einen mit der Freudschen Psychoanalyse zum anderen mit dem Weberschen
Handlungsmodell (Rationalitätskataloge) tun werden.
Meine in Anlehnung an die Strykerschen Überlegungen entwickelte These ist, dass es sich bei
dem „symbolischen Interaktionismus“ ebenso wie bei der Weberschen Handlungskonzeption
um ein anthropologisches Modell handelt, welches die Fachwissenschaften der Soziologie
und der Psychologie gleichermaßen „umgreift“. Während jedoch Webers Argumentation sehr
viel stärker sozial-strukturell (z.B. rollensystematisch) ausgerichtet ist, ist das Modell des
„symbolischen Interaktionismus“ wesentlich stärker sozialpsychologisch und damit im
Prinzip,
d.h.
vom „Grundansatz“
her,
auch
sozialisationstheoretisch
ausgerichtet.
Sozialpsychologie erscheint so als diejenige Disziplin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat,
die
anthropologische
Grundlage
der
gesellschaftswissenschaftlichen
Forschung
verhaltenstheoretisch zu formulieren und zugleich dabei auch auf ganz bestimmte
mikrosoziale Aspekte des gesellschaftlichen Geschehens zu achten, die rollenstrukturell
beschreibbar sind.
Ausgangspunkt der Betrachtung ist, wie bei Weber auch, die Grundeinsicht des
„symbolischen Interaktionismus“, dass sich der Mensch als eine Kategorie sui generis
qualitativ und prinzipiell von allen Formen der höher entwickelten Organismen unterscheidet
67
und dass folglich eine andere (Fach-)Sprache nötig ist, um diesem Tatbestand auch
wissenschaftlich Rechnung tragen zu können.
Bei Weber heißt es: „Menschliches (»äußeres« oder »inneres«) Verhalten zeigt sowohl
Zusammenhänge wir Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen. Was aber,
wenigstens im vollen Sinne, nur menschlichem Verhalten eignet, sind Zusammenhänge und
Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist.“69
Bei Stryker wird, genau diesen Gedanken präzisierend, darauf aufmerksam gemacht, dass der
Mensch und nur der Mensch – genau dies unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen
sowohl in den Interaktions- als auch Kommunikationsformen – über das Instrument der
Sprache verfügt, woraus zunächst einmal logisch folgt: Die zugestandenermaßen sehr
komplizierten Kommunikationsformen der Bienen z.B. aber auch die sprachähnlichen
Kommunikationsformen der Primaten oder der Delphine, sind per definitionem nicht
„Sprache“. „Sprache“ ist vielmehr dasjenige „System von Zeichen“70, welches als soziale
Institution“ (Saussure) das „Zusammenhandeln“ (Max Weber) menschlicher Individuen von
dem Kollektivhandeln aller anderen Lebewesen unterscheidet.
Schließen wir diese beiden Ansichten zusammen, so ergibt sich als erster Satz für eine
mögliche
Integration
der
Weberschen
„Verstehenslehre“
mit
dem
„symbolischen
Interaktionismus“:
1. Menschliches (»äußeres« oder »inneres«) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wir
Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen, weil aber der Mensch und nur der
Mensch
über
das
Instrument
der
Sprache
verfügt,
eignen
seinem
Verhalten
Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist.
Und ziehen wir nunmehr die obige Webersche „Soziologiedefinition“ hinzu, so ergibt sich
als zweiter Satz für eine mögliche Integration der Weberschen „Verstehenslehre“ mit dem
„symbolischen Interaktionismus“:
2. Das soziale Handeln menschlicher Individuen welches seinem von dem oder den
Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird, und daran in
seinem Ablauf orientiert ist, ist deshalb deutend verstehbar und genau dadurch in seinem
69
Weber [Kategorienaufsatz] S. 427
70
Saussure, vgl. hierzu die beiden Magisterarbeiten von Marina Demetriou [Morgue] und Eleni Liousi
[Kompetenzbegriff], die im Rahmen unserer Forschungsgruppe vor vier Jahren angefertigt worden sind.
68
Ablauf wie in seinen Wirkungen ursächlich erklärbar, weil es wesentlich sprachlich
organisiert ist, woraus der folgenden dritte Satz für eine mögliche Integration der Weberschen
„Verstehenslehre“ mit dem „symbolischen Interaktionsimus“ logisch folgt, nämlich:
3. Soziologie und Linguistik bilden eine Komplementareinheit, denn virtuell sind menschliche
Formen
des
Gemeinschaftslebens
Gesprächsvergemeinschaftungen.
Oder
anders
ausgedrückt: Idealtypologisch lässt sich, da aus diesem Blickwinkel die Sprache als
(humanspezifische) Basisinstitution aufgefasst werden muss, welche die Kernstruktur
sozialen Handelns überhaupt ausmacht, jedwede humanspezifische Interaktions- und
Kommunikationsformen als Gespräch im Gadamerschen Sinne deuten.
Und hieraus wiederum folgt logisch der vierte Satz für eine mögliche Integration von
„Verstehenslehre“ und „symbolischem Interaktionismus“.
4. Die Fähigkeit sprachlich zu kommunizieren ist die unabdingbare Voraussetzung für
soziales Handeln im strengen Weberschen Sinne, wodurch, wie ich finde, das
Habermassche Konstrukt der „Kommunikativen Kompetenz“ genau diejenige präzise
Bedeutung bekommt, die es bislang nicht hatte. In Abschnitt II. 5. 4. wird auf diesen Aspekt
aller empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorien zurückzukommen sein.
Schauen wir uns unter diesem Blickwinkel die Strykersche Argumentation an, so sind es vier
Grundannahmen, die das Paradigma des „Sozialbehaviorismus“ der Chicagoer-Schule
ausmachen und die für unser hier verfolgtes Vorhaben interessant sind:
Die erste Annahme ist die gegen den (radikalen) Behaviorismus gerichtete These, dass der
Mensch mit den Mitteln der Tierpsychologie wie auch mit den Mitteln der
naturwissenschaftlichen Medizin nicht komplex genug erfasst werden kann.71 Methodisch ist
dies also eine radikal antireduktionistische These, welche besagt, dass das menschliche
Verhalten qualitativ etwas anderes ist, als selbst das Verhalten der Primaten. Der Mensch ist
also nicht nur ein in quantitativer Hinsicht gesteigertes und komplexeres Primatengeschöpf, er
71
Zu dem Versuch, auch „Bewusstseinsprobleme“ im Bezugsrahmen des „klassischen“ – sprich: des
radikalen – Behaviorismus zu erfassen, vgl. die allerdings noch sehr stark philosophisch gehaltene Untersuchung
bestimmter ausgewählter Texte von Watson und Skinner, die meine Kollegin Marija Mitrov jetzt vorgelegt hat:
Die sog. „Naturalisierung des Bewusstseins“ – Ein philosophisches Problem? Versuch einer philosophischen
Analyse des klassischen behavioristischen Paradigmas. Auf die Diskussion und den Ergebnissen dieser Arbeit in
den Aprilsitzungen 2005 stütze ich mich hier.
69
ist vielmehr auch qualitativ different, eben weil er ein „Kulturmensch“ im Weberschen Sinne
ist, d.h. „begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und
ihr einen Sinn zu verleihen“72:
„Die Theorie [des symbolischen Interaktionismus] nimmt [deshalb] ihren Ausgang von der
antireduktionistischen Annahme, dass der Mensch auf seiner eigenen Basis erforscht werden
muss. Da der Mensch [und nur er, die] Befähigung zu komplexen symbolischen Produkten
hat [sich also im Weberschen Sinne „subjektiv sinnhaft verhalten“ kann] und die Speicherung
solcher Produkte ihn von anderen Lebensformen unterscheidet, folgt daraus, dass nicht all
sein Verhalten durch Prinzipien erklärt werden kann, die man bei der Erforschung der anderen
Lebensformen gewonnen hat.“73
Erklärungsbedürftig wäre in dem hier gemeinten Sinne z.B. der Tatbestand, dass es
ausschließlich der Menschenart gelungen ist, Kultur hervorzubringen und zu entwickeln,
jenes komplexe rollenstrukturell beschreibbare Lebenssystem also, welches der Freudschen
„Definition“ zufolge „zwei Seiten [umfasst]“, nämlich: „einerseits all das Wissen und
Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihr
Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits alle die
[rollenstrukturell organisierten] Einrichtungen [die Systeme der sozialen Kontrolle also], die
notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung
der erreichbaren Güter zu regeln.“74
Die zweite Annahme folgt logisch aus der ersten und ist – wir sehen hier ganz deutlich das
„Soziologieaxiom“ Emile Durkheims, – gegen die „Psychologie des Individuums“ gerichtet:
Um menschliches Verhalten wirklich wissenschaftlich verstehen zu können, muss man von
„der Gesellschaft“ als einer „Gegebenheit an sich“ ausgehen, was im Sinne unserer
Ausführungen über die Sozialtheorien bzw. das Gesellschaftsbild bedeutet, dass das Prädikat
„Individuum“
selbst
ein
sprachliches,
mithin
also
ein
kulturelles
72
Produkt
der
Weber [Objektivitätsaufsatz] passim. Wir müssen jedoch diesen Satz ein wenig anders formulieren, wollen
wir das, was er für eine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie bedeuten könnte, wirklich zum Ausdruck
bringen: Dem Menschen und nur dem Menschen eignet, weil er über das Instrument der „Sprache“ verfügt, die
Kompetenz, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Nur aus diesem Blickwinkel
werden wir dann nämlich die Berechtigung haben, das Konstrukt der „Kommunikativen Kompetenz“ zum
Grundbegriff der Sozialisationstheorie zu machen. Vgl. hierzu das Tafelbild im Abschnitt II. 8. 2.
73
74
Stryker [Interaktionismus] S.53. Hervorhebungen mittels Kursive durch mich Ch. K.
Freud [Illusion]
70
„gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ ist.75 Der Begriff des „Individuums“
bezeichnet eine von der menschlichen Sprachgemeinschaft erzeugte Konstruktion, ein
kategoriales Klassifikationsschema also, und diese Kategorie wird so von vorneherein in der
Theorie des „symbolischen Interaktionismus“ gefasst:
„Die Theorie [des symbolischen Interaktionismus] nimmt ferner an, dass der fruchtbarste
Weg zu einem wissenschaftlichen Verständnis des menschlichen Verhaltens über eine
Analyse der Gesellschaft führt.“ Und er „hält ..... daran fest, dass jedes denkbare Individuum
in eine bestehende ..... Kultur [bzw. in ein vorausdefiniertes Rollensystem] hineingeboren
wird. Statt eine metaphysische Priorität der Gesellschaft vor dem Individuum oder umgekehrt
zu behaupten, umgeht der „symbolische Interaktionismus“ diese philosophische Frage
dadurch, dass er seine Analyse [ebenso wie Max Weber] mit dem sozialen Handeln beginnt
und daraus sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft ableitet. Auf diese Weise sorgt
er für eine klare Soziologie und Sozialpsychologie: Die erstere beginnt mit dem sozialen
Handeln und baut darauf auf bis zur Gesellschaft; die letztere beginnt ebenfalls mit dem
sozialen Handeln und arbeitet in die andere Richtung, nämlich in Richtung auf das
Individuum.“76
Zu erinnern ist hierbei zunächst einmal an die oben erwähnte „kulturwissenschaftliche
Faustregel“,
welche
besagt,
dass
man
„die
psychologische
Dimension
des
Gesellschaftsgeschehens, die Art und Weise also, wie Menschen denken, fühlen und handeln,
dann und nur dann im Hinblick auf bestimmte Ereigniskonstellationen, um deren Erklärung es
uns geht, kausal relevant gewichten [kann], wenn zuvor in relativer Reingestalt die
institutionelle Dynamik des Geschehens, welche die Bedingungen der Möglichkeit des
denkens, fühlens und handelns der Menschen beinhalten, hinreichend aufgehellt worden
ist.“77
Man sieht, dass die Grunddefinition wie auch das paradigmatische Belegstück des
intentionalen Handelns für die Differenzierung dieses Modells in der Weberschen Soziologie
auf dasselbe hinauslaufen wie im symbolischen Interaktionismus: Gegenstand der
75
Dies eine, wie ich finde, recht treffende Formel, die Berger und Luckmann geprägt haben und die
mittlerweile zur Standardformel der Soziologie geworden ist.
76
Stryker [Interaktionismus] S.53. Hervorhebungen mittels Kursive durch Ch. K.
77
Vgl. hierzu weiter oben die Fußnote 40
71
Menschenwissenschaften sind Wesen, die, weil sie kommunikativ (sprachlich) kompetent,
mithin also auch zu subjektiv sinnhaftem Verhalten fähig sind, die etwas wollen können, und
die bezüglich dessen, was sie wollen können, eben Mittel anwenden können, von denen sie
glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie wollen, geeignet sind. Sie handeln, insofern
sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, als aktiv Handelnde, die gelernt haben (müssen),
dass es andere aktiv Handelnde gibt, die ebenfalls ihre Interessen verfolgen bzw. etwas
wollen, und die bezüglich dessen, was sie wollen, (gleichfalls) Mittel anwenden, von denen
sie glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie wollen, geeignet sind.
Es wird uns später nicht schwer fallen, wie ich glaube, dieses Grundmodell komplementären
rationalen Handelns rollensystematisch mit dem Gadamerschen Idealtypus des Gespräches in
Beziehung zu bringen.78 Unschwer zu sehen ist bereits an dieser Stelle, dass sowohl im
Weberschen Modell als auch hier bei Stryker mit der unausgesprochenen Prämisse operiert
wird, dass nur rationale „Individuen“ es sind, über deren komplementäres Normalhandeln
hierbei idealtypisch gesprochen wird. Diese zweite Grundannahme Strykers bildet für mich
die Legitimation, von einem anthropologischen Paradigma zu sprechen, wobei das
Weberschen Konstrukt des „sozialen Handelns“ zu einer wesentlich anthropologisch
gefassten Grundkategorie wird: Sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum seien, so
Stryker, aus dieser Grundkategorie „ableitbar“.
Wie wir sehen werden ist diese Unsicherheit in der Terminologie alles andere als zufällig.
Wie eine solche „Ableitung“ genau auszusehen hat, lasse ich an dieser Stelle zunächst einmal
völlig offen und weise lediglich auf den im nächsten Abschnitt zu behandelnden
methodologischen Vorbehalt hin. Natürlich ist weder das „Individuum“ noch „die
Gesellschaft“ aus irgendeiner
Kategorie „ableitbar“. Nur Sätze über das Verhalten von
Individuen und nur soziologisch-wissenschaftliche Sätze können irgendwie „ableitbar“ sein.
Und selbst dann, wenn wir diesen Punkt berücksichtigen, haben wir hier eine, wie ich glaube,
massive Ungereimtheit: Eine „Kategorie“ ist ein begriffliches Gebilde, nicht jedoch ein
möglicherweise wahres oder falsches Satzsystem. Nur Sätze jedoch können aus anderen
Sätzen abgeleitet werden. Im Zusammenhang mit unseren Überlegungen zur Methodenlehre
78
Vgl. den Abschnitt II. 5. 4., wo es um das Gadamersche Gesprächsmodell gehen wird. Wie in der
Einleitung bereits gesagt müssen „Individuum“ und „Gespräch“ zusammen als ein idealtypologisches Gefüge
konstruiert werden, damit man die in der sozialen Realität vorfindlichen Abweichungen nach Maßgabe von
„Rationalität“ und „Irrationalität“ in ein Ordnungszusammenhang bringen können.
72
des „Idealtypus“ im nächsten Abschnitt, werden wir hierzu dann allerdings einiges zu sagen
haben.
Wie auch immer – diese „Ungereimtheit“ scheint mir ausräumbar, so dass die (prinzipielle)
Geltung der Strykerschen „Grundannahmen“ wohl nicht in Frage steht.
Sozialpsychologie wird jedenfalls so bereits von ihren Grundvoraussetzungen her zur
Basiswissenschaft für die Soziologie wie für die Psychologie. Allerdings muss man sich die
Frage vorlegen, was das letztenendes bedeutet. Es handelt sich, die Soziologie einerseits die
Psychologie andererseits betreffend, um zwei Sichtweisen auf dasselbe Grundphänomen
„Mensch“.79 Später werden wir dann sehen, dass es sich bei diesem begrifflichen Gebilde um
ein idealtypisches Konstrukt handelt, mit dem wir sowohl in der Soziologie als auch in den
Verhaltenswissenschaften operieren müssen.80
Von unschätzbarer Wichtigkeit ist sodann die dritte Annahme Strykers, ermöglicht sie doch
eine überraschende Re-Interpretation derjenigen Textabschnitte, die wir anlässlich einer etwas
genaueren Interpretation des „Redlich/Freedman“ zu behandeln haben. Denn ich sagte ja, dass
man darauf rechnen müsse, begrifflich scharf zwischen „Handeln“ und „Verhalten“ zu
unterscheiden. Diese dritte Annahme definiert den Menschen sowohl als einen aktiv
Handelnden als auch als einen auf eine bereits bestehende sozialstrukturierte Welt
Reagierenden. Mit anderen Worten: Der Mensch reagiert auf eine soziale Umwelt, die sich
ihm von Anbeginn seines Lebens an, – nämlich im Bezugsrahmen des familialen Interaktionsund Kommunikationsgefüges – als ein kategorial vermitteltes Symbolsystem darbietet,
welches rollenstrukturell „immer schon“ seiner Daseinsform vorausliegt und er handelt
subjektiv sinnhaft. Denn eines dieser rollensystemisch strukturierten Symbolsysteme ist eben
die „Familie“, die, wie wir einleitend behauptet haben, die primordiale Sozialisationsphase
und damit die Identitätsbildung bestimmt. Menschen reagieren jedoch nicht nur „quasireflexologisch“, Menschen sind vielmehr Wesen, die von Anbeginn ihres Lebens an mit
Phantasie begabt ihre spezifischen Reaktionen kreativ zu handhaben wissen.81 Wohlgemerkt:
79
Vgl. weiter oben die Fußnote 43
80
Vgl. hierzu die Ausführungen in II. 7. 2., sowie die Argumentation in Abschnitt II. 8.
81
Wie wir alle in der „Dossenheimer Forschungsgruppe es tun, hat auch meine Kollegin Dietlinde Michael
versucht, die Pädagogik streng handlungssoziologisch zu konzipieren. Und in diesem Zusammenhang hat sie
auch versucht, eine streng sozialstrukturelle Beschreibung der sog. „pädagogischen Grundsituation“ zu geben,
was Gegenstand einer Kontroverse geworden ist. Der eigentliche prekäre Punkt ist hierbei der Kreativitätsaspekt,
der, wie ich meine, nur handlungssoziologisch deutlich gemacht werden kann. Er folgt nämlich aus der
komplementären Interaktion des von Frau Michael entwickelten Lehr-Lernmodells. Die Verknüpfung dieser
73
Nicht die Individuen sind es in dieser strengen Sprechweise, vielmehr sind es die
menschlichen Wesen als menschliche Wesen. Um diesen Gedanken jedoch präzisieren zu
können bedarf es einer anderen Lerntheorie als der des strengen Behaviorismus oder
derjenigen der kognitiven Psychologie. Dass der Mensch in diesem Sinne sowohl Handelnder
als auch Reagierender ist, dass er nicht auf die Umwelt als einer bloß physikalischen
Gegebenheit, sondern auf eine Umwelt antwortet, wie sie symbolisch vermittelt, normal ist, ist
von ausschlaggebender Bedeutung: „Da [nämlich] die Menschen auf symbolische Umwelten
reagieren und die Menschen ihre eigenen Symbole produzieren, kann der Mensch sich also
selbst stimulieren.“82 Psychoanalytisch gefasst aber heißt das: Der Mensch kann Traumwelten
erschaffen, die selbst wiederum sein „Realhandeln“ beeinflussen. Und die Psychoanalyse
fragt ja nicht nur danach, ob und wie sich eine realitätsfugative Verhaltensweise in solchen
Traumwelten verliert – bei Freud sind das die halluzinatorischen Psychosen – sondern auch
und gerade nach dem funktionalen Stellenwert des Phantasie- und Traumverhaltens dafür,
dass „normales“ Sozialverhalten sich vollziehen kann. Insofern ist die Psychoanalyse ein
Forschungsprogramm, welches seine Aufmerksamkeit ganz allgemein auf diejenigen
Bedingungen richtet, die sowohl für sozialkompetentes rationales Verhalten, als auch für eine
Ätiologie pathologischer Formen des Verhaltens verantwortlich zu machen sind.83 Von daher
richtet sich unser Blick ganz automatisch auf jene familialstrukturellen Bedingungen, welche
die primordialen Sozialisations- und Enkulturationsprozesse bestimmen.
Überlegung mit der „Zeigehandlung“ des „ästhetischen Sensibilisierens“ – dies die Grundthese von Frau
Michael – steht dabei nicht in Frage. Nur ist eben derjenige, welcher „sensibilisiert“ wird dem Handlungsmodell
zufolge auf gar keinen Fall passiv. Wie weit sich dieser Aspekt klären lassen wird muss abgewartet werden. Ich
meine jedoch, dass dieser zentrale Punkt der handlungssoziologischen Grundsätze auf gar keinen Fall
suspendierbar ist, folgt er doch logisch, – ganz gleich ob sich diese These mit unserem umgangssprachlichen
Verständnis des „Lernens“ verträgt oder nicht: Wenn man die pädagogische Grundsituation als paradigmatisches
Belegstück für die Komplementarstruktur für „Pädagoge und Pädagogant“ (D. Michael) auffasst und dabei auf
das Handlungsmodell rekurriert, dann ergibt sich zwingend, dass nicht nur das „Lehren“, sondern auch das
„Lernen“ als ein aktives Handeln aufgefasst werden muss. Wie man anhand einer texthermeneutischen
Feinanalyse des Freudschen Fragments über die „Zwei Prinzipien“ sehen kann – eine Interpretation genau dieser
Stelle war der Streitpunkt –, lässt sich nur so auch die „Kreativitätsstruktur“ derjenigen Lernphase
herausarbeiten, die das frühkindliche Lernen bestimmt. Mit Porath bin ich der Überzeugung, dass die von
Chompsky in enger Anlehnung an die Sprachphilosophie W.v.Humboldt’s vorgetragene These bezüglich der
„Kreativität des Sprachgebrauchs“ nahtlos hier eingefügt werden kann. Ein früherer Schüler von Porath, Rainer
Ostermann, hatte in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation über W.v.Humboldt [Freiheit des Individuums]
genau diese These erstmalig auf das Gebiet der Politologie „angewandt“ und überzeigend zeigen können, dass
nur so der prekäre „Freiheitsbegriff“ sich empirifizieren lässt (vgl. hierzu auch die Bemerkungen im
Forschungsantrag).
82
Stryker [Interaktionismus] S. 53f Hervorhebungen mittels Kursive durch mich - Ch.K.
83
Vgl. hierzu insgesamt den Abschnitt II. 6.
74
Die vierte Annahme schließlich grenzt die Sozialpsychologie des „symbolischen
Interaktionismus“
konsequent
gegenüber
ganz
bestimmten
anthropologischen
Grundannahmen der Psychoanalyse ab, die auch uns, zumindest in einer Hinsicht, verdächtig
sind. Sie betrifft sehr stark den in den Freudschen Schriften begegnenden „Hobbesianismus“.
Dieser nämlich scheint mir eine „Denkblockade“ gegenüber einer möglichen soziologischen
Verfeinerung der Psychoanalyse zu sein, worauf in der vorliegenden Arbeit einzugehen
jedoch nicht der Ort ist. An dieser Stelle halte ich lediglich fest:
Weil der Mensch ein mit Sprache bereits biologisch ausgestattetes Wesen ist, wird er geboren
weder als ein soziales noch als ein anti-soziales Wesen, wie es einige Textstellen des
Freudschen Werkes nahelegen.84 Stryker stellt zu Recht fest: „Letztlich nimmt die Theorie
noch an, dass die Menschen weder sozial noch anti-sozial geboren werden, sondern vielmehr
a-sozial. Das Kind ist kein geborener „Mensch“, obwohl es die Fähigkeiten besitzt, Mensch
zu werden. Es wird dies durch den Erwerb eines Selbst im Kontext der Interaktion mit
anderen.“85
Übersetzen wir:
Das Kind ist zwar sehr wohl zu möglichem „Mensch sein“ geboren, denn es ist philogenetisch
ein Mensch, besitzt mithin die Fähigkeit zu subjektiv sinnhaftem Verhalten, dennoch bedarf es
der Sozialisation, um ein „Kulturmensch“ im Weberschen Sinne zu werden, d.h. „begabt mit
der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu
verleihen“.
84
Ich denke hier insbesondere an die Ausführungen Freuds in [Unbehagen] zu der grundsätzlich barbarischen
Natur, welche jedes Neugeborene sozusagen „von sich aus“ mit auf die Welt bringe.
85
Stryker [Interaktionismus] S. 53f. Hervorhebungen mittels Kursive durch mich Ch. K; mittels
Unterstreichung durch den Autor.
75
3. Methodische Probleme und Probleme der Methodologie: Texthermeneutik,
Begriffsanalyse und ein wissenschaftstheoretischer Thesenkatalog
3.1. Allgemeines
Das der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende „Material“ sind nicht die sozialen,
psychiatrischen, psychologischen oder biologischen Tatbestände als solche, wie sie dem
Sozialforscher, dem Psychiater, dem Psychologen, dem Arzt oder dem Biologen
„vorgegeben“ sind, sondern Texte bzw. die in diesen Texten anzutreffenden Begriffe und
Aussagen.
Die vorliegende Arbeit ist in erster Linie der Begriffsklärung und der (möglichen)
Theoriekonstruktion gewidmet. Es geht um die Rekonstruktion der Bedeutungsgehalte ganz
bestimmter Begriffe, mit dem Ziel, einer auch für die Praxis relevanten Theoriebildung einen
Zugang zu verschaffen, wobei die Frage nach den Konstruktionsprinzipien einer
(allgemeinen) Theorie des Sozialisationsgeschehens im Mittelpunkt steht. Insofern und nur
insofern handelt es sich bei der hier vorgelegten Arbeit um eine „geisteswissenschaftliche“,
genauer: kulturwissenschaftliche, und versteht sich auch nur in diesem Sinne als ein Beitrag
zu einem interdisziplinären Diskurs über z.T. brennende Probleme der klinischen Praxis und
der Sozialpolitik, wie Max Weber sie verstanden hat. Es bedarf deshalb an dieser Stelle
einiger mehr methodisch-erkenntnistheoretischer Bemerkungen, die das Umgehen mit
bestimmten Texten betreffen: Bemerkungen zur Texthermeneutik eben. Darüber hinaus werde
ich Gelegenheit nehmen, meine wissenschaftstheoretische Grundposition zu dokumentieren,
die wie bereits in der Einleitung („Relevanz“) erwähnt, alles andere als eine traditionell
geisteswissenschaftliche ist.
Mein methodisches Vorgehen zerfällt in zwei Teile:
1. Textanalyse (methodisch ausgewiesen als Hermeneutik, genauer: Texthermeneutik )
2. Begriffsanalyse
Die Reihenfolge ist nicht unwichtig. Die fraglichen Begriffe nämlich finden sich in einem
kaum noch überschaubaren Textmaterial, welches sich grob einteilen lässt in psychiatrischmedizinisches, soziologisches, psychologisches und sozialpsychologisches. Methodisch ergibt
sich also hier zunächst einmal das Problem der Auswahl der Texte.
76
Auf die schwierigen methodologischen Probleme, die in dieser „Methodik“ angesprochen
sind, kann ich in der vorliegenden Arbeit nur in ganz grober Form eingehen, und dies obwohl
sie, wie sich später noch sehr viel deutlicher herauskristallisieren wird, derzeitig die eigentlich
wichtigen sind. An dieser Stelle mache ich in diesem Zusammenhang – und dies
notgedrungen lediglich thesenartig – auf ein zentrales Problem aufmerksam, zu dessen
(möglicher) Lösung ich zwar beitragen, welches zur allgemeinen Zufriedenheit zu lösen mir
jedoch versagt bleiben muss. Es ist tatsächlich so, wie einleitend betont: Die vorliegende
Arbeit möchte einen Beitrag für mögliche Lösungen in den Raum stellen und ist von daher,
wie derzeitig kaum eine andere auf Widerspruch, Kritik und eine entsprechende
wissenschaftliche Diskurskultur86 vital angewiesen. Das zentrale methodologische Problem,
um welches es hierbei geht, betrifft, da es die Frage nach der integrativen Vernetzbarkeit
divergenter wissenschaftlicher Theoriegebilde betrifft, immer zugleich auch die Frage der
integrativen Vernetzbarkeit divergenter Paradigmen:
Die Psychoanalyse ist dem Selbstverständnis ihres Begründers zufolge als strenge
Naturwissenschaft konzipiert worden, zu deren Fundamentalannahmen das Prinzip des
methodologischen Determinismus gehört, wie weiter unten noch explizit hervorzuheben sein
wird. Die Theorie des sozialen Handelns hingegen ist bekanntlich ein Produkt der
„Verstehenssoziologie“, einer Kulturwissenschaft also. Hier besteht die Gefahr der
notorischen Konfundierung von Begriffen, Hypothesen und Theorien die unterschiedlichen
Paradigmen angehören.87 Es besteht also die Gefahr eines Selbstwiderspruchs in den
theoretischen Grundannahmen. Mein „Erklärungsmodell“ hätte dann in genau dem Sinne
keinen
empirischen
Gehalt,
in
welchem
es
einleitend
der
Resch‘schen
„Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters“ vorgeworfen wurde: Aus
einem in sich widerspruchsvollen Konglomerat von Grundannahmen können keine empirisch
falsifizierbare Hypothesen abgeleitet werden.88 Nur mittels dieser jedoch lassen sich echte
86
Vgl. hierzu die Ausführungen zur Gadamerschen Idealtypologie des „Gespräches“ in Abschnitt II. 5. 4.
87
Einer Gefahr, die wie in der einleitenden Skizzierung des „Forschungsstandes“ bereits betont,
beispielsweise das Resch’sche Lehrbuch erlegen ist. Diesem ist es nicht gelungen, zwei verschiedene
Theoriegebilde desselben (lerntheoretischen) Paradigmas zu einer halbwegs methodisch homogenen Einheit zu
„integrieren“: Die Grundannahmen von Wygotski und Piaget im selben Theoriegebäude angesiedelt produzieren
einen Selbstwiderspruch, was offenkundig die Autoren noch nicht einmal bemerkt haben.
88
Wie wir in Abschnitt II. 8. sehen werden, lassen sich tatsächlich einige Beziehungen zwischen den
„Bedeutungssegmenten“ des Konstrukts der „Kommunikativen Kompetenz“, wie wir es im letzten Abschnitt
entwickelt haben, als empirisch falsifizierbare Hypothesen deuten. Man wird jedoch zugleich auch sehen, dass
dies nur deshalb überhaupt möglich ist, weil sich, wie in Abschnitt II. 2. dargelegt, die Weberschen
77
Kausalerklärungen formulieren. Wenn also tatsächlich bislang keine wirkliche Ätiologie der
Erkrankungen des sog. „schizophrenen Formenkreises“ hat ausgearbeitet werden können, wie
seitens der psychiatrischen Fachwelt glaubwürdig versichert wird, dann bedeutet das in einer
streng wissenschaftstheoretischen Sprache: Wir verfügen bislang nicht über eine empirisch
hinreichend gut validierte Menge von Hypothesen, die uns eine Erklärung für das Auftreten
von „Schizophrenie“ zu liefern imstande wären, weil wir diese Hypothesen nicht zu in sich
widerspruchsfreien Theoriekonstruktionen ausarbeiten können. Und in einer ebenfalls streng
wissenschaftlich konzipierten soziologischen Sprache formuliert heißt das: Es gibt bislang
keine hinreichend präzise empirisch validierte Sozialisationstheorie, in deren Rahmen
diejenigen Terme, die sich auf die sog. „abnormen“ Formen abweichenden Sozialverhaltens
beziehen könnten, eine hinreichend präzise Bedeutung haben. Die Schwäche der hierzu
einschlägigen
Theorien
spiegelt
sich
wieder
in
einer
z.T.
unerträglichen
(anthropomorphistischen) Metaphorik der die betreffenden Phänomene designierenden
Begrifflichkeit(en), was, wie man nunmehr sieht, alles andere als ein Zufall ist.
Zu dem hier angesprochenen grundsätzlichen erkenntnistheoretischem Problem – ich habe
sie eingangs als „methodologische Doppelfrage“ umschrieben – möchte ich an dieser Stelle
einen Thesenkatalog vorstellen, der die wissenschaftstheoretische Begrifflichkeit, mit der ich
arbeiten werde und die ich bislang auch später als selbstverständlich voraussetzen werde,
erläutern soll. Eingehender erläutern werde ich das nachstehend vorgestellte methodologische
Thesengerüst sodann in dem Abschnitt II. 5. der sich mit dem „Wissenschaftscharakter“ der
Soziologie befasst. Dort insbesondere wird sodann auch das vielumstrittene „DN-Schema
einer wissenschaftlichen Erklärung“ zu erläutern sein, welches sehr vielen Missverständnissen
ausgesetzt zu sein pflegt, deren „Ausräumung“ mir aus einem ganz bestimmten Grunde sehr
am Herzen liegt: Die Postulatorik des „DN-Schemas einer wissenschaftlichen Erklärung“
steht nicht wie fast immer behauptet wird, im Widerspruch zu den (hermeneutischen)
Prinzipien der Weberschen „Verstehenssoziologie“. Sie beinhaltet vielmehr eine wesentliche
Präzisierung der von Max Weber selbst ins Zentrum seiner Forschungen gestellten
Grundannahmen zur „Verstehenslehre“ integrativ mit den Strykerschen Grundannahmen zum „symbolischen
Interaktionismus“ vernetzen und mit dem Gadamerschen „Gespräch“ in Beziehung bringen lassen. Das soziolinguistische Modell, welches wie in Abschnitt II. 2. erhielten, genügt nämlich dem
Widerspruchsfreiheitspostulat, was ja keineswegs selbstverständlich ist: Ein „Modell“ ist wie jedes
idealtypologische Konstrukt ein wesentlich begriffliches Gebilde und kann sich dann und nur dann auch als
erklärungsrelevant bewähren, wenn empirisch falsifizierbare Hypothesen abgeleitet werden können, die sich
dann natürlich auch nicht widersprechen dürfen. Nur aus diesem Grunde können wir es nämlich auch wagen, den
in Abschnitt II. 8. gestarteten Versuch als (ersten) Entwurf zu einer möglichen empirisch falsifizierbaren
Sozialisationstheorie aufzufassen.
78
Wertfreiheits- und Objektivitätsforderung. Ist aber dies einmal akzeptiert, so ergeben sich
sehr weitreichende Konsequenzen für das Ineinanderspiel von streng empirischer
Grundlagenforschung und Anwendung: Eine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie,
zu deren Ausarbeitung in der hier vorgelegten Arbeit ja lediglich die ersten Schritte
vorgeschlagen werden sollen, bildet dann tatsächlich den eigentlichen kognitiven Hintergrund
für eine mögliche Ätiologie der Mentalerkrankungen.
In genau diesem Sinne ist auch mein nachstehend vorgestellter Thesenkatalog zu
verstehen, welcher mithin eine Position umreißt, die die in dieser Arbeit sozusagen „in
Permanenz“ zu erörternden methodologischen Probleme zuordbar machen. Die vorliegende
Arbeit hat nicht den Ehrgeiz wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung zu betreiben.
Sie verwendet, in dem sie sich hierbei vor allem auf die im bereits mehrfach erwähnten
[Forschungsantrag]
vorgetragenen
Ergebnisse
der
historisch-sozialwissenschaftlichen
Grundlagenforschung des „Dossenheimer Arbeitskreises“ stützt, vielmehr selektiv ganz
bestimmte Forschungsergebnisse der wissenschaftstheoretischen Analyse und listet zunächst
einmal ganz unprätentiös einige feststehende wissenschaftslogische Begrifflichkeiten sowie
einige mit diesen assoziierte Problemklassen auf, sodass sich die folgende „Wenn-DannAussage“ ergibt:
Wenn das in dieser Arbeit entfaltete Plädoyer für eine wesentlich sozialisationstheoretisch
fundierte Ätiologie der sog. „Geistes- und Gemütserkrankungen“ auch nur einigermaßen
plausibek erscheint, dann muss bei der „Inangriffnahme“ der Ausarbeitung eines solchen
Forschungsprogramms erstens mit dem Instrumentarium der nachstehend aufgelisteten
Begrifflichkeiten operiert und zweitens mit genau denjenigen (methodologischen)
Detailproblemen gerechnet werden, die ich in dem nachstehenden „Thesenkatalog“
anspreche. Vorweg sei es mir gestattet, in diesem Sinne zwei mir sehr wichtig erscheinende
Passagen
zu
zitieren,
in
denen
prinzipiell
Stellung
genommen
wird
zur
„Grundlagenproblemlage in den Kulturwissenschaften“, wie auch ich selbst sie verstehe. Die
erste stammt aus dem Begleitpapier zu einem Hauptseminar, welches seinerzeit als
Einführungskurs in das „kulturwissenschaftliche Denken und Forschen“ am „Germanistischen
Seminar“ der Universität Heidelberg abgehalten wurde, und die zweite stammt aus einem
Vortrag, der direkt im Anschluss an dieses Seminar auf dem „Wind-Kongress“ in Berlin zu
79
genau dem selben Thema gehalten wurde und der sich expressis verbis mit dem Problem der
Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Integration befasst89:
Erste Passage:
„Das Seminar mit dem Arbeitstitel "Der kulturtheoretische Ansatz Edgar Winds" ist ein
Forschungsseminar und hat als ein solches Forschungsseminar zugleich eine
Orientierungsfunktion hinsichtlich dessen, was in den späteren Semestern geplant ist und
fortgeführt werden soll. Das bedeutet, daß an Hand eines ganz bestimmten – methodologisch
sensibilisierten – kulturwissenschaftlichen Ansatzes, nämlich desjenigen E. Winds, Positionen
erarbeitet werden sollen, welche die Kontinuität weiterführender Fragestellungen zu sichern
imstande sind. In diesem Sinne ist das hier angebotene Seminar zugleich auch eine Einführung
in das kulturwissenschaftliche Reflektieren, welches in systematischerer Form in den
kommenden Semestern fortgeführt werden mag. Die weiter unten zu nennenden
Begleitlektürevorschläge dienen dieser Zielorientierung und sind ganz bewußt so ausgewählt
worden wie sie ausgewählt worden sind (vgl. hierzu beispielsweise die Bemerkungen zur
vierten Arbeitssitzung): Es soll sensibilisiert werden für die kulturwissenschaftliche Problemsituation überhaupt und es soll zugleich damit ein gewisses Basisvokabular vermittelt
werden, welches sinnvolles und problemorientiertes Diskutieren auf dem Felde der
kulturwissenschaftlichen Forschung gestattet. Mit dem Sammelausdruck "sinnvolles und
problemorientiertes Diskutieren" ist hier gemeint, daß für eine Diskurskultur plädiert wird, in
deren Rahmen Revisionen von Thesen sowie Umorientierungen von Arbeitsbegrifflichkeiten
möglich sind, ohne daß bestimmte basale Problemorientierungen dabei permanent in Frage
gestellt werden (müssen). Detailprobleme müssen kontrovers diskutabel sein, wobei jedoch die
jeweilige Relevanz bestimmter Thesen und Thesenrevisionen für die Ausgangsproblematik
kulturwissenschaftlichen Fragens immer hinreichend transparent gemacht werden muß (Vgl.
hierzu die Bemerkungen zur zweiten Arbeitssitzung). Und dies ist naturgemäß nur möglich,
wenn ein zumindest halbwegs semantisch homogenes Basisvokabular hat erarbeitet werden
können: An Hand der im engeren Sinne "wissenschaftstheoretischen Literatur" (sie ist in der
Literaturliste jeweils mit dem Kürzel "meth." ausgezeichnet) sollte am Ende des Semesters
zumindest in Ansätzen klar geworden sein, worüber man eigentlich genau genommen spricht,
89
Hierzu nur informativ: Das im Wintersemester 1995/96 am Germanistischen Seminar der Universität
Heidelberg von Porath und den Privatdozenten Buschendorf/Buschendorf abgehaltene Hauptseminar mit dem
Titel „Der kulturwissenschaftliche Ansatz Edgar Winds“ stellte seinerzeit den ersten Versuch dar,
Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen sowohl der Naturwissenschaften (Physik) als auch der
Kulturwissenschaften (Geschichte, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Soziologie und Psychologie) in einer
gemeinsamen Lehrveranstaltung mit der ehrgeizigen Zielsetzung zu vereinigen, zugleich Grundlagenforschung
zu betreiben und junge Studierende in das „kulturwissenschaftliche“ wie „naturwissenschaftliche“ Denken und
Arbeiten einzuführen. Die von Bernhard Buschendorf und Porath zu einem gemeinsamen Vortrag verarbeiteten
Ergebnisse dieses „Forschungsseminars“ sind dann im Februar 1996 von Porath auf einer (viertägigen) „Tagung
des Einstein-Forums“ in Berlin zu dem Thema „Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph“
Kulturwissenschaftlern aus dem deutschen, dem angelsächsischen und dem romanischen Sprachraum
(University of Oxford, TU-Berlin, University of Michigan, Humboldt-Universität, Uni Jena, Université de
Neuchâtel, University of Cambridge, University of Chicago, FU-Berlin, Vatican Library, University of Illinois,
Universität Düsseldorf, Norwich) vorgestellt worden, was noch Jahre später nachhaltigen Widerhall (Rom,
Warschau, Krakau) fand. Das Forschungsseminar war auf mehrere Semester hin angelegt und fand soviel
Anklang, dass man es im nachfolgenden Sommersemester in zwei (wöchentliche) Lehrveranstaltungen hätte
aufteilen müssen. Aus massiven Druck hin mussten dann jedoch die weiteren Veranstaltungen eingestellt
werden. Die jetzige „Forschungsgruppe Dossenheim“ ist aus diesem Seminar des WS 1995/96 hervorgegangen,
die beiden „Mitlehrenden“ von Porath sind mittlerweile professoriert. Die erste Passage wurde dem Porathschen
Seminarleitfaden, die zweite Passage dem Vortrag beim Einstein-Forum entnommen.
80
wenn von wissenschaftlichen "Erklärungen", von wissenschaftlichen
"Theorien", von
wissenschaftlichen "Gesetzen", von wissenschaftlichen "Hypothesen" von wissenschaftlichen
"Begriffen",
von
"Strukturen",
"Modellen",
"empirischen
Systemen",
"Interdependenzrelationen", "Idealtypus", "rationaler Rekonstruktion" usw. die Rede ist. Denn
wir wollen nicht nur herausbekommen, was ein kulturwissenschaftlicher Ansatz ist, sondern
auch, was ein kulturwissenschaftlicher Ansatz ist. Und wir wollen scharf unterscheiden lernen
zwischen der Klasse derjenigen Begriffe, die sich auf kulturelle Gegenstände oder Tatbestände
und Zusammenhänge beziehen, und der Klasse derjenigen Begriffe, die sich auf die Art und
Weise – den Modus also – beziehen, in der "in" den Kulturwissenschaften auf diese
"kulturellen" Tatbestände, Zusammenhänge oder Gegenstände bezuggenommen zu werden
pflegt. Die dazu relevanten Lektürevorschläge haben in erster Linie die Funktion, gedankliche
Disziplin einzuüben und eine entsprechende Diskurskultur pflegen zu lernen, bei der die in den
nichtnaturwissenschaftlichen Disziplinen mittlerweile endemisch gewordene narzistische
Spreizerei ebenso wie die dieser korrespondierende Blufferei ein wenig in den Hintergrund
treten kann. Das dergestalt mit den Lektürevorschlägen vermittelte begriffliche Arsenal soll
sozusagen den Grundstock auch dafür bilden, daß man lernt, die hier genannten Autoren zu
kritisieren.90 Denn der in diesem Zusammenhang entscheidende Punkt ist der folgende:
Forschung in den Kulturwissenschaften ist vornehmlich, wenn auch ganz gewiß nicht
ausschließlich, Sprachanalyse, und das Material solcherart Analysen umfaßt das gesamte
Spektrum sprachlich sedimentierter Imaginativformationen; der Bogen spannt sich von den
mimetisch-gestischen Formen des "schweigenden Sprechens" über die "musisch-ästhetischen"
bis hin zu den mathematisch-logischen Sprachformen. Dies ja lediglich ein anderer Ausdruck
für die im engeren Sinne "kulturelle" Dimension der "menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit" (Dilthey). Und in genau diesem Sinne ist es richtig, wenn einmal – so
sinngemäß – gesagt wurde: Den Kulturwissenschaften stehen weder das Mikroskop noch chemische Reagenzien zur Verfügung; die Abstraktionskraft muß beide ersetzen. Dem
Ungebildeten scheint sich die kulturwissenschaftliche Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten
herumzutreiben. Es handelt sich dabei in der Tat um Spitzfindigkeiten, aber nur so, wie es sich
in der mikrologischen Anatomie darum handelt. Bei näherem Besehen läßt sich die Sachlage
hierbei sogar noch wesentlich schärfer formulieren, wie uns scheint: Den Kulturwissenschaften
stehen nicht nur chemische Reagenzien und Mikroskop nicht zur Verfügung – die
Möglichkeiten der experimentellen Erprobung sind also zumindest gravierend beschränkt –,
auch das Paradigma der menschlichen Abstraktionskraft, die Verknüpfung von Logik und
Mathematik, hat bisher in einer dem naturwissenschaftlichen Prozedere vergleichbaren Form
nicht in das kulturwissenschaftliche Forschen Eingang finden können. Umso bedeutsamer sollte
eigentlich, wie uns scheint, die begriffliche Sorgfalt in unseren Wissenschaften sein.“
90
. Die Literaturvorschläge sind nach den folgenden Schwerpunkten gewichtet: 1. Wind-Warburg-Komplex;
2. Probleme der Emigrationsforschung; 3. Methodologische bzw.
wissenschaftstheoretische
Einführungsliteratur; 3 a. allgemein bzw. naturwiss. bezogen; 3 b. mehr kunstwiss. bzw. histor. bezogen (die
unter 3 a genannte Literatur soll in die moderne wissenschaftstheoretische Terminologie einführen; die Titel sind
mit dem Kürzel "meth." – für Methodologie – versehen und tragen eine Nummernfolge, die die empfohlene
Reihenfolge der Lektüre betrifft; unter 3 c. haben wir noch ein paar Titel angeführt, die unserer Auffassung nach
exemplarisch vorführen, wie handwerklich gute ikonographische Detailuntersuchungen aussehen könnten; bei
der Lektüre von Winds Arbeiten, die die Sitzungen 9, 11 und 12 betrifft, wird darauf dann ohnehin genauer
einzugehen sein; 4. Kulturwissenschaftliche Ansätze und forschungsprogrammatische Grundkonzeptionen.
Gelernt werden sollte jedenfalls – auch – an Hand dieser Titel, daß man denselben Autor unter einer sich
verändernden Fragestellung sehr unterschiedlich lesen und bearbeiten kann. Wir werden das Weitere hierzu noch
mündlich durchgehen.
81
Und zu dem ja auch in der „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ brennenden Problem der „Theorieund Wissenschaftsintegration“ hat Porath dann auf dem „Wind-Kongreß“ in Berlin die im
eigentlichen Sinne erkenntnistheoretische Dimensionierung der Frage nach der "Einheit der
Kulturwissenschaften" folgendermaßen zu umschreiben versucht:
Zweite Passage:
„Der Schwerpunkt unserer gemeinsamen Arbeiten, sofern sie sich mit den Problemen der
fachübergreifenden Frage nach der Einheit der Kulturwissenschaften befassen, lag und liegt auf
den im engeren Sinne begriffstheoretisch-methodologischen Segmenten der Schriften Edgar
Winds, eines in Vergessenheit geratenen und auch, wie der eine von uns beiden [gemeint war
hiermit Poraths Korreferent Prof. Buschendorf – Chr. Karnavou] vor einigen Jahren
nachzuweisen versucht hat, ausgesprochen verkannten Kunsthistorikers, der sich Zeit seines
Lebens darum bemüht hat, der Spezialisierung in den Kulturwissenschaften entgegenzuwirken.
Und dies aus systematischen Gründen heraus: Hält man an dem Wissenschaftsgedanken auch
auf dem Felde der Kunst-, Geschichts- und Sozialwissenschaften fest, so sind interdisziplinärer
Diskurs und kooperatives Herangehen an kulturwissenschaftliche Problemstellungen genauso
unabdingbar, wie in den strengen Naturwissenschaften. Nur so lassen sich fächerübergreifende
Fragestellungen avisieren und verfolgen. Und nur so lassen sich innerhalb der fachspezifischen
Detailforschungen relevante Problemstellungen von wissenschaftlichen Sackgassen
unterscheiden. [Hervorhebung durch mich – Chr. Karnavou]
Was Wind sehr früh gesehen hat, ist, daß eine allgemeine konsensfähige kulturwissenschaftliche Grundorientierung nicht zu leisten ist, wenn sich nicht fächerübergreifende
Fragestellungen herausbilden können, die das allen kulturwissenschaftlichen Interessen
Gemeinsame in ähnlicher Form dauerhaft thematisieren, wie das in den Naturwissenschaften
der Fall ist. Denn diese geben ja ein sinnenfälliges Beispiel dafür, daß bei aller notwendigen
Spezialisierung das fachspezifische Prozedere auf gemeinsame theoretische Orientierungen
bezogen bleibt, ja bleiben muß und auch bleiben kann: Bei aller Divergenz ist für den Physiker,
den Chemiker, den Biologen klar, daß man sich unter unterschiedlichem Blickwinkel und mit
unterschiedlicher Schwerpunktsetzung letztlich eben doch mit demselben "Gegenstand" befaßt:
der Natur. Deren Struktur gilt es zu erforschen, um sodann die – ja notwendig und immer nur
vorläufigen – Ergebnisse dieser Forschungen in möglichst allgemeinen, in sich
widerspruchsfreien und wahrheitsfähigen Propositionalgebilden "abzuspiegeln". Die
Naturwissenschaftler können dies deshalb, weil bei aller arbeitsteilig gebotenen Divergenz
bestimmte Prinzipien der naturwissenschaftlichen Methodik nicht zur Disposition stehen, weil
sich deshalb eine im Prinzip immer wieder homogenisierbare Sprache herausgebildet hat und
herausbilden konnte und weil sich aus diesem Grunde zumindest im Prinzip immer eine
Einigung erzielen läßt hinsichtlich der möglichen Strukturen des allen Naturwissenschaftlern
gemeinsamen Gegenstandes "Natur". Man sieht hier bei aller Spezialisierung letztlich immer
auch die Relevanz bestimmter Forschungsergebnisse für "die" naturwissenschaftliche
Forschung in ihrer Gesamtheit, und so konnten und können sich hinsichtlich der strukturellen
Zusammenhänge des "Natürlichen" Hypothesen formulieren lassen, die mittlerweile den Status
von "Gesetzen" erlangt haben und im Verlaufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte sodann
auch zu komplexen Theorien haben verarbeitet werden können, in denen sich die verschiedenen
Forschungsansätze und -ergebnisse in einem gemeinsamen Basisvokabular präsentieren lassen.
Die Bezugnahme auf den gemeinsamen Gegenstand hält so die forschungsmoralische
Grundorientierung lebendig, das in den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen
82
Erarbeitete methodisch zu homogenisieren. Es ist diese Bemühung, die letztlich das in den
Einzelwissenschaften ausmacht, was man die eigentliche "philosophische" – da
fächerübergreifende – Dimension nennen könnte und – wie wir meinen – auch nennen sollte.
Es ist eben diese Grundorientierung, die den "Kulturwissenschaftlern" weitgehend fehlt. Sie
fehlt nicht zuletzt deshalb, wie wir glauben, weil hier bestimmte wissenschaftliche Positionen
ein wesentlich höheres Ausmaß an Permeabilität gegenüber bestimmten weltanschaulichen
Positionen ausweisen, als das in den Naturwissenschaften der Fall ist, denen ja im Verlaufe ihrer
Geschichte ähnliche schmerzhafte Erfahrungen gleichfalls nicht erspart geblieben sind. Das soll
hier allerdings nicht in seinen moralischen Dimensionen diskutiert werden. Denn das Problem
liegt auf dem Felde der kulturwissenschaftlichen Forschung anders:
Es ist ein geistesgeschichtliches Faktum, daß die Kulturwissenschaften heute mehr denn je in
ein breit gefächertes Spektrum von Einzeldisziplinen zerfallen, die nicht durch eine alle diese
Einzeldisziplinen übergreifende Fragestellung zusammengehalten werden. Und es ist dieses
Faktum, mit dem man sich zunächst einmal auseinanderzusetzen hat: das Faktum der
kulturwissenschaftlichen Desintegration. Hierbei ist es aber, wie uns scheint, ziemlich müßig,
das zu bedauern oder anzuprangern oder aber aus der Not in trotziger Weise eine Tugend zu
machen, wie wir das ganz sinnfällig in den phänomenologischen, existenzialphilosophischen
und hermeneutischen Tradititonen unserer Fächer erleben können. Die methodologische
Diskussion insbesondere der kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung ist übervoll von
Klagen und Verteidigungen, und wir glauben nicht, daß es lohnenswert ist, diesem
Klagespektrum eine weitere Variante hinzuzufügen. Nach unserem Dafürhalten muß sich das
Problem auf einen zentralen Punkt bringen lassen, der sich mittels der folgenden Fragestellung
wiedergeben läßt:
Ist es prinzipiell möglich, auch in den sog. "Kulturwissenschaften", in denjenigen
Wissenschaften also, die sich mit dem mannigfaltigen Spektrum dessen zu befassen haben, was
dem Menschengeschlecht gemeinsam ist, ihre "kulturelle" Dimension nämlich, eine diese
"kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen" übergreifende Fragestellung zu erarbeiten, die in
ähnlicher Weise wie in den Naturwissenschaften zu entsprechenden übergreifenden "Theorien"
führen könnte, oder ist das prinzipiell unmöglich, weil sich der Gegenstandsbereich der
Kulturwissenschaften einer solchen "wissenschaftlichen Problemstellung" im strengen Sinne
entzieht?
Es ist klar, daß damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit die Frage rückt, was in diesem
Zusammenhang das Begriffsgefüge "kulturwissenschaftliche Theorie" eigentlich besagt – oder
genauer: eigentlich besagen kann. Und weiter: Was kann hier heißen: wissenschaftliche
Problemstellung? Was kann hier "Theorie" überhaupt heißen? Welches ist der
Gegenstandsbereich "Kultur" und was kann in diesem Zusammenhang "Kulturwissenschaft"
heißen? Vor allem aber wird damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit das Problem des
Verhältnisses zwischen dem Modus der kulturwissenschaftlichen Begriffskonstruktionen und
den Formen des empirischen Validierens der mittels dieser Begriffskonstruktionen gebildeten
Theorien und Hypothesen gerückt.
Es ergibt sich die folgende Alternative:
Entweder lassen sich die Kulturwissenschaften in genau demselben Sinne als Erfahrungswissenschaften stricto sensu konzipieren wie die Naturwissenschaften, so daß sie, wie
diese auch, zerfallend in konstruktiv-selektive Partialkonzeptualisierungen der "kulturellen
Wirklichkeit", in einem konsequent erfahrungswissenschaftlichen Sinne organisiert werden
können, oder aber das ist nicht der Fall, weil sich dann z. B. – dies wäre ja denkbar – nur relativ
83
triviale Bereiche der kulturellen Dimension der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit dem
wissenschaftlichen Zugriff erschließen, woraus folgt:
Zwar stellen die Kulturwissenschaften ebenso wie die Naturwissenschaften konstruktivselektive Partialkonzeptualisierungen der Wirklichkeit dar – denn diesem Kriterium genügt
trivialerweise eine Vielzahl anderer begrifflich präzisierter Kognitivgebilde –, jedoch
präsentieren sich ihre Propositionalgebilde (Hypothesen und Theorien) gerade nicht
vornehmlich wie in den strengen Naturwissenschaften im Assertionalmodus und ihre linguistischen Rahmenwerke erfahren keineswegs vornehmlich immer nur dann wesentliche
semantische Umorientierungen, wenn gegenstandskonstituierende empirische Hypothesen
effektiv falsifiziert worden sind. Denn das genau ist in den Naturwissenschaften der Fall.
Wesentliche semantische Umorientierungen erfahren die linguistischen Rahmenwerke der
Kulturwissenschaften demgegenüber vielmehr vornehmlich immer dann, wenn sich – aus
welchen Gründen auch immer – wesentliche kognitive Umorientierungen in den
Weltbildstrukturen sozialfigurativ verdichteter "Lebensformen" ergeben.
Wir können diese Fragestellung als die im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretische
Dimensionierung der Frage nach der "Einheit der Kulturwissenschaften" umschreiben. In dieser
Form war das Problem der kulturwissenschaftlichen Integration thematischer Schwerpunkt
dessen, was gemeinhin "Neukantianismus" genannt zu werden pflegt. Und in diesem Sinne
fragte Rickert auch nach den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" und
arbeitete zum Behufe einer erkenntnistheoretischen Antwort auf diese Frage eine ganz
bestimmte Begriffstheorie aus, die sodann in Cassirers "Substanzbegriff und Funktionsbegriff"
einer massiven Kritik unterzogen wurde.“
In diesem – forschungsprogrammatischen – Sinne nunmehr der nachstehende
„wissenschaftstheoretische Thesenkatalog“.
3. 2. Ein wissenschaftstheoretischer Thesenkatalog
1. Wissenschaften,
die
sich
der
griffigen
Formel
des
einstigen
Münchner
Erkenntnistheoretikers Wolfgang Stegmüller zufolge unter dem Oberbegriff der
„rationalen Formen der Wahrheitssuche“ zu einer Einheit zusammenfassen lassen,
zerlegen
sich
arbeitsteilig
in
normative
Wissenschaften
(Ästhetik,
Ethik,
Rechtswissenschaft), in formale Wissenschaften (Mathematik, Logik), in Erfahrungsbzw. Wirklichkeitswissenschaften und in sog. „angewandte Wissenschaften“.91 Vor
allem die Erfahrungswissenschaften sind es, die uns hier interessieren, liefern uns
diese doch in erster Linie diejenigen „Erkenntnisinstrumente“, mittels derer wir die
91
Vgl. hierzu das Tafelbild in dem Abschnitt II. 5. 1. und dessen Erläuterung.
84
natürliche wie soziale Welt, in der wir leben, rational durchzukonstruieren und
vernünftig umzugestalten im Stande sind, wobei wir im Zuge dieser vernunftgeleiteten
Tätigkeiten permanent Neues „an“ und „in“ unserer Welt entdecken bzw. zu
entdecken hoffen. Erkennen, Entdecken, wahrheitsfähig beschreiben, Erklären und
sinnvoll bzw. vernünftig verändern designieren gewissermaßen die Systemziele
wissenschaftlichen Handelns und dafür eben bedarf es ganz bestimmter Instrumente
oder auch Erkenntnisinstrumente. Diese „Erkenntnisinstrumente“ nennen wir
erfahrungswissenschaftliche Theorien.
2. Ehrfahrungswissenschaftliche Theorien (wie z.B. die Psychoanalyse), welche aus
allgemeinen Hypothesen bestehen, haben also vor allem die Aufgabe empirische
Tatbestände zu beschreiben und zu erklären. So diagnostiziert beispielsweise ein
Psychoanalytiker das Auftreten einer schweren Lähmung als konversionshysterisches
Syndrom
und
erklärt
dieses
mittels
der
Neurosentheorie,
indem
er
die
Erscheinungsform genau dieser Konversionshysterie – das ist die Art und Weise, wie
sich diese Konversionshysterie in dem beobachtbaren Verhalten des Patienten
manifestiert – ganz bestimmten Erlebniszusammenhängen in der frühen Kindheit des
Patienten bzw. der Patientin kausal zurechnet.92 Sein streng neurowissenschaftlich
kompetenter Kollege diagnostiziert hingegen den gleichen „Befund“ (Lähmung) im
Rahmen einer fachsprachlich gänzlich anders gearteten Ätiologie und liefert eine
entsprechend
anders
lautende
Erklärung.
Wichtig
scheint
mir
in
diesem
Zusammenhang zu sein, dass der Neurologe sich bei seiner Diagnose ganz sicher nicht
in demselben Umfang auf die historisch-genetische Methode stützt, wie sein mehr
psychoanalytisch
ausgebildeter
Kollege.
Interdisziplinäre
Forschung
hätte
zweifelsohne genau hierbei einen ganz anderen Stellenwert für die wirkliche
Aufklärung der Lähmungssymptomatik, als z.B. bei den Infektionskrankheiten. Sie
wäre, da hierbei notorisch Probleme der Hypothesen- und Theorieintegration auftreten
würden, wesentlich mit methodologischen Problemen befasst, denn die beiden in sehr
92
Es macht wie wir sehen werden, den methodologischen Sonderstatus genuin psychiatrischer „Theorie und
Praxis“ aus, dass sie anamnestisch immer einen (kausalen) Sinnbogen zu konstruieren genötigt ist zwischen hic
et nunc zu diagnostizierender Symptomlage eines Patienten und denjenigen Ereignisklassen, welche in der
frühen Kindheit die Erfahrungswelt dieses Patienten geprägt haben (könnten): Psychiatrie ist in genau diesem
Sinne strenge Geschichtsforschung. Vgl. hierzu demnächst: Porath, Psychiatrische Historik. Die
methodologischen Grundlagen der psychopathologischen Diagnostik, wo eine Interpretation der Ergebnisse der
von mir hier vorgelegten Arbeit vorgenommen werden wird.
85
stark voneinander abweichenden Sprachen verfassten Erklärungen dürften sich
letztendlich ja nicht widersprechen.
3. Eine wissenschaftliche Erklärung besteht darin, dass verschiedene empirische
Tatbestände in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden auf der Grundlage
streng allgemeiner Gesetzmäßigkeiten (in der Wissenschaftslehre „Hypothesen“
genannt). Das sog. „DN-Schema einer wissenschaftlichen Erklärung“, welches in
Gestalt eines „Modells“ diesen Tatbestand abzuspiegeln versucht, wird uns, wie
gesagt, weiter unten noch eingehender interessieren. An dieser Stelle halten wir
lediglich in apodiktischer Form fest: Tatbestände lassen sich dann und nur dann in
dem Sinne erklären, dass sie mit anderen Tatbeständen in ein Kausalzusammenhang
gebracht werden, wenn sie in Form einer Satzmenge beschrieben worden sind, die sich
aus einer anderen Satzmenge ableiten lässt, die selbst wiederum in zwei Teilmengen
zerlegbar ist: in die Teilmenge derjenigen Sätze, welche die „Anfangsbedingungen“
bzw. die „Randbedingungen“ des erklärungsbedürftigen Ereignisses beschreiben, und
in die Teilmenge derjenigen Sätze, die aus einer Menge nomologischer, das heißt:
gesetzesartiger Hypothesen bzw. einer Theorie besteht. Dieser Punkt ist deswegen von
Bedeutung, weil sich natürlich nicht „Tatbestände“ aus anderen Tatbeständen
„ableiten“ lassen: Nur Sätze lassen sich aus anderen Sätzen ableiten. Der Begriff der
„Erklärung“ bezieht sich also genaugenommen nicht auf „Tatbestände“ sondern auf
den Zusammenhang zwischen bestimmten Satzklassen. Näheres hierzu im
übernächsten Abschnitt, wo wir uns mit dem sog. „DN-Modell“ bzw. dem „HOModell“ auseinandersetzen werden.93
4. In den Humanwissenschaften ist der Begriff des „(sozialen) empirischen
Tatbestandes“ der Oberbegriff für zwei Klassen von Tatbeständen, die, weil sie
analytisch auseinander gehalten werden müssen, auch begrifflich geschieden werden
müssen: empirisch gesicherte jedoch nicht direkt beobachtbare sozialstrukturelle
Tatbestände und der direkten Beobachtung zugängliche Verhaltenstatbestände. Die
93
Wir erhalten damit so etwas wie eine „Funktionsdefinition“ für den Begriff des „Gesetzes“: Eine
erfahrungswissenschaftlich gut gestützte Hypothese fungiert als „Quasi-Algorythmus“, mittels dessen sich
bestimmte singuläre Satzklassen – das sind Satzklassen, die sich auf singuläre Tatbestände beziehen – aus
anderen singulären Satzklassen, die sich sozusagen auf die „Vorgeschichte“ des zu erklärenden Sachverhaltes
beziehen, ableiten lassen. Die als „Gesetz“ deklarierte „Hypothese“ erlaubt mithin den Blick in die
„Vergangenheit“. Doch das ist nicht alles. Sie erlaubt zugleich den Blick in die „Zukunft“, wie sich leicht
einsehen lässt: Mittels ihrer lässt sich ja auch „bei gegebener Sachlage“, die mittels einer Klasse von singulären
Sätzen beschreibbar ist, auf die Wahrheit einer – ebenfalls singulären – Satzklasse schließen, die einen
bestimmten Tatbestand in der Zukunft beschreibt.
86
Unterscheidung ist aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens lassen sich sehr oft
sozialstrukturelle
Tatbestände
in
der
Sprache
ausdrücken,
mittels
derer
Verhaltenstatbestände beschrieben zu werden pflegen, sodass genau dadurch
sozialstrukturelle Tatbestände, die sich nicht beobachten lassen, dennoch als empirisch
gesichert gelten können, und zweitens werfen manche prima facie „rein“ klinischdiagnostische Fragen in ätiologischer Hinsicht Probleme auf, die sich nur
sozialstrukturell und damit eben auch nur makrosoziologisch formulieren lassen. Zur
Verdeutlichung zwei Beispiele:
a) Die in der berühmten Durkheimschen „Selbstmordstudie“ behauptete
sozialstrukturelle
Korrelation
von
„Religionszugehörigkeit“
und
„Selbstmordrate“ lässt sich in eine Verhaltenssprache übersetzen, die es
gestattet, die in dieser Korrelation auftretenden theoretischen Begriffe so zu
operationalisieren, dass die entsprechende Korrelation als empirisch gesichert
gelten kann. So ist z.B. der als erklärungsbedürftig angesehene Tatbestand,
dass in Ländern mit vorwiegend protestantischer Religionszugehörigkeit die
Selbstmordrate
erstaunlich
hoch,
in
Ländern
mit
katholischer
Religionszugehörigkeit hingegen die Selbstmordrate erstaunlich niedrig ist,
mühelos in die Aussage übersetzbar, dass sich in den Ländern, in denen sehr
viele Katholiken leben, erstaunlich wenige Menschen suizidal verhalten. Es ist
nicht sehr schwierig, wie mir scheint, sich hierzu entsprechende medizinisch
relevante Beispiele auszudenken, und wie man sieht, verbessert sich dadurch
ganz automatisch die Präzision der hierbei in Frage kommenden Erklärungen.
Dies ist vor allem dann wichtig, wenn man, wie es ja der Regelfall ist, weitere
Variablen hierbei einzubeziehen gezwungen ist. Auf diese Weise kann nämlich
dass, was von vorneherein als erklärungsbedürftig keineswegs so klar ist,
wesentlich genauer formuliert werden. Auch hierfür ein Beispiel: Nehmen wir
an,
die
als
empirisch
gesichert
geltende
Korrelation
zwischen
Religionszugehörigkeit und Suizidaldisposition werde durch die weitere
Variable
„Tabakgenuss“
verzerrt,
sodass
die
jeweiligen
kausalen
Abhängigkeiten keineswegs mehr so eindeutig sind, wie es zunächst den
Anschein hat, dann wäre die „Übersetzbarkeit“ genau dieser sozialstrukturellen
Korrelationsaussage
in
entsprechende
Aussagen,
welche
die
Rauchgewohnheiten von Individuen einbeziehen, von sehr großer Bedeutung.
Nur so ließe sich nämlich dann eine zunächst einmal lediglich statistisch
87
gesicherte Korrelation in eine echte Kausalhypothese überführen, welche z.B.
wichtig
sein
könnte
Selbstmordgefährdeten.
für
die
Durch
therapeutische
diese
Betreuung
„Übersetzbarkeit“
von
könnten
kausalrelevante Tatbestände herausgearbeitet werden, welche durch die rein
sozialstrukturelle Fassung des Problems verborgen geblieben wären. Usw.
Usw. Ich brauche dies hier nicht weiter fortzusetzen.
b) Hierbei denke ich an die seinerzeit in dem von Kranz und Heinrich
herausgegebenen
Sammelband
„Schizophrenie
und
Umwelt“
zusammengestellten Befunde von Heinrich, J.H. Kretschmar, Chr. Kretschmar
und H. Fassl [Soziale Faktoren und klinische Befunde], Berner u. Naske
[Pathoplastische Faktoren], Deppe [Sozialökonomische Strukturen], Abholz,
Hippius u. Lange [Arbeitssituation] und Degkwitz u. Schulte [Sozialer Status],
in denen eine sehr hohe Korrelation nachzuweisen versucht worden ist
zwischen
Schichtenzugehörigkeit
und
ausgeprägter
Vulnerabilitätsdispopsition. Wie die anderen Arbeiten in diesem Sammelband
sodann nachzuweisen versucht haben, ergaben sich aus der Frage, ob sich
diese für eine eventuelle Ätiologie der sog. „Schizophrenien“ relevante
„Schichtenabhängigkeitsthese“ empirisch erhärten ließe oder nicht, erhebliche
Konsequenzen für die Diagnostik, Anamnese und Therapie: Während
klassisch-neurotische Vulnerabilitätsdispositionen mehr in den „bürgerlichen“
Sozialisationsmilieus anzutreffen seien, ließen sich – so wurde behauptet –
überproportional
psychotische
Vulnerabilitätsdispositionen
in
den
„klassischen“ Arbeiterschichten nachweisen. Diese erwiesen sich dann als
hartnäckig gesprächstherapieresistent.
Insbesondere dieser zuletzt genannte Punkt weist zurück auf die in dieser Arbeit
thematisierte Problematik, wie wir anhand des therapeutischen Mediums „Gespräch“
mühelos erkennen können. Mich interessiert natürlich nicht, ob und inwiefern sich die
seinerzeitigen Forschungen in der Folgezeit bewährt haben, zumal die Konstruktion
von Indikatoren für Schichtendifferenzen methodisch ohnehin ein Kapitel für sich ist.
An dieser Stelle kommt es mir vielmehr wesentlich auf die hier ja ins Auge springende
methodologische Problemlage an, welche mit dieser „Schichtenabhängigkeitsthese“
konnotiert ist: Ich will den notwendigen Zusammenhang zwischen genuin
empirischen, genuin theoretischen, genuin erkenntnistheoretischen und genuin
klinisch-therapeutischen Problemfeldern hervorheben, mit denen man unabdingbar
88
konfrontiert ist, soll sich „Grundlagenforschung“ fruchtbringend mit „Klinik“ zum
einen interdisziplinär-kooperativ zum anderen theorie-integrativ verbinden. Ich
wiederhole deshalb, was ich bereits im „Relevanzabschnitt“ des Einleitungskapitels
betont habe: Meine (grundsätzliche) Position in dieser Frage soll zumindest in
Ansätzen plausibel werden (können).
5. Zwischen sozialwissenschaftlichen Theorien und den sog. „Sozialtheorien“ muss,
wie insbesondere Lepsius und Topitsch nie müde geworden sind, zu betonen, scharf
unterschieden
werden.
Ich
erweitere
hier
das
zu
diesem
Problem
im
Einleitungsabschnitt („Forschungsstand“) bereits gesagte. Eine solche Unterscheidung
ist um so notwendiger, als in erkenntnistheoretischer bzw. erkenntnissoziologischer
Hinsicht
den
Sozialtheorien
dieselbe
Funktion
zukommt
wie
den
sozialwissenschaftlichen Theoriegebilden: Beiden eignen Erklärungs- und damit eben
auch Sinnstiftungsfunktionen, beide konstruieren Kausalzusammenhänge. Der
Unterschied ist ein erkenntnistheoretisch-methodologischer, kein ontologischer.
Sozialtheorien eignet eine direkte alltagspraktische Bedeutung, denn sie fungieren als
Systeme der sozialen Orientierung, wohingegen den sozialwissenschaftlichen
Theorien in reiner Form eine ausschließlich erkenntnisfunktionale Bedeutung
zukommt. Konsequent applikativ gewendet allerdings unterscheiden sie sich nicht
voneinander. Die Systeme der sozialen Kontrolle der sozialen Welt, in der wir leben,
beinhalten
beispielsweise
Sozialtheorien,
welche
personale
Identitäten
als
rollenübergreifende und positionenjenseitige Habitualprofile fingieren, wir jedoch als
Sozialwissenschaftler haben zu überprüfen, ob und inwiefern solche „Theorien“ auch
haltbar sind, und wir müssen Theorien konstruieren, welche streng wissenschaftlich zu
erklären imstande sind, warum sich manche Sozialtheorien im gesellschaftlichen
(Real-) Geschehen hartnäckig halten, obwohl sie mittlerweile aus wissenschaftlicher
Sicht als obsolet angesehen werden können müssen. Etwas schlagwortartig
ausgedrückt: Entschließen wir uns, bestimmte Theoriegebilde, seien diese nun
„wissenschaftlich“ oder „sozialpraktisch“, auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu
überprüfen, so müssen wir sie in Gestalt streng allgemeiner logisch kohärenter
Systeme von Allsätzen formulieren und behandeln sie so als sozialwissenschaftliche
Theorien, völlig unabhängig davon, wie primitiv sie auch gebaut sein mögen: Als
sozialtheoretisches Fragment ist die Formel „gleich und gleich gesellt sich gern“ eine
lebenspraktische Orientierungs[binsen?]weisheit, welche manchmal zutrifft oder auch
89
nicht, als sozialwissenschaftliches Theoriefragment hingegen ist sie, als streng
allgemeiner wahrheitsfähiger Allsatz gefasst, falsch.
6. In der kulturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, die seit dem Ende des 19.
Jahrhunderts durch die Kontroverse um die Frage nach der methodischen Einheit der
Erfahrungswissenschaften geprägt ist, werden von „geisteswissenschaftlicher“ Seite
zwei
Klassen
von
Erklärungen
unterschieden:
Funktionalerklärungen
und
Kausalerklärungen. Mit Redlich und Freedman und auf der Grundlage des
„Dossenheimer Forschungsprogramms“ bestreite ich die Berechtigung einer solchen
Unterscheidung.94 Wie zunächst einmal Nagel und sodann vor allem Stegmüller hat
zeigen können, lassen sich Funktionalerklärungen mittels bestimmter logischer
Operationen in strenge Kausalerklärungen umformen.
7. Gegenüber
einer
solchen
Unterscheidung
zwischen
Kausalerklärungen
und
Funktionalerklärungen muss allerdings auf eine andere Form der Unterscheidung
aufmerksam gemacht werden. Wir müssen scharf unterscheiden zwischen jener Klasse
von Erklärungen, die sich auf singuläre Tatbestände beziehen, und jener Klasse von
Erklärungen, die sich auf allgemeine Tatbestände beziehen, denn hier liegt der
eigentliche Kern des sog. „Integrationsproblems“. Es macht einen Unterschied aus, ob
man
die
von
Durkheim
beschriebene
Korrelation
„Selbstmordrate
und
Religionszugehörigkeit“ erklären möchte, oder ob man erklären möchte, dass und
warum sich ein ganz bestimmtes Individuum zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an
einem ganz bestimmten Ort umgebracht hat oder aber dass und warum sich sehr viele
Individuen, die einer ganz bestimmten Religion angehören, umgebracht haben. Trotz
der Bedeutungsüberschneidung, die hier auftritt, und trotz der weiter oben genannten
„Übersetzbarkeit“ sozialstruktureller Aussagen in „Verhaltensaussagen“ sind diese
beiden Aussagenklassen nicht in striktem Sinne „deckungsgleich“. Ob und inwiefern
sie es sind, ist – wie bei jeder Übersetzung, die das sog. „hermeneutische Kernproblem
der Deutung“ beinhaltet – ein Problem der Interpretation, ein Problem der
Texthermeneutik eben.95
94
Vgl. hierzu den Abschnitt II. 5. 6.
95
Wie die demnächst veröffentlichte Arbeit meiner Kollegin Tatjana Schaaf [Macbeth] sehr schön zeigt,
ergeben sich die hierbei relevanten Probleme der „Deutung“ und der „Interpretation“ vor allem bei den sog.
„Quellentextübersetzungen“, bei denen es ja in ganz besonderem Maße auf „Bedeutungstreue“ ankommt. Diese
ist bei Übersetzungen immer nur – und zwar aus prinzipiell methodische Gründen, die nicht durch
Übersetzervirtuosität kompensiert werden können – annähernd möglich. Denn es gilt ja die texthermeneutische
Grundregel: Jede Übersetzung ist in Wahrheit eine Interpretation.
90
8. Begriffe („Konzepte“, „Konstrukte“, „Termini“) sind, weil sie die wesentlichen
Bestandteile von Hypothesen sind, zugleich auch die wesentlichen Bestandteile von
Theorien.
Bildet
man
mit
diesen
Begriffen
(Identität,
Identitätskrise,
Identitätsdiffusion, Familie, Rollenstruktur, Delinquenz, abweichendes Verhalten,
soziale Kontrolle etc.) allgemeine Aussagen, dann ergeben sich die wesentlichen Sätze
einer Theorie, Hypothesen genannt, mit deren Hilfe sich empirische Tatbestände
beschreiben und erklären lassen. Eine erfahrungswissenschaftliche Theorie ist idealiter
ein widerspruchsfreies System von logisch zusammenhängenden Aussagen/Sätzen.
9. Der entscheidende Punkt um den es in diesem Zusammenhang hier geht ist der
folgende: Begriffe als solche können nicht „wahr“ oder „falsch“ sein, dies können nur
die aussageartigen Hypothesen. Ebenso wie der Begriff der Ableitung oder der der
Erklärung nur Sinn macht in bezug auf Aussagen bzw. auf Sätze, machen auch die
Begriffe „wahr“ und „falsch“ nur Sinn in bezug auf Sätze und Satzklassen. Dies zu
betonen ist mir ganz besonders wichtig, weil sehr viele Arbeiten, die sich auf die sog.
„emotiven“ Aspekte des primordialen Sozialisationsgeschehens beziehen, mit einer
anthropomorphistisch-metaphorischen Begrifflichkeit operieren, ohne dass der
Versuch gemacht wird, diese Begrifflichkeit in scharfe Begriffskonstruktionen zu
transformieren und mittels dieser sodann explanative Aussagen zu formulieren. Denn
Begriffskonstruktionen bzw. die sog. „Idealtypen“ können zwar niemals „wahr“ oder
„falsch“
sein,
jedoch
können
sich
Begriffe
für
die
Konstruktion
von
Aussagensystemen („Theorien“) mehr oder weniger gut eignen. Ob dies freilich der
Fall ist, ist erst dann entscheidbar, wenn die Bedeutung dieser Begriffe hinreichend
klar gemacht worden ist und sodann mittels dieser „scharfen“ Begriffe die Aussagen
einer Theorie formuliert worden sind, oder auch: wenn die mit Hilfe bestimmter
Begriffe gebildeten Hypothesen zu einer Theorie zusammengestellt worden sind. Dies
zu entscheiden ist gleichwohl ein manchmal sehr mühseliges Geschäft, wie wir
anhand der jeweiligen Interpretation der in Abschnitt II. 8. 2. vorgestellten
„Rationalitätskataloge“ sehen werden. Es ergibt sich mithin: Theorien können
unterschiedlich gut empirische Zusammenhänge erfassen, beschreiben und erklären.
Und ein Kriterium ist eben in diesem Zusammenhang das weiter unten zu behandelnde
Kriterium der scharfen Begrifflichkeit.
10. Das hier ja vorläufig nur sehr grob angesprochene „Begriffsproblem“ beinhaltet sehr
viele methodologisch nach wie vor extrem fragwürdige Facetten, wie wir vornehmlich
in den weiter unten behandelnden „Rationalitätskatalogen“ sehen werden. Eine dieser
91
Facetten betrifft das Verhältnis zwischen klassifikatorischen begrifflichen Schemata,
wie
wir
sie
anhand
der
„Tafelbilder“
kennenlernen
werden,
und
den
Komparativierungen von Begriffen, welche notwendig werden, wenn entschieden
werden soll, ob es sich bei einer bestimmten „Aussage“ um eine „Definition“, eine
„Arbeitsdefinition“, ein „idealtypisches Konstrukt“, um eine „Grundannahme“ oder
aber um eine wahrheitsfähige empirisch falsifizierbare Hypothese handelt bzw.
handeln soll: Komparativierungen von klassifikatorischen Begriffen und begrifflichen
Schemata sind die notwendigen Voraussetzungen dafür, dass die fraglichen Begriffe
in operative Begriffe umgewandelt werden können, und dies wiederum ist
umabdingbar für die Gewinnung empirisch falsifizierbarer Hypothesen, welche ja die
„tragenden Teile“ von Theorien bilden, mittels derer Kausalzusammenhänge
beschrieben und erklärt werden sollen. Und der für uns hier ins Zentrum gestellte
entscheidende Aspekt genau dieser Problematik lässt sich nunmehr in einer
apodiktischen methodologischen Grundaussage formulieren: Es ist prinzipiell
ausgeschlossen, eine Ätiologie irgendeiner Mentalerkrankung entwickeln zu wollen,
die nicht auf einer ganz bestimmten empirisch falsifizierbaren Theorie des
Sozialisationsgeschehens beruht woraus sich trivialerweise ergibt: Sage mir, wie
Deine Sozialisationstheorie aussieht, und ich sage Dir, wie viel Deine Ätiologie, Deine
Anamnestik, Deine Diagnostik und Deine Prognostik taugt. Ich lege entschiedenen
Wert darauf festzuhalten, dass ich genau diese Aussage, als die eigentliche
Grundaussage jedweder Sozio-Psychiatrie verstanden wissen will, die es sich zum
Anliegen macht, psychosoziale Medizin als ein Forschungsprogramm etablieren zu
wollen.
11. Auf ein sehr schwieriges wissenschaftstheoretisches Problem, welches indirekt mit der
idealtypologischen Methodik zusammenhängt und als bislang ungelöst aufgefasst
werden muss, muss an dieser Stelle zumindest hingewiesen werden, steht es doch
ebenfalls in einem sehr engen Zusammenhang mit dem „Integrationsproblem“. Es
betrifft die Relation zwischen der Basalterminologie einer Erfahrungswissenschaft und
den mittels dieser Basalterminologie gebildeten Hypothesen- und Theoriensystemen:
Obwohl strikt daran festgehalten werden muss, dass nicht die begrifflichen Gebilde
einer Wissenschaft als solche, sondern nur die mittels derselben formulierten
Hypothesen oder Theorien „wahr“ oder „falsch“ sein können, eignet ganz bestimmten
begrifflichen Konstruktionen – den sog. „Idealtypen“ nämlich – eine aussagenartige
(linguistische) Struktur: Ihr „Gehalt“ lässt sich in Form von streng allgemeinen
92
Allsätzen wiedergeben, jedoch eignet ihnen gerade nicht irgendein empirischer Gehalt.
Die Entscheidung, ob es sich bei einem bestimmten Gefüge von „Annahmen“ um eine
wesentlich begriffliche oder aber um eine wesentlich gesetzesartige Systematik
handelt, ist eine Interpretationsfrage, die sich, wie wir insbesondere, bei unserer Arbeit
an den „Rationalitätskatalogen“ sehen werden, nicht immer leicht entscheiden lässt.
Wir werden in der vorliegenden Arbeit deshalb dennoch immer wieder scharf zu
unterscheiden haben zwischen den „Grundannahmen“ einer Wissenschaft und ihren
„Haupthypothesen“: Erstere sind die explizit gemachten Voraussetzungen einer
Argumentationsstruktur
und
repräsentieren
in
den
jeweiligen
Wissenschaftskonzeptionen deren jeweils nichtfalsifizierbares begriffliches Gerüst,
welches sich in den Humanwissenschaften in der Regel auf ein bestimmtes
Menschenbild bezieht, letztere hingegen repräsentieren bestimmte, zu Theorien
„zusammengestellte“ empirisch falsifizierbare Mengen von Hypothesen.96
12. Ein damit zusammenhängendes weiteres sehr schwieriges wissenschaftstheoretisches
Problem ergibt sich, wenn man Begriffe und Hypothesen aus verschiedenen F a c h d i
s z i p l i n e n (Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie) zu neuen umfassenderen
Theoriegebilden zusammenzustellen versucht: Wie ja ganz besonders sinnfällig an der
Weberschen
„Soziologiedefinition“
abgelesen
werden
kann,
definiert
eine
Fachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich, so dass bei der Verknüpfung von
Termini verschiedener Fachdisziplinen nicht kompatible Wirklichkeitsbereiche zu
einer Einheit zusammengefasst zu werden drohen. Hier kommt sozusagen das in der
Wissenschaftslehre bislang nicht aufgeklärte Problem des Verhältnisses zwischen den
96
Das Problem der präzisen Unterscheidbarkeit zwischen (nicht falsifizierbaren) Grundannahmen und
eigentlichen Hypothesen, ist sozusagen ein „methodologischer Dauerbrenner“ aller texthermeneutisch
verfahrenden Arbeiten, denen es darum geht, den Erkenntnisgehalt und damit auch die noch gegenwärtig
aktuellen theoretischen wie empirischen Prinzipien z.B. einer klassischen philosophischen Abhandlung
herauszuarbeiten. Die Dissertation meines Kollegen Rainer Ostermann [Individuum], die sich mit der Frage
einer im Prinzip empiriefähigen Rekonstruktion der Freiheitsproblematik in den Staatsschriften W.v.Humboldt’s
befasst, belegt dies sinnfällig. Gravierende Bedeutung hat genau dieses Problem erlangt bei der Dissertation
[Weltbühne] meines Kollegen Christian Schönleben, der sich mit einer texthermeneutisch „korrekten“ Deutung
der berühmten „Vorwortstelle“ zu Marx’schen „Kritik der politischen Ökonomie“ abgeplagt hat. Hierzu sind ja
auch die politisch-praktischen Konsequenzen, die sich aus einer solchen „Klassiker-Exegese“ ergeben, ganz
besonders brisant. Porath ist der Auffassung, dass sich die hierbei aufgeworfene Problematik letztendlich nur
über den Umweg einer Deutungsmethode lösen lässt, die sich an der Feininterpretation sog. „paradigmatischer
Umorientierengen“ in der Evolution der modernen Naturwissenschaften „abarbeitet“. Vgl. hierzu die
entsprechenden Passagen im [Forschungsantrag].
93
idealtypologisch konstruierten Basalbegrifflichkeiten einer „Wissenschaft“ und den
mittels dieser Begrifflichkeiten erstellten falsifizierbaren Hypothesen „zum Schwur“.97
13. In der vorliegenden Arbeit versuche ich nun, Begriffe und Aussagen verschiedener
wissenschaftlicher Theorien so zusammenzustellen, dass sich vielleicht bessere
Formen der Erklärung von abweichendem Verhalten ergeben könnten. Dann und nur
dann nämlich lässt sich entsprechend Mut aufnehmen, um das hier ins Zentrum der
Aufmerksamkeit
gerückte
Problem
einer
psychiatrierelevanten
empirisch
falsifizierbaren Sozialisationstheorie endlich auch forschungspraktisch angehen zu
können. Aus diesem Grunde bin ich gezwungen meinen Anspruch einzuschränken:
Geprüft werden soll lediglich die prinzipielle Anwendbarkeit der mit der
Identitätsproblematik assoziierten Konzepte für eine mögliche Erhöhung der
Erklärungskraft bestehender Theorien abweichenden Verhaltens. Ich weise jedoch
expressis verbis darauf hin, dass dies tatsächlich nichts mehr als eine vorläufige
Notlösung sein kann. Damit will ich meine Arbeit nicht gegenüber Kritik
immunisieren. Ganz im Gegenteil: Vielleicht ergibt ja der Diskurs zu der in dieser
Arbeit entwickelten Thetik Ergebnisse, die uns weiterführen.
14. Ein bestimmter „Ansatz“ zu einer möglichen Lösung des hier ja vorläufig nur ganz
grob umschriebenen Problems der Theorieintegration liegt allerdings in jenem
faszinierenden Konzept vor, welches „symbolischer Interaktionismus“ genannt wird:
Insbesondere der Meadsche „Identitätsansatz“ scheint, obwohl bislang in empirischer
Hinsicht nicht gut genug präsentiert, dennoch die Möglichkeit zu enthalten,
Mikrosoziologie und Psychologie dergestalt „zusammenzubinden“, dass das in den
Punkten 9, 10, 11, 12 und 13 beschriebene wissenschaftstheoretische Problem in
dieser Form gar nicht auftritt. Ich habe deshalb weiter oben anlässlich der
Strykerschen Ergänzung der Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“, wo
tatsächlich Grundannahmen aus verschiedenen Paradigmata widerspruchsfrei haben
zusammengestellt werden können, genau diesen Gedanken Rechnung zu tragen
versucht.
15. Aus den in den zuletzt aufgelisteten Problempunkten sich ergebenden Gründen ist
deshalb der in vielen Untersuchungen gebräuchliche Begriff der „Einbindung“
97
Zu einer möglichen Lösung dieses Grundproblems der gesamten modernen Wissenschaftslehre vgl. den
Antrag zur Bewerbung für den kulturwissenschaftlichen Forschungspreis des Landes Nordrhein-Westfalen
[Forschungsantrag]. In Punkt 22 dieses „wissenschaftstheoretischen Thesenkatalogs“ komme ich hierauf noch
einmal zurück.
94
methodologisch extrem fragwürdig, da er nur metaphorische Bedeutung haben kann.
Und auch die Verwendung der Begriffe „Konzept“, „Theorie“, „Ansatz“, „Modell“
etc., erfolgt nachstehend nicht vollständig nach Maßgabe der Prinzipien der strengen
Wissenschaftslehre, die ja eine sich immer mehr spezialisierende und ihre
Begrifflichkeiten verfeinernde strenge Wissenschaft geworden ist. Jedoch bin ich, wie
bereits mehrfach betont, der Auffassung, dass eine jegliche wissenschaftliche
Abhandlung dergestalt durchstrukturiert sein sollte, dass damit gewissermaßen die
Karten auf den Tisch gelegt werden. Es kann dann nämlich geprüft werden, welchen
Anspruch eine Arbeit hat und ob dieser Anspruch bei der Durchführung der Arbeit
sich als gerechtfertigt erweist. In genau diesem Sinne verwende ich als
„Erkenntnisinventar“ die hier aufgeführten Begrifflichkeiten („Theorie“, „Hypothese“,
„Erklärung“, „Prognose“ etc.) und achte lediglich darauf, dass sich nichts falsches
einschleicht. Auf die z.T. exorbitant schwierigen wissenschaftstheoretischen
Nachfolgerprobleme, die sich aus meiner hier vorgetragenen „Thetik“ ergeben, kann
ich, da mir für deren Detailbearbeitung ganz einfach die entsprechende Kompetenz
fehlt, nur immer wieder hinweisen.
16. Es
sind
mithin
– zusammenfassend
gesagt
–
vornehmlich
drei
prekäre
Problembereiche aus der sog. „strengen“ Wissenschaftslehre, auf die hier zumindest
hingewiesen werden muss, weil sie die Semantik der bisher entwickelten
wissenschaftstheoretischen Begrifflichkeiten je nach „Forschungsposition“ spezifisch
einfärbt: Erstens das nach wie vor nicht geklärte Problem des Verhältnisses von
„Verstehen“ und „Erklären“, zweitens das sog. „Integrationsproblem“, repräsentiert
vor allem durch die Frage, ob das „Reduzierbarkeitsprogramm“ der in der strengen
Wissenschaftslehre erarbeiteten „Erklärungsproblematik“ haltbar ist oder nicht, und
drittens die Frage nach dem Verhältnis zwischen den sog. „theoretischen Begriffen“
und den „Beobachtungsbegriffen“.
17. Bezüglich des ersten und des zweiten Problems kann die vorliegende Arbeit, wie
bereits mehrfach hervorgehoben, nur indirekt Stellung nehmen bzw. zu deren
möglicher Lösung etwas beitragen, während bezüglich des dritten Problems sich ein
etwas anderer Sachverhalt ergibt, der aus der hier favorisierten Stellung der sog.
„Rollentheorie“ resultiert: Devianz ist beobachtbar und sowohl behavioral als auch
„rollenverbal“ beschreibbar. Ja noch mehr: Ein sehr großer Teil der z. B. von Freud
mitgeteilten Verhaltensauffälligkeiten tritt in ganz bestimmten rollenstrukturell präzise
beschreibbaren Handlungskonfigurationen auf. Man denke nur an die dem Publikum
95
auffällig
werdenden
Fehlleistungen
in
ganz
bestimmten
Kommunikativkonfigurationen. Deshalb gilt:
18. Es muss zumindest analytisch scharf unterschieden werden zwischen Begriffen, die
sich auf „Beobachtbares“ beziehen, und Begriffen, die sich auf prinzipiell nicht
Beobachtbares beziehen, ein Postulat, welches völlig unabhängig von der
Schwierigkeit gilt, dass sich im Einzelfall eine solche Unterscheidung auch immer
faktisch durchführen und demonstrieren lässt. Also:
19. Zentral: Die in der Freud’schen „Psychopathologie des Alltagslebens“ analysierten
„Fehl- und Symptomhandlungen“ sind behavioral beschreibbar, und indem man die
jeweiligen Handlungskontexte berücksichtigt, in denen sie auftreten, sind sie
rollenstrukturell identifizierbar. Aus genau diesem Grunde liefert die in dieser Arbeit
vorgenommene rollenstrukturelle Ergänzung der Weberschen „Begriffslehre des
sozialen
Handelns“
ein
Beobachtungsbegrifflichkeiten,
hinreichend
mittels
derer
umfassendes
Arsenal
„Brückenhypothesen“
von
zwischen
Soziologie und Psychologie formuliert werden können.
20. Abschließend noch einmal der eigentliche neuralgische „Syndromherd“ meiner hier
vorgeführten Argumentation. Er betrifft zum einen die für das hier vorgestellte
Anliegen
der
Konstruktion
einer
psychiatrierelevanten
Sozialisationstheorie
schlechterdings vitale Frage nach der Struktur und Funktion kognitiv-evaluativer
Sinnkonstruktionsschemata (dies der Punkt 21), zum anderen die engstens damit
zusammenhängende Frage nach dem Verhältnis zwischen den basalterminologischen
Grundlagen einer Wissenschaft und den mit deren Hilfe zu erstellenden
Theoriekonstruktionen, die ja ganz wesentlich dem Kriterium der „empirischen
Prüfbarkeit“ zu genügen haben (dies der Punkt 22):
21. Eines der wichtigsten Probleme in den erkenntnistheoretischen Grundlagen sowohl
der beobachtend-experimentellen als auch der historisch-empirischen Sozialforschung
betrifft, wie bereits weiter oben angedeutet, die Frage nach dem Verhältnis zwischen
den im eigentlichen Sinne erfahrungswissenschaftlichen Theorien, wie sie weiter oben
beschrieben wurden, und den sog. (zumeist noch sehr stark in „Umgangssprache“
abgefassten) „Sozialtheorien“, wie wir sie weiter unten in den Blick nehmen werden.
Das hiermit angesprochene Problem ist gleichbedeutend mit dem Ideologieproblem,
und es muss gesehen werden, dass sich für eine mögliche Lösung genau dieser
Problematik erst mit dem Forschungsprogramm zum Intellektuellenproblem, wie es in
der Bewerbung für den kulturwissenschaftlichen Forschungspreis entwickelt hat, so
96
etwas wie eine halbwegs tragfähige Diskursgrundlage ergeben hat. Von dieser gehe
ich hier aus und werde in diesem Sinne zumindest zum Problem der
idealtypologischen Konstruktion eine sehr „engmaschige“ Schrittfolge vorführen, die
sich mit dem Rationalitätsproblem befasst. Methodologisch ist dies der Kern meiner
Argumentation, der sich, wie mühelos erkennbar sein wird, unmittelbar berührt mit
der Frage nach der Geltung des sog. „DN-Schemas einer wissenschaftlichen
Erklärung“.
22. Im, wie gesagt, engsten Zusammenhang mit dem zuletzt genannten Problem steht die
Frage nach dem Verhältnis zwischen idealtypologisch gefasster Grundbegrifflichkeit
und Hypothesenbildung, welches nach Porath‘s Meinung die eigentliche Kernfrage
vor allem der sog. Integrationsproblematik ist, und die tatsächlich bis zum heutigen
Tage, wie bereits weiter oben betont, ein ungelöstes methodologisches Problems
geblieben zu sein scheint. Das hierbei sich ergebende Problem ist wohl nicht zuletzt
auch deshalb so schwierig zu fassen, weil es sich wegen des nach wie vor bestehenden
sehr
niedrigen
„Theoretizitätsniveaus“
der
bislang
erarbeiteten
humanwissenschaftlichen Theoriegebilde auf diesem Felde gar nicht sinnvoll
diskutieren lässt. Überschärft ausgedrückt: Es bedarf einer methodologischen
Feinanalyse der „strukturellen Dynamik“ der strengen Naturwissenschaften, um auf
dem Felde der Methodologie der Kultur- und Sozialwissenschaften hierzu überhaupt
etwas methodologisch einigermaßen sinnvolles sagen zu können. Vgl. vor allem die
hierzu einschlägigen Ausführungen im [Forschungsantrag], die zu zitieren, ich mir
hier erlaube, weil sie ja bislang noch nicht in Buchform publiziert sind. Sie scheinen
mir jedenfalls die hier avisierte Problemlage zutreffend zu charakterisieren:
„Der entscheidende Punkt, um den es hierbei geht“, heißt es dort, „ist, daß die gesamte
überkommene Wissenschaftsphilosophie nicht hinreichend scharf zwischen genuin
methodologischer und streng wissenschaftstheoretischer Problemstellung hat unterscheiden
können, daß dies gleichwohl unabdingbar ist, wenn man sich anheischig macht, eine Heuristik
für eine „adäquate“ Logik der Sozialwissenschaften zu erarbeiten, die ich [Porath] mit dem
Begriffsgefüge „historische Forschungslogik“ zu umschreiben versucht habe. In thetischer
Überschärfung gilt nämlich: Die mit dem „Verwissenschaftlichungsbegehren“
zusammenhängenden methodologischen Probleme der Geschichts-, Kultur- und
Sozialwissenschaften lassen sich dann und nur dann lösungsfähig formulieren, wenn man
zwischen empirisch-assertionaler Wissenschaftsanalyse und normativer Methodologie scharf
unterscheidet. Ohne eine solche Unterscheidung kann prinzipiell nicht die Wertfreiheitsfrage
gegenüber der Objektivitätsfrage diskriminiert werden. Um einer wissenschaftsanalytisch
adäquaten Lösung nicht nur der Integrationsproblematik der Sozialwissenschaften willen
sondern ganz allgemein auch um der Objektivitätsproblematik, der Theorieproblematik und der
97
Wertfreiheitsproblematik der Sozialwissenschaften willen schlage ich also vor, den genuin
erkenntnistheoretischen Aspekt der derzeitigen Grundlagenproblematik der Geschichts-, Kulturund Sozialwissenschaften zu der folgenden methodologischen (Grund-) Fragestellung zu
verdichten: Welcher systematische Zusammenhang besteht zwischen der (idealtypologischen)
Konstruktion einer die Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften übergreifenden Basalterminologie, mittels derer der Gegenstandsbereich der Gesellschaftswissenschaften konstituiert
wird, und den Formen des empirischen Validierens der mittels einer solchen Basalterminologie
konstruierten Hypothesen und Theorien, die sich in einer wahrheitsfähigen Weise zum einen auf
das makrosoziale Gefüge der institutionellen Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und
zum anderen auf deren mikrosoziale Strukturen beziehen? Dies, wie ich glaube, die eigentliche,
freilich nur sehr mühselig aufzuklärende, (methodologische, nicht materiale) Kernfrage der
gegenwärtigen humanwissenschaftlichen Grundlagenforschung, die zunächst einmal das
Erklärungsproblem und das mit diesem assoziierte Verstehensproblem ebenso konsequent
abschattet wie das materiale Problem der synchronisationalen Dynamik institutioneller
Anatomien – das Vergesellschaftsproblem also –, und die vor allem deshalb so mühselig
aufklärbar ist, weil sie auf eine ganz bestimmte Art und Weise die wissenschaftsanalytische
Durchdringung der Naturforschung mit der methodologischen Problematik der Geschichts- und
Sozialforschung zusammenschließt. Damit jedoch tritt in einer durchaus prinzipiellen Weise das
Problem einer systematischen Abklärung des Verhältnisses zwischen genuin normativen und
genuin assertionalen Propositionalgebilden auf den Plan, und dies wiederum bedeutet eine
Provokation für die bisher erarbeiteten „Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und
analytischen Philosophie“ (Stegmüller) selbst: Wenn man Anhaltspunkte dafür gewinnen will,
wie die Struktur der gesellschaftswissenschaftlichen Hypothesen und Theorien auszusehen hat,
mittels derer historische Tatbestände zu beschreiben und zu erklären sind – dies das
Theorieproblem der Geschichtswissenschaft –, wie diese Hypothesen und Theorien empirisch
zu validieren sind – dies ein wesentlicher Aspekt des Problems der Historisierung der
Soziologie – und wie schließlich die Konstruktion einer die Humanwissenschaften übergreifenden Basalterminologie zu bewerkstelligen ist – dies die Frage nach der den Gegenstandsbereich der Gesellschaftswissenschaften konstituierenden Axiomatik und mithin das
(eigentliche) Integrationsproblem –, dann bedarf es dafür vorab der konsequenten analytischen
wie empirischen Durchdringung der Naturforschung mit der Zielsetzung, die
erkenntnistheoretische Thetik der Prolegomenaperspektive, welche immerhin den nicht zu
unterschätzenden Vorzug aufweist, bezüglich der endogenen Dynamik der Naturwissenschaften
eine in sich geschlossene Deutung vorgeschlagen zu haben, zu überprüfen. Oder anders
formuliert, denn dies ist der eigentliche springende Punkt, um den es erkenntnistheoretisch in
der hier vorgelegten Arbeit geht: Um die methodologischen Grundlagen der Geschichts-,
Kultur- und Sozialwissenschaften erarbeiten zu können, müssen zunächst einmal einige
bestätigungsbedürftige, d. h. wahrheitsfähige Hypothesen entwickelt werden, die uns darüber
informieren, wie in den strengen Naturwissenschaften Hypothesen und Theorien logisch gebaut
sind, wie diese empirisch validiert werden bzw. worden sind und wie dadurch die Konstruktion
der die Naturwissenschaften in ihrem Insgesamt übergreifenden Basalterminologie beeinflußt
worden ist bzw. nach wie vor wird. Dies der im engeren Sinne wissenschaftsanalytische Kern
der hier insgesamt thematisierten Grundlagenproblematik der Geschichts-, Kultur- und
Sozialwissenschaften, die im traditionellen epistemologischen Sinne als Objektivitätsfrage
gestellt worden ist: So und nur so nämlich läßt sich eine Bezugsfolie für eine wesentlich
komparative Fassung des Wissenschaftsbegriffs konstruieren, nach Maßgabe derer das Ausmaß
an „Wissenschaftlichkeit“ bestimmbar wird, welches den Humaniora möglich ist. Wird jedoch
diese Frage genau so gestellt, wie ich sie hier gestellt habe, so impliziert dies, wie unschwer
einsehbar ist, eine systematische Revision der in den Prolegomena entwickelten
Apriorizitätsargumentation im Lichte einer Analyse des seit der Kantschen Problemstellung in
98
den Naturwissenschaften Geleisteten, die weit über den Ansatz selbst des logischen Empirismus
noch hinausgeht: Dann und nur dann, wenn die Frage schlüssig beantwortbar ist, wie es den
Naturwissenschaften hat gelingen können, in einer wahrheitsfähigen Weise die Tiefenstrukturen
des Wirklichen nicht nur in einer das menschliche Erkenntnisvermögen befriedigenden Form
transparent zu machen, sondern überdies dergestalt detailliert aufzuklären, daß tatsächlich in
einem bis dahin ungeahnten Ausmaß die natürliche Wirklichkeit technologisch hat verändert
werden können, kann erstens der Wissenschaftsbegriff hinreichend präzise expliziert und
gegenüber den Prädikativgebilden „Weltbild“, „Theorie“, „Ideologie“ und „Paradigma“
diskriminiert werden , und es kann zweitens sodann auch, so die These, die Lösung des
Problems der kultur- und sozialwissenschaftlichen Integration gelingen, welches sich, wie ich in
engster Anlehnung an die Kelsensche Postulatorik behaupten werde, in ein analytischempirisches und in ein normatives Problem zerlegt. Erheischt ist nicht weniger als die
historisch-empirische Aufklärung der institutionalisierten Bedingungen der Möglichkeit
erfolgreicher Emanzipation von der Metaphorik des offenen oder versteckten
Anthropomorphisierens, und wenn man aus diesem Blickwinkel die insbesondere von Hans
Reichenbach postulierte Verwissenschaftlichung der Philosophie zu realisieren und
durchzuhalten versucht, dann bedeutet das auch für die wissenschaftsanalytische wie
methodologische Befaßtheit mit den vielfältigen Formen der „rationalen Wahrheitssuche“ die
konsequente Verabschiedung von der Metaphorik des anthropozentristischen und
anthropomophistischen Denkens.“98
4. Die Psychiatrie als Gegenstand der kultursoziologischen Analyse und als
kultursoziologische Disziplin
4.1. Die kultursoziologische Grundlage der Psychiatrie und ein Grunddilemma
derselben
In ihrem 1966 veröffentlichten und 1970 sodann auch in deutscher Sprache erschienenen
Lehrbuch mit dem Titel „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ charakterisieren Redlich und
Freedman das „Spezialfach der Psychiatrie“ als eine „angewandte Wissenschaft“ und
plädieren dafür, dass diese „Psychiatrie“ zunehmend konsequent „auf das Fundament der
biologischen und der Verhaltenswissenschaften gegründet werden“ müsse. Ja, sie geben sogar
der Überzeugung Ausdruck, dass in Zukunft eine solche Fundierung der Psychiatrie in den
wesentlich biologisch ausgerichteten „Verhaltenswissenschaften“ unabdingbar sei. Der
Psychoanalyse komme hierbei der Status einer Basiswissenschaft zu, dies allerdings nur dann,
wenn auch sie konsequent biologisch ausgerichtet werde. Damit übernehmen die Autoren
98
Porath [Forschungsantrag], S. 174ff
99
genau dasjenige Freud’sche „Forschungsprogramm“, welches dieser selbst als konsequent
naturwissenschaftlich konzipiert hatte: Die Psychoanalyse wird, als „Metapsychologie“
aufgefasst, zur eigentlichen Grundlagendisziplin auch und gerade einer der psychiatrischen
Theorie und Praxis verpflichteten Anwendung. Dass die Autoren damit zugleich auch das
streng
wissenschaftsheoretisch
ausgerichtete
Erkenntnisprogramm
des
sog.
„methodologischen Individualismus“ übernehmen, eine Position also, die im amerikanischen
Kulturraum seinerzeit von Homans vertreten wurde, wird von ihnen nicht gesehen. Zu den
Verhaltenswissenschaften im weiteren Sinne werden nämlich von Freedman und Redlich
sowohl die Psychologie, als auch die Anthropologie, als auch die Soziologie gezählt. Es ist
den Autoren selbstverständlich, die „Soziologie“ als „Verhaltenswissenschaft“ anzusehen und
sie machen sich keine Mühe, die dabei involvierten methodologischen Probleme zu
diskutieren, die ein solches „antisoziologisches“ Programm nun einmal in sich birgt. Eine
solche Erörterung wäre seinerzeit problemlos möglich gewesen, hatte doch insbesondere
Homans, ursprünglich als Parson’s-Schüler ein überzeugter Vertreter der sog. „strukturellfunktionalen Schule“, welche, in der Durkheim-Weber-Tradition stehend, ja die scharfe
Trennung von „Soziologie“ und „Psychologie“ betonte, mit der Publikation seiner
„Elementarformen des sozialen Verhaltens“ seine wissenschaftstheoretische Position
vollständig revidiert und damit eine Grundlagendebatte ausgelöst, die praktisch bis zum
heutigen Tage andauert. Das für die „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ eigentlich
Interessante
an
dieser
Position
bestand
darin,
dass
mit
ausschließlich
wissenschaftsanalytischen Argumenten für eine radikale Reduktion handlungskonzeptionell
formulierter soziologischer Hypothesen auf die bis dahin entwickelten „Lern- und
Interaktionstheorien“ plädiert wurde, dieses Plädoyer, sich sehr stark auf Befunde der
experimentellen Kleingruppenforschung stützend ein Programm für Theorieintegration
beinhaltete und eine ziemlich radikale Absage an die überkommene kulturwissenschaftliche
Paradigmatik beinhaltete. Von großem Interesse ist genau dieser Punkt vor allem deshalb,
weil damit die vormals intensiv geführte Kulturwertdebatte sozusagen „urplötzlich
weggeschnitten“ wurde. Dass damit zugleich auch Probleme der pädagogischen wie
therapeutischen Zielorientierungen systematisch ausgeblendet wurden, ist praktisch seinerzeit
von niemandem bemerkt worden. Vielmehr wurde genaugenommen dadurch ein
Forschungsprogramm für die sog. „angewandten“ Wissenschaften entwickelt, welches die
traditionelle methodische
Zerlegung der „Wirklichkeitswissenschaften“
(Weber)
in
„wertegebundene Kulturwissenschaften“ und in „nomothetische Naturwissenschaften“
aufzuheben trachtete: Praktisch die gesamte Argumentation der „methodologischen
100
Individualisten“ beruhte auf der seitens der damaligen strengen Wissenschaftslehre
entwickelten Postulatorik des sog. „DN-Schemas einer wissenschaftlichen Erklärung“, welche
in scharfer Frontstellung gegen die sog. „Methode des Verstehens“ formuliert wurde. Aus
diesem Blickwinkel enthielt das bei Redlich und Freedman geltende Erkenntnisprogramm mit
ihrer Betonung einer biologisch fundierbaren Psychoanalyse eigentlich eine massive
Ungereimtheit, welche methodologisch hätte behoben werden müssen. Den damaligen
führenden Köpfen der Analytischen Wissenschaftslehre, auf deren Argumentation sich
Homans und seine Anhänger bei ihrem dezidiert vertretenen „Anti-Soziologismus“ stützten,
galt nämlich die Psychoanalyse als „unwissenschaftlich“. Es wurde bestritten, dass diese,
tatsächlich biologisch „orientiert“ werden könne. Natürlich kann ich die damit aufgeworfene
Problematik hier nur sehr grob andeuten. Ich verweise jedoch explizit auf diese Aspekte, weil
die Psychiatrie seinerzeit sich durchaus mit den z.B. von Redlich und Freedman gesetzten
Schwerpunkten in ihren Grundlagenforschungen in genau diese Debatte hätte einbringen
können
und
müssen,
hätten
sie
sich
doch
mit
genau
dieser
„Ungereimtheit“
auseinanderszusetzen gehabt: Einerseits hätte sich die von Redlich und Freedman dargelegte
„psychiatrische
Verhaltensparadigmatik“
auf
eine
wissenschaftsanalytisch
dezidiert
exponierte Position durchaus stützen können, andererseits hätten sie dann allerdings den
Nachweis führen müssen, dass die Psychoanalyse von ihrer Grundorientierung her sehr wohl
so aufgebaut werden könne, dass sie als strenge Naturwissenschaft eine tragfähige Basis für
die „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ hätte bilden können. Auf jeden Fall hätte man in
ähnlicher Weise, wie ich es in der hier vorgelegten Arbeit versuche, die methodologischen
Implikationen durchreflektieren müssen, die sich meiner Meinung nach notwendigerweise aus
einer so gearteten Psychiatrie als einer angewandten Wissenschaft ergeben. Es ist klar, dass
eine so geartete Konzeption, die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“ auf gar
keinen Fall hätte „außen vor“ lassen können. Davon jedoch findet sich in dem RedlichFreedman’schen Lehrbuch noch nicht einmal eine Andeutung.
Statt dessen lässt sich aus diesem Blickwinkel, bei der Lektüre des „Redlich/Freedman“
eine auf den ersten Blick erstaunliche, sodann jedoch keineswegs mehr überraschende
Entdeckung machen, nämlich:
Ohne dies eigentlich so Recht zu bemerken entwickeln diese beiden Autoren eine geradezu
klassische soziologische Kulturwerteposition. Dies sozusagen in Gestalt einer kryptoweberianischen Faustskizze bei gleichzeitigem Festhalten an der ja streng genommen „antiweberianischen“ Position an einer konsequent verhaltenswissenschaftlichen Fundierung der
101
gesellschaftswissenschaftlichen Forschung insgesamt. Um eine Re-Interpretation genau dieser
Faustskizze geht es mir, eine Re-Interpretation, die ganz bewusst in der Weberschen
Kultursoziologie
fundiert
ist
und
herauszubringen
versucht,
was
sozusagen
an
„Weberianischer Implizitsoziologie“ in dieser „Psychiatrie“ steckt. Nur und ausschließlich
aus diesem Grunde habe ich mir die Freiheit genommen, mein Forschungsprogramm mit dem
neuen Begriff der Sozio-Psychiatrie zu beschreiben. Die Arbeit setzt sich – längerfristig – das
Ziel, mittels der präzisen soziologischen Kategorienlehre, wie ich sie in den beiden nächsten
Denkschritten vorführen werde, „auszuführen“ und zu „differenzieren“ was bei Redlich und
Freedman nur grob skizziert worden ist. Denn in der vorliegenden Arbeit versuche ich ja zu
zeigen, wie Redlich und Freedman – diese ja lediglich stellvertretend für andere Psychiater –
argumentieren müssten, wenn sie tatsächlich um der Konstruktion einer ätiologisch
interessanten empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie willen eine Amalgamierung von
„Kognitivpsychologie“, „Handlungssoziologie“ und „biologisch-orientierter Psychoanalyse“
auch in methodologisch befriedigenderweise zu bewerkstelligen versuchten, nämlich: Sie
müssten erstens sehen, dass das für die klinisch-therapeutische Praxis charakteristische
Prozedere als „Wertverwirklichungshandeln“ gar nicht streng wissenschaftlich vorgenommen
werden
kann,
und
sie
müssten
zweitens
sehen,
dass
sich
eine
streng
verhaltenswissenschaftlich ausgerichtete psychiatrische Grundlagenforschung ohne eine
Idealtypologie der Rationalitätsbegriffs auf gar keinen Fall bewerkstelligen lässt.
Wir gehen also von der Annahme aus, dass ganz allgemein bei der Skizzierung des
Gegenstandsbereiches der Psychiatrie diese selbst eine verborgene soziologische Bestimmung
in sich trägt, wenn es z.B. um die Formulierung der Therapieziele geht. Dann nämlich wird
immer eine wissenschaftsabgewandte Kulturwertediskussion unabdingbar. Dass also
notorisch bei den genannten Autoren ein krypto-soziologisches Vokabular verwendet wird, ist
alles andere als ein Zufall.99
Nachdem die Autoren die Charakterisierung Harry Stack Sullivan‘s, „die Psychiatrie [sei]
... die Wissenschaft von den zwischenmenschlichen Beziehungen“, mit der richtigen
99
Wir haben hierbei übrigens eine ähnliche Problemlage wie wir sie bei der einleitend angedeuteten Analyse
des Resch’schen Lehrbuchs antreffen können: Das kultursoziologische Paradigma Max Webers steht im
Widerspruch zu der These von der Reduzierbarkeit der „Soziologie“ auf die biologisch-orientierten
Verhaltenswissenschaften. Lässt sich also die These von der Redlich/Freedman‘schen „Implizitsoziologie“
erhärten, so geriete eine dergestalt konzipierte „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ wegen der dabei ja
notwendigerweise ungelöst bleibenden Integrationsproblematik in ein Grunddilemma. Hierzu weiter unten
Genaueres.
102
Begründung, eine solche definitorische Umschreibung sei viel zu weit gefasst, da sie „auf alle
Wissenschaften“
zuträfe,
„die
sich
mit
menschlichem
Verhalten
beschäftigen“,
zurückgewiesen haben, schlagen sie statt dessen die folgende Einordnung vor100: Die
Psychiatrie habe „ihren festen Platz innerhalb der Medizin, zugleich jedoch“ stehe sie „stark
in Abhängigkeit von den Sozialwissenschaften“.101 Natürlich geht es ganz genau um eine
Präzisierung
eben
dieser
„Abhängigkeitsformel“,
wird
dadurch
doch
das
wissenschaftstheoretische Kernproblem einer methodisch befriedigenden Abklärung des
Verhältnisses zwischen „Grundlagenforschung und Anwendung“ aufgeworfen, worauf später
zurückzukommen sein wird. Die Autoren stellen sodann die folgenden fünf Fragen, die ich
hier in einer etwas vereinfachenden Weise schematisch aufliste:
1. Was ist der der Psychiatrie genuin zu eigener Bereich?
2. Welches sind ihre Zuständigkeiten, welches ihre zentralen Probleme, welches ihre
Methoden und wohin zielt ihre Entwicklung?
3. Mit welcher Art von Patienten hat sie es zu tun?
4. Mit welchen praktisch-therapeutischen Problemen ist man damit konfrontiert? Dies
eine Frage, die sodann in die eigentliche „Grundlagenfrage“ einer „Psychiatrie“
einmündet, welche zwar „ihren festen Platz innerhalb der Medizin“ habe, welche sich
zugleich jedoch „stark in Abhängigkeit von den Sozialwissenschaften“ befindet,
nämlich:
5. Wie ist Verhalten organisiert, über welche Mittel und Wege wird es desorganisiert und
wie wird es – therapeutisch – wiederhergestellt?
Diese Fragen sollten uns, wie ich meine, nicht mehr so fremd vorkommen. Im Zentrum
steht für die Autoren der Begriff der „Verhaltensstörung“, mittels dessen ganz global der der
Psychiatrie genuin zu eigene Bereich zu kennzeichnen ist. Dieser prima facie recht
einleuchtende Begriff erweise sich gleichwohl, so die Autoren, bei genauem Hinsehen als
sehr schwer definierbar. Wer sich die Schwierigkeiten vor Augen hält, die eine
methodologisch genaue Interpretation des Weberschen Handlungsbegriffs aufwirft, findet die
100
Redlich und Freedman [Psychiatrie], S. 13.
101
ibid. Hervorhebung mittels Kursiv durch mich Ch. K.
103
„schwere Definierbarkeit“ eines solchen Grundbegriffes, mittels dessen ein komplexer
Gegenstandsbereich etikettiert wird, selbstverständlich alles andere als erstaunlich, liegt hier
doch die gesamte Problematik des Verhältnisses von „Grundannahmen“, „Basalbegriffen“
und „empirisch falsifizierbaren Hypothesen“ verborgen. Meine These ist nun, dass die von
Redlich und Freedman festgestellte „schwierige Definierbarkeit“ des Begriffs der
„Verhaltensstörung“ sich vor allem deshalb ergibt, weil die Autoren – ohne sich dies explizit
bewusst zu machen – in Wirklichkeit bei der Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches
soziologisch – genauer: kultursoziologisch – verfahren (müssen) denn erstens diskutieren sie
den Term der „Verhaltensstörung“ im Bezugsrahmen einer au fond soziologischen
Devianzargumentation
und
zweitens
im
Bezugsrahmen
der
überkommenen
Kulturwerteproblematik, in deren Zentrum sich ja gerade die Frage nach dem Verhältnis des
„Handlungsbegriffes“ zum au fond psychologischen „Verhaltensbegriff“ befindet. Und dies,
ohne das genau diese Problemlage in expliziter Form zum Austrag kommt.
Hören wir zunächst einmal die Autoren wörtlich, reflektieren den Gehalt der
entsprechenden Textstelle und schließen erst hieran eine genauere Interpretation an. Die mir
wichtig erscheinenden Punkte hebe ich mittels Kursive hervor und arbeite zwecks genauerer
Interpretation zusätzlich mit Unterstreichungen:
„Was sind nun diese sogenannten Verhaltensstörungen, mit denen es der Psychiater
therapeutisch zu tun haben soll? Der Terminus ist nicht leicht zu definieren. Es handelt sich
jedenfalls dabei um das Vorliegen bestimmter Verhaltensmuster verschiedentlich beschrieben
als abnorme, subnormale, unerwünschte, inadäquate, unangemessene, unangepasste oder
fehlangepasste Verhaltensweisen, deren gemeinsames Kennzeichen es ist, dass sie zu den
Normen und Erwartungen des sozialen und kulturellen Systems dem der Patient angehört, im
Widerspruch stehen. Menschen mit solchen Verhaltensstörungen sind nicht imstande, sich
sozial, sexuell oder im Beruf gemäß den Erwartungen ihrer Umwelt zu betätigen; sie leiden
und machen andere leiden“.102
102
ibid S. 14. Bei sehr genauem Hinsehen zeigt sich, dass hier nicht eine Klasse von Verhaltensmustern als
„Verhaltensstörung“ benannt wird. Es sind vielmehr zwei Klassen: Aus dem Blickwinkel etablierter sozialer
Systeme werden „Auffälligkeiten“ aufgelistet, sodann aber ist, ohne dass dies an dieser Stelle allerdings benannt
wird, von „Menschen“ als personalen Systemen die Rede, welche zu sozialadäquatem Verhalten unfähig seien.
Streng genommen ist an dieser Stelle also von personalsystemischen Verhaltensstörungen die Rede, wenn man
an dieser Stelle hinzuzieht, was in Abschnitt II. 5. 6. in Anlehnung an den Redlich/Freedman genauer
auszuführen sein wird. Wirklich interessant wird die ganze Angelegenheit, wenn sich zeigen lässt, dass ein
Kausalzusammenhang konstruierbar ist, zwischen Sozialsystemen auf der einen Seite und bestimmten
Verhaltensirritationen auf der anderen Seite, welche bestimmte personale Systeme aufweisen. Die vorliegende
104
Die Autoren hätten natürlich vor allem die Frage diskutieren müssen, warum Menschen mit
den beschriebenen Verhaltensstörungen außerstande sind, sich „gemäß den Erwartungen ihrer
Umwelt“, d.h. situationsadäquat zu verhalten, warum sie genau darunter leiden und „andere
leiden [machen]“. Genau diese Frage jedoch wird nicht gestellt, worauf weiter unten
zurückzukommen sein wird.
Wie man sieht, lässt sich ansonsten der ganze Absatz problemlos in eine rollenbegriffliche
Sprache übersetzen. Dies würde ungefähr folgendermaßen aussehen: Verhaltensstörungen,
auch und gerade diejenigen, die in den Kompetenzbereich der Psychiatrie fallen, sind
normendiskrepante Verhaltensmuster, deren gemeinsames Kennzeichen es ist, zum einen zu
den Rollenerwartungen des sozialen Systems, in welchem der Patient auf irgendeine Art und
Weise positioniert ist, zum anderen zu den Werten der kulturellen Dimension dieses sozialen
Systems im Widerspruch zu stehen. Daraus ergibt sich – ebenfalls in soziologischer Sprache
formuliert – : Verhaltensstörungen, welche klinisch-psychiatrisch interessant sein könnten,
machen sich in erster Linie durch Devianz bemerkbar, wobei die Gründe für genau diese
Formen von Devianz dem letzten Satz zufolge im prinzipiellen Unvermögen „der Patienten“
zu suchen sind, den jeweils relevanten Rollenerwartungen genügen zu können. Und hieraus
folgt: Mental kranke Menschen „leiden“ bzw. „machen andere leiden“, weil sie unfähig sind,
den Normen-, Werten und Rollenerwartungen ihrer jeweiligen sozialen Umwelt zu genügen.
Man beachte, dass hierbei – und das gilt für das ganze Buch – nicht der Versuch gemacht
wird, eventuell auftretende Formen der Devianz nach Maßgabe der in unserer Gesellschaft
bestehenden Systeme der sozialen Kontrolle zu differenzieren.103 Dieser Punkt ist mir aus
einem ganz bestimmten Grunde sehr wichtig: Unausgesprochen wird auch von den Autoren
die Unterscheidung zwischen „Devianz aus persönlicher Unfähigkeit“ und absichtlicher
Devianz gemacht. Da sie jedoch das damit angesprochene soziologische Problem nicht
explizit diskutieren, konfundieren sie ganz automatisch rationale und irrationale Formen der
Devianz. An genau diesem Punkt ist später anzusetzen. Es wird der Tatbestand in den
Vordergrund zu stellen sein, dass um einer auch diagnostisch befriedigenden Art und Weise
rationale und irrationale Formen der Devianz begrifflich scharf unterscheiden zu können,
Arbeit muss es sich leider versagen, diesen Gedanken in der gebotenen Differenziertheit weiterzuverfolgen,
beharrt jedoch darauf, dass die sog. „Verhaltensstörungen“ systemtheoretisch als personalsystemische
Funktionsstörungen interpretierbar sind.
103
Vgl. hierzu den Abschnitt II. 7. 1.
105
konsequent unterschieden werden muss, zwischen bewusst vorgenommenen, mithin also
„subjektiv sinnhaften“ Formen der Devianz (Delinquenz und Widerstand), bei denen die
personellen Rationalitätskompetenzen erhalten geblieben sind, und jenen „hilflosirrationalen“ Formen der Devianz, bei denen das abweichende Verhalten auf ganz bestimmten
persönlichkeitsspezifischen Defiziten beruht.
Befassen wir uns näher mit dem Grund, der die Autoren dazu veranlasst haben könnte, mittels
des Begriffs der „Verhaltensstörung“, welcher ja den allgemeinen Begriff des „Verhaltens“
voraussetzt, den der Psychiatrie genuin zu eigenen Gegenstandsbereich zu charakterisieren.
Ganz bewusst rücken nämlich die Autoren den Begriff der Verhaltensstörung ins Zentrum
ihrer Aufmerksamkeit, weil die noch in den älteren Lehrbüchern verwendeten Begriffe wie
„Geist“, „Seele“ usw. viel zu viele „metaphysische Auffassungen nahelegen“ würden. Die
Autoren bevorzugen also aus genau demselben Grund die neutralen Begriffe des „Verhaltens“
bzw. der „Verhaltensstörung“, der auch uns zum Motiv geworden ist, traditionell belastete
Begriffe durch neutralere zu ersetzen. Sie liegen also auf derselben Linie, auf der auch wir in
unserer bisher entwickelten Argumentation liegen: Die Abweisung von „Metaphysik“ und der
konsequente Verzicht auf traditionell stark belastete philosophische Begrifflichkeiten
designieren in dezidierter Weise die Verpflichtung zur „Wissenschaftlichkeit“ und
„Wissenschaftlichkeit“ ist nun einmal, wie an dem im vorangegangenen Abschnitt
vorgestellten wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog abgelesen werden kann, wesentlich
mit empirischer Überprüfung, d.h. mit Beobachtbarkeit und damit zugleich auch mit
intersubjektiver Nachprüfbarkeit verknüpft. Aus genau diesem Grunde also stellen die
Autoren den Begriff des Verhaltens ins Zentrum ihrer Überlegungen, nehmen mithin, wenn
man so will, durchaus einen klassisch-behavioristischen Standpunkt ein und versuchen,
ausgehend von diesem Begriff, dem Begriff des „beobachtbaren Verhaltens“, den Begriff der
Verhaltensstörung zum eigentlichen Gegenstand psychiatrischer Aufmerksamkeit zu machen.
Konsequenterweise hätten sie dann auch, wie die hier vorgelegte Arbeit es tut, den Begriff des
„sozialen Handelns“ in ihre Betrachtungen mit einbeziehen müssen, wie die hier vorgelegte
Arbeit behauptet.
Es macht nämlich den genuin soziologischen Aspekt deutlich, wenn man sich methodologisch
um das Verhältnis zwischen „Verhalten“ bzw. „Verhaltensstörung“ und „Handlung“ bzw.
„Devianz“ Gedanken macht. Bevor wir hierauf zu sprechen kommen hören wir zunächst
einmal die Begründung von Redlich und Freedman für die Wahl eines quasi106
behavioristischen Vokabulars. Auch hierbei hebe ich wiederum das mir wichtig erscheinende
hervor: „Denn der Begriff Verhalten bezieht sich auf objektive Gegebenheiten, die der
Beobachtung, der logischen Verknüpfung, der Hypothesenbildung und dem Experiment
zugänglich sind. Der Terminus Störung ist zwar etwas ungenau, aber er bezeichnet rein
deskriptiv Formen von Fehlverhalten, ohne dabei eine spezielle Ätiologie oder Pathogenese
zu präjudizieren. Nur einige, nicht alle Verhaltensstörungen haben Erkrankungen des Gehirns
zur Ursache oder gehen mit somatischen Reaktionen einher. Zwar führen viele cerebrale
Krankheitsbilder zu Verhaltensstörungen, und es ist auch anzunehmen, dass zwischen den
Vorgängen im Gehirn und dem Verhalten fundamentale Beziehungen bestehen müssen;
Gehirnerkrankungen im medizinischen Sinne lassen sich jedoch bei der Mehrzahl der
Verhaltensstörungen nicht nachweisen. Der eigentliche Gegenstand der Psychiatrie ist also
das gestörte oder abweichende Verhalten des Individuums“.104
Wie wir sehen können – vgl. hierzu auch die weiter unten in den Abschnitten II. 7.
gezeichneten Tafelbilder –, ist bereits diese Skizzierung soziologisch ergänzungsbedürftig:
Streng soziologisch bedarf, wie bereits festgestellt, der Begriff der „Devianz“ der
Differenzierung. Beachten wir nämlich die Rationalitätskriterien unserer geltenden
Rechtsordnung, so muss zwischen „schuldfähigem“ und „entschuldbarem“ abweichenden
Verhalten scharf unterschieden werden. Das Verhalten des strafmündigen Diebes ist deviantes
Verhalten, der Dieb handelt jedoch durchaus sozial und rational. Er orientiert nämlich sein
Verhalten „subjektiv sinnhaft“ (Max Weber) an einer sozialen Ordnung, der gegenüber er sein
Verhalten ganz bewusst „verhehlt“ – ein Fachterminus der Weberschen Rechtssoziologie –
und er tut dies auf eine Art und Weise, welche einen ziemlichen Aufwand an „Rationalität“ zu
betreiben gezwungen ist. Die subjektiv sinnhafte und wesentlich rationale Handlung des
Diebes, fällt deshalb gerade nicht in den Gegenstandsbereich der Psychiatrie, ist doch sein
„Verhalten“ zwar deviant, keinesfalls jedoch „gestört“: Klinisch interessant ist das Verhalten
dieses Diebes erst dann, wenn seine Form der Regelverletzung von einer solchen Fülle von
Fehlleistungen durchsetzt ist, dass bei den Verfolgungsbehörden der Verdacht aufkommt, der
z.B. juvenale Dieb habe es geradezu darauf angelegt „erwischt“ zu werden. Ich habe hier
keineswegs nur die übliche Kleptomanie im Auge. Ich spreche vielmehr von dem in
psychoanalytischer
104
Sprache
feststellbaren
eventuellen
Redlich/Freedman S.14
107
Syndrom
des
unbewussten
Schuldgefühls. Es sind die ja ebenfalls im Prinzip beobachtbare Fehlleistungen, welche hier
zu Schlussfolgerungen führen, die in der Theorie der unbewussten Schuldgefühle ihren
eigentlichen ätiologischen Hintergrund haben: Die seitens der Verfolgungsbehörden
konstatierten „Fehlleistungen“ werden also seitens des psychoanalytisch ausgebildeten
Psychiaters auf der Grundlage einer allgemeinen Theorie diagnostiziert, woraus sich
trivialerweise ergibt: Diagnosen ganz allgemein verdanken ihre mehr oder weniger präzisen
Schärfe derjenigen Theorie, welche das Interpretament des betreffenden Psychiaters darstellt.
Im Lichte dieser Überlegungen lassen sich sodann auch diejenigen Textpassagen im
„Redlich/Freedman“ einer genaueren Betrachtung unterziehen, die sich mit der eigentlichen
„wissenschaftliche[n] Aufgabe der Psychiatrie“ befassen. Hierbei kommen die Autoren
nämlich auf das zentrale methodische Problem zu sprechen, wie man vom objektiv
beobachtbaren Verhalten eines Individuums auf nicht beobachtbare vielmehr nur noch
vermutete, Hintergründe des Verhaltens schließen könnte.
„Der eigentliche Gegenstand der Psychiatrie“ sei, so die Autoren, das „gestörte oder
abweichende Verhalten des Individuums.“ In konsequent behavioristischer Sprechweise wird
damit ganz bewusst auf das „offene, manifeste Verhalten“ abgestellt. Ausdrücklich schließen
die Autoren das Verbalverhalten hierbei ein. Und das ist auch durchaus folgerichtig, da sich ja
Sprechakte durchaus deskriptiv erfassen lassen. Dieser Punkt ist für uns deshalb wichtig, weil
ja die Freudschen „Versprecher“ in diesem Sinne durchaus objektiv festgestellt werden
können, bilden sie doch ganz bestimmte Formen der „Abweichung“, derjenigen nämlich, die
gegen bestimmte grammatikalische Regeln verstoßen. Diesen – eigentlich hochinteressanten –
Punkt lassen wir hier jedoch außer Betracht.
Wichtiger erscheint mir an dieser Stelle, dass die Autoren das Problem, vom „offenen“ bzw.
„manifesten Verhalten“ auf das diesem jeweils zugrunde liegende Beliefsystem zu schließen
durchaus sehen, genau dieses Problem jedoch gerade nicht einer methodologischen Analyse
unterziehen. In der fraglichen Textpassage heisst es nämlich: „Daraus [gemeint ist das offene
manifeste Verhalten] lässt sich dann weiter das subjektive Leben der Person erschließen, ihre
privaten Gedanken, Reaktionen und Gefühle.“ Völlig richtig bekunden dann die Autoren die
Auffassung, es müsse sich ein gesetzesartiger Zusammenhang nachweisen lassen, wenn sich
ganz bestimmte Verhaltensmuster im gestörten Verhalten herauskristallisierten: „Nach
unserer Auffassung stellen sowohl das offene (manifeste) wie das verborgene (latente)
Verhalten systematisch verknüpfte und sinnvolle Ereignisreihen dar.“ Es sei die
108
„wissenschaftliche Aufgabe der Psychiatrie“, vor allem diejenigen Fragen zu klären, die sich
mit dem Problem befassen, wie denn wohl „die einzelnen Verhaltensereignisse zu sinnvollen
Mustern organisiert“ seien. Nur so nämlich – und dies ist auch nach der hier vertretenen
Auffassung das einzig Richtige – ließen „sich die für die Diagnose, Ätiologie und Therapie
relevanten Beziehungen aufdecken.“105
Schauen wir uns den zuletzt genannten Zusammenhang unter einem noch etwas anderen
Blickwinkel an. Er betrifft den Zusammenhang zwischen dem Wissenschaftsprinzip und dem
Problem des Kulturwertwandels. Es kann nämlich gezeigt werden, dass die sog.
„Wertediskussion“ in die vom Wissenschaftsgedanken getragene Argumentation hineinragt,
so
dass
die
Problematik
der
„gesetzmäßigen
Organisation
des
Verhaltens“
ineinandergeschoben wird mit dem Problem der jeweiligen Wertpräferenzen. Die Autoren
interessieren sich, wie gesagt, für die Verhaltensmuster und stellen in diesem Zusammenhang
die in der Tat entscheidende (Doppel-)Frage, „wie ..... die einzelnen Verhaltensereignisse zu
sinnvollen Mustern organisiert und wie ..... sich die für die Diagnose, Ätiologie und Therapie
relevanten Beziehungen aufdecken“ ließen. Es ist eindeutig, dass diese Art der Fragestellung
in den Kompetenzbereich einer streng wissenschaftlich organisierten Ätiologie gehört.
Dennoch stellen die Autoren in demselben Zusammenhang fest, dass das, „was im einzelnen
zu den Verhaltensstörungen“ zähle, „von der jeweiligen Kultur bzw. deren Wertsystem“
abhänge. Diese „Kultur“ bestimmt also auch, wie an Detail die jeweiligen Formen der
Devianz zu evaluieren sind, werde doch von solch einer Art Evaluation zugleich auch
festgelegt, „welche Maßnahmen jeweils als psychiatrische Behandlung“ angezeigt wären. Die
Rollenkonfundierung von psychiatrischem Praktiker und theoriegeleitetem Diagnostiker
macht sich dann in der folgenden Feststellung geltend: Die „praktische Aufgabe des
Fachmannes“ läge zum einen in der Prophylaxe, zum anderen in einer anamnestisch gut
fundierten Ätiologie, nämlich „darin, im Interesse einer Früherkennung und kompetenten
Behandlung mittels hochspezialisierter Untersuchungsverfahren Art und Ursache der Störung
festzustellen.“106 Die Autoren sehen völlig richtig, dass es für die Prophylaxe, wie auch für
die Diagnostik und die eventuelle Therapie einer allgemeinen empirisch falsifizierbaren
Theorie bedarf, welche unabhängig von den geltenden kulturellen Wertestrukturen die Art der
Störung festzustellen habe. Streng genommen müssten sie dann eigentlich scharf trennen
105
Redlich/Freedman S.13f
106
Redlich/Freedman S.14f
109
zwischen der Arbeit des Diagnostikers, der auf der Grundlage seiner Kenntnis der
„gesetzmäßigen Organisation sämtlichen Verhalten“ die jeweilige Art der Verhaltensstörung
zu konstatieren hätte und der in der Tat seine Feststellungen zu treffen hätte völlig
unabhängig davon, „was immer dessen sozialen Bedeutung sein mag“, und dem an Therapie
interessierten Praktiker, der auf der Grundlage einer solchen Diagnose die Wahl über
geeignete therapeutische Maßnahmen zu treffen hätte. Denn der Begriff der „Prophylaxe“
beinhaltet ja eine evaluativ imprägnierte Diagnose und Prognose.
Wohlgemerkt: Ich diskutiere hier nicht – wenigstens an dieser Stelle noch nicht – das hierbei
involvierte in der Tat sehr schwierige Problem des Verhältnisses zwischen theoretischem
Hintergrundswissen und therapeutischer Applikation. Und folglich kritisiere ich auch nicht,
dass unter Umständen die Kliniker dieses Problem vielleicht nicht lösen können. Ich mache
lediglich auf die methodologische Leerstelle aufmerksam, die in diesem Zusammenhang
durchweg zu beobachten ist. Die beiden Autoren sprechen sehr wohl das ausgesprochen
schwierige Problem des (makrosozialen) Kulturwandels an, verweisen auch zu Recht auf das
Wechselwirkungsverhältnis zwischen wissenschaftlich-psychiatrischen Erkenntnisfortschritt
und allgemeinem Kulturwertwandel, verzichten dann jedoch – wie ich finde: nicht zu Recht –
vollständig
auf
eine
methodologische
Erörterung
dieses
Grundproblems
der
kulturwissenschaftlichen Forschung. Genau hier liegt die „Ungereimtheit“ die ich zu Beginn
dieses Kapitels festgestellt habe. Nur und ausschließlich die radikal-positivistische Position
des
„methodologischen
Individualismus“
betrachtet
die
hier
angeschnittene
„Wertediskussion“ als schlicht überflüssig und plädiert für eine konsequent technologisch
gewendete Umgehensweise auch und gerade mit dem psychisch Kranken. Genau diese
radikale Position jedoch möchten die beiden Autoren nicht einnehmen. Aus genau diesem
Grunde hätten sie die damit anhängende Problematik eigentlich diskutieren müssen.
Stattdessen genügt ihnen ein bloßer Hinweis: Zugestandenermaßen würden „die Spezialisten
vorwiegend von den Wertsystemen der Gesellschaft geleitet, der sie angehören“, nicht selten
jedoch hätten „auch umgekehrt ihre Entdeckungen und Theorien die vorherrschenden
Auffassungen von der Natur des Menschen umgestaltet und damit das Wertsystem
modifiziert.“107 Paradigmatisches Belegstück hierfür ist ihnen naturgemäß die Psychoanalyse.
Die „Idee einer unbewussten Motivation“ habe z.B. „die Vorstellung der westlichabendländischen Gesellschaft von der Verantwortlichkeit des Individuums umgeprägt.“ Nicht
107
ibid.
110
auszuschließen sei deshalb, dass „umgekehrt auch das Auftreten neuer Anschauungen
innerhalb einer Gesellschaft dazu führen“ könne, „dass Verhaltensstörungen anders – im
guten oder schlechten Sinne – beurteilt werden.“108
Zu Verdeutlichung machen wir uns die argumentative Logik dar, wie sie in diesem – ich
betone es: wirklich ausgezeichneten – Lehrbuch der „Theorie und Praxis der Psychiatrie“
vorliegt:
Die Psychiatrie als eine medizinische Unternehmung habe zum einen eine praktische, zum
anderen eine wissenschaftliche Aufgabenstellung die letztendlich natürlich zu einer für den
heilkundlichen Auftrag der Psychiatrie fruchtbaren Einheit zusammengeschlossen werden
müssen. Die „Aufgabe“ des Psychiaters bestehe um einer aussichtsreichen therapeutischen
Umgehensweise mit bestimmten, als leitvoll erlebten „Verhaltensstörungen“ willen, zunächst
einmal – „im Interesse einer Früherkennung und kompetenten Behandlung“ – darin, „mittels
hochspezialisierter Untersuchungsverfahren „Art und Ursache der Störung festzustellen“.
Hierbei müsse bedacht werden, dass das „Verhalten“ als solches – gewissermaßen als ein
kulturunabhängiger Tatbestand – als gesetzmäßig organisiert aufgefasst werden müsse.
Soweit so gut. In einem Atemzug wird sodann jedoch zugestanden, dass gerade diese
„Definition“ von „Verhaltensstörungen“ wesentlich von den geltenden „Wertsystem“ der
Gesellschaft, dem – wie die Soziologen sagen würden – kulturellen System einer Gesellschaft
abhängig ist.
Wie kann das gehen?, müssen wir uns fragen. Ist denn dann nicht ganz automatisch auch das
allgemeine „Verhalten“ der Menschen nicht gleichfalls von den „Kulturwerten“ einer
Gesellschaft geprägt, sind sie doch zweifelsohne im Bezugrahmen genau dieser „Kultur“
aufgewachsen, haben deren „Werte“ internalisiert?
108
ibid. Zweifelsohne hat „beispielsweise die Idee einer unbewussten Motivation die Vorstellung der
westlich-abendländischen Gesellschaft von der Verantwortlichkeit des Individuums umgeprägt“. Das ist aber
nicht der wirklich entscheidende Punkt. Die hier bemühte „Umprägung“ einer „Idee“ und der mit dieser
verbundenen „Werte“ hat sich nämlich keineswegs effektiv auf diejenigen Abteilungen der Systeme der sozialen
Kontrolle unserer „westlich-abendländischen Gesellschaft“ ausgewirkt, die wir mittels des Oberbegriffs
„Strafrecht“ zusammenfassen: Als ein für sein Tun in vollgültigem Sinne Verantwortlicher erhält der gemeine
Mörder ja gerade nicht irgendeine psychiatrische Behandlung sondern geht nach wie vor – in unserem
Rechtssystem – in eine Vollzugsanstalt, wo er seine Schuld zu sühnen hat. Obwohl also jeder streng
freudianisch geschulte Psychiater jederzeit den Nachweis zu erbringen vermag, dass wegen der strukturellen
Dominanz der unbewussten Formen des Denkens, Fühlens und Wollens keine „Verantwortlichkeit“ vorliegen
kann, wird dennoch nach wie vor im Strafrecht mit dem Konstrukt der „Verantwortlichkeit“ gearbeitet. Wie wir
sehen werden: zu Recht.
111
Uns scheint sich hier ein gewisses Dilemma anzudeuten. Jedenfalls werden wir uns aus dem
Blickwinkel der wesentlich kultursoziologisch geprägten Handlungsdefinition Max Webers
genauer mit diesem Dilemma zwischen „Wissenschaftsinteresse“ der Psychiatrie und
kulturwertabhängiger Praxis und Therapie der Psychiatrie befassen müssen und machen an
dieser Stelle lediglich darauf aufmerksam, dass wir hier einen ziemlich eindeutigen Beleg für
das „Hineinspielen“ genuin soziologischen Denkens haben: Was als psycho-pathologisch
auffällige „Verhaltensstörung“ gelten kann, ist ebenso von bestimmten kulturell geprägten
Werten, Normen und Ideen einer Gesellschaft abhängig wie die jeweiligen Therapieziele. Der
entscheidende Punkt jedoch: Es findet keine wissenschaftstheoretisch vigilante Diskussion
genau dieser Problematik statt.
Worauf es uns ankommen wird, ist, dass jedenfalls, sämtliche Verhaltensmuster, die als im
klinischen Sinne „gestört“ aufzufassen sind und für deren „gesetzmäßige Organisation“ sich
der Psychiater interessiert, wenn sie nicht in ihrer Pathogenese eindeutig somatischen
Ursachen zuzuschreiben sind109, als die Ergebnisse von Lernprozessen zu interpretieren sind,
für die ja sodann auch die allgemeinen Lerngesetze zu gelten haben. Das bedeutet, dass diese
Verhaltensmuster irgendwann im Verlaufe der Sozialisation nach Maßgabe bestimmter
kultureller Präferenzen belohnt worden sein müssen. Schärfer formuliert: Klinisch auffällige
Verhaltensmuster lassen sich hinsichtlich ihrer Pathogenese nach Maßgabe bekannter
Lerngesetzmäßigkeiten interpretieren, jedoch hängen die jeweiligen „Verstärkerpläne“
wesentlich davon ab, was in einem bestimmten kulturellen Milieu als verstärkenswert
angesehen zu werden pflegt und was nicht.
Nachdem wir den Text von Redlich und Freedman zur Skizzierung des „Gebietes der
Psychiatrie“ behandelt haben, sollten wir uns nunmehr darauf konzentrieren, was genau dies
eigentlich für die hier in den Mittelpunkt gestellte Fragestellung bedeutet? Es sind
insbesondere drei Punkte die uns hier interessieren:
1. Die Arbeitsdefinition
2. Die quasi soziologische Festlegung
3. Das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und klinischer Anwendung
109
Ich gehe an dieser Stelle davon aus, dass in sehr vielen Fällen bezüglich der Symptomatologie keine allzu
großen differenzialdiagnostischen Probleme auftreten.
112
„Die Psychiatrie“, so wird gesagt, sei ein „Spezialfach der Medizin“. Folgerichtig gelten dann
natürlich auch die allgemeinen Charakterisierungen für die Medizin. Genannt werden die
Aktivitäten
„Forschung“,
„Diagnostik“,
„Therapie“
und
„Prävention“,
was
handlungsbegrifflich bedeutet: der Mediziner forscht, er diagnostiziert – er deutet mithin
bestimmte „Daten“, die er beobachtet –, er therapiert und er „sorgt vor“. Mit einem Wort: Er
handelt, und zwar handelt er subjektiv sinnhaft gemäß seiner sozialen Position und gemäß
zweier dieser zugeordneter verschiedener Rollen. Als Wissenschaftler erforscht er die
entsprechende Krankheit nach Maßgabe der für die Wissenschaftsinstitution geltenden
Wertprinzipien der „rationalen Wahrheitssuche“ als „helfender Arzt“ jedoch handelt er
„praktisch“, nämlich nach Maßgabe ganz bestimmter anderer Kulturwerte als denen, die für
die Institution „Wissenschaft“ gelten. Dem Praktiker bzw. dem Kliniker ist kulturell
vorgegeben, was überhaupt als „krankhaft“ zu gelten hat und was nicht. Es ist prinzipiell
ausgeschlossen, dass mit den Mitteln der Wissenschaft die entsprechenden kulturellen
Zielvorstellungen festgelegt werden können. Auf den Punkt kommt dieses Problem, wenn es
darum geht, den Begriff der „Verhaltensstörung“ zum einen aus dem Blickwinkel der
klinischen Praxis, zum anderen aus dem Blickwinkel der strengen Verhaltenswissenschaften
präzise zu bestimmen. Und hierzu gleich vorweg: Ich kritisiere die Autoren nicht deswegen,
weil sie u.U. dieses Problem nicht zu lösen in der Lage sind, denn so gefasst kann auch ich
hier dazu wenig sagen. Sonst wäre es ja auch kein gravierendes Problem. Zu kritisieren ist
vielmehr, dass „über dieses Problem hinweggegangen wird“, ohne dass sich irgendwelche
methodologische Reflexionen daraus ergeben.
Ich hatte weiter oben vorsichtig darauf hingewiesen, dass sich mir hier ein „gewisses
Dilemma“ anzudeuten scheint. Wenden wir uns also diesem Problem erneut zu, in der
Absicht, dass dabei vielleicht im Spiele befindliche Dilemma genau herauszuarbeiten.
Präzise umschrieben wird der Gegenstand der Psychiatrie als ein Komplex von
„Verhaltensstörungen“, welche wegen ihrer Devianz auffällig geworden sind. Mein erster
Kritikpunkt ist, dass seitens der psychiatrischen Fachwelt wegen ihrer fehlenden
„soziologischen Sensibilität“ viel zu wenig zwischen den jeweiligen Formen der Devianz, wie
ich sie in Abschnitt II. 7. behandeln werde, differenziert wird. Vor allem wird nicht
unterschieden zwischen rationalen Formen der Devianz (Delinquenz bzw. „Widerstand“) und
nicht-rationalen Formen der Devianz. Doch wird, wie gesagt, weiter unten noch genauer
darauf einzugehen sein.
113
Dass vornehmlich die Psychiatrie unter den medizinischen Disziplinen ein ganz besonders
enges Verhältnis zu den „systematischen Sozialwissenschaften“ habe, wird explizit
hervorgehoben – und dies zu Recht –, es muss jedoch die Frage gestellt werden, zu welchen
Sozialwissenschaften genau ein so enger Zusammenhang besteht, eine Frage, die von den
Autoren gerade nicht gestellt wird. Dem gegenüber muss darauf aufmerksam gemacht
werden, dass das Spektrum der systematischen Sozialwissenschaften doch auch solche
Disziplinen umfasst, die sehr weit entfernt von irgendwelchen psychiatrischen Problemen
sind. Die Autoren wären vermutlich sehr erstaunt, wenn wir darauf beharren würden, ein
Kriterium entwickeln zu müssen, welches die „Psychiatrierelevanz“ der einzelnen
sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu gewichten gestatten würde. Ich will in diesem
Zusammenhang nur auf ein Beispiel hinweisen: Die Ökonomie – genauer: die
Nationalökonomie – würde vermutlich von den Autoren als relativ fern vom medizinischen
bzw. psychiatrischen Aufgabenkreis angesiedelt werden, gilt diese doch gerade nicht als
Verhaltenswissenschaft. Aus diesem Blickwinkel würden die Autoren dann auch vermutlich
die Webersche Soziologie unbeachtet lassen, was zumeist ja auch geschieht. Auf den ersten
Blick ist diese Vernachlässigung ja auch durchaus plausibel: Ein Blick in den
„Objektivitätsaufsatz“ belehrt darüber, dass hierbei „Soziologie“ und Nationalökonomie als
ein einheitliches Ganzes aufgefasst wird. Von daher scheint die Soziologie als ziemlich
entfernt von allem, was den Psychiater interessieren muss. Ein genaueres Hinsehen zeigt dann
jedoch ein völlig anderes Bild: Es ist alles andere als ein Zufall, dass die gesamte
Argumentation Max Webers auf dem Lehrstück der Nationalökonomie beruht, ist jedoch
vornehmlich die Nationalökonomie das Paradigma schlechthin für die Demonstration der
Fruchtbarkeit einer konsequent idealtypischen Konstruktion des Rationalitätsbegriffs. Und
dass genau dieser Begriff auch und gerade für eine konsequent verhaltenstheoretisch fundierte
„Theorie und Praxis der Psychiatrie“ uninteressant sein würde, wird wohl niemand ernsthaft
behaupten, bildet er doch den eigentlich „Angelpunkt“ sowohl der kognitivistisch gefassten
Verhaltenswissenschaften als auch jedweder „Soziologie“, wie auch immer diese dann auch
aussehen mag.
Webers Auffassung zufolge bildet die Grundlagenforschung der Nationalökonomie den
methodologischen
Ausgangspunkt
für
eine
mögliche
Integration
der
gesamten
Sozialwissenschaften. Aus diesem Grund ließe sich, so Weber, auch nur mit Blick auf die
Nationalökonomie der Begriff des sozialen Handelns, oder genauer noch: des rationalen
sozialen Handelns, als der eigentliche Grundbegriff der gesamten Sozialwissenschaften
114
gewinnen, der jedoch – und genau hier liegt das entscheidende Problem – auf irgendeine
Weise bezogen werden muss auf den Verhaltensbegriff. Dies nämlich ist – und wie wir weiter
unten noch deutlicher sehen werden: zu Recht das eigentliche Anliegen Max Webers. Die
Nationalökonomie ist nur das ausgezeichnete Lehrbeispiel dafür, wie ein allgemeiner
Handlungsbegriff in Relation gesetzt werden kann zum Verhaltensbegriff. Und genau dieser
Begriff bildet ja wiederum auch nach Auffassung der Psychiatrie die Grundlage für die
Konstruktion des Begriffes der Verhaltensstörung, was allgemein umschrieben werden kann
im Rahmen einer Theorie der Devianz. Dazu dann weiter unten wesentlich mehr. An dieser
Stelle halte ich lediglich fest:
1. Der Begriff der „Verhaltensstörung“, mittels dessen zu Recht der der Psychiatrie
genuin zueigene Gegenstandsbereich sowohl in ihrer Grundlagenforschung als auch in
ihrer praktisch-therapeutischen Anwendung umschrieben wird, lässt sich dann und nur
dann auch präzise formulieren, wenn man das Verhältnis zwischen dem
Handlungsbegriff und dem Verhaltensbegriff in einer methodologisch korrekten Weise
abzuklären versucht. Praktisch das gesamt Lebenswerk Max Webers ist mit genau
dieser methodologischen Kernfrage der Soziologie als einer Wirklichkeitswissenschaft
befasst (gewesen). Dass z.B. Redlich und Freedman nicht präzise zu unterscheiden
imstande sind zwischen genuin rationalen Formen der Devianz und „irrationalen“
Formen abweichenden Verhaltens, ist deswegen kein Zufall, weil sie genau diese
Diskussion aus ihren Überlegungen ausblenden.
2. Menschliche Wesen verhalten sich, ebenso wie nicht-menschliche Organismen sich
verhalten. Und ebenso wie infra-humane Organismen bestimmte Verhaltensstörungen
aufweisen, deren „Muster“ sich studieren, beschreiben und erklären lassen, weisen
natürlich auch menschliche Wesen bestimmte Verhaltensstörungen auf, die sich als
„vom Normalen abweichende“ Verhaltensmuster studieren, beschreiben und erklären
lassen. Unmengen von dergestalt organisch bedingten „Krankheiten“, lassen sich so
weitgehend kulturunabhängig studieren, beschreiben und erklären. Dieser Punkt ist
ganz sicher nicht strittig. Im eigentlichen Sinne „mentalsyndromatisch“ wird die ganze
Angelegenheit
erst
dann,
wenn
115
genuin
humane
Sozialisations-
und
Enkulturationsvorgänge im Spiel sind, die Devianzformen erzeugen, welche mit den
sozialstrukturell dominierenden Kulturwerten diskrepant sind. Und um genau diese
geht es: Es geht um die „Besonderheit“ von strukturellen Verhaltensmustern, welche
ausschließlich menschlichem Verhalten eignen, wodurch das Problem des sog.
„Kulturwertrelativismus“
aufgeworfen
wird.
Um
auch
dieser
Problematik
methodologisch Rechnung tragen zu können, hat nämlich Max Weber den
Handlungsbegriff genauso eingeführt, wie wir ihn weiter unten kennenlernen werden,
und sodann diesen Handlungsbegriff in Beziehung gesetzt zum Verhaltensbegriff. Ist
aber diese analytische Heuristik „im Prinzip“ korrekt, was ja die – auch bei Stryker
nachzulesene – These impliziert, dass zwischen humanspezifischen Verhaltensmustern
und infra-humanspezifischen Verhaltensmustern eine qualitative Differenz postuliert
werden muss, dann ergibt sich zwingend, dass auch die humanspezifischen
Verhaltensstörungen im Bezugsrahmen des „Handlungsmodells“ und nicht im
Bezugsrahmen eines kulturjenseitigen Verhaltensmodells studiert, beschrieben und
erklärt werden müssen.110
Wenden wir uns deswegen noch einmal etwas intensiver dem Begriff der „Verhaltensstörung“
zu, als wie wir es bisher getan haben, und unterziehen wir im Lichte der in den letzten beiden
Absätzen behandelten Hinweise auf die genuin soziologische Dimension der „Handlungs- und
Rationalitätsproblematik“ die bereits vorgestellten Textvorlagen erneut einer genaueren
texthermeneutischen Interpretation:
Redlich und Freedman erläutern mittels des Begriffs der „Verhaltensstörung“ zunächst einmal
rein arbeitsdefinitorisch, worum es ihnen geht. Dabei wird das gesamt Spektrum dessen, was
soziologisch als „Devianz“ der Differenzierung bedürftig ist, abgedeckt. Ganz allgemein ist
die
Rede
von
unangemessene[n],
„abnorme[n],
unangepasste[n]
subnormale[n],
oder
unerwünschte[n],
fehlangepasste[n]
inadäquate[n],
Verhaltensweisen,
deren
gemeinsames Kennzeichen“ es sei, „dass sie zu den Normen und Erwartungen des sozialen
und kulturellen Systems, dem der Patient angehört, im Widerspruch stehen.“111
110
Vgl. hierzu auch die Ergänzungen der Weberschen Grundannahmen, die ich weiter oben in Anlehnung an
den Strykerschen „Sozialbehaviorismus“ vorgenommen habe.
111
Redlich/Freedman S.14 Hervorhebungen mittels Kursiv durch mich Ch. K.
116
Bedenken stellen sich erst ein, wenn mit der Gleichsetzung der psychiatrisch auffälligen
Verhaltensstörungen mit normendiskrepanten Verhaltensmustern lediglich auf den jeweiligen
sozialen und kulturellen Kontext, in dem diese „Störungen“ auftreten, hingewiesen wird. Dass
dieser Aspekt „mitzubedenken“ sei, ist aus den im obigen zweiten Absatz genannten Gründen
viel zu schwach. Ich lege entschiedenen Wert auf den Hinweis – und genau damit tritt das
Problem
der
Konstruktion
einer
streng
allgemeinen
empirisch
falsifizierbaren
Sozialisationstheorie auf den Plan –, dass hierbei eigentlich die Problematik des sog.
„Kulturrelativismus“ hätte durchreflektiert werden müssen, liegt hier doch auch der
neuralgische Punkt jedweder „transkulturellen Psychiatrie“, wie sie z.B. seitens der „Gießener
Schule“ (Wulff) seinerzeit thematisiert wurde. Eine eingehende Diskussion dieses Problems
muss ich mir an dieser Stelle natürlich versagen.
Sodann wird eine präzisere Kennzeichnung der hier in Frage stehenden Verhaltensstörung
vorgenommen: Es gehe um solche „Verhaltensstörung[en]“, die nur solche „Menschen“
beträfen, die „nicht imstande [seien], sich sozial, sexuell oder im Beruf gemäß den
Erwartungen ihrer Umwelt zu betätigen.112
Um genau diese Klasse von – wie wir sagen werden – manifester Inkompetenz geht es also.
Sie sind genuin psychiatrisch zu charakterisierende Patienten, die „leiden und andere leiden
[machen]“.113
Wenn nun der Bereich der „Verhaltensstörungen“ dergestalt ins Zentrum der psychiatrischen
Aufmerksamkeit gerückt wird und damit „rein deskriptiv sämtliche Formen von
Fehlverhalten“ gemeint sind, dann ergibt sich natürlich automatisch die Frage nach dem
Verhältnis zwischen „Verhalten“ und „Verhaltensstörung“.
Interessant scheint mir nunmehr die Art und Weise wie von den Autoren der
Verhaltensbegriff gefasst wird. Er wird nämlich zunächst einmal streng behavioristisch
gefasst, beharren die Autoren doch – und dies zu Recht – auf dem Postulat der
Beobachtbarkeit: „Verhalten meint hier zunächst das offene, manifeste Verhalten,
einschließlich des Verbalverhaltens“.114
112
ibid.
113
ibid.
114
ibid.
117
Völlig zu Recht weisen dann Redlich und Freedman daraufhin, dass man scharf unterscheiden
müsse zwischen den beobachtbaren Verhaltensformen und den nur erschließbaren Gründen
für die beobachtbaren Verhaltensstörungen, vermeiden jedoch
eine systematische
Auseinandersetzung mit diesen methodologisch bekanntermaßen extrem schwierigen
Problem. In dem wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog hatte ich ja implizit darauf
hingewiesen.
Anhand einer systematischen Erörterung der von Freud so meisterhaft beschriebenen
„Fehlleistungen“ hätte sich, wie ich meine, minuziös demonstrieren lassen, wie beobachtbare
Verhaltensdaten und erschließungsbedürftige mentale Zustände zu „sinnvollen Mustern“
hätten konstruiert werden können. Bezogen auf die in dieser Arbeit ins Zentrum gestellte
Fragestellung heisst das:
Beobachtbar ist z.B. das sprachliche Verhalten eines Menschen, so dass sich die Sprechakte
daraufhin untersuchen lassen, dass sie eventuelle Verstöße gegenüber der Syntax aufweisen,
die der Analytiker als „Fehlleistungen“ interpretiert und diese sodann in einen kausalen
Zusammenhang mit ganz bestimmten „Mentalzuständen“ bringt, welche er z.B. als
„neurotisch“ bezeichnet. Zeichnen wir nunmehr ein, was wir weiter oben bereits zum einen
über die „Identitätskrisen“, zum anderen – im „wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“ –
über das Verhältnis zwischen „Beobachtungssprache und theoretische Sprache“ ausgeführt
haben, und beziehen wir das dort Ausgeführte auf diese Textstelle, so ergibt sich:
Identitätskrisen müssen, da sie als mentale Zustände zum „subjektiven Leben der Person[en]“
gehören und deren „private Gedanken, Reaktionen und Gefühle“ betreffen, erschlossen
werden.
Hier wohl dann der entscheidende Punkt: Beziehungen zwischen beobachtbaren
Verhaltensmustern und den diesen zugrunde- und vorausliegenden mentalen Zuständen,
lassen sich nur und ausschließlich auf dem Hintergrund einer für „wahr“ gehaltenen empirisch
falsifizierbaren Theorie herstellen. Wie einleitend wieder und wieder behauptet handelt es
sich bei dem Begriff der „Identitätskrise“ also tatsächlich, wenn dieser Begriff als ein
Fachterminus eingeführt werden soll, um ein theoretisches Konstrukt, welches seinen Ort in
einem idealtypisch konstruierten Identitätsmodell haben muss, so dass sich nunmehr
(trivialerweise)
ergibt:
Im
Prinzip
beobachtbare
Verhaltensmuster,
welche
als
„Verhaltensstörungen“ psychosozial auffällig geworden sind, müssen im Rahmen einer
wesentlich theoretisch organisierten Bemühung interpretiert werden, wenn man sie
tatsächlich, wie Redlich und Freedman postulieren, in einen systematischen Zusammenhang
118
miteinander zu bringen beabsichtigt. Nur so macht dann die nachstehende Forderung Sinn,
dass das „offene (manifeste) wie das verborgene (latente) Verhalten“ als eine Relation
„systematisch [miteinander] verknüpfte[r] und sinnvolle[r] Ereignisreihen, konstruiert
werden müsse“ .115
Wie wir sehen können, stellt eine solche „Verknüpfung“ einen kausalen Zusammenhang her
zwischen den fraglichen Relationen.
Auch hier weise ich darauf hin, dass sich genau diese Problematik ohne massive Abstützung
an den „Problemen und Resultaten der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie“
(so der Titel des nach wie vor besten Lehrbuchs der modernen Wissenschaftslogik) überhaupt
nicht sinnvoll diskutieren lässt. Hierzu hat nämlich Sigmund Freud selbst in seinen
grundlagentheoretischen Schriften ein Erkenntnisprogramm ausgearbeitet, welches als ein
solches eigentlich nirgendwo zur Kenntnis genommen und wissenschaftstheoretisch
gewürdigt worden ist. Gleichwohl müsste eben dieses Erkenntnisprogramm naturgemäß – es
handelt sich dabei um die als „Metapsychologie“ umschriebene Dimension der Psychoanalyse
– im Lichte der bisher im Rahmen der strengen Wissenschaftslehre erarbeiteten Ergebnisse
diskutiert und umgeschrieben werden. Dies kann meine Arbeit natürlich nicht leisten.
Hier halte ich lediglich fest:
Von einer wirklichen echten methodologischen Auseinandersetzung mit den hier
angerissenen methodischen Problemen der „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ findet sich
nichts. Methodologie wie Soziologie sind „Fremde“ in der Geisteswelt der Psychiatrie und
der „Pädo-Psychiatrie“.
Wie aber steht es denn dann überhaupt mit der „Wissenschaftlichkeit“ dieser
Sonderdisziplinen der allgemeinen Heilkunde?
Redlich und Freedman stellen dazu – wie ich finde: konsequenterweise – die beiden
folgenden
Fragen,
welche
sie
ihrem
Grundprogramm
„verhaltenswissenschaftliche“ verstanden wissen wollen:
115
ibid.
119
entsprechend
als
a) „Wie werden die einzelnen Verhaltensereignisse zu sinnvollen Mustern
organisiert?“
b) „Wie lassen sich die für die Diagnose, Ätiologie und Therapie relevanten
Beziehungen aufdecken?“116
Selbstverständlich ist die so gefasste Fragestellung keineswegs falsch, jedoch muss betont
werden, dass dadurch – nämlich in dieser Kombination – das dahinter verborgene
methodologische Problem als solches lediglich aufgeworfen bzw. benannt, keineswegs jedoch
bereits analysiert wird. Auch hierbei handelt es sich, wie ein Blick in mein Thesenkatalog
lehrt, um ein wissenschaftstheoretisch prekäres Problem, um ein Problem, mit dem sich der
Webersche „Objektivitätsaufsatz“ in seinem ganzen ersten Teil fast ausschließlich befasst. Es
betrifft das Verhältnis zwischen theoriekonstruierender Grundlagenforschung und klinischtherapeutischer Anwendbarkeit der Ergebnisse derselben. So wie Redlich und Freedman die
Frage aufwerfen, um die es hier geht, wird eigentlich nur zugedeckt, dass eine streng
allgemein gefasste Verhaltenstheorie, welche die divergenten verhaltenstheoretischen Ansätze
zu einem kohärenten Ganzen zu integrieren versuchte, unabhängig konstruiert werden muss,
von ihren jeweiligen Funktionalisierungsmöglichkeiten „in therapeutischer Absicht“. Wie
einleitend betont sehe ich hier natürlich genau den Stellenwert einer streng allgemeinen
gefassten Sozialisationstheorie mit entsprechend großer Erklärungskraft, die zu konstruieren
ich ja notorisch postuliert habe. Auch hier ziehe ich nur die Schlussfolgerung aus einigen
nicht in Zweifel gestellten Resultaten der modernen wissenschaftstheoretischen Forschung:
„Bewährung in der Praxis“ ist etwas völlig anderes als „empirische Bewährung“.117 Die
Frage, wie sich „die einzelnen Verhaltensereignisse zu sinnvollen Mustern organisieren“ ist
eine verhaltenstheoretische Frage und gehört der Grundlagenforschung an. Erst wenn diese
Frage halbwegs konsensfähig unter den Fachleuten beantwortbar ist, lässt sich sodann auch
116
ibid.
117
Vgl. hierzu die entsprechenden Passagen im [Forschungsantrag], wo minuziös nachgewiesen wird, dass
die „technologisch-applikative Transformation“ einer empirisch gehaltvollen Theorie, nicht als Bewährung für
eben diese Theorie angesehen werden kann. Genau hier lag ja der eigentliche Denkfehler der radikalen
Positivisten bei ihrer Verwerfung der Psychoanalyse als „unwissenschaftlich“: Erfolgreiche therapeutische
Anwendung ist kein Beleg für die Haltbarkeit einer Theorie, in deren Rahmen die Therapie vorgenommen wird,
und erfolglose „Anwendung“ wiederum belegt nicht die „Falschheit“ der Theorie. Überspitzt ausgedrückt:
Empirische Validierung – der Fachausdruck hierfür heißt „Corroboration“ – und Bewährung im
Anwendungsfalle sind wissenschaftslogisch völlig verschiedene Prozeduren.
120
seitens der klinischen Praxis an die so formulierte Grundlagenforschung die Frage nach
denjenigen „relevanten Beziehungen“ stellen, die deshalb für „die Diagnose, Ätiologie und
Therapie“ relevant sind, weil sie dafür sozusagen „verantwortlich“ zu machen sind, dass die
normalerweise seitens der betreffenden Personen „zu sinnvollen Mustern organisiert[e]“
Verhaltensereignisse bei den Verhaltensstörungen nicht anzutreffen sind.
Ich wiederhole noch einmal: Was die Autoren hierbei völlig „außen vor“ lassen, ist das
äußerst prekäre Problem des Verhältnisses zwischen theoriekonstruierender Forschung und
theorienanwendender (klinischer) Praxis. Nach meinem Dafürhalten liegt hier einer der
Gründe dafür, dass wir eben bislang nicht über eine auch nur halbwegs in sich kohärente,
empirisch
falsifizierbare
Sozialisationstheorie
verfügen,
welche
als
kognitive
Hintergrundsfolie für eine wirkliche Ätiologie der Mentalerkrankungen fungieren könnte.
Doch das nur nebenbei.
Mit anderen Worten:
Die Psychiatrie muss bei ihrem Versuch, Verhaltensstörungen symptomatologisch so zu
erfassen, dass entsprechende therapeutische Maßnahmen auch greifen können, über eine
Theorie verfügen, die genau angibt, unter welchen Bedingungen sich psychiatrisch auffällige
Verhaltensweisen entwickeln und wann dies nicht der Fall ist.
Dafür jedoch muss zuallererst eine entsprechende Theorie vorliegen, in deren Rahmen sodann
vielleicht auch Kriterien konstruierbar sind die es gestatten, „psychiatrisch auffällige“
Verhaltensweisen als echte Verhaltensstörungen zu diagnostizieren.
Was wird in streng methodologischer Hinsicht damit eigentlich gesagt?
Dass es hier um eine allgemeine Sozialisationstheorie gehen muss, die ja vielleicht
tatsächlich, wie es die Autoren wollen, ausschließlich streng verhaltenswissenschaftlich zu
konzipieren ist – diesen Punkt stelle ich als Möglichkeit nicht in Zweifel! – dürfte klar sein.
Dies haben wir bereits mehrfach betont und werden es notorisch erneut thematisieren. An
dieser Stelle kommt es mir noch auf einen anderen Aspekt an, der mir in methodologischer
Hinsicht interessant erscheint, gerade weil er in den psychiatrischen Bestimmungen des
Gegenstandsbereiches von Devianzformen notorisch unerwähnt zu bleiben pflegt. Ich werde
auch dies an dieser Stelle in einer apodiktischen Aussage formulieren, die sodann im
Folgenden weiterentwickelt und erläutert werden soll:
121
Man kann dann und nur dann differenzialdiagnostisch zwischen rationalen Formen der
Devianz und irrationalen Formen der Devianz unterscheiden, wenn man über ein
idealtypologisch gefasstes Modell „normal“ gedachter Sozialisationsverläufe mit fiktiv
gesetzten Sozialisationswerten verfügt.
Mit anderen Worten:
Benötigt wird eine allgemeine „Theorie“ – in diesem Fall besser: ein Modell – rational sich
vollziehender Lernprozesse, um überhaupt die in der Psychiatrie viel zitierten pathologischen
Lernprozesse beschreiben und gewichten zu können.
Und genau dafür benötigt man ein idealtypisches Konstrukt des „rationalen sozialen
Verhaltens“, welches der hier vertretenen Überzeugung nach nur und ausschließlich gegeben
werden kann im Rahmen einer „Begriffslehre des (rationalen) sozialen Handelns“. Und wie
unschwer zu sehen, muss hierfür begrifflich scharf unterschieden werden zwischen dem
(lerntheoretischen) Verhaltensbegriff und dem genuin soziologischen Handlungsbegriff,
womit wir ja ganz automatisch bei der oben entwickelten Problemlage einer (möglichen)
empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie wären. Hierzu weiter unten dann Genaueres.
Aus diesem Blickwinkel sei es mir gestattet auf einen grundsätzlichen Widerspruch
hinzuweisen,
der
jeden
Versuch,
das
„Gebiet
der
Psychiatrie“
mittels
des
Verhaltenskonstrukts zu „kartographieren“, kennzeichnet und dadurch ein, wie ich
„kulturwissenschaftlich“ argumentierend glaube, methodologisches Grunddilemma erzeugt.
Hören wir aus diesem Grunde noch einmal, was die Autoren Redlich und Freedman im
Hinblick auf das Verhältnis von Verhaltensstörung und Kulturwerten zu sagen haben:
„Was im einzelnen zu den Verhaltensstörungen“, zähle, hänge „von der jeweiligen Kultur
bzw. deren Wertsystem ab.“ Diese „Kultur“ bestimme „auch, welche Maßnahmen jeweils als
psychiatrische Behandlung gelten“ würden. Hier wird klar gesagt, dass die Psychiatrie mit
Vorgaben operiere, die sie nicht autonom selbst festlegen könne oder solle. Dieser Punkt wird
uns gleich noch genauer interessieren. Die Autoren fahren dann fort, dass der Psychiater aus
genau diesem Grunde an der „gesetzmäßigen[n] Organisation sämtlichen Verhaltens“
interessiert sein müsse, „was immer dessen soziale Bedeutung sein mag.“
122
Mir erscheint dieser Punkt von sehr großer Wichtigkeit: Eine Theorie des Verhaltens muss
streng allgemein, mithin also kultur- und sozialunabhängig ausgearbeitet werden können, um
in der klinischen Praxis mit bestimmten in einer bestimmten Kultur als irrational
umschriebenen Formen des Verhaltens medizinisch praktisch umgehen zu können. Die
paradigmatischen Lehrstücke kulturunabhängiger strenger Allgemeinheit begegnen uns in den
Theoriegebilden der Naturwissenschaften. Ist aber dies die einzige Möglichkeit? Müssen wir
deshalb vielleicht letztendlich nicht doch auf Physik, Chemie und Biologie zurückgreifen?
Die Autoren tun dies indem sie z.B. von den genuin biologisch orientierten
Verhalteswissenschaften sprechen, benutzen jedoch dann, wenn es darum geht, den Begriff
der „Verhaltensstörung“ hierbei „einzuzeichnen“, ausschließlich eine kultursoziologische –
genauer: eine krypto-kultursoziologische Sprache.
Ich werde auf diesen Punkt anlässlich der methodologisch behandelten Abschnitte genauer
eingehen und halte an dieser Stelle lediglich noch einmal fest was bereits einleitend
hervorgehoben wurde:
Es ist eine soziale Tatsache unserer Gesellschaftsform, dass diese im Bezugsrahmen ihrer
großen Systeme der sozialen Kontrolle von sich aus recht klar die Kriterien „vorgibt“ dafür,
was als „gesund“ und „krank“, was als „normal“ und was als „anomal“ zu gelten hat. Und
vom streng soziologischen, genauer: vom streng kultursoziologischen Standpunkt aus, ist
dieser Tatbestand alles andere als unwichtig. Wie wir zumindest andeutungsweise gesehen
haben, tun sich Psychiatrie, Medizin, Psychologie und Sozialpsychologie bekanntlich schwer
damit, ihm Rahmen ihres Kompetenzbereiches Kriterien für die Unterscheidbarkeit von
„gesund“ und „krank“ von „normal“ und „anomal“, von „rational“ und „irrational“ zu
entwickeln. Streng kulturwissenschaftlich, das heißt soziologisch, ist jedoch völlig klar,
warum dies im Rahmen dieser Institutionen gar nicht bewerkstelligt werden kann, nämlich:
Es handelt sich dabei um historisch-variable Kulturwerte im strengen Weberschen Sinne, und
„Werte“ werden den Wissenschaften wie auch ihren angewandten Formen nun einmal
vorgegeben, sie können sich gar nicht aus diesen selbst ergeben. Es ist eines der wichtigsten
Resultate der im „Objektivitätsaufsatz“ von 1904 von Max Weber vorgetragenen
Forschungsarbeit, minutiös herausgearbeitet zu haben, dass Erfahrungswissenschaften
„Werte“ zwar analysieren, eventuell auch mit ihnen umzugehen lehren (können), sie jedoch
niemals selbst begründen können.
Doch dies ist nur der eine Aspekt, der hierbei interessant ist und auf den wir naturgemäß
expressis verbis zu sprechen kommen müssen.
123
Der andere, der hier nur angedeutet wurde, ist eigentlich genauso wichtig, vielleicht sogar
noch wichtiger:
Die Rollentheorie steht, was die möglichen Kausalzusammenhänge zwischen beobachtbarem
Verhalten und deren bloß erschließbare motivationale und kognitive Hintergründe betrifft,
gewissermaßen zwischen beiden. Sie liefert ein Vokabular für eine mögliche (kausale)
Verknüpfung, die jedoch methodisch spezifisch gehandhabt werden muss. Ein Beispiel soll
zumindest andeuten, was damit gemeint ist:
In ganz bestimmten Handlungskontexten lassen sich deren Rollenstrukturen relativ leicht
ausmachen, weshalb auch relativ problemlos bestimmte Devianzen festgestellt werden
können: Fehlleistungen, die sich gut beobachten lassen, sind schließlich Verstöße gegen
bestimmte Rollenanforderungen in bestimmten Rollenkontexten.
Ist aber diese Überlegung richtig, so würde sich daraus die folgende Schlussfolgerung
ableiten
lassen:
Verfügt
man
über
eine
Theorie,
die
z.B.
ganz
bestimmte
„Symptomhandlungen“ und „Fehlleistungen“ in einen Kausalzusammenhang bringt mit ganz
bestimmten nervösen Störungen, und lassen sich wiederum diese „Fehlleistungen“
rollenstrukturell verorten, so ließen sich trivialerweise bestimmte Devianzen in ganz
bestimmten rollenstrukturell angeordneten Handlungskonfigurationen in einer systematisch
überprüfbaren Art und Weise in einen kausalen Zusammenhang mit entsprechenden nervösen
Störungen bringen.
Dies der Grundgedanke, auf den zurückzukommen sein wird.
4.2. Das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung und „Anwendung“
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, „war sich bewusst, dass die Beiträge der
Psychoanalyse zur Grundlagenforschung sich als bedeutender erweisen würden als ihr Beitrag
zur Therapie.“118 In der wissenschaftlichen Literatur wird diese Aussage Freuds viel zu wenig
beachtet. Gleichwohl meine ich, dass sie von grundsätzlicher Bedeutung insbesondere für den
Tätigkeitsbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. Die meisten Arbeiten kranken daran,
dass sie die analytisch zu machende Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und
Therapie vor allem deswegen zu wenig beachten, weil sie in der klinischen Praxis naturgemäß
nicht gemacht wird und in der Regel auch nicht gemacht werden kann. Auch hier erweist sich
124
die konsequent soziologische Betrachtung, wie ich meine, als hilfreich. Explizit werde ich
mich dieser Überlegung erst bei der Behandlung des Weberschen Handlungsmodells –
insbesondere von dessen Methodologie – zuwenden. Dennoch möchte ich diese
Unterscheidung bereits an dieser Stelle nachdrücklich betonen: Es ist aus mehreren Gründen,
wie wir sehen werden, von großer Wichtigkeit, dass der Psychiater sich seiner Rolle als
Wissenschaftler und seiner Rolle als Therapeut bewusst ist und diese gegebenenfalls auch
trennen kann.
In Anlehnung an die Webersche Unterscheidung von Erfahrungswissen und Werturteil ist im
[Forschungsantrag]
ganz
scharf
begrifflich
unterschieden
worden
zwischen
theoriekonstruierendem Forschungsmodus und theorieanwendendem Applikationsmodus.119
Gezeigt werden konnte, dass eine Konfusion dieser beiden Ebenen – sie lassen sich übrigens
rollentheoretisch streng fassen120 – zu einer vollständig falschen Auffassung von den
Validierungsprozeduren streng allgemein gefasster theoretischer Konstrukte führt. Ich beziehe
mich auf dieses Resultat und wende es konsequent auf das hier ins Zentrum gerückte Problem
der „Kulturwertegebundenheit“ psychiatrischer Theorie und Praxis an. Unter diesem
Gesichtspunkt lässt sich nunmehr recht klar re-interpretieren, was Redlich und Freedman
eigentlich im Auge haben: Die Konstruktion wie auch die empirische Validierung streng
erfahrungswissenschaftlich gefasster Verhaltenstheorien, die sich, wie ich meine, immer „in
psychiatrischer Absicht“ auf den Sozialisationsprozess beziehen lassen müssen, bilden die
Voraussetzung
dafür,
dass
bei
beliebig
vorgeprägtem
Therapieziel
das
in
der
Grundlagenforschung akkumulierte Wissen auch erfolgreich angewendet werden kann. Tut
man das jedoch, so ist man ganz automatisch mit all denjenigen methodologischen Fragen
konfrontiert, die das Verhältnis zwischen „Erklärung“, „Prognose“ und (technologischer)
„Applikation“ betreffen, ein Problem, welches sich nur im Rahmen einer Erörterung des sog.
„DN-Schemas einer wissenschaftlichen Erklärung“ diskutieren lässt: Therapeutische
Anwendung von „Grundlagenwissen“ besteht in dem gezielten Eingriff in ein ansonsten ja
„natürlich“ ablaufendes Geschehen. Um jedoch einen solchen „gezielten Eingriff“ überhaupt
vornehmen zu können, muss zuvor eine Prognose erstellt werden, die besagt, wie der infrage
118
Redlich/Freedman S.24
119
Vgl. [Forschungsantrag]
120
siehe hierzu das „Arbeitspapier Nr. 12“, welches ich im Anschluss an die Sitzung am 17. März 2004 der
Arbeitsgruppe Dossenheim vorgelegt und vorgetragen habe.
125
stehende Ablauf z.B. einer Tuberkulose sich gestalten würde, würde man den gezielten
Eingriff unterlassen. Näheres wird uns erst in den Abschnitten II. 5. 2, II. 5. 3. und II. 5. 5.
interessieren können.
Betonen möchte ich an dieser Stelle lediglich, dass die hiermit angeschnittene Problematik
des fiktiven „Durchrechnens“ der (möglichen) Konsequenzen einer ganz bestimmten ins
Auge gefassten therapeutischen Bemühung eine ganz massive Relevanz sowohl für die
Konstruktion eines Klassifikationsschemas für psychiatrisch auffällige Krankheitsformen als
auch für die Frage nach der Struktur und der Funktion des sog. „therapeutischen Gesprächs“
hat: Der betreffende Arzt muss, wenn er in medizinischem Sinne zu handeln sich anschickt,
entscheiden, was er will, d.h. worauf sein intentionales Handeln (therapeutisch) abzweckt,
eine Situation, die sich als solche ganz gewiss nicht selbst wiederum restlos als
verhaltensdeterminiert interpretieren lässt.
Und genau diese Problematik verschärft sich
natürlich zusätzlich, wenn im Medium des Gespräches zwischen dem Arzt und dem Patienten
eine therapeutisch relevante Entscheidung zum Gegenstand einer diskursiven Erörterung
gemacht wird: Auch in einem solchen entscheidungssuchenden Gespräch verhalten sich ja die
beiden Gesprächskontrahenten auf eine mehr oder weniger genau beschreibbare Weise, so
dass streng genommen gerade hierbei die dafür relevanten Verhaltensgesetzmäßigkeiten
gelten würden und natürlich auch anwendbar sein müssten. Dennoch ist sicherlich – und dies
aus prinzipiellen Gründen, wie wir anhand einer genaueren Analyse des Gadamerschen
„Gespräches“ sehen werden – gerade ein solches auf eine gemeinsame Entscheidung sich
zubewegendes Gesprächsverhalten nicht prognostizierbar, denn „Gespräche“ nach Maßgabe
der Gadamerschen Idealtypologie sind grundsätzlich offene Sozialsysteme. Was aber wird aus
einer streng wissenschaftlich ausgearbeiteten Verhaltenstheorie, die sich – wie unschwer zu
sehen – auf das Verbalverhalten im Arzt-Patienten-Gespräch gar nicht anwenden lässt?
Nun, aus dem Blickwinkel der Wissenschaftslogik ist dann der Fall klar:
Eine streng allgemeine und als empirisch falsifizierbar konzipierte Theorie, welche von
vorneherein zugesteht, dass sie in bestimmten Fällen aus prinzipiellen Gründen nicht
empirisch prüfbar ist, weil sie mit Ausnahmeklauseln zu arbeiten gezwungen ist, ist eben
keine informationshaltige mithin auch keine erklärungskräftige Theorie im Popper‘schen
Sinne121, da ihre prognostische Relevanz ganz einfach auf den Nullpunkt sinken würde.
121
Vgl. Abschnitt II. 5. 5., wo insbesondere die Popper’schen Prinzipien des sog. „methodologischen
Falsifikationismus“ zu diskutieren sein werden.
126
An dieser Stelle halte ich lediglich fest: Anwendung und mehr oder weniger gezielter Eingriff
in eine wie auch immer geartete Wirklichkeitsdynamik beruhen immer auf zuvor getroffenen
Entscheidungen und damit betreten wir unausweichlich das von Max Weber erschlossene
Gebiet des subjektiv sinnhaften rationalen Handelns, das Gebiet der Soziologie also:
Subjektiv sinnhaftes Handeln beruht immer (explizit oder implizit) auf zuvor getroffenen
Entscheidungen bezüglich (subjektiv wahrgenommener) Alternativen.
Man verstehe gleichwohl die hier vorgeführte Argumentation nicht falsch: Ich plädiere nicht
damit automatisch für die sog. „methodische Dichotomiekonzeption“, wie sie beispielsweise
dem Habermas’schen „Umbau“ der Psychoanalyse zugrundeliegt. Ich weise lediglich darauf
hin, dass hier ein massives Problem jedweder „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ liegt,
welches systematischer methodologischer Behandlung bedürftig ist. Und meine Kritik an dem
Ansatz von Redlich und Freedman bezieht sich ausschließlich darauf, dass dieser – wie ich
meine: gravierende – Aspekt einer Psychiatrie als „angewandter Verhaltenswissenschaft“
noch nicht einmal erwähnt wird.122
4.3. Ein kurzer (kulturwissenschaftlicher) Blick auf die Krankheitsformen(lehre)
Es sind hauptsächlich vier Formenkreise von Verhaltensstörungen, die psychiatrisch von
Interesse sind, die wir hier in Anlehnung an Redlich und Freedman auflisten und kurz
charakterisieren wollen. Ich nehme mir dabei die Freiheit, die Klassifikation der Autoren ein
wenig umzugruppieren und z.B. die von den Autoren ebenfalls aufgeführten Oligophrenien zu
vernachlässigen.
An erster Stelle werden jene „schweren Störungen“ genannt, die dem sog. „psychotischen
Formenkreis“ zugehören. Patienten die unter diesen Krankheitsformen leiden, seinen, so heißt
122
Resch versucht genau dieses Problem zu umgehen, indem er die ethische Dimension des medizinischen
Entscheidungsverhaltens bemüht, und ähnlich hat auch Prof. Verres argumentiert, der meine kritische Mitarbeit
an seinem erst kürzlich erschienen Buch [Was uns gesund macht] dankenswerterweise so warmherzig gewürdigt
hat. Es handelt sich aber nicht um ein „moralisches“ bzw. „ethisches“ Problem, wie auch Herr Prof.
Zimmermann in seiner Kontroverse mit mir hervorgehoben hat, sondern vielmehr um ein Problem, der
erkenntnistheoretischen Grundlagen eigentlich aller Erfahrungswissenschaften. Den Überschritt in die
Moralphilosophie halte ich nicht für notwendig.
127
es, unfähig, „ihre innere und äußere Realität angemessen zu bewältigen und ihre sozialen
Beziehungen konstant und adäquat zu organisieren.“123
Die Aussage bedarf der Interpretation, wie mir scheint, so dass sich zunächst einmal die
folgende Doppelfrage ergibt:
Wird ein Kausalzusammenhang behauptet zwischen der – im Prinzip ja durchaus
beobachtbaren – Unfähigkeit eines Patienten, der an einer Psychose leidet, seine „sozialen
Beziehungen konstant und adäquat zu organisieren“, und der – prinzipiell nicht beobachtbaren
– Unfähigkeit, zwischen „innerer und äußerer Realität angemessen“ zu differenzieren, oder
ist es das theoretische Kriterium einer Psychose, dass ein Patient nicht zwischen „innerer und
äußerer Realität“ unterscheiden kann? In diesem Fall wäre es dann wiederum u.U. das
beobachtbare Kriterium, dass dieser Mensch nicht imstande ist, seine „sozialen Beziehungen
konstant und adäquat zu organisieren“.
Im ersten Fall müsste – sonst würde die Behauptung leer werden – die Unfähigkeit des
Patienten, zwischen „innerer und äußerer Realität“ angemessen differenzieren zu können,
unabhängig festgestellt werden können, von der Unfähigkeit, bestimmte „soziale
Beziehungen konstant und adäquat zu organisieren“. Nur dann nämlich hätten wie eine
empirisch falsifizierbare Kausalhypothese. Hingegen hätten wir im zweiten Fall keine
Kausalhypothese, sondern eher eine begriffliche Bestimmung für Erkrankungen des sog.
„psychotischen Formenkreises“, wobei dann die Unfähigkeit des Patienten, seine „sozialen
Beziehungen konstant und adäquat zu organisieren“, als beobachtbares Kriterium fungieren
würde, um die Unfähigkeit eines Psychotikers zu designieren, zwischen „innerer und äußerer
Realität“ adäquat differenzieren zu können. Dann hätte man allerdings das Problem zu lösen,
die „Realitätsadäquatheit“ noch wesentlich genauer bestimmen zu müssen.
Weil die Autoren uns über die hier angedeuteten Interpretationsmöglichkeiten im Unklaren
lassen, überträgt sich natürlich ganz automatisch die hier angedeutete Unbestimmtheit auch
und gerade auf die klinische Praxis. Die hier dargelegte Pedanterie ist alles andere als eine
rein akademische Frage der Wissenschaftslehre wie wir insbesondere in Abschnitt II. 8. sehen
werden. Anlässlich der dort „durchgespielten“ Möglichkeiten, Aussagen über „Rationalität“
als Definitionen, Grundannahmen oder als empirisch falsifizierbare Hypothesen zu deuten,
werden wir in extenso auf die hier angeschnittene Problematik zurückkommen. Eine
Möglichkeit wäre nämlich immerhin, die ganze Aussage konsequent in eine komparative
123
Redlich/Freedman a.a.O. S. 15. Hervorhebungen durch mich Ch. K.
128
Form zu überführen und dann entsprechende Operationalisierungskriterien anzugeben. Sie
würde dann ungefähr folgendermaßen aussehen:
Je weniger ein Mensch imstande ist, seine „sozialen Beziehungen konstant und adäquat“ zu
organisieren, was z.B. an sprunghaft ansteigendem Anteil von „Fehlleistungen“ in
bestimmten
Konfliktsituationen
ablesbar
wäre
–
dies
eine
Möglichkeit
der
Operationalisierung –, umso weniger wird ein solcher Mensch imstande sein, zwischen
„innerer und äußerer Realität angemessen“ zu differenzieren; genau dies ist ein wichtiges
Indiz dafür, dass dieser Mensch „psychotisch“ ist.
Eine solche komparativ gefasste Aussage wäre etwas weniger mehrdeutig, wie man sieht,
jedoch ist gleichfalls unschwer erkennbar, dass eigentlich immer noch nicht so recht deutlich
wird, ob hier Kausalzusammenhänge behauptet werden, oder aber, ob lediglich genauere
definitorische Kriterien für das Vorliegen oder nicht Vorliegen einer psychotischen
„Verhaltensstörung“ angestrebt werden.
Wir legen die hierbei involvierten methodologischen Probleme – sie werden, wie gesagt,
Gegenstand des Abschnittes II. 8. sein – hier zunächst einmal zur Seite. Worauf es mir an
dieser Stelle ankommt, ist lediglich, auf dieses Problem hinzuweisen: Es handelt sich aus
wissenschaftslogischer Sicht um ein prinzipielles Problem, mit dem man eben notorisch
konfrontiert ist, will man überhaupt die Fruchtbarkeit des soziologischen „piont of view“ für
die psychiatrische „Theorie und Praxis“ plausibilisieren. Nicht bestritten wird natürlich, dass
der erfahrene Kliniker mit „praktischer Urteilskraft“ und „Sachverstand“ in der Regel
durchaus imstande ist, hierbei auch ohne irgendwelche Anleihen an der Wissenschaftstheorie
richtig vorzugehen. Doch darum geht es natürlich nicht.
Wie
unschwer
zu
sehen,
ließen
sich
auch
bei
den
nachfolgenden
„Krankheitsformenhypothesen“ genau die gleichen Überlegungen anstellen, worauf hier
allerdings zunächst einmal verzichtet werden soll. Denn wie gesagt: Anlässlich der Frage
nach den „Kriterien für Rationalität und Irrationalität“ werden wir noch in extenso auf die hier
angesprochenen Problemzusammenhänge zurückkommen. Deshalb an dieser Stelle nur eine
etwas grobe „Auflistung“, bei der es mir lediglich darauf ankommt, zu zeigen, dass und
inwiefern Defizienzen in den theoretischen Voraussetzungen sich ganz automatisch auf
Diagnostik, Prognostik und Therapie auswirken können. Es ist ganz einfach falsch, notorisch
die
vielbeschworene
theoriekonstruierende
„Praxis“
auszuspielen
Grundlagenforschung,
gegen
denn
es
jedwedes
ist
nun
Plädoyer
für
einmal
eine
wissenschaftslogische Binsenweisheit, dass symptomatologische Genauigkeit nie besser sein
129
kann als die hinter ihr steckende theoretische Präzision. Nur um die Demonstration dieses
Gedankenganges geht es mir an dieser Stelle, denn ich will auf ein hierbei gleichfalls
involviertes kulturwissenschaftliches Problem zusätzlich aufmerksam machen.
An zweiter Stelle nennen Redlich und Freedman Neurosen, die, wie ich in enger Anlehnung
an die Freud’sche Nomenklatur vorschlage, vornehmlich mit anankistischen Syndromen
assoziiert sind. Ich weiche allerdings in diesem Punkt – wenn auch vermutlich nur
geringfügig – von der Redlich/Freedman‘schen Kategorisierung ab, weil die Freud’sche
Neurosenlehre, wie ich meine: aus guten Gründen, dazu tendiert, Zwangskrankheiten und
„halluzinatorische Psychosen“ zu trennen.124
Die Autoren fassen – dies vermutlich in Anlehnung an Erikson – Neurosen und Soziopathien
zu
einer
Einheit
zusammen.
Es
ist
klar,
dass
ich
mich
meiner
bisherigen
Argumentationsstruktur zufolge gegen eine solche Konfusion von juristischen und
psychiatrischen Begriffen verwahren muss: Zwar gibt es ganz sicher „Schwerstkriminelle“,
die zugleich gravierende Verhaltensstörungen aufweisen, unsere Systeme der sozialen
Kontrolle jedoch verbieten eine solche Konfundierung mit gutem Grund: Es ist für die
Systemintegration
einer
bestimmten
Gesellschaft
nicht
gleichgültig,
in
welchen
Kompetenzbereich das Umgehen mit ganz bestimmten Formen der Devianz fällt. Zwar mag
der letztendliche Zweck von „Strafjustiz“ und „Therapie“ kulturell derselbe sein, nämlich
„Gesellschaftsschutz“ (social deffence) bzw. Re-Sozialisation des Delinquenten sowie des
Kranken, die Methoden, die hierbei anzuwenden sind, sind es jedoch zweifelsohne auf gar
keinen Fall.
An dritter Stelle werden die psychosomatischen Krankheiten genannt. Es handele sich dabei,
so Redlich und Freedman, um eine „Gruppe von organischen Funktionsstörungen“ mit
„unbekannter Ätiologie ..., bei denen psychogene Faktoren eine hervorragende Rolle spielen.“
( ???)
Auch hierbei weisen die Autoren zu Recht daraufhin, dass zumeist eine präzise
differenzialdiagnostische Vorgehensweise unmöglich ist: „Einige von ihnen [gemeint sind die
124
Ich stütze mich hierbei vor allem auf das schon beinahe „genialisch“ zu nennende Fragment Freuds über
die „Zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“, wo das jeweilige Ausmaß an Realitätsfugativität zum
Kriterium genommen wird, ob ein Patient „noch“ zwangsneurotisch genannt werden kann, oder ob er als
Psychotiker eingeschätzt werden muss. Eine akribische texthermeneutische Analyse dieser Schrift muss ich mir
leider versagen.
130
psychosomatischen Krankheiten] stehen den Neurosen näher, andere weisen enge
Beziehungen zu Psychosen auf.“125
Man sieht bereits – und um mehr geht es mir an dieser Stelle zunächst einmal nicht – dass
selbst so hervorragende Fachleute, wie zweifelsohne Redlich und Freedman es sind, sich
durchaus
schwer
tun
mit
einer
differenzialdiagnostisch
präzise
handhabbaren
Symptomatologie, welche streng theoretisch durchzukonstruieren wäre. Vor allem die beiden
Hauptkategorien von Verhaltensstörungen, die Psychosen und Neurosen, seien „keineswegs
immer deutlich gegeneinander [abgrenzbar].“Und letztendlich gäbe es „de facto ja ohnehin
auch“ keine „scharfe Trennungslinie zwischen normalen und abnormen Verhalten.“126
Mit anderen Worten: Es gibt ganz einfach keine hinreichend scharfen Kriterien, um ein auch
symptomatologisch handhabbares Klassifikationsschema zu erarbeiten, welches dem
therapeutischen Umgehen mit „gestörtem Verhalten“ eine tatsächliche Hilfe wäre. Ja nicht
einmal die wirklich scharfe Abgrenzung zwischen Schwerstkriminalität und Krankheit ist
offenkundig möglich.
Stellt aber denn dann nicht, so müssen wir fragen, das Verhältnis zwischen der juristischen
Nomenklatur und der psychiatrischen Nomenklatur letztendlich doch ein Problem dar?
„Ganz sicher“, so muss der Sozialwissenschaftler antworten, „jedoch handelt es sich dabei
weder um ein juristisches noch um ein psychiatrisches Problem als solches.“
Es handelt sich nämlich um ein kulturwissenschaftliches Problem: Angesichts einer
institutionellen Praxis, die mehr und mehr – und dies ganz sicher aus unbestreitbar
humanitären Gründen – dazu tendiert, das Schuld- und Sühneprinzip im Strafrecht zugunsten
von „Re-Sozialisation“ und „Therapie“ zu suspendieren, wird ja ganz automatisch den
Funktionären der medizinischen Systemen der sozialen Kontrolle die prinzipiell fachfremde
soziale Verantwortung aufgebürdet und damit wird, wie nach dem Vorhergegangenen
unschwer erkennbar, vornehmlich der Psychiatrie die Kulturwertdebatte gewissermaßen „von
außen“ aufgeherrscht.
125
Redlich/Freedman a.a.O. S. 16.
126
Dass ist den beiden Autoren in den späteren Abschnitten ihres Buches dennoch gelingt, steht außer Frage,
geht es dort doch um die – wie ich finde: meisterhafte – Präsentation der klinisch-praktischen Kasuistik. Hier
geht es aber ausschließlich um das Problem der „theoretischen Verortung“. Ich gestehe freilich zu, dass eine
wirklich akribische texthermeneutische Analyse dieses vorzüglichen Lehrbuches sich selbstverständlich in dem
hier gemeinten Sinne mit der von Redlich und Freedman vorgeführten klinisch-praktischen Kasuistik befassen
müsste. Auf dieses Manko der vorliegenden Untersuchung hatte ich ja bereits anlässlich der
„Relevanzbesprechung“ in der Einleitung hingewiesen. Genau dieselbe Einschränkung gilt naturgemäß
hinsichtlich der Besprechung der (methodologischen) Schwächen des Resch’schen Lehrbuches. In der Tat ist „so
gesehen“ die hier vorgeführte Kritik ein wenig unfair.
131
Interessanterweise ist bereits von Max Weber dieser Aspekt sehr klar gesehen worden, denn
er schreibt mit deutlich warnender Stimme, hiermit explizit auf die kulturwissenschaftliche
Dimension streng naturwissenschaftlich ausgerichteter Psychiatrie hinweisend:
„Der Fachjustiz ... winkt auf kriminellem Gebiet die Entmündigung durch die FachPsychiater, auf welche zunehmend die Verantwortung gerade für die Beurteilung besonders
schwerer Straftaten abgewälzt wird und denen damit der Rationalismus eine Aufgabe
zuschiebt, welche sie mit den Mitteln echter Naturwissenschaft gar nicht lösen können.“127
Ich meine: Zumindest reden sollte man über genau dieses „Problem der Kulturwerte“ in den
„klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“ (Max Weber). Dafür jedoch
erscheint mir als Voraussetzung unabdingbar, die hierbei im Spiele befindlichen
„Wertsphären“ – auch dies ein Terminus der Weberschen Kultursoziologie – analytisch scharf
gegeneinander abzugrenzen: Während die medizinisch-psychiatrische Grundlagenforschung
nur und ausschließlich dem ethischen Prinzip der „rationalen Wahrheitssuche“ ( Stegmüller)
verpflichtet
ist,
ragen
eben
andere
Kulturwerte
als
die
der
„Wahrheits-
und
Erkenntnisgewinnung“ in den humanitär eingefärbten „medizinsich-klinischen Dienst am
leidenden Menschen“ hinein.
4.4. Interpretation: Ätiologie und symptomatologische Genauigkeit
Soziologisch ist die Psychiatrie ebenso wie die Justiz ein organisatorisch durchgebildetes
komplexes System der sozialen Kontrolle, die sich mittels einer eigenen Fachsprache und mit
einem ganz bestimmtem kulturellen Auftrag auf das Verhalten der Individuen in unserer
Gesellschaft bezieht. Wie Redlich und Freedman richtig gesehen haben, bezieht sich deshalb
die psychiatrische Fachsprache als der Jargon einer sozialen Institution auf ganz bestimmte
Tatbestände, die sie als Verhaltensmuster und damit als „typisch“ in einer generellen Form
umschreibt, wobei in Gestalt eines kulturell vorgegebenen Menschenbildes in der Regel
immer zugleich auch ein ganz bestimmtes Ideal desselben eine mehr oder weniger große
Rolle spielt. Hierauf gehe ich später noch genauer ein, denn an dieser Stelle kommt es mir
noch auf etwas anderes an. Prinzipiell nämlich lässt sich das terminologische Arsenal der
Psychiatrie insgesamt als ein komplexes Klassifikationsschema in ähnlicher Weise, wie dies
127
Weber, M. [Wirtschaft und Gesellschaft] S. 511
132
in der Jurisprudenz geschieht, präsentieren, so dass auch in dieser Beziehung eine ziemlich
weitreichende Analogie zu unseren als „strafrecht“ bekannten Systemen der sozialen
Kontrolle besteht: Der klinische Mediziner ist ebenso wie der praktisch tätige Strafrechtler
gezwungen, den in Frage stehenden „Tatbestand“ so präzise wie möglich zu beschreiben, weil
davon die Wahl der Maßnahmen abhängt, die vorschreiben, wie man mit einem solchen –
erwünschten oder unerwünschten – Tatbestand umzugehen hat. Wir haben es hier wesentlich
mit einem Problem der Sprache zu tun: Existiert keine wirklich gut entwickelte Ätiologie, so
kann eben auch keine wirklich treffsichere Diagnose formuliert werden.
Bedenken wir, was weiter oben in Abschnitt II. 3. 2. in meinem Thesenkatalog zum Problem
der „Wissenschaftlichkeit“ ausgeführt worden ist, so können wir nunmehr mit Blick auf das in
Abschnitt II. 5. 5. dargestellte DN-Schema einer wissenschaftlichen Erklärung den folgenden
streng allgemeinen Satz formulieren, der ja nichts anderes als eine Ableitung aus dem ist, was
bisher entwickelt wurde und was, wie wir sehen werden, anhand des DN-Schemas selbst noch
sehr viel genauer darstellbar ist:
Je allgemeiner und präziser eine das infrage stehende Krankheitsgeschehen betreffende
Theorie ist, welche eine entsprechend umfassende Ätiologie beinhaltet, desto präziser ist die
Diagnose und desto genauer lässt sich zum einen eine Erklärung, zum anderen eine Prognose
formulieren.
Wie in II. 5. 2. (Objektivität), II. 5. 3. (Grundlagenforschung und „Anwendung“) und II. 5. 5.
(DN-Schema) zu zeigen, gilt dieser Satz als zentrale wissenschaftslogische Einsicht, die für
alle Formen des erfahrungswissenschaftlichen Denkens, Forschens und „Anwendens“ ebenso
wahr ist wie er es für eine „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ ist, die sich dem
Wissenschaftsideal verpflichtet.
Es sind drei Fragen, die wir später erneut aufnehmen werden:
1. Was ist eigentlich eine „Diagnose“?
2. Warum ist die Beantwortung genau dieser Frage, die jeder
Kliniker ja wohl problemlos beantworten und erläutern könnte,
dennoch ein au fond wissenschaftstheoretisches Problem?
3. Könnte es u.U. sein, dass eine streng wissenschaftstheoretische
Betrachtungsweise hinsichtlich einer exakten Abklärung des
133
Problems der „Diagnostik“ vielleicht doch selbst dem
erfahrenen Kliniker ein wenig Hilfestellung zu leisten vermag?
5. Max Webers „Begriffslehre des
Wissenschaftscharakter der Soziologie
sozialen
Handelns“
II:
Der
5.1. Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaften und der Weg der Forschung – ein
Tafelbild
Welches ist die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaften? Wie verfolgt und realisiert sie
diese? Welches sind ihre wichtigsten „Instrumente“? In welchem Verhältnis stehen sie zu
denjenigen Formen „rationalen Handelns“, die auf „Wirklichkeitsveränderung“ abzielen?
Was kann eigentlich „Forschung“ heißen? Worin genau besteht der „Wissenschaftscharakter“
der „Soziologie“ und in welch einem Verhältnis steht diese wiederum zu den sog.
„Verhaltenswissenschaften“?
Das sind die Fragen, denen ich mich nunmehr, nachdem im obigen „Thesenkatalog“
schlagwortartig diese Probleme angesprochen worden sind, zuwenden werde.
134
Beginnen wir mit einem Tafelbild. Es wurde dem Lehrbuch von Mario Bunge entnommen128
und ist hier für unsere Bedürfnisse etwas abgeändert worden:
Angewandte
Wissenschaften
Normative
Wissenschaften
Ästhetik
Rechtswissenschaft
Ethik
Mathematik
F ormale
Wissenschaften
Technologie
Ingenieurswissenschaften
Logik
Maschinenbau
BWL
Physik
Chemie
Naturwissenschaften
Biolog ie
Wissenschaften
Chirurgie
Orthopädie
etc.
Ökonomie
Pädiatrie
Soziologie
Ethnologie
Systematische
Sozialwissenschaften
Erfahrungswissenschaften
Psychologie
Medizin
Psychiatrie
Ling uistik
Politische Wissenschaft
Pädagogik
Humanwissenschaften
Pädo-Psychiatrie
Wirtschaftsgeschichte
Sozialgeschichte
Vergleichende
Sprachwissenschaft
Historische
Sozialwissenschaften
Politische Ge schichte
Ideengeschichte
Literaturgeschichte
Tafelbild 1
Interpretation:
Richten
wir
zunächst
einmal,
bevor
wir
uns
auf
das
dahintersteckende
wissenschaftstheoretische Problem einlassen, unsere Aufmerksamkeit auf die vier
rechtsbefindlichen Spalten, so wird, wie ich finde, ziemlich eindeutig klar: Der derzeitig
klinisch arbeitende Mediziner ist, methodisch in den Erfahrungswissenschaften geschult, in
erster Linie ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Praktiker, auf dessen Kompetenz man
sich als hilfesuchender Patient getrost verlassen kann, wenn man ihn wegen bestimmter
135
somatisch ziemlich eindeutig identifizierbarer Leiden aufsucht. Die Pädiatrie beispielsweise
ist, insofern sie wirklich „Kinderheilkunde“ sein will, als eine Abteilung der klinischen
Medizin eine angewandte Naturwissenschaft und folgerichtig wurzelt ihre Ätiologie in genau
denjenigen
gutbestätigten
Theorien
der
vornehmlich
biochemisch
ausgerichteten
Naturwissenschaften, die sich z.B. mit bestimmten Stoffwechselanomalien befasst haben. Die
Pfeilstruktur in den Spalten 9, 11 und 12 spiegelt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit dabei auf
die Kinderheilkunde richten, relativ gut, wie ich finde, diesen Tatbestand wider: Solide
Kenntnisse in Biologie, Chemie und Physik gehören zum Ausbildungsfundus eines Pädiaters,
der, wenn er überdies ein zumindest halbwegs gutes Verhältnis zu seinen Mitmenschen hat,
eben auch ein „guter“ sowie „fachlich kompetenter“ Kinderarzt ist. „Soziologie“ dürfte ihm
fremd sein und das u.U. nötige psychologische Wissen gehört seiner Auffassung zufolge
ohnehin zur Allgemeinbildung. Die gestrichelten Pfeile sollen dies verdeutlichen, wobei der
dünn durchgezogene Pfeil, der von der Psychologie zur Medizin und über die Pädagogik
sodann auch zur Pädo-Psychiatrie führt, auf ein Sonderproblem verweisen soll.
Wie nämlich, so muss man fragen, lässt sich erklären, dass Psychologie in den letzten
Jahren/Jahrzehnten mehr und mehr hat Eingang finden können in das medizinische
Grundlagenwissen, ja offenkundig mittlerweile sogar von den meisten Medizinern als
Bestandteil des Ausbildungsprozedere geschätzt wird?
Die Antwort dürfte nicht schwer fallen: Einerseits ist die Psychologie mittlerweile sehr stark
in
den
Naturwissenschaften
verankert,
andererseits
repräsentiert
sie
in
ihren
populärwissenschaftlichen Publikationen Forschungsergebnisse, die sehr stark auf das
ohnehin umlaufende psychologische Allgemeinwissen ausgerichtet und folglich auch
entsprechend leicht konsumierbar sind. Unbestreitbar reicht das ja auch in den meisten Fällen.
Prekär auch und gerade für den traditionell praktizierenden Pädiater hingegen werden die sog.
„Grenzdiagnosen“: Asthmaerkrankungen, hartnäckige Formen der Enuresis und natürlich die
Anaroxieformen weisen auf psychosomatische Tatbestände, die eine gewisse Hilflosigkeit des
Klinikers erzeugen, wie man weiß.
Der Punkt, auf den es mir hier ankommt, ist der folgende: Werden „Grenzprobleme“
diagnostisch akut, so ist jeder Problembereich notwendigerweise zugleich auch immer mit
dahintersteckenden methodologischen Problemen konfrontiert, und genau diese kommen
128
Vgl. M.Bunge [Scientific Research I], S. 24
136
selbst in den besten Schulungskursen nicht zur Sprache.129 In genau dieser Beziehung soll das
obige Schaubild lehrreich sein.
Man sieht nämlich bereits an den Zuordnungsstrichen bzw. – Pfeilen, dass man sich bei
diesem Schaubild – es ist, wie gesagt, dem Lehrbuch von Bunge entnommen und ein wenig
abgeändert worden – durchaus schwer tut: Erstens sind die Abhängigkeiten nicht eindeutig
und zweitens kann das Schaubild der Tatsache natürlich nicht Rechnung tragen, dass sich
diese Abhängigkeiten fortlaufend ändern und umgruppieren.
Fragen wir woran das liegt, dass sich noch nicht einmal ein halbwegs plausibles
Klassifikationsschema konstruieren lässt, so liegt das, wie ich meine, vornehmlich an
zweierlei:
Soziologisch sind Wissenschaften soziale Institutionen, verkörpern mithin komplexe
rollenstrukturell
beschreibbare
Handlungszusammenhänge
mit
ganz
bestimmten
Organisationsstrukturen und „Aufgabenbereichen“. Dies das eine. Bereits jedoch, wenn es
darum gehen soll, die Aufgabenbereiche genauer zu spezifizieren, ist unschwer zu sehen, dass
eine präzise Spezifikation und damit natürlich auch die entsprechende Klassifikation diese
Aufgabenbereiche auf Deutungen beruht, die uns die strenge Wissenschaftslehre zur
Verfügung stellt. Diese Deutungen jedoch sind eben zum Teil hoch kontrovers.
Ich habe deshalb trotz massiver Bedenken ein Schaubild gewählt, welches ungefähr auf
derjenigen Deutung beruht, die ich in dem obigen Thesenkatalog vorgestellt habe. Die etwas
kräftiger gezogenen Linien sollen dies veranschaulichen. Das bedeutet, dass ich weniger am
institutionellen als vielmehr am erkenntnistheoretischen Aspekt des „Wissenschaftsproblems“
interessiert bin, geht es mir doch erklärtermaßen um die „Einbringung“ des genuin
soziologischen „point of view“ im Hinblick auf die Psychiatrie, und hierbei wiederum
wesentlich um das Verhältnis zwischen „Grundlagenforschung“ und „Anwendung“. Sowie
dies klar ist, ergeben sich nämlich doch zumindest einige „feste Linien“, die deutlich werden,
129
Ein noch in den 60er Jahren im Thieme-Verlag erschienenes, von Heinz Mattern, Ursula Porath und Kurt
Schreier verfasstes und seinerzeit recht intensiv genutztes Lehrbuch der Kinderheilkunde, hatte den
bezeichnenden Titel „Die angeborenen Stoffwechselanomalien in der Prä- und Postnatalperiode“ und
dokumentiert sehr schön die Überzeugung der Autoren, „gute“ Kinderheilkunde sei angewandte
Naturwissenschaft. Die Autoren haben sich später sehr stark bemüht, in Schulungskursen ihre psychologischen
Kenntnisse zu verbessern und zu vertiefen, eine Notwendigkeit, die ihnen durch ihre klinisch-praktische Arbeit
aufgeherrscht wurde [persönliche Auskunft]. Nie jedoch haben sich diese Bemühungen sodann auch in den
späteren Neuauflagen dieses Lehrbuchs irgendwie niedergeschlagen, was bedeutet: Man war schlichtweg nicht
in der Lage, das mittlerweile recht mühselig erworbene psychologische bzw. sozialpsychologische
Grundlagenwissen in den ursprünglich radikalen naturwissenschaftlichen Ansatz dieses Lehrbuches integrativ
einzuarbeiten. In der Tat ist dies ohne Methodologie auch gar nicht denkbar.
137
wenn ich das in Erinnerung rufe, was in dem obigen „Thesenkatalog“ vorgestellt wurde,
nämlich:
Wissenschaften, so hieß es dort, seien „rationale Formen der Wahrheitssuche“, die sich
arbeitsteilig in normative Wissenschaften ( Ästhetik, Ethik, Rechtswissenschaft), in formale
Wissenschaften ( Mathematik, Logik), in Erfahrungs- bzw. Wirklichkeitswissenschaften und
in die sog. „angewandten Wissenschaften“ zerlegen lassen. Als Kriterium fungiert hierbei
das Merkmal, dass es sich wesentlich um ganz bestimmte Aussagenstrukturen handelt, die
hierbei in Frage kommen: Erstens normative Sätze bzw. Werturteile, zweitens Satzsysteme,
die nur dem Widerspruchsfreiheitspostulat zu genügen haben (Mathematik und Logik) – hier
folge ich dem Bungerschen Lehrbuch – und drittens erfahrungswissenschaftliche
Satzsysteme, welche außer, dass sie dem Widerspruchsfreiheitspostulat zu genügen haben,
zusätzlich noch so „gebaut“ sein müssen, dass sie empirischen Gehalt besitzen. Nur dann
nämlich sind sie überhaupt „anwendbar“, denn nur dann auch können sie Erklärungen liefern
und gestatten nur dann auch die Formulierung von Prognosen, welche selbst wiederum von
entscheidender Bedeutung für die Wahl eventueller therapeutischer Maßnahmen sind, wie
bereits in Abschnitt II. 3. 2. hervorgehoben. Man sieht, wie sehr hier alles zugeschnitten ist
auf das von uns ins Zentrum gestellte Problem des Verhältnisses zwischen „Forschung“ und
„Anwendung“ woraus sich ergibt:
Vor allem die Erfahrungswissenschaften sind es, die uns hier interessieren, liefern uns diese
doch in erster Linie diejenigen „Erkenntnisinstrumente“, mittels derer wir die natürliche wie
soziale Welt, in der wir leben, rational durchzukonstruieren und vernünftig umzugestalten im
Stande sind, wobei wir im Zuge dieser vernunftgeleiteten Tätigkeiten permanent Neues „an“
und „in“ unserer Welt entdecken bzw. zu entdecken hoffen. Das Erkennen von
Zusammenhängen, die Entdeckung von Neuem, die (wahrheitsfähige) Beschreibung von
Tatbeständen sowie die Erklärung derselben bzw. deren Voraussage und schließlich die
sinnvolle bzw. vernünftige Veränderung von „Wirklichkeit“ designieren gewissermaßen die
Systemziele wissenschaftlichen Handelns130 und dafür bedarf es eben ganz bestimmter
130
Mein Kollege Julian Rudolph, der sozusagen die „philosophische Position“ in unserer Forschungsgruppe
vertritt, hat seine Magisterarbeit über den mittlerweile als „Marxist“ verfemten Wissenschaftstheoretiker und
Sozialpsychologen Klaus Holzkamp verfasst. Dessen Hauptwerk hat den Titel „Wissenschaft als Handlung“ und
hier findet sich auch die bereits weiter oben gebrauchte Formel des „Willens zur Wissenschaft“. In den
mittlerweile fast vergessenen Arbeiten Klaus Holzkamps wird insbesondere das Verhältnis zwischen
„Grundlagenforschung“ und „Angewandter Wissenschaft“ ausführlich erörtert. Ich stütze mich hierbei allerdings
nicht so sehr auf die Holzkamp’schen Ausführungen selbst als vielmehr auf die Arbeit von Julian Rudolph
[Störende Bedingungen].
138
Instrumente oder auch, wenn man so will ganz bestimmter Erkenntnisinstrumente. Diese
„Erkenntnisinstrumente“ nun, nennen wir die erfahrungswissenschaftlichen Theorien.
Wie ebenfalls im Thesenkatalog hervorgehoben, müssen wir scharf unterscheiden zwischen
den Sozialtheorien welche, zumeist noch in Umgangssprache abgefasst, „normales Wissen“
hinsichtlich der Strukturen unserer sozialen Welt beinhalten und sozusagen den
weltanschaulichen Inhalt ausmachen, der unser lebenspraktisches Erkennen verkörpert, und
den im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Theorien, die auf „Wahrheitsfähigkeit“
abzielen. Interessieren muss uns nämlich deren Verhältnis zueinander, welches grob
folgendermaßen
beschrieben
werden
kann:
Erfahrungswissenschaftlich
organisierte
sozialwissenschaftliche Theoriegebilde, die ja gemäß bestimmter Objektivitätskriterien auf
eine ganz bestimmte Art und Weise konstruiert und empirisch überprüft werden müssen,
können nur dann die entsprechend gesicherte kognitive Grundlage z.B. für eventuelle
therapeutische
Maßnahmen
bilden,
wenn
sie
zu
festen
Bestandteilen
unseres
Wissenschaftswissens geworden und in die bereits bestehenden Theoriegebilde desselben
integriert wurden. Bezogen auf unser „normales“ Alltagswissen verkörpern sie immer ganz
bestimmte Problematisierungen dieses in Alltagssprache eingelagerten sozialtheoretischen
Wissens, woraus sich nunmehr zwanglos die bekannte folgende Formel ergibt:
Erfahrungswissenschaften greifen über unser normales und in der Regel in Umgangssprache
verfasstes „Wissen von dieser Welt“ hinaus, verfremden und problematisieren es und zwingen
uns, die Normalwelt, in der wir leben, mit ganz anderen Augen zu sehen. So wird die uns
erscheinende „Wirklichkeit“ sozusagen auf der Grundlage unseres wissenschaftlichen
Wissens neu konstruierbar. In klassischer ideologiekritischer Weise ausgedrückt heißt das:
Erfahrungswissenschaften problematisieren die Erscheinungsebene und stellen neue Formen
„konstruktiv-selektive“ Partialkonzeptualisierungen der Wirklichkeit dar, wobei sie um des
Eindringens
in
tiefere
Strukturen
des
wirklichen
willen,
die
sozialtheoretischen
Alltagssicherheiten notorisch in Frage stellen.131 Um dies aber überhaupt zu Stande bringen
zu können, bedarf es künstlich geschaffener Fachterminologien und in „weberianischer“
Sprache ausgedrückt heißt das: Die in umgangssprachlicher Begrifflichkeiten verfassten
Wirklichkeitsbeschreibungen und- Erklärungen müssen mittels idealtypischer Konstrukte in
wissenschaftlicher Absicht umgearbeitet, gegebenenfalls sogar neu geschaffen werden.
131
Vgl. hierzu die einschlägigen Ausführungen im [Forschungsantrag]
139
An Hand des Rollenbegriffs hat seinerzeit Popitz sehr eindrucksvoll das Schicksal eines
Begriffes
geschildert,
der
zunächst
als
idealtypische
Konstruktion
seiner
„Verfremdungsaufgabe“ sehr gut erfüllt hatte, dann jedoch, erneut zum festen Bestand
umgangssprachlichen sozialtheoretischen Wissens geworden, diese analytische Kraft nahezu
vollständig einbüßte:
„Rolle, Rollenspieler, Rollenverhalten: mit diesen Worten verbindet sich häufig die erste
allgemein-theoretische Abstraktion der Soziologie, die dem Soziologie-Studenten wirklich
einleuchtet. Sie sind offensichtlich besonders geeignet, sowohl Phänomene zu »zeigen«, wie
gleichzeitig ein distanzierendes Sehen zu lehren, das Allzunahe der sozialen Alltagserfahrung
zu
verfremden,
das
Selbstverständliche
unselbstverständlich und merkwürdig zu machen.
gesellschaftlicher
Zusammenhänge
132
Leider jedoch sei dieser Rollenbegriff sodann wieder in den Alltagsbegriff der
Umgangssprache überführt worden und habe eine solche triviale Selbstverständlichkeit
erlangt, dass seine ursprüngliche Verfremdungsleistung mittlerweile fast vollständig
verlorengegangen sei:
„Aber so verhältnismäßig leicht der Rollen-Begriff diesen Dienst leistet so schnell verliert er
wieder auch seine Funktion: er geht allzu rasch in den eigenen Sprachgebrauch ein, führt zu
uferlosen Assoziationen, läßt sich beliebig in Szene setzen. Man kann eben mühelos alle
sozialen Erfahrungen »aufrollen«. Die Beliebtheit des Begriffs deckt sich schließlich mit
seiner grenzenlosen Brauchbarkeit als Formulierungsschablone. Der Kreis ist bald
geschlossen: Der Begriff der sozialen Rolle dient heute der Geburt der soziologischen Distanz
und fast zugleich ihrem Begräbnis“.133
132
Popitz [Soziale Rolle] S. 3, Hervorhebung durch mich Ch. K.
133
ibid.
140
5.2. Die „Objektivität“ der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis: Max Webers
Postulate, der wissenschaftstheoretische Thesenkatalog von II. 3 .2. und einige
Überlegungen zu Diagnostik, Prognostik und Therapie
Der in methodischer wie in methodologischer Hinsicht wohl wichtigste Aufsatz Max Webers
zum Problem des Wissenschaftscharakters der Soziologie, den dieser im Jahre 1904 anlässlich
der Übergabe der Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ an das neue
Redaktionskollegium (Sombart, Weber, Jaffé) wie ein „Manifest der Wissenschaftlichkeit“
gestaltet hat, trägt den Titel „Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer
Erkenntnis“. Nach unser aller Auffassung hat dieser Aufsatz nach wie vor nichts von seiner
Faszination verloren, sind doch die erkenntnistheoretischen Grundlagenprobleme der
Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die hier zur Sprache gekommen sind, gerade
weil sie sich auf „Sinn und Grenzen rationaler Erkenntnis“ überhaupt beziehen, wie
Winckelmann in seiner „Vorbemerkung“ zur Neuherausgabe von 1973 richtig sagt, eigentlich
bis auf den heutigen Tag ungelöst geblieben.134 Ausgehend von der Einsicht, dass das
„Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der objektiven Geltung ihrer Ergebnisse als
Wahrheit erblickt werden“ müsse135, untersucht Weber hier die Frage, „ob und in welchem
Sinn es objektiv gültige Wahrheit auf dem Boden der empirischen Wissenschaften vom
Kulturleben überhaupt geben“ könne136 und fasst die „Antwort auf die Frage nach den
Bedingungen, die eine Objektivität in diesem Sinne im Bereich kulturwissenschaftlicher
134
Johannes Winckelmann [Anmerkungen und Erläuterungen] S. 533.
Ich kann heute kaum noch sagen, wie oft im Laufe der letzten sechs Jahre gerade dieser Aufsatz Max Webers
beziehungsweise bestimmte Textauszüge aus ihm zum Gegenstand intensivster Auseinandersetzungen in unserer
Forschungsgruppe geworden sind. Bei der Durchsicht der Interpretationen und Kommentare zu diesem
„kulturwissenschaftlichen Objektivitätsmanifest“ musste immer wieder festgestellt werden, wie wenig dessen
Erkenntnisgehalt analytisch eigentlich durchdrungen worden ist. Dass hier auf eine ganz besondere Art und
Weise beschriebene Verhältnis zwischen idealtypologisch gefasster Grundbegrifflichkeit, Theoriebildung und
Werturteilsproblematik, welches nach Porath’s Meinung die eigentliche Kernfrage vor allem der sog.
Integrationsproblematik ist, scheint tatsächlich bis zum heutigen Tage, wie ich es ja auch in meinem
wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog betont habe, ein ungelöstes methodologisches Problem geblieben zu
sein. Vgl. vor allem die hierzu einschlägigen Ausführungen im [Forschungsantrag], die zu zitieren ich mir weiter
oben vor allem deshalb erlaubt habe, weil sie ja bislang noch nicht in Buchform publiziert sind.
135
Winckelmann, J., a.a.O., S. 533
136
ibid.
141
Erkenntnis, d.h. also als Wahrheitssuche, allererst ermöglichen“137, in drei Grundpostulaten
zusammen, die sich erstens auf den „Theoriecharakter des wissenschaftlichen Erkennens“,
zweitens auf die „Bildung scharfer Begrifflichkeiten“ und drittens schließlich auf die „strenge
Trennung von Erfahrungswissen und Werturteil“ beziehen. In der ersten Anmerkung zu
seinen Ausführungen hierzu heißt es:
„Daß
das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten wird, dafür
bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch seiner
Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlechthin identisch ist.
Andererseits war natürlich eine Übereinstimmung in gewissen Grundanschauungen
Voraussetzung der gemeinsamen Übernahme der Redaktion. Diese Übereinstimmung besteht
insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes t h e o r e t i s c h e r E r k e n n t n i s
unter »einseitigen« Gesichtspunkten, sowie bezüglich der Forderung der B i l d u n g s c h a
r f e r B e g r i f f e und der strengen S c h e i d u n g v o n E r f a h r u n g s w i s s e n
u n d W e r t u r t e i l, wie sie hier – natürlich ohne den Anspruch, damit etwas »Neues« zu
fordern – vertreten wird“.138
Wie mein Kollege Julian Rudolph, der die philosophische Abteilung unserer Arbeitsgruppe
vertritt, zu Recht hervorgehoben hat, hat Weber hier nicht nur die Prinzipien
sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis,
sondern
vielmehr
die
Prinzipien
erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt formuliert. Bleibt nur noch hinzuzufügen,
dass diese dreigestaltige Postulatorik Webers sich mit Blick auf die moderne
wissenschaftstheoretische Forschung noch um drei Postulate ergänzen lässt139, nämlich um
das Postulat der prinzipiellen Widerspruchsfreiheit, um das Postulat der prinzipiellen
Falsifizierbarkeit und um das Postulat der strengen „Trennung von Entdeckungs- und
Begründungszusammenhang. Der Deutlichkeit halber liste ich an dieser Stelle die ersten fünf
Postulate auf, wohingegen ich das sechste Postulat, da es sich explizit auf die
Argumentationsstruktur rationaler Diskursformen überhaupt bezieht, im Anschluß behandeln
werde:
137
ibid.
138
Max Weber [Objektivität] S. 146 Hervorhebungen durch mich Ch. K.
139
vgl. hierzu meinen Thesenkatalog
142
1. Wann immer wir von erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis sprechen, ist für diese
unabdingbar, dass sie ihre Voraussetzungen in expliziten Theoriesystemen formuliert. Es
geht also nicht nur um die „Wertschätzung“ theoretischer Erkenntnis als solche. Es geht
vielmehr
darum,
dass
theoretische
Erkenntnis
in
explizit
ausformulierten
Hypothesensystemen dargelegt werden muss, wenn man Forschung betreiben und über
bestimmte thetisch vorgetragene Argumentationsstrukturen Konsens erzielen will.
Entschließt man sich nämlich tatsächlich, dem Holzkamp’schen Vorschlag Folge leistend
„Wissenschaft als Handlung“ aufzufassen, dann ist das selbst dem Objektivitätspostulat
noch übergeordnete – mithin in diesem Sinne „oberste“ – Prinzip vernünftigen
wissenschaftlichen
Argumentierens
überhaupt
das
Postulat
der
intersubjektiven
Überprüfbarkeit: Zum einen muss die Forschergemeinschaft eine begrifflich weitgehend
homogenisierte Sprache sprechen, um überhaupt bezüglich bestimmter Thesen und
Argumentzusammenhänge verbindlich befinden zu können, zum anderen bedürfen
bestimmte Erklärungsvorschläge aus Gründen, welche die Optimierbarkeit der
Prüfbarkeitsbedingungen betreffen, der Explizitmachung der die jeweilige „Erklärung“
leistenden
theoretischen
Prämissen.
Die
Explizitmachung
der
Voraussetzungen
vernünftigen Argumentierens überhaupt ist zugleich auch die notwendige Bedingung für
Objektivität. Vgl. hierzu weiter unten die Ausführungen zum „DN-Modell einer
wissenschaftlichen Erklärung“.
2. Wann immer wir von erfahrungswissenschatlicher Erkenntnis sprechen, ist für diese
unabdingbar, dass sie ihre Theorien bzw. Hypothesensysteme mit scharfen Begriffen zu
konstruieren versucht. Dieser Punkt ist deswegen von hervorragender Bedeutung, weil
dieses Postulat, wie bereits mehrfach betont, präzisierungsbedürftig ist. Denn wie im
obigen „wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“ expressis verbis gezeigt, ist das
Verhältnis zwischen den Begriffen einer Wissenschaft und ihren Hypothesensystemen
(Theorien) klärungsbedürftig: Zwar können nur Hypothesen bzw. Theorien wahr oder
falsch sein, wohingegen auf Begrifflichkeiten als solche der Maßstab von Wahrheit oder
Falschheit nicht anwendbar ist, jedoch können sich die entsprechenden Begrifflichkeiten
für die Konstruktion und empirische Validierung dieser Hypothesensysteme (Theorien)
mehr oder weniger gut eignen, und aus genau diesem Grunde bedarf es „scharfer
Begriffe“, die entweder als „Arbeitsbegriffe“ zu formulieren sind, oder aber, wenn sie in
den sog. „Grundannahmen“ bzw. „Fundamentalannahmen“ Verwendung finden sollen, als
Idealtypen zu konstruieren sind.
143
3. Wann immer wir von erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis sprechen, gilt, dass
Aussagen, welche den Anspruch auf empirische Geltung erheben, scharf unterschieden
werden müssen von Aussagen welche Werturteile repräsentieren, was sich zu folgender
Formel verdichten lässt: Beinhaltet eine Aussage ein Werturteil, dann ist sie keine
erfahrungswissenschaftliche Aussage, und ist sie eine erfahrungswissenschaftliche
Aussage, dann beinhaltet sie kein Werturteil. Ebenso wie auf „Begriffe“ ist auch auf
„Werturteile“ der Maßstab von Wahrheit und Falschheit nicht anwendbar.
4. In engstem Zusammenhang mit dem obigen Postulat der intersubjektiven Überprüfbarkeit
steht das deshalb an gleicher Stelle stehende Prinzip für alle vernünftigen bzw. sinnvollen
Systeme von Aussagen: Das Widerspruchsfreiheitsprinzip. Dieses Prinzip gilt also nicht
nur
für
erfahrungswissenscahftliche
Aussagensysteme,
es
geht
vielmehr
als
Fundamentalprinzip in jedes sinnvolle Aussagensystem ein, denn es handelt sich hier um
ein Grundprinzip des vernünftigen Argumentierens überhaupt. Selbstverständlich gilt es
für
erfahrungswissenschaftliche
Aussagensysteme
in
besonderem
Maße.
Diese
Ausweitung des Postulats der Widerspruchsfreiheit muss uns weiter unten noch in
besonderem Maße interessieren: Für diejenigen zu Theorien zusammengestellten
Hypothesensysteme,
die Anspruch
auf empirische Geltung erheben,
gilt
das
Widerspruchsfreiheitsprinzip, weil aus einer in sich widersprüchlichen Aussage beliebig
viele
Aussagen
logisch
ableitbar
sind,
was
konkret
heißt:
Widersprüchliche
Aussagensysteme haben, da sie keinen Informationsgehalt haben, auch keine
Erklärungskraft und folglich lassen sich aus einem in sich widerspruchsvollen
Aussagegebilde auch keine Prognosen ableiten: Wenn zugleich gilt, dass es morgen
regnen wird und nicht regnen wird, dann lässt sich trivialerweise überhaupt keine
Voraussage über das morgige Wetter machen. Dennoch ist Widerspruchsfreiheit lediglich
die notwendige Bedingung, nicht jedoch die hinreichende Bedingung für Aussagen mit
empirischem Geltungsanspruch, wie ein Blick auf unser obiges Tafelbild lehrt: Zweifellos
müssen die Aussagen und Aussagensysteme der „Formalwissenschaften“ Mathematik und
Logik widerspruchsfrei sein, die Hypothesen der Erfahrungswissenschaften jedoch
müssen darüber hinaus so konstruiert sein, dass sie, wie allgemein gesagt zu werden
pflegt, mit der „Wirklichkeit in Konflikt“ geraten können: Sie müssen falsifizierbar sein,
wozu weiter unten mehr. Hier ist zunächst einmal lediglich festzuhalten, dass vor allem
das Postulat der Widerspruchsfreiheit ein Fundamentalprinzip jedweden „vernünftigen
Redens“ ist. Anhand der Gadamerschen Analyse des „Gespräches“ soll deshalb in einer
sozusagen „idealtypischen Weise“ die Struktur aller vernunftorientierten Formen des
144
Argumentierens aufgezeigt
werden.
Indem
gezeigt werden kann, in welcher
katastrophalen Art und Weise sich kontradiktorische (widerspruchshaltige) Formen des
Argumentierens auf jedweden Diskurs auswirken, kann zugleich auch gezeigt werden,
das, inwiefern und warum das Postulat der Widerspruchsfreiheit konstitutiver Bestandteil
vernünftigen Diskursverhaltens überhaupt ist.
5. Es wurde bereits angesprochen: Damit eine Aussage als eine erfahrungswissenschaftliche
Aussage im strengen Sinne angesehen werden kann, muss sie so konstruiert sein, dass sie
mit bestimmten Erfahrungen in Konflikt geraten kann. Streng logisch gebaute Aussagen
unterliegen lediglich dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Würde man dieses Postulat
alleine geltend machen für erfahrungswissenschaftliche Aussagen, so würde dies nichts
nützen. Logisch wahre Aussagen sind unterbestimmt im Hinblick auf ihrem empirischen
Geltungsanspruch, weil sie keinen möglichen Fall ausschließen. So ist der bekannte
Spruch: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann wird das Wetter anders oder es bleibt
wie es ist“, zweifellos eine in sich widerspruchsfreie wahre Aussage, da ihre Bedeutung
ausschließlich von den in ihr auftretenden logischen Zeichen („wenn-dann“, „und“,
„oder“, „nicht“ etc.) bestimmt ist. Auch sie jedoch ermöglicht keine Prognosen, ist mithin
niemals im Hinblick auf prognostische Momente „widerlegungsfähig“. Die strenge
Wissenschaftslehre drückt den hier gemeinten Tatbestand so aus, dass eine nicht
falsifizierbare Aussage, gerade weil sie sozusagen ein bißchen „zu wahr“ ist, eine Aussage
ohne empirischen Gehalt und damit auch ohne Erklärungskraft und ohne prognostische
Relevanz ist.
Versuchen wir nunmehr, zwischen den drei Weberschen Postulaten und den bereits
ausgeführten wie auch noch zu nennenden methodischen Ergänzungen zu diesen einen
Zusammenhang herzustellen mit unserer Grundfragestellung und beziehen die hier
vorgeführte Postulatorik auf die obigen kritischen Ausführungen zur gegenwärtigen „Theorie
und Praxis der Psychiatrie“. Vornehmlich das Postulat der „scharfen Begrifflichkeit“
interessiert uns in diesem Zusammenhang, ist es doch augenscheinlich direkt bezogen auf die
genuin syptomatologische Problemlage, auf den Zusammenhang zwischen Ätiologie,
Anamnese, Diagnostik und Prognostik also, wie ja bereits weiter oben angesprochen worden
ist: Die Offenlegung des jeweiligen Ursachengefüges einer „Krankheit“, ist gebunden an eine
empirisch falsifizierbare Theorie des Krankheitsgeschehens, und aus dem Blickwinkel einer
solchen Theorie ergeben sich die jeweiligen Möglichkeiten der Anamnese, Diagnostik und
Prognostik.
145
Erinnern wir uns an die oben abbreviativ vorgestellte Krankheitsformenlehre, wie sie sich in
dem „Redlich/Freedman“ findet, so ist auffällig, dass hierbei das Postulat der scharfen
Begrifflichkeit ganz offensichtlich notorisch verletzt wird. Fragen wir ganz konsequent, wozu
wir eigentlich wirklich scharfe Begriffe benötigen, so lässt sich nunmehr die obige These
zuspitzen: Die Begriffe für die diagnostische Symptomatologie müssen wegen der
Konsequenzen, die sich im Hinblick auf die therapeutische Zielsetzung ergeben, scharf gefasst
werden. Wir haben hier eine völlig analoge Situation zur derjenigen, die wir in einem
Strafprozess beobachten können. Da die Konsequenzen an die genaue begriffliche
Umschreibung der Tatbestände gebunden sind, ist es gerade nicht gleichgültig, ob dem
Angeklagten „Mord“, „Todschlag“, „Körperverletzung mit Todesfolge“ oder „fahrlässige
Tötung“ vorgeworfen wird. Ebenso ist es mit der Diagnostik:
Das fragliche Syndrom muss symptomatologisch so genau erfasst werden können, dass sich
die eventuellen therapeutischen Eingriffe ganz gezielt vornehmen lassen, beruhen diese doch,
wie gezeigt, auf einer ganz bestimmten Prognose.
Was aber bedeutet dies?
Nun, zunächst einmal ist klar, dass eine metaphorische Begriffssprache in Jurisprudenz und
Medizin völlig untauglich wäre. Man könnte ganz einfach nicht damit arbeiten. Doch hier
liegt nicht der entscheidende Punkt, auf den es mir hier ankommt. Mit kommt es vielmehr auf
den
systematischen
Zusammenhang
an,
der
zwischen
der
Struktur
erfahrungswissenschaftlicher Theoriegebilde – genauer: deren Niveau – und den aus diesen
abgeleiteten Beschreibungs- Erklärungs- und Prognosemöglichkeiten besteht.
Die Begriffe für die diagnostische Symptomatologie können nämlich umso schärfer gefasst
werden, je besser eine empirisch falsifizierbare theoretische Grundlage für eine gute Ätiologie
sorgt. Eine gute Ätiologie jedoch ist gleichbedeutend mit einer entsprechenden „guten“, d. h.
erklärungskompetenten Theorie, wie oben gezeigt. Die Konstruktion von Theorien, so hatten
wir gesagt, fällt jedoch nicht in den Bereich der angewandten Forschung, wie ein Blick auf
unser obiges Tafelbild zeigt. Sie ist, wie bereits im [Forschungsantrag] explizit gezeigt, eine
Angelegenheit der Grundlagenforschung. Und dennoch: Es besteht schon ein systematischer
Zusammenhang
zwischen
dem
Theorieniveau
der
Grundlagenforschung,
dem
„Differenziertheitsgrad“ einer ganz bestimmten Ätiologie und der „Treffgenauigkeit“ präziser
symptomatologischer Diagnostik. Er sieht jedoch nicht so aus, wie man auf den ersten Blick
annehmen könnte, ist doch, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt, die Prognose, und damit die
Fiktivmöglichkeiten, die sich aus dem Geltungsgrad einer bestimmten Theorie ergeben,
zwischengeschaltet.
146
Fassen wir auch diesen Zusammenhang in Form einer expliziten Aussage, welche die in
Abschnitt II. 4. 4. gemachte präzisiert und ergänzt:
Je besser, umfassender und fachterminologisch ausgefeilter die Grundlagenforschung einer
medizinischen Disziplin, desto allgemeinere und präzisere Theoriegebilde mit entsprechend
größerem empirischem Gehalt lassen sich konstruieren, und da das terminologische Gerüst
der theoretischen Forschung ja zugleich das Vokabular abgibt für Symptomatologie und
Diagnostik, gilt nunmehr, dass eine präzise Diagnostik eine direkte „Funktion“ des
verfügbaren theoretischen Hintergrundswissens ist. Mit anderen Worten: Sage mir, auf
welche allgemeine theoretische Grundlage Du Dich berufst, und ich sage Dir, wie gut Deine
Krankheitsformenlehre ist und wie präzise deine Diagnostik gestaltet werden kann.
Ich habe hier lediglich wissenschaftstheoretisch in expliziter Form zu fassen versucht, was
natürlich jedem Kliniker intuitiv völlig vertraut ist: Je differenzierter die Ätiologie, desto
exakter die Diagnose und desto präziser die Prognose. Worauf ich jedoch ausdrücklich
hinweise,
ist
die
Bedeutung
streng
allgemeingefasster
empirisch
gut
bestätigter
Theoriegebilde, die unabhängig von ihren jeweiligen „Applikationen“ konstruiert und
empirisch überprüft werden müssen. Denn wie gesagt: Man kann einen „natürlich belassenen
Krankheitsverlauf“ dann und nur dann therapeutisch beeinflussen, wenn man über eine
Prognose darüber verfügt, wie der Krankheitsverlauf sich gestalten würde ohne einen solchen
Eingriff. Eine solche Prognose ist aber natürlich nur möglich, wenn eine entsprechend gut
bestätigte empirisch falsifizierbare Theorie hierbei sozusagen die „Kognitivfolie“ abgibt.
Aber auch hier muss auf ein darüber hinaus gehendes Problem explizit hingewiesen werden:
Die Grundbegriffe „gesund“ und „krank“, „normal“ und „anomal“, „rational“ und
„irrational“, etc. müssen extern formuliert werden: Der Arzt kann sagen was therapeutisch
getan werden kann bzw. muss, um einen theoretisch vorhersehbaren malignen Verlauf zu
beeinflussen. Die Therapieziele hingegen werden ihm entweder durch das kulturelle Umfeld
vorgegeben oder aber sie sind Sache des Patienten. Ist jedoch dieser Patient unmündig, d.h.
gar nicht kompetent, überhaupt sagen zu können was er will – und dies ist bei schweren
Verhaltensstörungen notorisch der Fall –, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Ich halte diesen Punkt an dieser Stelle fest und beziehe hier zunächst einmal ganz sporadisch
das Gesagte auf das Postulat der scharfen Trennung von Erfahrungswissen und Werturteil, so
dass gilt:
147
Die Kultur-Wertediskussion ragt auf eine spezifische Art und Weise in alle
Definitionsbemühungen
auch
und
gerade
um
eine
„richtig“
ausgeführte
Krankheitsformenlehre hinein. Weiter unten werden wir sehen, dass sich dieser hier
angesprochene Zusammenhang noch sehr viel genauer fassen lässt, wenn wir uns eingehender
mit der Struktur des sog. „DN-Modells“ sowie (erneut) mit dem „Objektivitätsaufsatz“
befassen.
Weiter oben wurde gesagt, dass das Webersche Postulatenssystem der Trias von scharfen
Begriffen, Theoriesensibilität und Trennung von Erfahrungs- und Werturteil noch einiger
methodologischer
Ergänzungen
bedarf.
Auf
die
absolute
Geltung
des
Widerspruchsfreiheitspostulates wurde bereits hingewiesen, zwei andere Problemkomplexe
sollten wir uns an dieser Stelle, wie ich meine, noch ansehen.
In der strengen Wissenshaftlehre gilt für die wissenschaftlichen Diskursformen, dass scharf
unterschieden werden müsse zwischen denjenigen Argumenten, die sich auf die Entdeckung
einer Theorie (context of discovery) beziehen und denjenigen Argumenten die sich auf deren
Begründung (context of justification) beziehen. Beide Argumentstrukturen müssen radikal
voneinander geschieden werden: Wichtig ist ausschließlich, wie eine bestimmte Theorie oder
auch ein ganz bestimmter Erklärungsvorschlag argumentativ begründet zu werden pflegt.
Dabei ist im Prinzip vollständig gleichgültig, wer den entsprechenden Vorschlag macht und
wie er auf seine Entdeckung gekommen sein könnte. Der argumentative Diskurs muss bei
strenger wissenschaftslogischer Ausformulierung ausschließlich auf den „context of
justification“ bezug nehmen.
Zur Verdeutlichung zitiere ich an dieser Stelle die sehr klaren Ausführungen zu diesem
„Grundpostulat“
vernünftigen
Argumentierens
überhaupt,
die
sich
in
dem
Dissertationsentwurf meines Kollegen Christian Schönleben finden. Es heißt dort:
„Durch die scharfe Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang wird
die prinzipielle Grundvoraussetzung für den wissenschaftlichen Diskursmodus festgelegt. Für
den wissenschaftlichen Diskurs ist es nicht von belang, wer etwas erklärt oder wer etwas
entdeckt hat, sondern vielmehr die Art und Weise – der Modus also – wie ein Zusammenhang
argumentativ begründet wird. Die strikte Einhaltung dieser Grundregel führt automatisch zu
einer Abkoppelung personal attributiver und meist statusbezogener Zuschreibungen und hin
zu
einem
argumentativmodalen,
d.h.
rein
auf
den
logischen
Aufbau
einer
Argumentationsstruktur bezogenen Diskurs: Der idealtypische wissenschaftliche Diskurs
geschieht in Sätzen (Propositionalgebilden) und ihrer widerspruchfreien Verknüpfung zu
148
einem Aussagengefüge. Ein wissenschaftlicher Diskurs besitzt demnach sein Fundament in
der Sachbezogenheit und nicht in der Frage: „Wer streitet sich mit wem“? Aus der
Grundvoraussetzung
der
strikten
Trennung
von
Entdeckungs-
und
Begründungszusammenhang folgt als logische Konsequenz, dass ein Diskursmodus, der so
strukturiert ist, von vorneherein herrschaftsfrei ist.“140
Die vorliegende Arbeit muss es sich leider versagen, diese Postulatorik streng
rollentheoretisch auszuformulieren. Es dürfte jedoch kaum prinzipielle Probleme aufwerfen,
eine solche rollentheoretische Beschreibung zu liefern. Wichtiger ist mit an dieser Stelle die
von Hans Georg Gadamer idealtypisch dargelegte Gesprächsstruktur für rationales
Argumentieren überhaupt. Bevor wir jedoch darauf genauer eingehen, sollten wir uns die
Webersche Analyse des funktionalen Stellenwertes sozialwissenschaftlicher Erkenntnis für
die praktische Verwirklichung bestimmter „Kulturwerte“ noch etwas genauer ansehen. Der
gesamte erste Teil des „Objektivitätsaufsatzes“ beschäftigt sich nämlich mit der Frage der
praktischen Verwertbarkeit und Umsetzbarkeit theoretischen Wissens. Hier ist sozusagen das
prekäre
Verhältnis
zwischen
„wahrheitsorientierter
Grundlagenforschung“
und
kulturwertbezogener Handlungsorientierung „auf den Punkt gebracht“. Ausdrücklich wird
dabei auf das Lehrstück der „klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“
bezuggenommen, um das für Weber im Mittelpunkt seiner Forschungen stehende Problem der
praktisch-sozialpolitischen Bedeutung der „reinen“ Ökonomie zu erläutern. Ich meine, dass
damit auch Licht geworfen wird auf dasjenige „Grunddilemma“, welches weiter oben
anläßlich der Analyse des „Redlich/Freedman“ hat konstatiert werden müssen. Werfen wir
nämlich einen Blick auf unser obiges Tafelbild, so wird die Webersche Formel von den
„klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“ sofort verständlich, wie ich
meine: „Heilkunde“ ist immer zugleich „wahrheitsbezogene Grundlagenforschung“, die
natürlich
dem
Fundamentalprinzip
„wissenschaftsanwendende
Praxis“,
der
Wertfreiheit
zu
eben
bestimmte
welche
ganz
genügen
hat,
und
„Werte“
bzw.
„Kulturwerte“ („körperliche und geistige Gesundheit“, „Ich-Stärke“, „soziale Kompetenz“
etc. etc.) zu verwirklichen hat. Und wir müssen uns die Frage stellen:
Wie geht das zusammen?
140
Vgl. Christian Schönleben [Weltbühne], S. 5/6
149
5.3. Grundlagenforschung und „angewandte Wissenschaft“ – Einige Bemerkungen
zum Problem der „Sozialverantwortlichkeit“
Wie erinnerlich haben wir scharf zwischen theoriekonstruierender Grundlagenforschung und
möglicher Anwendung differenziert. In diesem Zusammenhang haben wir zugleich auch
darauf
aufmerksam
gemacht,
dass
die
institutionell
vorgegebenen
Therapieziele
Wertimplikationen in sich bergen, welche gerade nicht von der Grundlagenforschung selbst
konstruktiv geleistet werden können. Eine Erfahrungswissenschaft kann Werte analysieren,
nicht jedoch sie selbst setzen oder gar begründen. Es ist dieser Punkt, der am
„Objektivitätsaufsatz“ für unsere Grundfragestellung an dieser Stelle interessiert.
Eigentlich alle Wissenschaften, so beginnt Weber den ersten Teil seiner Ausführungen zu
dem Problem der „»Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“,
und vornehmlich diejenigen Wissenschaften, „deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen
und Kulturvorgänge“ seien, seien „geschichtlich zuerst von praktischen Gesichtspunkten“
ausgegangen und damit wesentlich wertgebunden und wertorientiert gewesen. So die
Nationalökonomie, die, wie wir ja wissen, von Weber sodann als „Soziologie“ zu konzipieren
versucht worden ist, und so ganz sicher eben auch die „Heilkunde“, von der wir ja behauptet
haben,
sie
stehe
sozusagen
auf
der
„Grenzlinie“
zwischen
den
Natur-
und
Kulturwissenschaften: „Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen des
Staates zu produzieren, war ihr nächster und zunächst einziger Zweck. Sie war »Technik«
etwa in dem Sinne, in welchem es auch die klinischen Disziplinen der medizinischen
Wissenschaften sind. Es ist nun bekannt, wie diese Stellung sich allmählich veränderte, ohne
daß doch eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des »Seienden« und des
»Seinsollenden« vollzogen wurde“.141 Gemeint ist natürlich, dass sich mit zunehmender
arbeitsteiliger Differenzierung sowohl der Heilkunde als auch der Ökonomie zwar objektiv
„eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des »Seienden« und des »Seinsollenden«
vollzogen“ habe, dass dies gleichwohl nicht in den betreffenden Wissenschaften explizit
methodologisch reflektiert worden sei. Vielmehr sei gewissermaßen „in den Köpfen“ der
Vertreter dieser „Wissenschaften“ die Verknüpfung von „theorieorientierter Forschung“ und
„anwendender Praxis“ vorherrschend geblieben. Soziologisch ausgedrückt aber bedeutet das:
141
Max Weber [Objektivität], S. 148. Ich erinnere hier noch an die obigen Ausführungen: Als
Wissenschaftler stellt der Diagnostiker fest, wie es ist, und als solcher auch prognostiziert er auf der Grundlage
einer empirisch falsifizierbaren Theorie, wie es sein wird, als heilkundiger Therapeut jedoch, der sich am
Kulturwert der „Gesundheit“ des Patienten orientieren muss, legt es fest, wie es sein soll. Weiter unten werden
150
Während sich institutionell eine Wertedifferenzierung vollzogen habe, habe dies dennoch für
das jeweilige Rollenverständnis der Positionsinhaber kein Unterschied gemacht. Weber
drückt dies folgendermaßen aus: „Noch heute“ sei die „unklare Ansicht“ insbesondere bei den
Praktikern „nicht geschwunden ..... , daß die Nationalökonomie Werturteile aus einer
spezifisch »wirtschaftlichen Weltanschauung« heraus produziere und zu produzieren habe“.142
Problemlos lässt sich diese „institutionelle Diagnose“, die Weber hier bezüglich der
Nationalökonomie
vorlegt,
auf
die
„klinischen
Disziplinen
der
medizinischen
Wissenschaften“ übertragen, wie ich meine, haben wir dies doch sinnfällig an dem oben
gezeichneten „Grunddilemma“ in der „Theorie und Praxis der Psychiatrie“ demonstriert:
Auch und gerade in den „klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“ dürfte
bis zum heutigen Tage die Ansicht sehr weit verbreitet sein, theoriekonstruierende Forschung
müsse wesentlich ausgerichtet sein und bleiben an den Erfordernissen der klinischen Praxis.
Nicht gesehen zu werden pflegt dabei, dass genau dadurch ganz bestimmte Kulturwerte in die
wissenschaftliche
Bemühung
hineinragen,
die
selbst
noch
in
erster
Linie
dem
Wertfreiheitsprinzip verpflichtet ist: Das Kulturwertideal der körperlichen und seelischen
Gesundheit mag als ethisches Normengefüge die klinische Praxis noch so sehr bestimmen und
so auch eventuell bestimmte Forschungsrichtungen „bahnen“, das forschungspraktische
Prozedere der empirischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften hingegen, muss
sich an den Wertfreiheitsprinzipien der „rationalen Formen der Wahrheitssuche“ orientieren,
was gegebenenfalls, wie bekannt, zu massiven Konflikten führen kann. Streng
methodologisch ist jedoch die Sachlage klar, wie Max Weber explizit betont:
„Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fachdisziplin muß, wie wir gleich
vorweg feststellen wollen, diese Ansicht [gemeint ist die Werturteilsgebundenheit der
Forschung] grundsätzlich ablehnen, denn wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer
Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für
die Praxis Rezepte ableiten zu können.“143
Fragen wir im Lichte unserer bisherigen Ausführungen, was dies bedeuten könnte, so sehen
wir zunächst einmal ganz deutlich, dass und warum sich die „klinischen Disziplinen der
wir dann die sich daraus ergebenden Möglichkeitsspielräume zu diskutieren haben (Erfolgschancensatz bzw.
Kostensatz).
142
ibid.
143
ibid.
151
medizinischen Wissenschaften“ schwer tun, die Begriffe „gesund“ und „krank“ bzw.
„normal“
und
„anomal“
zu
definieren:
Weil
zwischen
den
streng
erfahrungswissenschaftlichen Grundlagendisziplinen der Medizin auf der einen und deren
klinischer Praxis auf der anderen Seite scharf unterschieden werden muss, gibt es ganz
einfach „die Medizin“ bzw. „die Psychiatrie“ als solche nicht. Bestenfalls lässt sich
definitorische Übereinstimmung unter den medizinischen bzw. psychiatrischen Fachleuten
darüber erzielen, was als „gesund“ und „krank“ bzw. was als „normal“ und was als „gestört“
gelten soll: Normen werden durch Übereinkunft festgelegt und können sich durch (erneute)
Übereinkunft ändern, wissenschaftlich festlegen lassen sie sich nicht. Streng genommen
haben wir hier aber auch ein sehr schönes Beispiel für die „Geltung“ der Forderung nach
Trennung zwischen „Entdeckungs- und Begründungszusammenhang“, was an einem etwas
platten Beispiel verdeutlicht werden mag: Die einstige schreckliche Volksseuche der
Tuberkulose ist wohl ziemlich sicher hochmotivierender Anlass für die Erforschung der
mikro-biologischen Struktur(en) dieser Krankheit gewesen, die erfahrungswissenschaftlichen
Hypothesen jedoch, die zur Auffindung des Tuberkel-Bazillus führten, behandelten
selbstverständlich diesen Tatbestand als etwas völlig „Natürliches“. Wir müssen wohl kaum
den damit gemeinten Sachverhalt bis in alle Einzelheiten hinein betrachten, ist doch ziemlich
klar, was gemeint ist. Ich will hier nämlich noch auf etwas anderes hinaus, wenn ich mich
dieser Problematik aus methodologischer Sicht nähere.
Wenden wir uns also dem „Objektivitätsaufsatz“ Max Webers erneut zu:
„Ausgesprochener Zweck des »Archivs« war seit seinem bestehen neben der Erweiterung
unserer Erkenntnis der »gesellschaftlichen Zustände aller Länder«, also der Tatsachen des
sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über praktische Probleme desselben und
damit .... die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit der Praxis ..... . Trotzdem hat nun aber das
Archiv von Anfang an daran festgehalten, eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift
sein zu wollen, nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten, – und es
entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der Beschränkung auf diese Mittel
prinzipiell vereinigen läßt. Wenn das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung
und Verwaltung oder praktische Vorschläge zu solchen beurteilen läßt – was bedeutet das?
Welches sind die Normen für diese Urteile? Welches ist die Geltung der Werturteile, die der
Beurteilende seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische Vorschläge
macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne befindet er sich dabei auf dem Boden
152
wissenschaftlicher Erörterung, da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der
»objektiven« Geltung ihrer Ergebnisse als Wahrheit gefunden werden muß?“.144
Übertragen wir das auf unser Problem:
Ausgesprochener
Zweck
jedweder
Erörterung
von
methodologischen
bzw.
erkenntnistheoretischen Grundlagenproblemen in der „Heilkunde“ – oder wie Weber sie
nennt: in den „klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften“ – ist neben der
„Erweiterung unserer [Tatsachen]erkenntnis ..... auch die Schulung des Urteils über
praktische [klinische] Probleme .... und damit die Kritik an der [klinisch-medizinischen]
Praxis.“ Da jedoch auch hierbei, soll der Wissenschaftsauftrag als solcher den Vorrang haben,
eine solche „Kritik“ „nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten“
versuchen muss, entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck [Schulung des kritischen
Urteils bzw. Kritik an der Praxis] mit der Beschränkung auf diese Mittel [wertfreie
Forschung] prinzipiell vereinigen läßt“.
Wir fragen etwas anders, da wir die von Weber in den Mittelpunkt gestellte „Vorrangfrage“
als solche nicht nur abschwächen, sonder umformulieren müssen: Wie kann in einer
sinnvollen
Art
und
Weise
klinisch-therapeutische
Praxis
sich
verknüpfen
mit
Grundlagenforschung, welche eben dieser klinisch-therapeutischen Praxis die eigentlichen
Hilfsmittel in die Hand zu geben versucht?
Nun, streng soziologisch entsteht hier eigentlich kein Problem: Man muss scharf zwischen der
Rolle des medizinischen Forschers und der Rolle des klinischen Praktikers differenzieren,
wobei prinzipiell unerheblich ist, dass u.U. diese beiden grundverschiedenen sozialen
Positionen in derselben Person sich vereinigen. Bei näherem Zusehen jedoch ergibt sich sehr
wohl ein Problem, welches allerdings nichts damit zu tun hat, dass „Forscher“ und
„Praktiker“ sehr oft eine „Personalunion“ bilden145:
144
ibid.
145
Dieses Problem ist streng soziologisch überhaupt kein Problem, worauf zu Recht bereits Porath in seinem
Warschauvortrag bei der Frage der „Persönlichkeit Hitlers“ hingewiesen hat: Dieselbe Person kann (und muss)
selbstverständlich mit der Einnahme verschiedener sozialer Positionen (Arzt, Ehemann Klinikchef,
Neurochirurg, Liebhaber, Fahrstuhlbenutzer, Forscher etc. etc.) auch völlig verschiedene soziale Rollen
übernehmen, mit denen sie sich unterschiedlich stark identifizieren kann. Probleme ergeben sich immer nur
dann, wenn bestimmte Rollenanforderungen, welche unvereinbar miteinander sind (Intrarollenkonflikt bzw.
Interrollenkonflikt), sich in bestimmten Situationen überschneiden. Der Punkt um den es mir hier geht, ist, wenn
institutionell und damit objektiv bestimmte Rollen noch nicht hinreichend differenziert sind.
153
Der medizinische Forscher, welcher eine bestimmte Hypothese überprüfen möchte in der
Absicht, sie empirisch zu validieren, verfolgt ein anderes Ziel als derjenige, der „gesichertes
Wissen“ zwecks Realisation des „Gesundheitswertes“ anwendet. Diese beiden Rollen dürften
genau dann relativ problemlos differenzierbar sein, wenn die institutionelle Arbeitsteilung
bereits relativ fortgeschritten ist, sich also – weberianisch gesprochen – „eine prinzipielle
Scheidung von Erkenntnis des »Seienden« und des »Seinsollenden« [bereits] vollzogen“ hat,
und das ist trivialerweise immer dann der Fall, wenn bereits ein hinreichend „empirisch
gesättigtes“ – z.B. neurophysiologisches bzw. pharmakologisches – Grundlagenwissen der
klinischen Praxis „zu Verfügung steht“. Ganz anders sieht die Angelegenheit nämlich aus,
wenn wegen noch relativ niedrigen „Niveaus“ der – z.B. sozialwissenschaftlichen –
Grundlagenforschung diese sich mit der sog. „Praxis“ noch sehr stark überschneidet. Oder
überspitzt gefragt: Was ist mit denjenigen Bereichen, in denen, wie z.B. in dem bisher
beschriebenen Verhältnis zwischen „Sozialwissenschaft“ und „Psychiatrie“ die institutionelle
Arbeitsteilung noch nicht soweit fortgeschritten ist, wie in denjenigen „klinischen
Abteilungen der medizinischen Wissenschaften“, welche die unbestrittene Domäne der
Naturwissenschaften sind? Müssen sich hierbei nicht ganz automatisch sozialtheoretisches
Wissen, im obig definierten Sinne, und sozialwissenschaftliches Wissen notorisch
überschneiden und zu entsprechenden „Rollendiffusionen“ führen?
Da das ziemlich sicher der Fall sein dürfte, ergibt sich naturgemäß die Frage, wie damit
umzugehen ist, und vielleicht ergeben sich ja einige Anhaltspunkte für eine mögliche
Beantwortung dieser Frage, die wir in enger Anlehnung an das im „Objektivitätsaufsatz“ zu
diesem Problem Erarbeitet entwickeln wollen. Dort heißt es:
„Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist
zunächst gebunden an die Kategorien »Zweck« und »Mittel«. Wir wollen etwas in concreto
entweder „um seines eigenen Wertes willen“ oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie
Gewollten. Der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist nun zunächst unbedingt die
Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen
Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, w e l c h e
Mittel zu einem
vorgestellten Zwecke zu führen geeignet oder ungeeignet sind, so können wir auf diesem
Wege die Chancen, mit bestimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten
Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zwecksetzung selbst, auf
154
Grund der jeweiligen historischen Situation, als praktisch sinnvoll oder aber als nach Lage der
gegebenen Verhältnisse sinnlos kritisieren.“146
Zerlegen wir diese Passage in ihre vier Sätze, dann haben wir erstens die für die Kultur- und
Sozialwissenschaften in ihrem Insgesamt Geltung beanspruchende apodiktische Behauptung,
dass „jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns
.... an die Kategorien »Zweck« und »Mittel« gebunden“ sei. Auf diese werden wir später in
anderem Zusammenhang erneut zurückkommen. Zweitens haben wir eine Erläuterung
derselben, auf die wir später gleichfalls zurückkommen werden. Drittens haben wir die –
gleichfalls apodiktisch formulierte – forschungsheuristische Konsequenz, die sich für die
„wissenschaftliche Betrachtungsweise“ im Hinblick auf den in den ersten beiden Sätzen
apodiktisch festgestellten Gegenstandsbereich der „Soziologie“ ergibt, und auf die wir später
ebenfalls zurückkommen werden. Und viertens schließlich, haben wir eine auf diese
forschungsheuristische
Konsequenz
sich
beziehende
Kausalbehauptung
mit
einer
bemerkenswerten „Bedingungsaussage“, die Weber in Klammern setzt. Vor allem diese
interessiert uns hier, betrifft sie doch direkt das für den Therapeuten notorisch gegebene
Problemverhältnis zwischen seinem „Kenntnisstand“ und seinem „praktischen Tun“. Und
hierbei stellen wir (nunmehr) zweierlei fest:
1. Weil die „Zweck-Mittel-Relation“ beim klinischen Praktiker anders aussieht als beim
medizinischen Forscher, geht, obwohl beide herauszubekommen versuchen müssen, woran
genau ein bestimmter Therapievorschlag gescheitert ist, der eine mit einer fehlgeschlagenen
Therapiebemühung anders um als der andere. Wie wir bei der Behandlung des DN-Schemas
sehen werden, muss der Forscher daran interessiert sein, den „Fehler“ bei der Theorie, die
hierbei – implizit oder explizit – zur Anwendung gelangt ist, selbst zu suchen, um die
gegebenenfalls „umbauen“ zu können, während genau diese Frage dem Praktiker scheinbar
überhaupt nicht zu interessieren braucht. Ich sage ganz bewusst „scheinbar“, denn, wenn es
sich um „medizinisch-klinisches Neuland“ handelt, auf dem beide sich zu bewegen u.U.
genötigt sind, wird ja ganz automatisch der Praktiker zum „Grundlagenforscher“. Oder ganz
konkret auf das in dieser Arbeit ins Zentrum gerückte Problem gewendet: Wo es um den
Zusammenhang
(noch)
ungesicherter
sozialisationstheoretischer
Grundlage
und
psychotherapeutischer Praxis geht, ist genau das der Fall. Hier berühren sich sehr eng die
146
Weber [Objektivitätsaufsatz] S. 149
155
beiden Aktivitäten „Prognose zwecks Überprüfung“ und „Prognose zwecks therapeutischem
Eingriff“, worauf zurückzukommen sein wird. An dieser Stelle halte ich zunächst einmal die
allgemeine Aussage hierzu fest, auf die es mir in dem hier angesprochenen Zusammenhang
ankommt: Je stärker wegen noch unentwickelter Theoriegrundlage therapeutische und
wissenschaftliche
–
das
„theoriekonstruierende“
–
ist,
wie
Bemühung
weiter
sich
unten
genauer
berühren,
desto
zu
sehen,
notwendiger
immer
ist
die
methodologische „Zwischenschaltung“.147 Worauf es mir hier wesentlich ankommt, ist
Folgendes: Wegen der unterschiedlichen institutionellen Differenzierung sieht das vielzitierte
„Theorie-Praxis-Verhältnis“ auf dem Felde „gesicherten medizinischen Grundlagenwissens“
vollständig anders aus, als auf dem Felde „ungesicherten medizinischen Grundlagenwissens“.
Ich erinnere an dieser Stelle zur Verdeutlichung des hier gemeinten lediglich an die anlässlich
der Skizzierung des „Forschungsstandes“ zitierten Bemerkungen über den „methodologischen
Irrgarten“ der Psychiatrie.
2. Die Beantwortung der Frage, welche Mittel geeignet sein könnten, um bestimmte Zwecke
realisieren zu können (z.B. Aspirin bei Kopfschmerzen) – dies ja eine Fiktivüberlegung –,
setzt voraus, dass man über eine einigermaßen gut gesicherte Prognose verfügt, die angibt,
was (wahrscheinlich!) passiert, wenn nicht in den in Frage stehenden Ablauf eingegriffen
werden würde. Dies doch der entscheidende Punkt: Die gedankliche Überlegung, was sein
könnte, geht immer der jeweiligen Therapiemaßnahme als einem „subjektiv sinnhaften
Handeln“, welches um eines ganz bestimmten Zweckes willen mit ganz bestimmten hierfür
für „geeignet gehaltenen Mitteln“ praktisch sich betätigt, voraus. Und eine solche gedankliche
Überlegung bezüglich dessen, was getan werden sollte bzw. müsste angesichts dessen, was
„nach menschlichem Ermessen“ zu erwarten ist, steht nun einmal trivialerweise dann und nur
dann auf relativ sicherem Boden, wenn der betreffende Mediziner dabei von einer bis dahin
empirisch gut bestätigten Theorie ausgeht. Sein „menschliches Ermessen“ hätte dann nämlich
eine entsprechend gesicherte Grundlage. Ich will auch dies in einer allgemeinen
Aussage/Regel formulieren: Je besser diejenige Theorie, welche dem Hintergrundswissen
einer praktisch-klinischen Maßnahme zugrunde liegt, empirisch sich bewährt hat, desto
präziser erstens die Ätiologie, zweitens die Anamnese, drittens die Diagnose und viertens
schließlich eben auch die Prognose, von deren Genauigkeit bzw. „Treffsicherheit“ wiederum
147
Ich verweise hier auf meine Ausführungen in der Anmerkung 129: Das dort mitgeteilte Beispiel dient hier
als Beleg.
156
der Erfolg eventuell möglicher therapeutischer Eingriffe abhängt. Und hieraus ergibt sich
nunmehr trivialerweise: Je besser diejenige Theorie, welche dem Hintergrundswissen einer
praktisch-klinischen Maßnahme zugrunde liegt, empirisch sich bewährt hat, desto
risikoärmer die empfohlene Therapiemaßnahme. Dieser Punkt dürfte als solcher kaum strittig
sein, die entscheidende Frage jedoch bezieht sich natürlich auf das Problem, woher unser
Therapeut eigentlich diese „empirisch bewährte Theorie“ bezieht, stellt sich doch unseren
obigen Überlegungen zufolge die reine „Praxisbewährung“ als solche gerade keine
Validierungsgrundlage für die hierbei in Frage kommende Theorie dar. Aber diesen Aspekt
lassen wir hier einmal beiseite.
Worauf es mir also bei der Betrachtung des obigen vierten Satzes im Weberschen Zitat
zunächst einmal ankommt, ist folgendes: Ob unser Kliniker eine solche Theorie nun bewusst
handhabt oder hierbei mehr intuitiv – sozusagen von seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz
ausgehend – vorgeht, ändert nichts an der grundsätzlichen methodologischen Sachlage:
Immer bildet eine jeweils für „wahr“ gehaltene Theorie dabei den kognitiven Hintergrund für
seine Prognose. Und diese wiederum den Fiktivhintergrund für die entsprechende „Wahl der
Mittel“, um den prognostizierten Ablauf des Krankheitsgeschehens kulturwertbezogen – in
diesem Fall, wie zu hoffen, zu Gunsten des Patienten – zu beeinflussen. Vor allem die von
Weber in Klammern gesetzte „Bedingung“ erscheint mir von so entscheidender Wichtigkeit,
dass ich sie in die folgende Aussage überführen möchte:
Wenn
unser
theoretisch
repräsentiertes
Grundlagenwissen
zu
einem
bestimmten
Problembestand als bereits gut bestätigt angesehen werden kann, so dass wir „gültig
festzustellen vermögen, welche Mittel zu einem vorgestellten Zweck zu führen geeignet oder
ungeeignet sind“, dann können wir die Erfolgschancen bestimmter anzuwendender Mittel
auch relativ gut einschätzen, woraus sich trivialerweise ergibt:
Je unsicherer noch die entsprechende „Grundlagentheorie“, desto unsicherer die Anamnestik,
Diagnostik, Prognostik und Therapie. Wie unschwer zu sehen, ist genau das im Hinblick auf
unser Problem der noch fehlenden Sozialisationstheorie der Fall: Es gibt keine hinreichend
gesicherte Sozialisationstheorie und folglich kann es auch noch keine wirklich adäquate
Ätiologie der Mentalerkrankungen geben. Dies nunmehr, wie unmittelbar einzusehen, die
eigentliche Substanz meiner hier vorgelegten Doktorthese.
Oder anders noch:
Der Spielraum für relativ erfolgreiche therapeutische Eingriffe in ein bestimmtes
Krankheitsgeschehen ist umso größer, je mehr und besser bestätigte Theorien hierbei für eine
157
entsprechende Ätiologie sorgen. Problemlos können wir diesen Satz, wie zu sehen,
„umrechnen“ auf unsere obige „Ätiologieaussage“:
Die „Grenzen unseres Wissens“ designieren zugleich auch die Grenzen der praktischen – z.B.
therapeutischen – Möglichkeiten. Das folgt ja ganz zwanglos bereits aus unseren obigen
Ausführungen. Der zweite Aspekt, der hierbei involviert ist, erscheint mir sogar noch
wichtiger:
Die „Grenzen unseres Wissens“ sind keine Konstanten, sondern sie sind Variablen. Fragen
wir ganz naiv, worin sich der jeweilige Forschungsstand, an dem sich unsere praktischen
Handlungsmöglichkeiten orientieren müssen, eigentlich präsentiert, dann stoßen wir sofort
auf das für jedwede Ätiologie relevante theoretische Hintergrundswissen. Und genau hierfür
sollte die minutiöse Behandlung des DN-Schemas, wie wir sie weiter unten vornehmen
werden, hilfreich sein. Auch hier bietet sich eine allgemeine Aussage/Regel an:
Je allgemeiner und präziser das erreichte Theorieniveau einer Wissenschaft ist, desto
mannigfaltiger ist der Handlungsspielraum für den verändernden Eingriff in das, was sich
ansonsten „naturwüchsig“ vollzieht. Ein Blick in die Geschichte der Medizin lehrt ja
sinnfällig, was das bedeutet. Solange wir keine Antibiotika hatten, konnten Wund- und
Kindbettfieber in ihren „natürlichen Abläufen“ mit zumeist für den/die Patienten/in
desaströsen Konsequenzen auch nicht beeinflusst werden. In genau dem Moment aber, in
welchem „grundlagentheoretisch“ das Penizillin entdeckt wurde, konnte sozusagen eine
„fiktivkonstruierte differenzialdiagnostische Bemühung“ Platz greifen. Doch dieser Hinweis
hier wirklich nur zur Erläuterung.
Die hier vorgeführte zentrale These des „Objektivitätsaufsatzes“ ist in unserer
Forschungsgruppe als Erfolgschancensatz gekennzeichnet worden, das gleiche gilt auch für
den Kostensatz, den mein Kollege Schönleben mit Blick auf einen bestimmten Zusatz in der
Arzneimittelreklame den „Apothekensatz“ genannt hat:
„Wir können weiter, w e n n die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes
gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, die F
o l g e n feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel n e b e n der
eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhangs alles
Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der
Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die
Antwort auf die Frage: was „kostet“ die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der
voraussichtlich eintretenden Verletzung a n d e r e r Werte? Da in der großen Überzahl aller
158
Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas „kostet“ oder doch kosten kann, so kann an
der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung
verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu ermöglichen, ist eine der
wesentlichen Funktionen der t e c h n i s c h e n Kritik, welche wir bisher betrachtet haben.
Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen, ist freilich n i c h t mehr eine
mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Menschen: er wägt und wählt
nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den
Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem B e w u ß t s e i n
verhelfen, daß a l l e s Handeln, und natürlich auch, je nach Umständen, das N i c h t – H a n
d e l n, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und
damit – was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig g e g e n a n d e r e. Die
Wahl zu treffen, ist seine Sache“.148
Max Weber spricht hier über die Möglichkeiten die einer strengen erfahrungswissenschaftlich
ausgerichteten Wissenschaft noch gegeben sind im Hinblick auf praktische Verwertbarkeit
dessen, worüber diese Wissenschaft spricht. Konkret lautet die Frage: Was kann eine streng
empirische Wissenschaft im Hinblick auf die ihr vorgegebenen fremden Ziele leisten, ohne
dass sie ihre wissenschaftliche Kompetenz überschreitet? Es ergibt sich nämlich die Frage,
wie sich der Zweck, an bestimmten Zuständen Kritik zu üben mit der Beschränkung
vereinbaren lässt, dass eine solche Kritik den Kreis der Wissenschaftlichkeit ja nicht verlassen
darf. Wir brauchen das hier Gemeinte nicht bis zum letzten Winkel durchzuspielen, da ja
sonnenklar ist um was es dabei geht, nämlich: Immer geht es um die Frage, auf der Grundlage
welcher in Anspruch genommener Werte sich Kritik an bestehenden Werten bzw. an
wünschbaren oder unerwünschten Zuständen eigentlich bewerkstelligen lässt.
Auf unser Problem bezogen heißt das:
Die Werte „Gesundheit“, „Mündigkeit“, „Rationalität“, „Ich-Stärke“ etc. sind als
therapeutische Ziele denjenigen Systemen der sozialen Kontrolle, die wir unter dem
Oberbegriff „klinische Medizin“ zusammenfassen, gesellschaftlich, kulturell oder auch
persönlich vorgegeben. In Anlehnung an Max Weber können wir nunmehr die Frage stellen,
welchen Beitrag eine streng erfahrungswissenschaftlich aufgebaute Medizin zur Realisation
dieser Zielvorgaben (Werte) eigentlich leisten kann, ohne dass sie den Umkreis streng
erfahrungswissenschaftlichen Denkens und Forschens verlässt. Die strenge Trennung von
148
Weber [Objektivitätsaufsatz] S. 149f
159
Erfahrungswissen und Werturteil erfordert ja, dass Therapieziele nicht von der reinen
wissenschaftlich aufgebauten Psychiatrie gegeben werden können. Wir hatten dieses Problem
als das Grunddilemma umschrieben. Es ist aber, wie wir sehen können, das Grunddilemma
einer jeden technisch praktischen Wendung einer jeden beliebigen Wissenschaft.
Redlich und Freedman haben versucht, mit diesem Dilemma so umzugehen, dass sie eine
systemisch gefasste Verhaltenstheorie, die das Geschehen „Mensch“ kulturunabhängig im
Rahmen einer streng wissenschaftlich aufgebauten Verhaltenswissenschaft zu thematisieren
versucht haben. Wir können nunmehr mit bereits deutlichem Blick auf das weiter unten zu
behandelnde DN-Schema sehr viel präziser dieses für jede praktisch technisch gewendete
Wissenschaft bestehende Dilemma in Anlehnung an die Weberschen Ausführungen erneut
formulieren, um sodann das Sonderproblem der psychiatrischen Praxis präzise fassen zu
können. Jeder Arzt steht trivialerweise in dieser Rollendoppelbindung, sich als
wissenschaftlich ausgebildeter Arzt auf den vorhandenen Forschungsstand beziehen zu
müssen und als „helfender Arzt“ seine Patienten anständig therapeutisch versorgen zu wollen.
Und diese Rollendoppelbindung wird zum Problem, wie mir scheint, immer genau dann,
wenn wegen noch ungesicherten Grundlagenwissens sich die Rolle des Klinikers mit der
Rolle des Forschers überschneidet. Doch schauen wir uns noch einen anderen Aspekt der hier
angeschnittenen Problemlage an:
Wir alle kennen die in den letzten 2-3 Jahrzehnten zu einer Phrase verkommenen Formel vom
sog. „mündigen Patienten“. Im Rahmen der Weberschen Ausführungen können wir nunmehr
problemlos dieser Phrase erneut Sinn geben: Die Möglichkeiten die die wissenschaftliche
Medizin dem hilfesuchenden Patienten zur Verfügung stellt, lassen sich diesen gegenüber
problemlos benennen, ohne dass der Wissenschaftscharakter der modernen Medizin hierbei
Schaden nähme. Der „Erfolgschancensatz“ wie auch der „Kostensatz“ sind hierbei problemlos
anwendbar. Man beachte jedoch, dass der Arzt in seiner Eigenschaft als Berater des Patienten
seine wissenschaftlichen Grundlagen verlässt, um eben als Therapeut eine wichtige Funktion
zu übernehmen. Es designiert die vielberufene Verantwortung des Arztes – soziologisch
ausgedrückt gehört das zu seiner Berufsrolle –, wenn er sich hierbei auf das beschränkt was
machbar ist und Entscheidungsmöglichkeiten sozusagen in den Raum stellt. Ob und wie und
in welchem Umfang der Patient nach intensiver Erörterung von Erfolgschancen, Folgen und
Nebenfolgen den Rat des Arztes befolgt, ist in der Tat „seine Sache“.
Wir sehen sofort, dass und inwiefern sich dieser „normalklinische“ Sachverhalt, bei dem es
der Mediziner ja – zumindest „im Prinzip“ – mit einem durchschnittlich rationalen, dass heißt
160
subjektiv sinnhaft sich verhaltenden Patienten zu tun hat, zu einer massiven Problematik
zuschärft, wenn wir unseren Blick auf die Pädiatrie, auf die Psychiatrie und sodann auf den
äußerst prekären Fall der Pädo-Psychiatrie richten. Dies sollten wir hier zumindest andeuten,
da
eine
eingehendere
Erörterung
der
hierbei
mittlerweile
aufgehäuften
Problemzusammenhänge uns zu weit abführen würde von unserem hier zunächst einmal
grundsätzlich beabsichtigten Plädoyer für „Soziologie“ und „Methodologie“. Der Pädiater
wird naturgemäß diejenigen mit in seine Verantwortung einbeziehen, die aufgrund ihres
„gesellschaftlichen Auftrages“ die Pflicht zur Verantwortung für ihr Kind haben. Hier ist der
Fall noch relativ klar: Eltern und Arzt bilden als Funktionäre ihre jeweiligen
Sozialisationsagenturen eine im Hinblick auf das Kind „sich und der Gesellschaft“
verantwortliche Therapiegemeinschaft und müssen sich zu diesem Zweck eben auch auf eine
ganz bestimmte Art und Weise rollenstrukturell vergesellschaften. Komplizierter wird die
Angelegenheit bereits, wenn der Arzt es erstens mit Patienten zu tun hat, die per derfinitionem
unmündig in dem Sinne sind, dass sie sozial inkompetent sind und mithin überhaupt keine
Entscheidung treffen können und zweitens die durch Fachkompetenz ausgewiesene
gesellschaftliche Verantwortung u.U. auch
gegen die elterliche
Erziehungsgewalt
wahrzunehmen gezwungen sind. Aus diesem Blickwinkel lässt sich nunmehr der dramatische
Fall einkreisen, der für den Pädo-Psychiater ja der Normalfall ist: Er muss – das ist
gesellschaftlicher
Auftrag
und
gesellschaftliche
Pflicht,
gehört
also
zu
seiner
Berufsqualifikation – sich mit denjenigen in einer ganz anderen Art und Weise
auseinandersetzen als gewohnt, denen ja gleichfalls die Verantwortung für ihr Kind
rollenstrukturell zugemutet wird. Denn dies gilt auch dann, wenn er sozusagen über die
gesellschaftliche Legitimationslizenz zum therapeutischen „Eingreifen“ verfügt. Genau hier
liegt der systematische Ort dessen, was wir im nächsten Denkschritt als „Gespräch“
behandeln werden. Der Pädo-Psychiater wird nämlich vornehmlich dann, wenn es sich um
den prekären Grenzbereich der psycho-sozialen Probleme der Medizin handelt, ganz
automatisch zum Funktionär einer Sozialisationsagentur, die wie Schule und Elternhaus
genuin pädagogische Pflichten übernommen haben. Auf diesen Punkt wird leider in der hier
vorliegenden Arbeit nicht seiner Bedeutung gemäß genauer eingegangen werden können. An
dieser Stelle weise ich lediglich auf diesen Aspekt hin, weil er generell das „Werteproblem“
einer gesellschaftlichen Institution betrifft, welche Wissenschaft sein kann, sein will und wie
ich meine, auch sein muss und zugleich die Verantwortung für die Subtilisierung von
Wertestrukturen unserer Gesellschaft im therapeutischen Prozedere wahrzunehmen hat.
161
5.4. Das Gadamersche „Gespräch“ als Idealtypus rationalen Argumentierens –
Der Begriff der „Identitätsmetamorphose“
Wir wenden uns nunmehr dem Gadamerschen „Gespräch“ zu, dessen Behandlung in der hier
entwickelten Argumentationsstruktur eine sozusagen „dreifache Funktion“ zukommt: Es ist
erstens der idealtypische Ort des vernünftigen Argumentierens überhaupt, zweitens bietet
seine Behandlung die Möglichkeit einer Präzisierung der Ausführungen in Abschnitt II. 2.
(Kommunikative Kompetenz) und drittens gewinnen wir dadurch, dass seine Behandlung uns
die Chance eröffnet, den Begriff der „Identitätsmetamorphose“ zu entwickeln, die
Überleitung zu „unserem“ Identitätsproblem.
Wie erinnerlich, hatten wir in Abschnitt II. 2. die Grundannahmen der Weberschen
„Begriffslehre des sozialen Handelns“, wie sie sich zum einen in der „Kategorienlehre“ von
1913, zum anderen sodann in Webers Fragment gebliebenen und posthum erschienenen
Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ finden, mit den Grundannahmen des sog.
„symbolischen Interaktionismus“ zu einer in sich widerspruchsfreien „Sozialanthropologie“
verknüpft und dabei mittels vier Sätzen den Habermas’schen Begriff der „Kommunikativen
Kompetenz“ zu gewinnen versucht. Ich werde das dort Ausgeführte hier noch einmal in der
Absicht zusammenfassen, nunmehr auch den Zugang gewinnen zu können zu demjenigen
Aspekt der „Verstehenden Soziologie“ Max Webers, den die Gadamersche Hermeneutik
repräsentiert. Vor allem interessiert uns dabei diejenige von Gadamer idealtypologisch
konstruierte Handlungsstruktur, die dieser „das eigentliche Gespräch“ genannt hat. Anhand
dessen nämlich versucht Gadamer das „Phänomen der Hermeneutik“ in seiner reinen Gestalt
zu demonstrieren. Uns interessiert dieser Aspekt weniger. Es kommt uns vielmehr darauf an,
dass Gadamer insbesondere an dem paradigmatischen Lehrstück des „Gespräches“ zu
thematisieren versucht, was den eigentlichen Gegenstand der „Verstehenden Wissenschaften
von Menschen“ ausmacht. Restlos alles wird hier nämlich – wie bei Stryker ja auch –,was in
den sog. Humanwissenschaften Thema sein kann, auf das soziale Institut „Sprache“ bezogen,
so dass gilt: Diejenige minimale soziale Situation, die in der Soziologie „Interaktion zwischen
(mindestens) zwei (menschlichen) Personen“ und in der Sozialpsychologie „Kommunikation“
genannt zu werden pflegt, ist wesentlich durch Sprachlichkeit dominiert, so dass das
Paradigma nicht nur vernünftigen Argumentierens, sondern auch vernunftorientierten sozialen
Handelns schlechthin eben das „Gespräch“ ist. Man sieht, wie mir scheint, ohne große
Schwierigkeiten, dass unter diesem Blickwinkel sich die Webersche „Verstehenssoziologie“
zum einen mit den Grundannahmen des „symbolischen Interaktionismus“, zum anderen mit
162
der Gadamerschen Idealtypologie der „Gesprächshermeneutik“ zu einer gemeinsamen
„Grunddefinition“ zusammenschließt: Gegenstand der Menschenwissenschaften sind Wesen,
die, weil sie kommunikativ (sprachlich) kompetent, mithin also auch zu subjektiv sinnhaftem
Sozialverhalten fähig sind, etwas wollen, und die bezüglich dessen, was sie wollen, eben
Mittel anwenden, von denen sie glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie wollen,
geeignet sind. Sie handeln, insofern sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, als aktiv
Handelnde, die gelernt haben (müssen), dass es andere aktiv Handelnde gibt, die ebenfalls
ihre Interessen verfolgen bzw. etwas wollen, und die bezüglich dessen, was sie wollen,
gleichfalls Mittel anwenden, von denen sie glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie
wollen, geeignet sind.
Die mir wichtig erscheinenden Textstücke aus dem Weberschen Werk reihe ich hier zunächst
einmal der besseren Übersicht halber aneinander, verknüpfe sie dann, wie bereits in Abschnitt
II. 2. vorgeführt, mit dem „Sprachanthropologismus“ der Chicago-Schule und wende mich
sodann der Feininterpretation des Gadamerschen „Gesprächsmodells“ in der bereits eingangs
zu diesem Kapitel genannten Absicht zu, damit erstens den idealtypischen Ort all derjenigen
Formen vernunftorientierten Argumentierens zu skizzieren, die ernsthaft mit der Lösung
wirklicher Probleme befasst sind, zweitens den Begriff der kommunikativen Kompetenz zu
erläutern und drittens den Übergang zur Identität zu gewinnen. Wie sich nämlich
herausstellen wird, hängen genau diese drei Problembereiche engstens miteinander
zusammen: Zu einem echten „Gespräch“ sind nur Personen imstande, welche sprachlich zu
kommunizieren vermögen, und nur dann auch ergeben sich möglicherweise weiterführende
Problemlösungen. Der eigentlich Clou jedoch betrifft, wie wir sehen werden, das
Identitätsproblem.
Bereits im „Objektivitätsaufsatz“ von 1904 heißt es, dass „jede denkende Besinnung auf die
letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns .... zunächst gebunden“ sei „an die
Kategorien »Zweck« und »Mittel«.“ Menschliche Wesen wollten „etwas in concreto entweder
»um seines eigenen Wertes willen« oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie Gewollten.“
Mittels
dieser
„quasi
voluntaristischen“
Kennzeichnung
wird
gewissermaßen
die
Intentionalstruktur jedweden humanspezifischen Handlungsvorganges charakterisiert. Ich
bitte jedoch darum, bereits an dieser Stelle auf einen Aspekt des Handlungsvorganges zu
achten, den Weber nicht explizit erwähnt. Gemeint sind damit die u.U. auftretenden
163
nichtintendierten Effekte bzw. Nebeneffekte absichtsgeleiteten Handelns. Dieser Punkt wird
uns nämlich später genauer interessieren müssen.
In der „Kategorienlehre“ von 1913 heißt es dann: „Menschliches (»äußeres« oder »inneres«)
Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles
Geschehen. Was aber, wenigstens im vollen Sinne, nur menschlichem Verhalten eignet, sind
Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist.“
Und in „Wirtschaft und Gesellschaft“ findet sich sodann die gewissermaßen „ausgereifte“
Definition des Gegenstandsbereiches der „Soziologie“. Diese „soll heißen: eine Wissenschaft,
welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will. »Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten
(einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und
insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. »Soziales«
Handeln aber soll ein solches heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden
gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a n d e r e r bezogen wird und daran in seinem
Ablauf orientiert ist.“
Es ist nunmehr die zentrale These, dass die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass in genau
diesem Sinne das „humanspezifische Mit- und Gegeneinander“ überhaupt stattfinden kann,
wenn die Agenten solcherart Geschehens sprachbegabte und in genau diesem Sinne
kommunikativ kompetente Individuen sind, was sich in den nachstehend noch einmal
wiedergegebenen vier Sätzen des Abschnitts II. 2. „abspiegelt“, nämlich:
1. Menschliches (»äußeres« oder »inneres«) Verhalten zeigt sowohl Zusammenhänge wie
Regelmäßigkeiten des Verlaufs wie alles Geschehen. Weil aber der Mensch und nur der
Mensch über das Instrument der Sprache verfügt, eignen seinem Verhalten Zusammenhänge
und Regelmäßigkeiten, deren Ablauf verständlich deutbar ist.
2. Das soziale Handeln menschlicher Individuen, welches seinem von dem oder den
Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in
seinem Ablauf orientiert ist, ist deshalb deutend verstehbar und genau dadurch in seinem
Ablauf wie in seinen Wirkungen ursächlich erklärbar, weil es wesentlich sprachlich
organisiert ist: Menschliche Individuen können – zumindest „im Prinzip“ – immer und überall
miteinander sprechen.
164
3. Soziologie und Linguistik bilden eine Komplementareinheit, denn virtuell sind menschliche
Formen des Gemeinschaftslebens Gesprächsvergemeinschaftungen. Oder anders ausgedrückt:
Idealtypologisch lässt sich, da aus diesem Blickwinkel die Sprache als (humanspezifische)
Basisinstitution aufgefasst werden muss, welche die Kernstruktur sozialen Handelns
überhaupt ausmacht, jedwede humanspezifische Interaktions- und Kommunikationsform als
Gespräch im Gadamerschen Sinne deuten.
4. Die Fähigkeit sprachlich zu kommunizieren ist die unabdingbare Voraussetzung für
sozialen Handeln im strengen Weberschen Sinne, wodurch das Habermas’sche Konstrukt der
„Kommunikativen Kompetenz“ genau diejenige präzise Bedeutung bekommt, die es bislang
nicht hatte: Kommunikative Kompetenz und genuin sprachlich organisierte Interaktions- und
Kommunikationsformen sind komplementär aufeinander bezogen.
Die ersten beiden Sätze sind eindeutig (widerspruchsfreie) „Verknüpfungen“ der Weberschen
„Verstehenssoziologie“ mit den bei dem „Sozialbehavioristen“ Stryker aufgelisteten
„anthropologischen Grundannahmen“, wohingegen der dritte Satz auf die Gadamersche
Idealtypologie des „Gesprächs“ verweist. Der vierte Satz wiederum soll uns den Zugang
erstens zu dem etwas komplizierten Gefüge der „Kommunikativen Kompetenz“ und zweitens
zur Frage nach der Bedingungen der Möglichkeit je individueller Identitätskonstanz
verschaffen. Es ist nämlich die zentrale These Gadamers, dass jedwede sprachlich organisierte
Kommunikativdynamik, die sich der Idealtypologie des eigentlichen „Gesprächs“ annähert
immer zugleich auch bei den Gesprächsteilnehmern Identitätsmetamorphosen (den Begriff
führe ich hier ein) bewirkt. Wäre diese These tatsächlich tragfähig, so hätten wir einen ersten
Anhaltspunkt für die Konstruktion des Begriffs der benignen Identitätskrise.
Wie zuvor auch, gehe ich hierbei texthermeneutisch vor und zitiere zunächst einmal die mir
wichtig
erscheinenden
Textausschnitte
aus
dem
faszinierenden
hermeneutischen
Grundlagenwerk Gadamers, welches den Titel trägt „Wahrheit und Methode“, zerlege dann
die betreffenden Textausschnitte in ihre einzelnen Aussagenbestandteile und gewinne so, wie
ich hoffe, den Übergang zum Identitätsproblem. Auch hierbei werde ich wiederum mit den
üblichen Techniken der Hervorhebung arbeiten, weise bereits an dieser Stelle darauf hin, dass
sich streng genommen überall dort, wo Gadamer von der „Sache“ spricht auch der Begriff des
„Problems“ einsetzen lässt. Wenn also Gadamer von dem „Zur-sprache-kommen der Sache
165
selbst“ spricht, dann bedeutet das gewissermaßen „zunehmende Problemklärung bzw.
Problemlösung“.
Gadamer schreibt:
„Wenn wir das hermeneutische Phänomen nach dem Modell des Gespräches, dass zwischen
zwei Personen statthat, zu betrachten suchen, so besteht die leitende Gemeinsamkeit
zwischen diesen beiden scheinbar so sehr verschiedenen Situationen, dem Textverständnis
und der Verständigung im Gespräch, vor allem darin, daß jedes Verstehen und jede
Verständigung eine Sache im Auge hat, die vor einen gestellt ist. Wie einer sich mit seinem
Gesprächspartner über eine Sache verständigt, so versteht auch der Interpret die ihm vom Text
gesagte Sache. Dieses Verständnis der Sache geschieht notwendig in sprachlicher Gestalt,
und zwar nicht so, daß ein Verständnis nachträglich auch in Worte gefaßt wird, vielmehr ist
die Vollzugsweise des Verstehens ob es sich um Texte handelt oder um Gesprächspartner, die
einem die Sache vorstellen, das Zur-sprache-kommen der Sache selbst. So folgen wir
zunächst der Struktur des eigentlichen Gesprächs, um die Besonderheit jenes anderen
Gesprächs, das das Verstehen von Texten darstellt, dadurch zur Abhebung zu bringen.
Während wir oben die konstitutive Bedeutung der Frage für das hermeneutische Phänomen
am Wesen des Gesprächs herausgehoben, gilt es nun, die Sprachlichkeit des Gesprächs die
ihrerseits dem Fragen zugrunde liegt, als ein hermeneutisches Moment nachzuweisen.
Zunächst halten wir fest, daß die Sprache, in der etwas zur Sprache kommt, kein verfügbarer
Besitz des einen oder des anderen der Gesprächspartner ist. Jedes Gespräch setzt eine
gemeinsame Sprache voraus, oder besser: Es ist da etwas in die Mitte niedergelegt, wie die
Griechen sagen, an dem die Gesprächspartner teilhaben und worüber sie sich miteinander
austauschen. Die Verständigung über die Sache, die im Gespräch zustande kommen soll
bedeutet daher notwendigerweise, daß im Gespräch eine gemeinsame Sprache erst erarbeitet
wird. Das ist nicht ein äußerer Vorgang der Adjustierung von Werkzeugen, ja es ist nicht
einmal richtig zu sagen, daß sich die Partner einander anpassen, vielmehr geraten sie beide im
gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit
verbindet. Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichausspielen und durchsetzen
des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht
bleibt, was man war.“149
149
Gadamer [Wahrheit und Methode“] S. 360
166
Sodann geht Gadamer noch auf die Eigendynamik von Gesprächsformen ein, die nach unserer
Auffassung in relativ reiner Form dem Rationalitätskriterium genügen. „Rationalität“ ist
hierbei strukturelle Eigenschaft einer Interaktiv- und Kommunikativkonstellation nicht jedoch
Merkmal der Personen, die an einem solchen „Gespräch“ teilhaben. Dennoch ist klar, dass nur
und ausschließlich Personen, die ein gewisses Minimum an entsprechender rationaler und
sozialer Kompetenz aufweisen die personellen Bedingungen der Möglichkeit bilden, dass eine
solche Gesprächsform überhaupt statthaben kann. Wir werden auf diesen Punkt des öfteren
noch zu sprechen kommen.
Wenden wir uns noch einmal Gadamer zu, der wie ich finde, die endogene Dynamik solcher
Gesprächsformen meisterhaft geschildert hat:
„Wir sagen zwar, daß wir ein Gespräch ‚führen’, aber je eigentlicher ein Gespräch ist, desto
weniger liegt die Führung desselben in dem Willen des einen oder des anderen Partners. So ist
das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten. Vielmehr ist es im allgemeinen
richtiger zu sagen, daß wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, daß wir uns in ein
Gespräch verwickeln. Wie da ein Wort das andere gibt, wie das Gespräch seine Wendungen
nimmt, das mag sehr wohl eine Art Führung haben, aber in dieser Führung sind die Partner
des Gesprächs weitweniger die Führenden als die Geführten. Was bei einem Gespräch
‚herauskommt’ weis keiner vorher. Die Verständigung oder ihr Misslingen ist wie ein
Geschehen, das sich an uns vollzogen hat ... All dies bekundet, dass das Gespräch seinen
eigenen Geist hat und daß die Sprache, die in ihm geführt wird, ihre eigene Wahrheit in sich
trägt, d.h. etwas ‚entbirgt’ und heraustreten läßt, was fortan ist“.150
Die erste Textstelle, zerfällt in zwei Abschnitte, die sinnstrukturell zu einer, wie ich finde,
gerade im Hinblick auf das in dieser Arbeit ins Zentrum gestellte Identitätsproblem hoch
interessanten Thetik verknüpft sind:
Jedes Gespräch im eigentlichen Sinne löst, weil es immer zugleich auch kognitive
Umorientierungen induziert, bei den „Gesprächspartnern“ Identitätskrisen aus. Im idealen
Fall jedoch sind solche Identitätskrisen grundsätzlich benigner Natur, bewirken doch genuin
„gadamerianische“ Gesprächsformen, da sie immer den Erfahrungshorizont erweitern, echte
Identitätsmetamorphosen – das sind wesentlich auf „Mündigkeit“ hin dimensionierte
Persönlichkeitswandlungen.
150
Es
ist
nun
klar,
ibid. S. 361
167
dass
damit
der
Begriff
der
„Identitätsmetamorphose“ wesentlich verknüpft werden müsste mit jener Klasse von
Lernvorgängen, die kognitive Umorientierungen genannt zu werden pflegen. Aus diesem
Blickwinkel fungiert dann natürlich das Gadamersche „Gespräch“ als ein Wesenselement
jedweder Sozialisationsagentur. Doch so einfach ist die Sache nicht, wie wir gleich sehen
werden.
Die zweite Textstelle kann als Erläuterung der ersten aufgefasst werden, jedoch kommt
hierbei noch ein, wie ich finde, hochinteressantes Moment hinzu: Identitätsmetamorphosen
sind objektiv statthabende Prozesse, die als Resultanten eines Lerngeschehens angesehen
werden müssen, bei welchem die Beteiligten sich dessen, was da mit ihnen geschieht, gar
nicht bewusst sind. Wir haben also hier den etwas seltsamen Fall von kognitiven
Umorientierungsprozessen vor uns, bei dem die eigentlich wichtigen Momente der kognitiven
Umorientierungen unbewusst verlaufen. Genau hier liegt, wie mir scheint, der notwendige
Überschritt
zu
einer
genuin
psychoanalytischen
Re-Interpretation
des
„Gesprächsgeschehens“. Doch hierzu erst später.
Zerlegen wir die Textstellen nunmehr in ihre Bestandteile, wobei wir den ersten Text in Teil
A und Teil B zerlegen und die zweite Textstelle als Teil C bezeichnen:
Teil A:
1. Wenn wir das hermeneutische Phänomen nach dem Modell des Gespräches, dass zwischen
zwei Personen statthat, zu betrachten suchen, so besteht die leitende Gemeinsamkeit zwischen
diesen beiden scheinbar so sehr verschiedenen Situationen, dem Textverständnis und der
Verständigung im Gespräch, vor allem darin, dass jedes Verstehen und jede Verständigung
eine Sache im Auge hat, die vor einen gestellt ist. [Übersetzen wir: Die minimale soziale
Situation, die das Interaktionsgeschehen zwischen zwei humanen Individuen ausmacht, ist
virtuell eine Gesprächssituation, in welcher sich der Kommunikationsprozess als
Verständigungsprozess sach- bzw. problembezogen vollzieht.]
2. Wie einer sich mit seinem Gesprächspartner über eine Sache verständigt, so versteht auch
der Interpret die ihm vom Text gesagte Sache.
3. Dieses Verständnis der Sache geschieht notwendig in sprachlicher Gestalt, und zwar nicht
so, dass ein Verständnis nachträglich auch in Worte gefasst wird, vielmehr ist die
168
Vollzugsweise des Verstehens ob es sich um Texte handelt oder um Gesprächspartner, die
einem die Sache vorstellen, das Zur-sprache-kommen der Sache selbst. [Der Sachbezogene
Verständigungsprozess, der in jeder, virtuell eine Gesprächssituation verkörpernder minimaler
sozialer Situation sich vollzieht, ist, weil als (komplementäre) „Vollzugsweise des
Verstehens“ aufzufassen, dass „Zur-sprache-kommen der Sache“ selbst, woraus sich logisch
ergibt: Kommt die „Sache“, um die es „beiden“ geht, nicht „richtig heraus“, so muss das
„Gespräch“ als gescheitert gelten.]
4. So folgen wir zunächst der Struktur des eigentlichen Gesprächs, um die Besonderheit jenes
anderen Gesprächs, das das Verstehen von Texten darstellt, dadurch zur Abhebung zu
bringen. [Pädagogisch vollzieht Gadamer hier eine sog. „Zeigehandlung“151, welche besagt
„schauen wir uns die „Struktur des Gesprächs“ genauer an, richten wir unsere
Aufmerksamkeit auf das, was den Wesenskern des Gesprächs ausmacht. Das ist, wie der
nächste fünfte Satz ausweist, die Sprache bzw. die Sprachlichkeit.]
5. Während wir oben die konstitutive Bedeutung der Frage für das hermeneutische Phänomen
am Wesen des Gesprächs herausgehoben, gilt es nun, die Sprachlichkeit des Gesprächs die
ihrerseits dem Fragen zugrunde liegt, als ein hermeneutisches Moment nachzuweisen.
[Fragestellung: Worin genau liegt die Sprachlichkeit des Gesprächs? Oder anders noch
gefragt: Ist nicht jedwede humanspezifische Form der Kommunikation virtuell auf Gespräch
hin angelegt? Das ist sicher der Fall, handelt es sich doch hierbei um genau jene „minimale
soziale Situation“, die den Gegenstand der Weberschen „Begriffslehre“ bildet. Folglich macht
„Sprache“ das Eigentliche aller minimalen sozialen Situation aus. Was aber ist das: „Sprache“
bzw. „Sprachlichkeit“? Die Antwort wird lauten: Ein Geschehen, dass sich an uns vollzieht.
Genau dies ist der Clou, welcher der Interpretation bedarf.]
Teil B:
1. Zunächst halten wir fest, dass die Sprache, in der etwas zur Sprache kommt, kein
verfügbarer Besitz des einen oder des anderen der Gesprächspartner ist.
2. Jedes Gespräch setzt eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser:
151
Vgl. Dietlinde Michael zur „Funktion des Gadamerschen Gesprächs für den pädagogischen Prozess“.
169
3. Es ist da etwas in die Mitte niedergelegt, wie die Griechen sagen, an dem die
Gesprächspartner teilhaben und worüber sie sich miteinander austauschen.
4. Die Verständigung über die Sache, die im Gespräch zustande kommen soll, bedeutet daher
notwendigerweise, dass im Gespräch eine gemeinsame Sprache erst erarbeitet wird.
5. Das ist nicht ein äußerer Vorgang der Adjustierung von Werkzeugen, ja es ist nicht einmal
richtig zu sagen, dass sich die Partner einander anpassen, vielmehr geraten sie beide im
gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit
verbindet. [Wohlgemerkt: Es ist die Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit verbindet,
was heißt: Die Gesprächspartner müssen sich, weil sie „unter die Wahrheit der Sache
geraten“, zu einer neuen Gemeinsamkeit verbinden. Diese Form der Vergemeinschaftung ist
nicht das Resultat von etwas, was beide gewollt haben oder nicht gewollt haben. Es ist eine
unbeabsichtigte Konsequenz dessen, was sie eigentlich wollten.]
6. Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichausspielen und durchsetzen des
eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht
bleibt, was man war.
Teil C (Ich nehme mir nachstehend die Freiheit, die Sätze nur noch in ihrem Sinngehalt
wiederzugeben. Dies geschieht deshalb, weil ich hierbei bereits wörtliches Zitat und
Interpretation zusammenfüge):
1. Je eigentlicher ein Gespräch ist, desto weniger liegt die Führung desselben in dem Willen
des einen oder des anderen Partners. [Aus Weberscher Sicht ein etwas verblüffender Satz, wie
man sieht: Was wird eigentlich hierbei aus dem „subjektiv sinnhaften Sichverhalten zu
Objekten“? Gibt es denn ein solches „subjektiv sinnhaftes Sichverhalten zu Objekten“,
welches in einem eigentlichen „Gespräch“ sozusagen „ins Hintertreffen gerät“?]
2. [Noch schärfer:] Das eigentliche Gespräch ist niemals das, was wir führen wollten.
3. Handelt es sich um ein „eigentliches Gespräch“, so „geraten“ wir in ein solches bzw. wir
„verwickeln
uns“
in
ein
solches,
woraus
sich
logisch
ergibt:
Je
mehr
eine
Kommunikationsform die Struktur des sog. „eigentlichen Gesprächs“ annimmt, desto mehr
„geraten“ wir in ein solches, werden in ein solches „verwickelt“. Dies eine Aussage, aus der
170
wiederum die Aussage 2 in diesem Teil logisch folgt. Diese wird dadurch zu einer streng
allgemeinen Aussage: Wann immer und wo immer eigentliche Gespräche – das sind
Gespräche, die konsequent auf eine Sache ausgerichtet sind – sich vollziehen, vollziehen
diese sich niemals nach Maßgabe dessen, was die „Gesprächsführer“ eigentlich wollen,
gewollt haben bzw. wollten; woraus wiederum logisch folgt:
4. Die Partner eines „eigentlichen Gesprächs“ sind immer die „Geführten“, woraus logisch
folgt:
5. Prinzipiell ist der Ausgang eines eigentlichen Gesprächs nicht vorhersehbar, woraus
logisch folgt: Je vorhersehbarer der Ausgang eines Gesprächs ist, desto weniger erreicht ein
solches Gespräch das Kriterium, ein „eigentliches Gespräch“ zu sein. [Wir können dieses
Prinzip als das Prinzip der grundsätzlichen Emergenz aller Gespräche im eigentlichen Sinne
bezeichnen, denn in jedem solchen „Gespräch“ ereignet sich etwas Neues, nicht
Vorhergesehenes bzw. etwas nicht Vorhersehbares.]
6. Die Verständigung ebenso wie das Misslingen derselben ist ein (sprachlich) objektiv
ablaufendes Geschehen, dass sich an den Partnern vollzieht bzw. vollzogen hat.
7. [Fazit:] Ein eigentliches Gespräch beinhaltet eine objektiv statthabende autonome Logik,
deren Dynamik sich ohne das bewusste Zutun der Beteiligten „über deren Köpfe hinweg“
vollzieht, denn die Sprache, die in diesem „Gespräch“ sich artikuliert, „trägt ihre eigene
Wahrheit in sich“. Sie ist es, die etwas prinzipiell Neues, nicht Vorhersehbares
heraustreten lässt. Oder anders: Bei einem echten „Gespräch“ entsteht eine „neue
Wahrheit“. Oder noch anders: Genuine Gespräche sind prinzipiell sprachlich emergent,
woraus folgt: Die grundsätzliche Emergenz jedweden genuinen Gesprächs betrifft dessen
Sprachlichkeit: Heraustreten tut eine neue Wirklichkeit, weil sich eine neue Sprache
ergeben hat.
Dass in den Gadamerschen Ausführungen sich Ideal und Idealtypus derartig stark
überschneiden, liegt natürlich an dem schon fast unerträglich wirkenden „hegelianischexistenzialistischen Jargon“. Deswegen interessiert uns auch z.B. weniger der letzte Satz des
Teils C in der Hinsicht, die Gadamer wohl im Auge hat. Wir müssten ihn für unsere Belange
eigentlich völlig umformulieren, worauf hier verzichtet werden soll, denn mir kommt es dabei
171
auf etwas anderes an, was erst deutlich werden kann, wenn man auf die Gadamersche
„Idealtypologie des Gespräches“ sozusagen mit „weberianischen Augen blickt“.
Gadamer geht es hier natürlich um die Demonstration des sog. „hermeneutischen
Phänomens“, welches sich seiner Auffassung zufolge sowohl beim Textverständnis als auch
bei Formen des sozialen Handelns geltend macht, denn er will des Nachweis führen, dass
ganz allgemein die Methode der „Texthermeneutik“ nach Maßgabe der im „Gespräch“
aufweisbaren „Verstehensprinzipien“ erfolgt bzw. zu erfolgen hat, was uns gleichwohl an
dieser Stelle weniger interessiert. Uns interessiert vielmehr die idealtypologisch gefasste
Struktur von genau denjenigen Kommunikationsformen, die Gadamer hier unter dem
Oberbegriff „Gespräch“ subsumiert. Auffällig nämlich ist, dass sich praktisch jede Aussage
der drei Textteile in eine normative Aussage überführen lässt, ohne dass sich der Sinngehalt
dabei wesentlich verändert. Das aber heißt: Gadamer kommt es überhaupt nicht darauf an –
und dies zu Recht –, empirisch nachprüfbare Aussagen über wirklich stattgehabte Formen
sprachlich dominierter Vergemeinschaftungsprozesse zu formulieren. Es handelt sich also
hierbei auf gar keinen Fall um empirisch falsifizierbare Hypothesen, über deren Wahrheit
oder Falschheit mittels empirischer Überprüfung befunden werden könnte. Vielmehr handelt
es sich um ein idealtypisches Schema, welches als Maßstab für mögliche Beschreibungen
fungiert. Das genau ist es, was Habermas vollständig verkennt. In der sog. „gesellschaftlichen
Wirklichkeit“ dürfte es wohl eher selten sein, dass Annäherungen an das hier von Gadamer
entworfene „Ideal“ optimaler Sachbezogenheit bzw. optimalen Problemlösungsverhaltens zu
beobachten sind. Das jedoch ist das Wesen der sog. „Idealtypen“. Dass Gadamer sich
allerdings einer Sprache bedient, die im sog. „deutschen Idealismus“ beheimatet ist, braucht
uns nicht zu stören und sollte uns folglich auch nicht weiter stören. Es handelt sich eben um
eine idealtypische Konstruktion, und es gibt, wie Max Weber es einmal drastisch formuliert
hat, Idealtypen von Staaten ebenso wie es Idealtypen von Bordellen gibt.
Verknüpfen wir in diesem Sinne und aus dieser Perspektive die begriffliche Struktur der
Anfangssequenz des ersten Abschnitts (Teil A) mit der begrifflichen Struktur der
Schlußsequenz des zweiten Abschnittes (Teil B), so ergibt sich in thetischer Überschärfung
die obige Fundamentalaussage:
Findet zwischen mindestens zwei Personen, die sich auf ein echtes Gespräch einlassen, ein
solches Gespräch auch statt, dann erfolgt, weil dann eine „Verwandlung ins Gemeinsame hin“
sich herausbildet eine Identitätsmetamorphose bei beiden Gesprächsteilnehmern, d.h. die
172
beiden Gesprächspartner haben sich in ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur verändert,
ohne dass sie dies bemerkt haben. Das ist zweifelsohne die Kernaussage der Gadamerschen
Gesprächstypologie. Wie aber lässt sich dies zeigen und was bedeutet das?
Analysieren wir die Argumentationsstruktur noch etwas genauer:
Da wir uns nicht für das Gadamersche Anliegen interessieren, das sog. „hermeneutische
Phänomen“ sowohl am „Textverständnis“ als auch am „Gespräch“ nachzuweisen, können wir
die „Wenn-Dann-Struktur“ des ersten Satzes (Teil A) ignorieren und diesen Satz in eine
apodiktische Behauptung transformieren:
Anhand
der
Gesprächstypologie
lässt
sich
nachweisen,
dass
Verstehens-
und
Verständigungsvorgänge in beliebigen Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen
sach- und problemorientiert, nicht jedoch personenorientiert sind. Je mehr also die
Bedingungen
des
„idealen
Gesprächs“
in
beliebigen
Interaktions-
und
Kommunikationszusammenhängen realisiert sind, desto stärker schwächt sich die genuin
psychologische Dimension bei Verstehens- und Verständigungsvorgängen ab. Oder auch
(kantianisch) ausgedrückt: Gesprächspartner, denen es ein wirkliches Anliegen ist, ein
bestimmtes Problem – eine „Sache“ – zu klären, müssen sich zunächst einmal als „Zweck an
sich“ anerkennen, bevor sie sich kooperativ um der möglichen Lösung eines Problems willen
auf ein genuines „Gespräch“ einlassen.
Den zweiten Satz (Teil A) können wir aus den obig genannten Gründen vernachlässigen und
gegen gleich zum dritten Satz (Teil A) über. Auch hierbei vernachlässigen wir die
„texthermeneutische Analogaussage“ und haben dann:
„Dieses Verständnis der Sache geschieht notwendig in sprachlicher Gestalt, und zwar nicht
so, dass ein Verständnis nachträglich auch in Worte gefaßt wird, vielmehr ist die
Vollzugsweise des Verstehens [durch den oder die] Gesprächspartner, die einem die Sache
vorstellen, das Zur-sprache-kommen der Sache selbst.“
Dieser dritte Satz von Teil A – er beinhaltet die Kernbehauptung, welche die prozessurale
Struktur von Gesprächen betont und auf das humanspezifische Phänomen der Sprachlichkeit
abzielt – zerfällt in die folgende sechs Teilsätze:
(Dritter Satz Teil A) 1. Das Verständnis der Sache geschieht notwendig in sprachlicher
Gestalt.
173
(Dritter Satz Teil A) 2. Ein solches Verständnis besteht nicht darin, dass es „nachträglich in
Worte gefasst“ wird.
(Dritter Satz Teil A) 3. Das Verständnis der Sache vollzieht sich im Vorgang des Verstehens,
woraus sich trivialerweise ergibt:
(Dritter Satz Teil A) 4. Verständnis ist nicht etwas, was „urplötzlich über einen kommt“, es
hat wesentlich eine prozessurale Struktur, ist ein dynamischer Vorgang.
(Dritter Satz Teil A) 5. Einer von beiden muss die „Sache“, um die es gehen soll, (zunächst
einmal) vorstellen. Das tut er natürlich in einer ersten ganz und gar groben Form. Bei Max
Weber geschieht das in Gestalt der sog. „Arbeitsdefinition“.
(Dritter Satz Teil A) 6. Der Verstehensvorgang ist ein objektiv statthabender Prozess, in
welchem „die Sache“ zur Sprache kommt.
Bemerkenswert ist natürlich der 2. Satz, der zunächst etwas befremdlich klingt, dann jedoch
deutlich wird, wenn man ihn aus der Perspektive des 3. und 4. Satzes betrachtet: Ein
Verständnis, welches nachträglich in Worte gefasst werden würde, würde nur rationalisieren,
was man meint, intuitiv und von Anfang an „sowieso“ verstanden zu haben. Hier ist derjenige
Fall gegeben, der sozusagen als „Normalfall“ zumeist uns begegnet (Paradigma „politische
Talkshow im TV): Die Sprache tritt, da völlig ritualistisch, phraseologisch und formelhaft
geworden, so stark in den Dienst einer – zumeist demagogischen bzw. selbstdarstellerischen –
Absicht, dass sie ihre Eigendynamik gar nicht entfalten kann. Beispiele hierfür wären ganz
allgemein die Turnier- und Kampfgespräche, bei denen es nur darum geht, in erster Linie sich
selbst, nicht jedoch „die Sache“ ins rechte Licht zu rücken. Der Betreffende, der so verfahren
würde, würde sich auf ein echtes Gespräch eben gar nicht einlassen bzw. eingelassen haben.
Er wäre dann ganz einfach nicht an der „Sache“ bzw. an dem Problem, um welches es dabei
geht, interessiert. Siehe hierzu weiter oben die zitierten Ausführungen meines Kollegen
Schönleben, über die sog. „Streitgespräche“, bei denen ja notorisch gegen das Postulat der
strengen Trennung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang verstoßen wird. Wir
brauchen das hier nicht weiter auszuführen, denn der Sachverhalt, um den es dabei geht,
dürfte wohl ziemlich klar sein.
Aus diesem Blickwinkel hat dann natürlich der 6. Satz apodiktische Geltung. Von ihm ist
auszugehen, was Gadamer sodann ja auch in Satz 4 von Teil A explizit betont, nämlich:
174
Betrachten wir – so die Gadamersche „Zeigehandlung“ in diesem Teil A – nunmehr die
Struktur des eigentlichen Gespräches (Satz 4 von Teil A) weisen nach, dass das Wesen des
Gespräches in der Sprachlichkeit (Satz 5 von Teil A) begründet ist und ziehen eine
Schlußfolgerung dahingehend, dass wir uns anschauen, was bei diesem ganzen Vorgang
eigentlich mit den Gesprächsteilnehmern, den Agenten des hierbei statthabenden
Sozialgeschehens passiert. Dies nämlich der zentrale Punkt, um den es mir hier geht. In
diesem Sinne bemühen wir uns um einen Kommentar zu den Sätzen von Teil B, der
gleichwohl sehr eng bezogen bleibt auf die Gadamerschen Ausführungen selbst, also:
Zu Satz 1 von Teil B:
Selbstverständlich ist die „Sprache in der etwas Zur-sprache-kommt, kein verfügbarer Besitz
des einen oder des anderen der Gesprächspartner“, ist sie doch als gemeinmenschliche
Institution das allen menschlichen Wesen eignende Kommunikationsmedium, was dann ja
auch in Satz 2 von Teil B („Jedes Gespräch setzt eine gemeinsame Sprache voraus“) bzw. in
Satz 3 von Teil B („Es ist da etwas in die Mitte niedergelegt, wie die Griechen sagen, an dem
die Gesprächspartner teilhaben und worüber sie sich miteinander austauschen“) zum
Ausdruck kommt.
In Satz 4 von Teil B haben wir dann eine apodiktische Kausalbehauptung, die sich in
mehrfacher Formulierung fassen lässt:
Weil die Verständigung über die Sache im Gespräch zustande kommen soll, muss im
Gespräch eine gemeinsame Sprache erst erarbeitet werden. Oder:
Die Erarbeitung einer gemeinsamen Sprache im Gespräch ist die notwendige Bedingung
dafür, dass die Verständigung über die Sache, die im Gespräch zustande kommen soll, auch
tatsächlich eine Chance hat, zustande zu kommen. Oder:
Dann und nur dann, wenn im Gespräch eine gemeinsame Sprache erarbeitet wird, kann
Sachverständigung im eigentlichen Sinne erreicht werden. Usw. usw.
Wir beziehen das, worum es hier geht, nunmehr auf das obige Emergenzprinzip, so dass gilt:
Nur und ausschließlich in solchen Gesprächen hat sachbezogener Konsens bzw.
Problemlösung eine Chance zustande zu kommen, wenn sich dabei eine linguistische
Innovativstruktur herausbildet. Diese jedoch wird den Gesprächsteilnehmern niemals
„geschenkt“ sie ist vielmehr das Resultat harter gedanklich disziplinierter Arbeit.
175
Wichtig ist hier die Sachaussage, dass diejenige Sprache, in welcher schließlich
„Verständigung über eine Sache“ erreicht werden kann, zu Beginn eines „eigentlichen
Gesprächs“ noch gar nicht existiert. Sie ist vielmehr immer, wie gesagt, das Resultat harter
gedanklich disziplinierter Arbeit.152
Um den Clou des Gadamerschen Grundgedankens herauszuschälen, stellen wir die folgende
Frage:
Worauf genau richtet sich eigentlich das Bemühen der Gesprächsteilnehmer? Wollen sie etwa
eine „neue Sprache“ erarbeiten?
Das ist ganz sicherlich nicht der Fall. Ihre ganze Bemühung richtet sich vielmehr auf die
ihnen „vorgegebene Sache“, sie wollen u.U. ein Problem gemeinsam lösen und ihre ganze
Aufmerksamkeit ist, insofern es sich tatsächlich um ein „eigentliches Gespräch“ handelt, auf
„die Sache“, auf das „Problem“, welches wie Gadamer so schön sagt, „in die Mitte zwischen
sie beide gelegt ist“, gerichtet. Und der entscheidende Punkt hierbei, um den es Gadamer –
und eben auch uns – wesentlich geht: Je mehr die Aufmerksamkeit sowie die gedankliche
Anstrengung der sprachlichen Kooperation zweier Personen von dem „Problem“ bzw. von
der „Sache“ absorbiert ist, an dem sozusagen beide „arbeiten“, um sich „darüber zu
verständigen“ oder auch sich darüber klar zu werden, desto weniger können sie auf ihre
Sprache, ihre Redeweise, auf die Formulierungen bzw. auf „Wohlgeformtheit der Worte und
Sätze“ achten. Das aber heißt: Die beiden Gesprächspartner, die sozusagen ungewollt
sprachlich kreativ werden müssen, weil es ihnen um „etwas“ geht, bilden eine neue
gemeinsame Sprache heraus, ohne dies zu wollen – klassischer Fall dessen, was die
traditionelle Soziologie die „unbeabsichtigten Konsequenzen absichtsgeleiteten Handelns“
genannt hat. Der Satz 4 von Teil B lautet nunmehr, wie mir scheint:
Die mühselige „Erarbeitung“ einer neuen gemeinsamen Sprache ist ungewollter Nebeneffekt –
oder in Weberscher Sprache ausgedrückt ist nicht Objekt des komplementär aufeinander
bezogenen subjektiv sinnhaften Sichverhaltens – des im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
stehenden Versuches, sich einer schwierigen Sache, die „im Gespräch zustande kommen
soll“, gemeinsam zu bemächtigen.
152
Vgl. hierzu auch die Ausführungen meiner Kollegin Dietlinde Michael in ihrem bereits erwähnten
Vortragspapier über die „Funktion des Gadamerschen Gespräches für den pädagogischen Prozess“.
176
Auf genau diesen „Nebeneffekt“ kommt es uns natürlich wesentlich an, denn mit ihm passiert
noch etwas Unvorhergesehenes, was wir uns nunmehr in Satz 5 von Teil B anschauen wollen,
nämlich:
Die beiden Gesprächspartner geraten so „unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen
Gemeinsamkeit verbindet“, dass sie beide (nunmehr Satz 6 von Teil B) nicht bleiben, was sie
(ursprünglich) waren. Mit der neuen Sprache, die sie nunmehr sprechen, sind sie „andere“
geworden, sie haben eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht, ohne dies überhaupt zu
bemerken. Die Gadamersche Kernaussage ist somit sonnenklar, wie mir scheint: Verändert
sich wirklich die Sprache eines Menschen, so verändert dieser Mensch sich in seiner
systemischen personalen Struktur. Genau diesen Tatbestand nenne ich nunmehr
Identitätsmetamorphose.
Wir können uns jetzt auch, so glaube ich, erneut mit dem Teil C befassen, ohne Gefahr zu
laufen, dabei dem hegelianisch-existenzialistischen Jargon aufzusitzen. Dabei richten wir
sogleich unsere Aufmerksamkeit auf den 7. Satz in Teil C: Die Beteiligten haben ohne dies
überhaupt zu bemerken, weil sie nach einem solchem Gespräch eine andere Sprache
sprechen, mithin also auch „die Welt mit anderen Augen sehen“, eine Identitätsmetamorphose
durchgemacht.
Stellen wir die folgende zentrale Frage:
Was genau wird hier beschrieben bzw. was genau haben die beiden Gesprächskontrahenten
durchgemacht?
Es wird ein Lernprozess beschrieben, der sich auf ein „Objekt“ bezieht. Die beiden
Gesprächskontrahenten haben ein Lernprozess durchgemacht, der sich nicht „auf den
anderen“ bezieht – beide haben also nicht „einander“ besser kennengelernt –, und der sich
auch nicht auf das sprachliche Geschehen selbst bezieht, der sich vielmehr auf „eine Sache“,
auf „etwas“ von beiden „ins Auge gefasstes“ bezieht.
Die zentrale These lautet nunmehr:
Lernen als kognitive Umorientierung geschieht bei menschlichen Wesen sprachlich. Spricht
jemand anders, so hat er sich in seiner Persönlichkeitsstruktur verändert, und ist dies der Fall,
so hat er eine Identitätsmetamorphose „durchgemacht“. Entscheidend aber ist: Ein solcher
Prozess findet statt bzw. kann stattfinden, ohne dass sich ein „Individuum“ einer solchen
177
Veränderung „seiner“ Persönlichkeit bewusst sein muss. Die stattgehabte Veränderung wird
einfach
zum
selbstverständlichen
Bestandteil
seiner
(sprachlichen)
Verhaltenseigentümlichkeiten, und erst, wenn massive Irritationen auftreten, die sich z.B. in
bestimmten Fehlleistungen äußern mögen, stellt sich auf der Bewusstseinsebene die
Identitätsfrage. Identitätsmetamorphosen finden statt, ohne dass die betreffenden Individuen
dies bemerken müssen, stellt sich jedoch die Identitätsfrage, wie auch immer sich dies
symptomatisch äußern mag, so erfüllt das eben den Tatbestand der Identitätskrise.
5.5. Das DN-Modell einer wissenschaftlicher Erklärung
Es wurden zwei Aufgabenbereiche für die Erfahrungswissenschaften festgelegt: Erklärung
und Entdeckung.
Es wurde, wie erinnerlich, gesagt, dass die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaften darin
bestehe, „Erklärungen zu liefern für alle Phänomene der realen Welt, die uns einer Erklärung
bedürftig erscheinen“. Und bei diesem Versuch, Phänomene der realen Welt erklären zu
wollen, ergeben sich dann Entdeckungen, auf die wir vorher nicht gekommen wären, wenn
wir uns nicht dem Abenteuer der Forschung überantwortet hätten. „Forschung“, so hatten wir
gesagt, ziele ab auf Problematisierung des Selbstverständlichen, Entfremdung des uns
„Vertrauten“. Und so ergibt sich eine gewisse Dialektik: Indem wir Phänomene, die uns einer
Erklärung bedürftig erscheinen, aufklären, konstruieren wir sprachliche Instrumente (Begriffe,
Hypothesen, Theorien) die es uns ermöglichen, Dinge zu sehen, Aspekte zu verdeutlichen, auf
die wir vorher keinerlei Aufmerksamkeit gerichtet hatten. Popper hat hierfür das Schema
„Problem“ – „Problembeschreibung“ – tentative „Problemlösung“ – „Konstruktion einer
Theorie“ – „Neubeschreibung“ entwickelt.
Wir versuchen also Phänomene mittels ganz bestimmter Theorien zu beschreiben bzw. zu
erklären, erforschen im Lichte dieser Theorien die zuvor beschriebenen Phänomene,
entdecken dabei vorher nicht Bekanntes, begehen Irrtümer, die wir sodann mittels erneuter
Theoriekonstruktionen zu eliminieren versuchen, stoßen auf neue Phänomene, die uns neue
Rätsel aufgeben, formulieren hierfür erneute Erklärungen usw. usw. Zur Verdeutlichung
zitiere
ich
aus
einem
1970
publizierten
178
Aufsatz
Popper’s,
wo
er
sein
„Erkenntnisfortschrittsschema durch Theorienkonstruktion“ ausgesprochen anschaulich, wie
ich finde, geschildert hat:
„I shall ..., schreibt er, present a general tetradic schema which I have found more and more
useful as a description of the growth of theories. It is as follows:
P1 → TT → EE → P2
Here »P« stands for »problem«; TT stands fot »tentative theorie«; »EE« stands for
»(attempted) error-elimination«, especially by way of critical discussion. My tetradic schema
is an attempt to show that the result of critism, or of error-elimination, applied to a tentative
theorie, is as a rule the emergence of e new problem: or indeed, of several new problems.“
Denn: „Problems, after they have been solved and their solutions properly examined, tend to
beget problem-children: new problems often of greater depth and ever greater fertility than the
old ones. This can be seen especially in the physical sciences; and I suggest that we can best
gauge the progress made in any science by the distance in depth and expectendess between P1
and P2: the best tentavive theories (and all theories are tentative) are those which give rise to
the deepest and most unexpected problems“.153
Poppers ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich, wie bekannt, auf das Problem der
Evolution der menschlichen Erkenntnis, die forschend zu immer umfassenderen und immer
präziseren Theorien gelangt sei, und bezogen auf genau diese Problematik stellt sich sodann
naturgemäß die Frage, wie eigentlich diese Theorien beschaffen sein müssten, um einen
solchen Erkenntnisfortschritt zu ermöglichen. Die Antwort auf eben diese Frage macht den
eigentlichen „Clou“ der Popperschen Wissenschaftsphilosophie aus: Wenn mittels des sog.
„DN-Schemas einer wissenschaftlichen Erklärung“ tatsächlich, wie es ja nicht nur von Popper
sondern auch von den anderen Wissenschaftstheoretikern, die der sog. „Wiener Schule“
nahestanden, behauptet wurde, das „logische Gerippe“ jedweden Erklärungsvorgangs mit
Anspruch auf Rationalgeltung wiedergegeben werde, dann müssten die dabei verwendeten
Theoriegebilde ganz bestimmten Bedingungen genügen. Popper selbst formuliert dies
schlagwortartig ungefähr so: Der – oben schematisch beschriebene – Erkenntnisfortschritt
beruht auf dem Mechanismus der optimalen Kritisierbarkeit bestimmter Erklärungsangebote
(tentative Theorieentwürfe – siehe obiges Schema), und optimale Kritisierbarkeit ist
gleichbedeutend mit prinzipieller Falsifizierbarkeit, was den fraglichen Theorien eine ganz
153
Popper, K. R. [A Realist View], S. 287
179
bestimmte logische Struktur aufherrscht: Sie müssen widerspruchsfrei, gesetzesartig
formuliert und „durch widerstreitende Erfahrung“ widerlegbar sein. Und dies wiederum
bedeutet: Empirisch falsifizierbare Theorien müssen als streng allgemeine Allsatz-Systeme so
aufgebaut sein, dass ihre Widerlegung möglich ist. Poppers „(attempted) error-eliminations“
erfolgen über den Mechanismus der effektiven Falsifikation. Deshalb kann der
Erkenntnisfortschritt auch aufgefasst werden als ein Prozess der falsifizierenden
Aussonderung von vormals für „wahr“ gehaltenen Theorien. Stegmüller hat diesen hier von
Popper beschriebenen Tatbestand dadurch Rechnung getragen, dass er das „Wesen der
Wissenschaft“ als ein prinzipielles „Wissen auf Widerruf“ bezeichnet hat.
Wir haben scharf zwischen „Forschungsmodus“ und „Anwendungsmodus“ unterschieden. Es
sollte jedoch beachtet werden, dass Popper z.B. dieser Frage streng genommen gar keine
Aufmerksamkeit geschenkt hat, denn das Problem der sog. „angewandten Wissenschaften“
interessierte ihn nur am Rande. In einem Punkt jedoch herrscht Übereinstimmung: Mag auf
lange Sicht tatsächlich selbst die bestbestätigte Theorie sich als unzulänglich („falsifiziert“)
herausstellen,
so
sind
dennoch
hier
und
heute
vorgenommene
Aktionen
der
Wirklichkeitsveränderung – z.B. in Gestalt von therapeutischen Eingriffen in „natürliche
Abläufe“ – nur mittels gut bewährten, streng allgemein formulierten Theorien möglich, die
sich sozusagen aus gesetzesartigen Aussagegebilden („nomologische Hypothesen“)
„zusammensetzen“.
Es ist deshalb an dieser Stelle einschränkend auf folgendes hinzuweisen, bevor wir uns dann
der
logischen
interessieren
Struktur
uns
wissenschaftlicher
bisweilen
keineswegs
Erklärungen
das
Abenteuer
zuwenden:
der
Lebenspraktisch
Forschung
und
die
Neuentdeckungen, die damit verbunden sind. Vielmehr interessiert uns mindestens genauso
stark, dass die Wissenschaft z.B. in Gestalt der „klinischen Disziplinen der medizinischen
Wissenschaften“ (Weber) in den Dienst der Lebenspraxis gestellt werden kann, weil sie
bessere Instrumente zur Bewältigung bestimmter Probleme zur Verfügung stellt, als z.B. die
Religion. Es geht also nicht nur um den Erkenntnisfortschritt an sich und um die Konstruktion
immer umfassenderer und immer präziserer Theorien, sondern eben auch um die
Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse, um die Linderung des menschlichen
Leidens, um die Heilung von Krankheiten und die Verhinderung des vorzeitigen Todes. Es
ist, wie Max Weber ausgeführt hat, geradezu ein Kennzeichen der Moderne, dass der durch
die Wissenschaft eingetretene Prozess der „Entzauberung der Welt“ ja auch die praktische
Lebensweise des Menschen der Moderne grundsätzlich gewandelt hat. Paradigmatisches
180
Belegstück hierfür ist die Entwicklung der modernen Medizin. Und bei aller Kritik muss doch
darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Medizin in vieler Hinsicht, gerade weil sie
streng wissenschaftlich diszipliniert ihre Grundlagenforschung betrieben hat, menschliches
Leid gelindert hat. Kultursoziologisch ist es ja sogar die Aufgabe der Medizin dieses zu tun,
nur muss man eben scharf unterscheiden zwischen medizinischer Grundlagenforschung und
„Klinik“. In diese „Rahmenbedingungen“ soll nunmehr eine spezifische Ergänzung des für
den wissenschaftlichen Auftrag unserer Fachdisziplinen geltenden Postulatenkatalogs
vorgenommen werden.
Wie erinnerlich, ist das wichtigste Instrument der wissenschaftlichen Erklärungen das Gefüge
von Theorien, mittels derer wir die Erklärung der uns interessierenden Phänomene
bewerkstelligen. Eine Erklärung, so wurde gesagt, bestehe in der kausalen Verknüpfung von
mindestens zwei empirischen Tatbeständen
auf der Grundlage mindestens einer
gesetzesartigen Annahme/Theorie. Für eine solche gesetzesartige Annahme/Theorie gilt als
das oberste Postulat das Postulat der Widerspruchsfreiheit und hervorgehoben wurde, dass
neben den „Begriffen“ es vor allen Dingen die gesetzesartigen Hypothesen seien, die die
wichtigsten Bestandteile erfahrungswissenschaftlicher Theorien sind: Echte Theorien
bestehen aus gesetzesartigen Hypothesen.
Die strenge wissenschaftstheoretische Forschung hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass
sich für jede „wissenschaftlich korrekte“ Erklärung eine ganz bestimmte logische Struktur
angeben lässt, die, wenn sie im Prinzip für alle Formen von Erklärungen gilt, ganz bestimmte
Konsequenzen zeitigt, z. B. für den Aufbau einer Sozialisationstheorie. Und darum genau
geht es uns hier ja.
Machen wir uns also anhand bestimmter Beispiele klar, wie das „logische Gerippe“ dessen
aussieht, was die Wissenschaftstheoretiker das „deduktiv-nomologische-Schema einer
wissenschaftlichen Erklärung“ (DN-Modell) nennen und was aus Dankbarkeit an zwei
Wissenschaftstheoretiker auch das „Hempel-Oppenheim-Schema“ (HO-Modell) genannt
wird.
Was ist eine „Erklärung“ und was ist eine „wissenschaftliche Erklärung“?
Eine wissenschaftlich korrekte Erklärung ist die Antwort auf eine Warum-Frage. Es handelt
sich dabei um eine logische Operation, bei der zwei Klassen von Aussagen im Spiele sind154:
154
Wir betrachten hier bewusst nur den einfachen Fall, dass es um die Erklärung eines ganz bestimmten
singulären Ereignisses geht.
181
Die Klasse derjenigen Aussagen, die das Ereignis beschreibt welches erklärt werden soll,
„Explanandum“ genannt, und die Klasse derjenigen Aussagen, die die erklärenden Argumente
repräsentieren: das „Explanans“ des Explanandums. Das Explanans wiederum zerfällt in
zwei Klassen von Aussagen: in die Klasse derjenigen Aussagen, die Zustände beschreiben,
welche dem Phänomen, welches erklärt werden soll, zeitlich vorausgehen (auch die Klasse
von Aussagen sind singuläre Aussagen), und die Klasse derjenigen Aussagen, die das
logische Band bilden zwischen diesen beiden Aussagen: gesetzesartige Aussagen. Die letzte
Klasse von Aussagen repräsentiert immer ein mehr oder weniger gut gesichertes Gefüge
nomologischer Hypothesen, die niemals eine singuläre Struktur haben.
Man beachte, dass niemals Tatbestände aus anderen Tatbeständen „abgeleitet“ werden
können. Abgeleitet („deduziert“) werden können nur Aussagen aus anderen Aussagen. Wir
geben das in Form eines Schemas wieder und erläutern dies anhand des berühmt gewordenen
Leichenbeispiels von Karl Raimund Popper:
G (allgemeines Gesetz)
A (singuläre Anfangsbedingung/Randbedingung)
E (explanandum)
Die logische Operation der „Erklärung“ lässt sich dann folgendermaßen demonstrieren:
Wenn gilt (=wahr ist), dass alle menschlichen Organismen zu allen Zeiten und an allen Orten,
nach der Einnahme von mindestens drei Milligramm Zyankali, innerhalb von mindestens
zehn Minuten sterben,
und
wenn gilt (=wahr ist), dass diese, hier an diesem Ort an diesem Tag befindliche Person zu
diesem Zeitpunkt fünf Milligramm Zyankali zu sich genommen hat,
dann folgt logisch,
dass diese Person innerhalb von zehn Minuten gestorben ist.
182
Für das hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte Problem der „klinischen Disziplinen
der medizinischen Wissenschaften“ ist nun wichtig, dass mehrere Fälle denkbar sind, bei
denen wir die kognitive Fruchtbarkeit dieses „DN-Schemas“ studieren können: Erklärung,
Prognose, empirische Überprüfung und Anwendung.
Im ersten Fall (Erklärung) haben wir einen Tatbestand, den es festzustellen, den es zu
beschreiben und den es zu erklären gilt.
Im zweiten Fall (Prognosededuktion) haben wir einen Tatbestand, den wir relativ präzise
beschreiben können, weil wir eine „Theorie“ haben, die uns eine solche Beschreibung
ermöglicht, wodurch ja zugleich immer auch eine Erklärung geliefert werden könnte, und wir
machen dann eine Voraussage.
Im dritten Fall (Überprüfung) haben wir eine Theorie/Hypothese, konstruieren aus einer
Menge möglicher Tatbestände, auf welche unsere zu prüfende Theorie anwendbar sein
könnte, einen ganz bestimmten Tatbestand, sagen voraus, was wahrscheinlich zu erwarten ist,
und stellen dann fest, ob unsere Voraussage zutrifft oder nicht. Die Prognosededuktion ist
also das wichtigste Hilfsmittel bei der Überprüfung von Theorie- und Hypothesengebilden.
Sie ist es auch im vierten Fall, wo es um deren Anwendung (Applikation) geht. Hier haben wir
einen Tatbestand, den wir mittels einer bestimmten Theorie erklären können, machen eine
Voraussage darüber was sich ereignen wird, und greifen handelnd ein, – wir verändern also
die Randbedingung –, um zu verhindern, dass der von der Theorie vorausgesagte Tatbestand
eintritt. Die Prognosededuktion wird also benötigt, um vorab durchsimulieren zu können, was
sich ereignen würde, d.h. welcher Tatbestand zu erwarten wäre, würde man nicht eingreifen.
Popper konzentriert sich zunächst auf den ersten Fall (Erklärung), um so überhaupt zu
erläutern, worauf es beim sog. „DN-Schema“ eigentlich ankommt. Er schreibt (ich „reinige“
seine Beschreibung ein wenig, indem ich z.B. die Begriffe „explicans“ und „explicandum“,
die bereits in der Begriffslehre ihre feste Bedeutung haben, durch die passenderen Ausdrücke
„explanans“ und „explanandum“, die sich in der Wissenschaftslehre mittlerweile durchgesetzt
haben, ersetze, hebe das mir wichtig und erläuterungsbedürftig Erscheinende mittels Kursive
hervor und arbeite zur Verdeutlichung mit eckigen Klammern):
„Wir finden eine Leiche und wollen erklären, was denn hier geschehen ist. Das Explanandum
[der Tatbestand also, der erklärt werden soll], kann in dem Satze „Dieser Mensch hier ist (vor
183
kurzem) gestorben“ beschrieben werden. Dieses Explanandum ist uns durchaus bekannt – die
Tatsache liegt sehr real vor uns. Wenn wir sie erklären wollen, so führen wir (wie sie ja aus
Detektivgeschichten wissen) hypothetische, also viel weniger gut bekannte Erklärungen ein.
Eine solche Hypothese [hier im Sinne von „Vermutung“]155 ist vielleicht, dass dieser Mensch
sich mit Zyankali vergiftet hat. Das kann man insofern als eine brauchbare Hypothese
bezeichnen, als sie uns (1.) hilft, ein Explanans zu formulieren, aus dem das Explanandum
deduziert werden kann, und (2.) gestattet, das Explanans unabhängig vom Explanandum
nachzuprüfen. [Wir hätten dann zunächst einmal die folgende singuläre Kausalbehauptung,
welche unsere Vermutung beinhaltet bzw. wiedergibt: Dieser Mann ist, da noch keine
Leichenstarre eingetreten ist, vor kurzem gestorben, weil er zuvor Zyankali zu sich
genommen hat]. Das Explanans, daß jene Hypothese nahelegt, besteht nicht nur aus dem Satz
„Dieser Mensch hier hat Zyankali eingenommen“, denn daraus kann man das Explanandum
[weil es ein singulärer Satz ist] nicht deduzieren. Wie müssen vielmehr als Explanans zwei
verschiedene Arten von Prämissen verwenden – allgemeine Gesetze, und singuläre
Anfangsbedingungen/Randbedingungen. In unserem Fall wäre das allgemeine Gesetz etwa so
zu formulieren: „Wenn ein Mensch wenigstens drei Milligramm Zyankali einnimmt, so stirbt
er binnen zehn Minuten“. Die (singuläre) Anfangsbedingung würde etwa lauten: „Dieser
Mensch hier hat kürzlich, aber vor mehr als zehn Minuten, wenigstens drei Milligramm
Zyankali eingenommen“. Von diesen Prämissen [die sich also zusammensetzen aus der streng
allgemein gefassten Hypothese, die den Zusammenhang von Zyankali-Genuss und
Erstickungstod betrifft, und der „Anfangsbedingung/Randbedingung“, dass hier in diesem
speziellen Fall Zyankali-Einnahme vorliegt] können wir nun in der Tat deduzieren, daß dieser
Mensch hier (vor kurzem) gestorben ist. [Sodann weist Popper auf den eigentlichen wichtigen
Punkt hin, nämlich:] All dies scheint sehr trivial zu sein. Aber bitte beachten Sie eine meiner
Thesen – daß das, was ich Anfangsbedingung genannt habe alleine niemals zur Erklärung
hinreicht, sondern daß wir immer auch ein allgemeines Gesetz brauchen. Diese These ist nun
nicht trivial; im Gegenteil, sie wird gewöhnlich gar nicht gesehen. Auch sie werden vielleicht
dazu neigen, die Bemerkung „Dieser Mensch hat Zyankali eingenommen“ auch ohne das
allgemeine Gesetz über die Wirkungsweise des Zyankali als Erklärung hinzunehmen. Aber
nehmen Sie für einen Augenblick an, daß es einen allgemeinen Satz gibt, daß jeder Mensch,
155
Der Begriff der Hypothese wird in der Übersetzung des Popper-Artikels leider doppeldeutig verwendet.
Popper spricht an dieser Stelle im Text sozusagen „umgangssprachlich“. Hypothese meint hier ganz einfach eine
Vermutung. Von dieser umgangssprachlichen Bedeutung muss der streng wissenschaftstheoretische Begriff der
„Hypothese“ scharf unterschieden werden. Es handelt sich dabei um eine gesetzesartige nomologische
„Hypothese“.
184
der Zyankali einnimmt, sich für eine Woche besonders wohl fühlt und mehr leistet als je
zuvor. Würde, wenn dieses Gesetz gilt, der Satz „Dieser Mensch hat Zyankali eingenommen“
noch immer als eine Erklärung seines Todes gelten können? Offenbar nicht.
Wir kommen also zu dem wichtigen und oft übersehenen Resultat, daß eine Erklärung durch
besondere Anfangsbedingungen allein nicht möglich ist und daß wir immer auch wenigstens
ein allgemeines Gesetz brauchen, obwohl dieses Gesetz manchmal so gut bekannt ist, daß es
als trivial weggelassen wird“.156
Ich habe diese Erläuterung so gewählt, weil gerade das Popper’sche Beispiel, obwohl es
eigentlich ziemlich klar ist, zu mannigfachen Missverständnissen Anlaß gegeben hat, die ich
hier von vorneherein vermeiden möchte. Halten wir deshalb das, worauf es wesentlich
ankommt, noch einmal in expliziter, d.h. apodiktischer Form fest:
Es gibt keine Erklärung irgendeines beliebigen singulären Tatbestandes, bei dem nicht
mindestens eine streng allgemein formulierte Hypothese im Spiel ist.
Oder anders formuliert:
Sage mir irgendein beliebiges Beispiel, bei dem Du zwei singuläre Tatbestände kausal
miteinander verknüpfst, und ich sage Dir, wo und wie sich implizite dabei mindestens eine als
streng allgemeiner Allsatz formulierbare „gesetzesartige Aussage“ bzw. „nomologische
Hypothese“ befindet.
Und da nun gezeigt werden kann, dass ein solches „Gesetz“ in der Regel niemals für sich
alleine steht, sondern immer in irgendeiner Form Bestandteil von hypothetischen
Zusammenhängen ist, ergibt sich folgerichtig:
Es gibt keine Kausalbehauptung ohne eine darin verborgene Theorie, wobei Theorie hier
genauso definiert ist, wie im „Thesenkatalog“ ausgeführt: ein widerspruchsfreies, durch
Ableitbarkeitsbeziehung
miteinander
verknüpftes
System
empirisch
falsifizierbarer
Hypothesen („gesetzesartige Aussagen“).
Und der für unsere Belange entscheidende Punkt ist der folgende: Es handelt sich hierbei
selbst um eine streng allgemeine Aussage der Wissenschaftstheorie, die völlig unabhängig
von dem möglichen Umstand gilt, dass die im Spiele befindlichen nomologischen Hypothesen
z.B. gut gesicherte naturwissenschaftliche Gesetze sind. Es kann sich dabei auch lediglich um
156
Popper, K.R.: „Naturgesetze und theoretische Systeme“, in: Theorie und Realität, hrsg. von Hans Albert,
J.C.B Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1964, S. 94f
185
bloße „Annahmen“ handeln. Worauf es alleine ankommt, ist, dass die betreffenden
„Gesetzmäßigkeiten“ die logische Struktur von streng allgemeinen Allsätzen haben. In
diesem Sinne ist das obige „Zyankali-Gesetz“ genauso eine streng allgemeine Hypothese, wie
die bekannte Spruchweisheit von Wilhelm Busch, dass jemand, der sich freut, wenn ein
anderer sehr betrübt ist, sich zumeist ziemlich unbeliebt macht.
Ich
erinnere
deshalb
an
die
entsprechende
Passage
aus
dem
obigen
„wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“:
Eine wissenschaftliche Erklärung, so hieß es dort, besteht darin, dass verschiedene
empirische Tatbestände in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden auf der Grundlage
streng
allgemeiner
Gesetzmäßigkeiten,
(in
der
Wissenschaftslehre
„nomologische
Hypothesen“ genannt). Und wir halten hier in apodiktischer Form fest:
Tatbestände lassen sich dann und nur dann in dem Sinne erklären, dass sie mit anderen
Tatbeständen in einen Kausalzusammenhang gebracht werden, wenn sie in Form einer
Satzmenge beschrieben worden sind, die sich aus einer anderen Satzmenge ableiten lässt, die
selbst wiederum in zwei Teilmengen zerlegbar ist: In die Teilmenge derjenigen Sätze, welche
die „Anfangsbedingungen“ bzw. die „Randbedingungen“ des erklärungsbedürftigen
Ereignisses beschreiben, und in die Teilmenge derjenigen Sätze, die aus einer Menge
nomologischer, d.h.: gesetzesartiger Hypothesen bzw. einer Theorie besteht. Dieser Punkt ist
deswegen von Bedeutung, weil sich natürlich nicht „Tatbestände“ aus anderen Tatbeständen
„ableiten“ lassen: Nur Sätze lassen sich aus anderen Sätzen ableiten. Der Begriff der
„Erklärung“ bezieht sich also genaugenommen nicht auf „Tatbestände“, sondern auf den
Zusammenhang zwischen bestimmten Satzklassen.
Wenden wir uns dem zweiten Fall (Prognosededuktion) zu:
Hypothesen
bzw.
zu
Theorien
zusammengestellte
Hypothesensysteme
können
zu
Voraussagezwecken benutzt werden. Die Prognosededuktion stellt gewissermaßen die
„Umkehrsituation einer Erklärung“ dar, woraus sich ergibt: Während wir im Erklärungsfalle
mit Hilfe einer empirisch falsifizierbaren Hypothese/Theorie einen Blick in die Vergangenheit
werfen können, gestattet uns eine solche empirisch falsifizierbare Hypothese/Theorie im
umgekehrten Fall den Blick in die Zukunft. Popper schreibt:
„Während im Falle der Erklärung das Explanandum gegeben ist und ein passendes Explanans
gesucht wird, geht die Prognosendeduktion umgekehrt vor. Hier ist die Theorie gegeben .....
und ebenso die Anfangsbedingungen (durch Beobachtung festgestellt). Wie fragen nach den
186
Konsequenzen, d.h. nach gewissen soweit unbeachteten logischen Folgerungen. Diese sind die
Prognosen. (Anstelle von E tritt in unserem Schema die Prognose P)“157, so dass sich ergibt:
G (allgemeines Gesetz)
A (singuläre Anfangsbedingung/Randbedingung)
P (Prognose)
Die logische Operation der „Prognose“ lässt sich dann folgendermaßen demonstrieren:
Wenn gilt (=wahr ist), dass alle menschlichen Organismen zu allen Zeiten und an allen Orten
nach der Einnahme von mindestens drei Milligramm Zyankali innerhalb von mindestens zehn
Minuten sterben,
und
wenn gilt (=wahr ist), dass diese hier an diesem Ort an diesem Tag befindliche Person gerade
zu diesem Zeitpunkt und für alle sichtbar in genau diesem Augenblick im Begriff ist, fünf
Milligramm Zyankali zu sich zu nehmen,
dann folgt nicht logisch, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass diese
Person innerhalb von zehn Minuten sterben wird.
Dass der Schluss auf die Zukunft immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, nie
jedoch mit „logischer Sicherheit“ gezogen werden kann, ist von großer Bedeutung. Denn wie
gesagt:
Nur die sog. „Tautologien“ gewähren Sicherheit, erkaufen jedoch diese Sicherheit mit einem
Opfer, welches wir als Empiriker nicht zu geben bereit sind: Wir erfahren nichts über die
(vorausgesagte) Zukunft, was uns nicht bereits durch die Analyse der Aussage selbst bekannt
ist. Die betreffende Hypothese/Theorie hätte, wie es der Fachmann ausdrückt, keinen
Informationsgehalt. So ist, um das bereits erwähnte Beispiel hier erneut zu nehmen, die
157
Popper [Naturgesetze], S. 96
187
Aussage – sie hat logisch gesetzesartige Struktur, weil es sich ja auch um einen Allsatz
handelt! –, dass dann, wenn der Hahn auf einen Misthaufen kräht, sich entweder das Wetter
ändern wird oder aber nicht ändern wird, natürlich nicht den geringsten Informationsgehalt,
kann nichts erklären und gestattet keinen echten Blick in die Zukunft. Dasselbe wäre der Fall,
wenn wir eine entsprechende Formulierung für den Zusammenhang zwischen ZyankaliEinnahme und Tod wählen würden: Die Aussage, dass jemand, der mindestens drei
Milligramm Zyankali zu sich nimmt, entweder einen Erstickungstod erleiden wird oder aber
nicht erleiden wird, gestattet uns keine echte Prognose, eben weil eine solche „Hypothese“
aufgrund der Tatsache, dass in ihr nur die logischen Zeichen, wesentlich vorkommen, die
deskriptiven jedoch zu vernachlässigen sind, keinen Informationsgehalt bzw. empirischen
Gehalt hätte.
Empirisch falsifizierbare Hypothesen können deshalb auch als „Verbote“ aufgefasst werden,
was in unserem Fall bedeuten würde:
Wenn gilt (=wahr ist), dass alle menschlichen Organismen zu allen Zeiten und zu allen Orten
nach der Einnahme von mindestens drei Milligramm Zyankali innerhalb von mindestens zehn
Minuten sterben, dann gilt (logisch trivialerweise), dass es niemanden gibt, der irgendwo auf
der Welt drei Milligramm Zyankali zu sich nehmen würde und nicht daran sterben würde.
Diese gesetzesartige Aussage „verbietet“ also das Auftreten eines ganz bestimmten Falles,
dass nämlich jemand drei Milligramm Zyankali zu sich nimmt und überlebt.
Abstrakt ausgedrückt:
Eine echte empirisch falsifizierbare Hypothese muss logisch bzw. linguistisch „so gebaut“
sein, dass sie das Auftreten von mindestens einer Klasse von Fällen verbietet.
Wir sehen nunmehr, welche Rolle echte Prognosen bei der Überprüfung von
Hypothesen/Theorien spielen, und damit sind wir bei unserem dritten Fall (Überprüfung).
In [Naturgesetze] macht Popper mit Recht darauf aufmerksam, dass das DN-Schema
vorzüglich „zur Analyse des Nachprüfungsvorganges“ geeignet sei. Dieser bestehe „darin,
daß wir Prognosen P deduzieren und mit der tatsächlich beobachtbaren Situation vergleichen.
Stimmen die Prognosen mit der beschriebenen Situation nicht überein, so ist das Explanans
als falsch erwiesen, falsifiziert, und wir wissen dann, daß entweder die Theorie oder die
Anfangsbedingungen eine Situation beschreiben, die nicht realisiert wurde (d.h., daß die
Anfangsbedingungen falsch sind)“.158
158
ibid., S. 96f
188
Von entscheidender Bedeutung für die von Popper vertretene Position des sog.
„methodologischen Falsifikationismus“ ist nun die Asymmetrie zwischen „Verifikation“ und
„Falsifikation“, welche besagt, dass man zwar eine streng allgemein formulierte
Hypothese/Theorie effektiv falsifizieren, nie jedoch endgültig verifizieren könne, was, wie
gesagt, den Münchner Wissenschaftstheoretiker Stegmüller zu der Formulierung veranlasst
hat, dass selbst unser bestens bestätigtes naturgesetzliches Wissen letztendlich eben doch nur
ein „Wissen auf Widerruf“ sei.
Popper schreibt:
„Obwohl ... die Falsifikation der Prognose das Explanans falsifiziert, ist das Umgekehrte nicht
der Fall; das heißt, es ist unrichtig und irreführend, die Verifikation der Prognose als eine
Verifikation der ... Theorie anzusprechen. Denn eine wahre Prognose kann sehr gut aus einem
falschen Explanans deduziert worden sein. Es ist sogar irreführend, wenn wir jede
Verifikation einer Prognose als eine praktische Bewährung (oder Konfirmation) des
Explanans ansehen; es ist richtiger zu sagen, daß nur die Verifikation von sonst
»unerwarteten« Prognosen als Bewährung ... der Theorie angesehen werden soll ...“.159
Vor allem deswegen komme es darauf an, die Bedingungen für die Prüfung von
Hypothesen/Theorien so schwierig wie nur möglich zu gestalten und sodann Prognosen zu
formulieren, die darauf angelegt sind, die entsprechenden Theorien/Hypothesen zu
falsifizieren (Postulat des sog. „ernsthaften Falsifikationsversuches“), denn es sei „ja
schließlich klar, daß nur dann, wenn der Kandidat eine hinreichend schwere Prüfung“
bestehe, das „Bestehen der Prüfung etwas über seine Qualität“ aussage. Schließlich könne
„auch für den schwächsten Kandidaten immer eine Prüfung arrangiert werden ...., die er ohne
Schwierigkeiten“ bestehe.160
Mit Popper halten wir hier fest, dass der „Theoretiker .... daran interessiert“ sei, „allgemeine
Gesetze zu finden und zu überprüfen. Bei der Überprüfung verwendet er alle möglichen
anderen Gesetze, die zu seinem Erwartungshorizont gehören, viele von ihnen auch ohne sich
über sie Rechenschaft zu geben, sowie auch verschiedene Anfangsbedingungen.“161
Stellen wir mit direktem Bezug auf die Darlegung bei Popper die Situation des Theoretikers
in dem folgenden Schema dar:
159
ibid., S. 97 Hervorhebung durch Popper
160
ibid., S. 97
161
ibid., S. 98
189
G0
G0
G0
.......
G1
G2
G3
.......
A1
A2
A3
.......
P1
P2
P3
......162
G0 ist in diesem Schema das Gesetz bzw. die (streng allgemein formulierte) Hypothese,
welche überprüft werden soll. Zusammen mit anderen Gesetzmäßigkeiten G1, G2, G3 etc., mit
denen unsere zu überprüfende Hypothese ein widerspruchsfreies System, eine Theorie also,
bildet, sowie mit den dazugehörigen Anfangsbedingungen A1, A2, A3 etc. wird sie als
validierungsbedürftig festgehalten und dazu verwendet, um verschiedene Prognosen P1, P2, P3
etc. abzuleiten, welche sodann mit den nunmehr beobachtbaren Tatbeständen verglichen
werden können. Lassen sich die dergestalt prognostizierten Tatbestände sodann auch
tatsächlich beobachten, bzw. treten sie, nachdem man bestimmte Anfangsbedingungen
experimentell hergestellt hat, wie vorausgesagt, ein, so gilt unser zu überprüfendes Gesetz als
(vorläufig) verifiziert, wodurch ja zugleich auch die anderen mit diesem Gesetz (Hypothese)
„im Spiele befindlichen“ Gesetzmäßigkeiten, da sie logisch mit unserer „Prüfkandidatin“
verbunden sind – so die Definition des Begriffs „Theorie“ – als „gut bestätigt“ gelten können.
Halten wir hier mit Popper fest (die Hervorhebungen des Autors wieder mittels
Unterstreichung, meine Hervorhebungen mittels Kursive):
„Wir haben gesehen, daß eine befriedigende Erklärung immer eine Theorie verlangt, die
unabhängig vom Explanandum nachgeprüft werden kann. Das bedeutet aber, daß eine
befriedigende Theorie immer mehr aussagen muß, als in den Explananda, die zur Aufstellung
führten, enthalten war. Mit anderen Worten, befriedigende Theorien müssen grundsätzlich
über die empirischen Fälle, die zu ihrer Aufstellung Anlaß geben, hinausgehen; andernfalls
würden sie .... zu zirkulären Erklärungen führen.“163
162
ibid., S. 98
163
ibid., S. 98
190
Auf das Sonderproblem der sog. „zirkulären Erklärungen“ soll hier nicht näher eingegangen
werden. Statt dessen lenken wir die Aufmerksamkeit noch auf einen anderen Punkt, der mir
wichtig erscheint. Er betrifft das unterschiedliche Niveau von Theoriekonstruktionen und ist
mir deswegen von Bedeutung, weil ja eine Theorie, welche sich sozusagen „im
Anfangsstadium ihrer Entwicklung“ befindet, gemessen an den hochkorroborierten Theorien
der strengen Naturwissenschaften zunächst einmal notwendigerweise kein sehr hohes Niveau
haben kann. Genau das ist nämlich mit der von uns hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit
gerückten Sozialisationstheorie der Fall. Mir ist es tatsächlich ernst mit meinem Plädoyer für
Kooperation, Kritik und Diskurskultur: Die Konstruktion einer ätiologisch wertvollen
Sozialisationstheorie, die es gestattet, mittels des „Identitätskonstruktes“ irgendwann einmal
die Pathogenese gravierender Verhaltensstörungen aufzuklären, kann gar nicht das Werk
eines einzelnen Forschers bzw. einer einzelnen Forscherin sein. Wir sollten diesen Punkt im
Auge behalten.
Zitieren wir also zur Frage des Niveaus und zum Problem des Forschungsganges, der nötig
ist, um einen Theorievorschlag in genau diesem Sinne gegebenenfalls zu verbessern, zu
verfeinern oder vielleicht auch abzuändern, noch einmal die Popper’schen Ausführungen über
den Zusammenhang von Falsifizierbarkeit, Kritisierbarkeit und Allgemeinheits- wie
Präzisierungsgraden
bestimmter
Theorie.
Im
Anschluss
hieran
werden
wir
das
Zyankalibeispiel etwas variieren, um erstens den Prüfvorgang „am besonderen Fall“ zu
demonstrieren und zweitens den Zugang zu finden zu dem ja noch offen stehenden vierten
Fall, dem Bereich des „therapeutischen Eingriffs in den natürlichen Ablauf der
Geschehnisse“.
Popper schreibt:
„Wie wir gesehen haben, führt die Ansicht, es sei die Aufgabe der Wissenschaft, zu erklären
oder (was im wesentlichen auf dasselbe hinausläuft) die theoretischen Grundlagen für
Prognosen und andere Anwendungen zu schaffen, zu der methodologischen Forderung der
(unabhängigen) Nachprüfbarkeit der Theorien. Nun gibt es aber Grade der Prüfbarkeit;
Theorien können mehr oder weniger gut prüfbar sein. Wenn wir unsere methodologische
Forderung so verschärfen, daß wir besser und besser prüfbare Theorien verlangen, so erhalten
wir ein methodologisches Prinzip – oder eine Formulierung der Aufgabe der Wissenschaft –,
daß es gestattet, eine große Anzahl von Ereignissen in der Geschichte der Wissenschaften
rational zu erklären; nämlich als Schritte, die in dem Versuch unternommen werden, die
Aufgabe der Wissenschaft zu lösen. (Gleichzeitig erhalten wir eine Bestimmung der Aufgabe
der Wissenschaft, die es uns ermöglicht, zu sagen, was in der Wissenschaft als Fortschritt zu
191
betrachten ist; denn in der Wissenschaft – im Gegensatz zu den meisten anderen Tätigkeiten,
insbesondere der Kunst – gibt es wirklich so etwas wie einen Fortschritt.)“164
Halten wir hier fest:
Wenn es die Aufgabe der Wissenschaft ist, zu erklären, indem dadurch zugleich die
theoretischen Grundlagen sowohl für Prognosen als auch für „Anwendungen“ geschaffen
werden, ergibt sich das methodologische Postulat der „prinzipiellen Überprüfbarkeit“ dieser
„theoretischen Grundlagen“, was, wie ausgeführt, gleichgesetzt werden muss mit dem
Postulat der „prinzipiellen Falsifizierbarkeit“. Und hieraus ergibt sich nunmehr – bezogen auf
unser Problem des vernünftigen klinischen Umgangs mit den sog. „Geistes- und
Gemütskrankheiten“ – trivialerweise: Eine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie,
welche durch umfangreiche, unabhängige Überprüfungen ihre „Geltung“ hat sichern können,
bildet das Fundament nicht nur für die Ätiologie entwicklungspsychopathologisch auffälliger
Verhaltensstörungen und folglich auch nicht nur für deren Diagnostik, deren Anamnese und
deren Prognostik, sondern auch – und hierin scheint mir der zentrale Punkt aller
Überlegungen zu liegen – für „Anwendungen“ in den „klinischen Disziplinen der
medizinischen (psychiatrischen) Wissenschaften“ in Gestalt geeigneter therapeutischer
Maßnahmen. Ich erinnere an meine obige (S. 79) „Wenn-dann-Aussage“.
Im Unterschied zu Popper, der sich mehr für das wissenschaftsphilosophische Problem des
Erkenntnisfortschritts interessiert, bin ich also aus anderen Gründen an der Frage interessiert,
wie sich das Niveau von Theorien mittels der Erhöhung der „Grade ihrer Prüfbarkeit“
verbessern ließe bzw. was dabei zu beachten ist, und folge in genau diesem Sinne Poppers
Ausführungen:
„Eine Analyse der Grade der Prüfbarkeit von Theorien zeigt ..., daß die Prüfbarkeit mit dem
Grade der Allgemeinheit einer Theorie zunimmt sowie mit dem Grade ihrer Bestimmtheit
oder Präzision.“165
Um was es dabei gehe, sei „überaus einfach“, nämlich: „Mit dem Grade der Allgemeinheit
einer Theorie wächst der Bereich der Ereignisse, über die die Theorie etwas voraussagen
164
ibid., S.99
165
ibid., S. 99
192
kann. Und damit der Bereich der möglichen Falsifikation. Die Theorie, die leichter
falsifizierbar ist, ist aber zugleich, die Theorie, die besser prüfbar ist.“166
Es ergibt sich mithin die auf unser Problem bezogene Aussage:
Gelingt es, den Allgemeinheitsgrad einer empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie und
damit die intersubjektive Überprüfbarkeit derselben zu erhöhen, dann verbessern sich auch
die Chancen für die Ausarbeitung einer Ätiologie der Mentalerkrankungen. Verbessern sich
aber damit zugleich auch immer Diagnostik, Prognostik und (mögliche) Therapie?
Das ist wohl nur dann der Fall, wenn mit dem Grade der Allgemeinheit der Theorie zugleich
auch deren Präzision verbessert werden kann. Denn:
„Ähnlich steht es mit dem Grade der Bestimmtheit oder Präzision. Eine präzise Aussage ist
leichter zu widerlegen als eine vage Aussage und daher besser prüfbar. In dieser Weise
können wir auch die Forderung, qualitative Aussagen wenn möglich durch quantitative
Aussagen zu ersetzen, auf die Forderung nach größerer Prüfbarkeit zurückführen.“167
Jedoch sei das „Kriterium der Messbarkeit“ als solches nicht unbedingt zugleich die
notwendige Bedingung, warnt Popper, eine Warnung, auf die wir selbst noch des öfteren –
vor allem im Zusammenhang mit der Transformierbarkeit klassifikatorischer Aussagen in
komparative Aussagen in den „Rationalitätskatalogen“ – hinweisen werden:
Die „Messung“ sei zwar „als Hilfsmittel zur Überprüfung von Theorien .... im Verlaufe des
wissenschaftlichen Fortschrittes ... immer wichtiger“ geworden, sie dürfe jedoch „wegen
[ihres] späten und bedingten Auftretens, und weil [ihrer Anwendbarkeit] immer von
theoretischen Voraussetzungen abhängig“, sei, „niemals zur Charakterisierung der
Wissenschaft oder der Theoriebildung im allgemeinen verwendet werden.“168
Wir hatten bereits weiter oben auf das hier mittels der Forderung nach größerer Allgemeinheit
von Theorien und deren Verbesserung durch Präzision genauer umschriebene Prinzip der
optimalen Kritisierbarkeit von Erklärungsvorschlägen hingewiesen. Popper hat das einmal so
ausgedrückt: Wir müssen einer Theorie das Überleben so schwer wie nur möglich machen,
denn nur dann, wenn sie unsere schwierigsten Überprüfungsprozeduren übersteht, können wir
auch vertrauen in ihre Geltung haben und auf ihre jeweiligen Hypothesen erstens unsere
Prognosen und zweitens unsere (vernünftigen) „Eingriffe in die Wirklichkeit“ gründen. Doch
166
ibid.
167
ibid.
168
ibid.
193
wie gesagt, geht es mir hier mehr um das Problem des Verhältnisses zwischen
„Grundlagenforschung auf hohem Niveau“ (das ist die Konstruktion immer allgemeinerer und
immer präziserer Theorien) und den dadurch (vielleicht) sich ergebenden Möglichkeiten,
Diagnostik, Prognostik und Therapie zu verbessern. Denn genau bezüglich dieses Punktes, so
hatte ich in der Einleitung betont, beansprucht meine hier vorgelegte Arbeit Relevanz.
Um demonstrieren zu können, worum es uns hier geht – nämlich um den Zusammenhang
zwischen Nachprüfbarkeit, Prognosededuktion und möglichem therapeutischen Eingriff –
variieren wir das Zyankali-Beispiel. Das mag vielleicht ein wenig konstruiert wirken, aber
darauf kommt es natürlich ebenso wenig an wie auf die Frage, der „empirischen Geltung“ und
braucht uns folglich auch nicht zu stören.
Unterstellt sei ein Forscher, der sich sein ganzes Leben lang derartig intensiv mit den
chemischen Eigenschaften von Zyankali beschäftigt hat, dass er in dieser Beziehung einen
leichten Tick ausgebildet hat, der ihn überall den verborgenen Einfluss von Zyankali
vermuten lässt, wenn jemand irgendetwas zu sich nimmt, woran er dann stirbt. Sein neustes
Forschungsprojekt beziehe sich nun auf Leute, die an einer Pilzvergiftung gestorben sind. Da
er selbst ein Liebhaber von Pilzgerichten ist, ist ihm natürlich bekannt, dass sehr viele
Pilzsorten schmackhaft und bekömmlich, einige ungenießbar und einige tödlich giftig sind.
Sein Ehrgeiz bestehe nun darin – und genau dafür arbeitet er an einer Verbesserung seiner
Theorie –, ein Klassifikationsschema auszuarbeiten, welches eine genaue Ordnung aller
Pilzsorten nach Maßgabe von Bekömmlichkeit und Gefährlichkeit ermöglicht und folglich
seiner Auffassung zufolge in jedes moderne Buch für Pilzsammlung und Pilzesser gehöre.
Jedoch sei sein praktisches Interesse geringer als sein Interesse an der Verbesserung seiner
Theorie. Hierin erschöpfe sich jedoch nicht sein Ehrgeiz. Gelänge ihm tatsächlich der
Nachweis, dass bei jeder Pilzvergiftung mit tödlichem Ausgang „irgendwie Zyankali im
Spiele sei“, so würden sich ja vielleicht sogar, wie erhofft, Diagnostik, Prognose und
(mögliche) Therapie bei „normalerweise“ tödlich verlaufenden Pilzvergiftungen verbessern.
Worauf es mir hierbei ankommt, ist, dass unser Zyankali-Pilz-Forscher zunächst einmal,
bevor er überhaupt an irgendwelche praktischen bzw. klinischen Konsequenzen denken kann,
seine Hypothese validieren muss. Und hierfür muss er Prognosen formulieren, in dem er sich
„Bedingungen“ ausdenkt, deren „Setzung“ in Gestalt von „Anfangsbedingungen“ die
Formulierung von Prognosen überhaupt gestattet. Dies aber ist in diesem Fall – und darauf
kommt es mir bei diesem etwas konstruiert wirkenden Beispiel wesentlich an – etwas
schwierig, wie sich denken lässt.
194
Sein an Hand des Studiums der Zyankali-Eigenschaften entwickeltes theoretisches System
lege nun die Hypothese nahe, dass jede Pilzsorte, die in irgendeinem Zusammenhang mit
irgendwelchen tödlichen Konsequenzen für die Pilzgenießer steht, irgendwelche u.U. jenseits
der technischen Analysemöglichkeiten (Messgenauigkeit) liegende Spuren von Zyankali
enthalten müsse. Genau diese Hypothese, an der vielleicht große Teile an seiner allgemeinen
„Zyankali-Theorie“ hängen und die ihm ausgesprochen bedeutsam für eine mögliche
Erweiterung dieser Theorie erscheint, will er nun überprüfen und deshalb formuliert er sie in
Gestalt der folgenden beiden miteinander verknüpften streng allgemeinen Aussagen, welche
besagen:
a) Nur diejenigen Pilzsorten sind tödlich giftig, welche irgendwelche Anteile von Zyankali
enthalten.
Und folglich gilt:
b) Wenn irgendein Mensch an einer Pilzvergiftung gestorben ist, dann liegt es letztendlich
nicht an irgendwelchen Arsenanteilen, sondern ausschließlich an bestimmten – vielleicht
jenseits der Messbarkeit liegenden – Zyankali-Anteilen.
Die entscheidende Frage ist, wie sich eine solche Aussagenkombination überprüfen lässt,
denn Experimente, welche ihm die Setzung von Anfangsbedingungen erlauben würden, kann
unser Forscher nicht machen, will er nicht mit unseren Strafgesetzen in Konflikt geraten.
Ich habe dieses Beispiel ganz bewusst so konstruiert, weil ich zeigen will, dass sich
manchmal die Überprüfung einer „Grenzbehauptungshypothese“ sehr schwierig gestalten
kann. Unser Pilz-Zyankali-Forscher muss zur Überprüfung jedoch auf jeden Fall eine
Prognose formulieren, denn erklären kann er natürlich relativ problemlos bei so
konstruiertem Beispiel, warum z.B. bestimmte Fälle nicht in den Geltungsbereich seiner
Hypothese fallen bzw. zu fallen scheinen: Der Hinweis auf das „Messbarkeitsproblem“ kann
jedes Argument neutralisieren.
Das Problem der Überprüfbarkeit besteht in diesem Fall tatsächlich darin, dass sich bezüglich
des möglichen Geltungsbereiches der fraglichen Hypothese – unser Forscher spricht nur von
menschlichen Organismen! – die Anfangsbedingungen nicht experimentell herstellen lassen:
Menschenversuche sind verboten und überdies ist unser Forscher nun doch nicht so verrückt,
ein solches Experiment überhaupt in Betracht zu ziehen. Das ist ihm „seine“ Theorie nun
denn doch nicht wert.
Um eine „prognose-ähnliche“ Situation herzustellen, fügen wir eine weitere Überlegung
hinzu. Diese besage, dass sowohl für unseren Forscher als auch für andere Zyankali195
Spezialisten nicht in Zweifel stehe, dass der empirische Zusammenhang zwischen „ZyankaliEinfluss“ und u.U. letale Auswirkungen auf das menschliche Atemsystem sehr eng und
empirisch gut gesichert sei. Unser Forscher formuliere also eine „prognose-ähnliche“ Aussage
bezüglich all derjenigen Fälle, die er noch nicht gesehen und folglich auch nicht begutachtet
hat. Diese Aussage stelle ein Implikat der These dar, dass „irgendwie Zyankali im Spiel sein
muss“, weil immer und überall in irgendeiner Art und Weise bei allen Pilzvergiftungen mit
tödlichem Ausgang die Atmungsorgane betroffen seien. Diese Verknüpfung zweier
Hypothesen, die natürlich in der Gemeinschaft der Zyankalispezialisten „so“ nicht Konsens
ist, sei eine Kernthese unseres Zyankaliforschers.
Wir unterstellen jetzt zweierlei:
Erstens, dass in dieser Hinsicht keine „Messprobleme“ zu gewärtigen sind, dass also
Betroffenheit der Atmungsorgane immer nachweisbar ist, und zweitens, dass unser Forscher
Kenntnis über eine Pilzvergiftung mit tödlichem Ausgang aus der Ferne erlangt hat, ohne dass
er sich die fraglichen Toten hat ansehen können und ohne dass er irgendwelche Ahnung von
Atemproblemen hat. Seine gutachterliche Meinung wird also angefragt, ohne dass er selbst
die Leichen gesehen und ihre Atmungsorgane hat inspizieren können. Nunmehr muss seine
„Prognose“ lauten „bei den von Ihnen mir angezeigten armen Menschen, die an einer
Pilzvergiftung gestorben sind, wie sie mir am Telefon sagten, müssen in irgendeiner Art und
Weise auf jeden Fall die Atmungsorgane mitbetroffen sein. Schauen sie in dieser Hinsicht
nach und sie werden sehen, dass meine Voraussage richtig ist.“ Die relativ ernsthafte
„Überprüfung“, die Popper fordert, ist in diesem Zusammenhang ja zweifelsohne
gewährleistet, wenn wir nicht sophistisch werden wollen.
Das Beispiel ist zwar zugestandenermaßen ein wenig konstruiert und vielleicht auch etwas
skurril, jedoch lehrt es, wie ich meine, sehr schön den Mechanismus der Überprüfung durch
„prognostische“ bzw. „prognose-ähnliche“ Relevanz. Lässt sich nämlich nunmehr bei denen
im Krankenhaus XY befindlichen Personen keinerlei Zusammenhang zwischen Pilzgenuss,
Todesfolge und eventuell stattgehabten Atmungsproblemen nachweisen, so wird auch unser
begeisterter und ein wenig auch verrückter Zyankali-Pilz-Forscher gezwungen sein, seine
Hypothese als falsifiziert anzusehen, und damit beginnt erneut die – nunmehr notwendig
gewordene – mühselige „Umbauarbeit“ an seiner „immer-und-überall-Zyankali-Theorie“.
Diese hatte „verboten“, dass der Fall auftritt, es liege eine Pilzvergiftung mit tödlichem
Ausgang vor und es sein kein Zyankali im Spiel. Da nun die Untersuchung der
Atmungsorgane das Vorhandensein von Zyankali effektiv hatte ausschließen können, ist
196
indirekt damit die streng allgemein formulierte Hypothese, bei jeder Pilzvergiftung sei
Zyankali im Spiel, falsifiziert.
Normalerweise liegt der Fall etwas einfacher, wie man leicht sieht:
Es existiert eine bis dahin relativ gut bestätigte Hypothese/Theorie und es wird dann eine
Anfangsbedingung/Randbedingung experimentell „hergestellt“, wobei sodann ein Schluss
gezogen wird auf das, was nunmehr passieren wird bzw. muss. Zeigt sich dann, dass der
vorausgesagte Effekt nicht eintritt, so ist die strenge Allgemeinheit der Aussage in Frage
gestellt, d.h. falsifiziert.
Man beachte nun, dass eine solche „Prognose“ immer nur unter gewissen Einschränkungen
ihre
Prüfungsfunktionen
erfüllen
kann,
die
sich
auf
das
Vorliegen
der
Anfangsbedingungen/Randbedingungen beziehen, nämlich:
1. Selbst bei den sichersten Gesetzmäßigkeiten kann bei konkretem Fall nur mit
Wahrscheinlichkeit auf die Zukunft geschlossen werden.
2. Es muss gewährleistet sein, dass keine Störungen eintreten.
Auf unser Standardbeispiel bezogen haben wir dann:
G (allgemeines Gesetz)
A (singuläre Anfangsbedingung/Randbedingung)
Non-S (keine Störung)
P (Prognose)
Die logische Operation der „Prognosededuktion“ lässt sich dann folgendermaßen
demonstrieren:
Wenn gilt (=wahr ist), dass alle menschlichen Organismen zu allen Zeiten und an allen Orten
nach der Einnahme von mindestens drei Milligramm Zyankali innerhalb von mindestens zehn
Minuten sterben,
und
197
wenn gilt (=wahr ist), dass diese, hier an diesem Ort an diesem Tag befindliche Person gerade
zu diesem Zeitpunkt und für alle sichtbar in genau diesem Augenblick im Begriff ist, fünf
Milligramm Zyankali zu sich zu nehmen,
und
wenn der Ablauf der Zyankali-Einnahme nicht in irgendeiner Art und Weise gestoppt, als
„gestört“ wird,
dann folgt mit recht großer Wahrscheinlichkeit, dass diese Person innerhalb von zehn
Minuten sterben wird.
Ist das nicht der Fall und besteht auch keine irgendwie unbemerkt gebliebene „Störung“, so
muss die entsprechende Hypothese als „falsifiziert“ angesehen werden. Man beachte jedoch,
dass damit ihre streng allgemeine Geltung in Frage gestellt wird und nunmehr „Umbauten“ in
unserem Hypothesensystem notwendig werden. Es tritt also das ein, was mit dem obigen
„general tetradic schema“ Poppers so eindrucksvoll beschrieben wurde.
Diesen Weg wollen wir jedoch hier nicht weiter verfolgen, denn die damit verbundenen
wissenschaftstheoretischen Probleme sind ausgesprochen kompliziert, wie bereits im obigen
„wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“ betont. Mir kommt es an dieser Stelle mehr auf
die Behandlung des vierten Falles (Anwendung/Applikation) an, den wir nunmehr, wie ich
meine sehr leicht erörtern können, wenn wir uns die „Störungsvorbehaltsklausel“ etwas
genauer ansehen.
Wegen der äußerst wichtigen Funktion der „Prognose“ sowohl für die empirische
Überprüfung einer Hypothese/Theorie als auch für deren Anwendung, ist die Ansicht –
insbesondere bei Praktikern – sehr weit verbreitet, dass eine erfolgreiche Anwendung immer
zugleich auch eine Theorie bestätige und eine fehlgeschlagene Anwendung immer zugleich
auch einer Theorie als „Falsifikation“ angelastet werden müsse bzw. könne. Diese Ansicht ist
jedoch nicht richtig, wie bereits des öfteren betont und wie eine etwas eingehendere Lektüre
der oben zitierten Ausführungen Poppers nunmehr ja auch gezeigt hat: Schlägt eine
„Anwendung“ fehl, so kann das sowohl an einer Schwäche der zugrundeliegenden
Theorie/Hypothese als auch an bestimmten Randbedingungen liegen, welche sich „störend“
ausgewirkt haben könnten, ohne dass man dies bemerkt hat, ja vielleicht sogar, ohne dass man
dies überhaupt hat bemerken können.
Gefragt werden muss also abschließend, welche Funktion den empirisch falsifizierbaren
Hintergrundstheorien/Hypothesen der medizinischen Wissenschaften für deren klinische
Disziplinen, denen es ja in erster Linie um praktisch-therapeutische Anwendung geht,
198
eigentlich zukommen kann. Und zu berücksichtigen wird dabei, wie ich meine, zweierlei sein:
erstens, das was wir bisher über den Zusammenhang von Falsifizierbarkeit/Prüfbarkeit,
Prognosededuktion und empirischem Gehalt (Erklärungskraft) gelernt haben, und zweitens,
das was wir bei Max Weber über den "Erfolgschancen-Satz" sowie den "Kosten-Satz" haben
nachlesen können. Bevor wir jedoch hierauf (abschließend) zu sprechen kommen, um sodann
auch in einem Rückblick die bisher entwickelten Thesen zusammenfassen zu können, was wir
bisher haben erarbeiten können, noch einige Bemerkungen genereller Art, die sich auf die
Identitätsproblematik beziehen:
Wie erinnerlich hatten wir anlässlich der Vorstellung des Thesenkatalogs auf ein ganz
bestimmtes Beispiel hingewiesen: Bei einer jungen Frau trete eine massive Lähmung auf, für
die sich keine adäquate Diagnose formulieren lasse, weil die Ätiologie hierfür nicht
erklärungsfähig genug sei. Mit anderen Worten: Da wir keine präzise Pathogenese
auszuformulieren in der Lage sind, ergebe sich zugleich auch eine etwas unsichere
Symptombeschreibung. Der psychoanalytisch geschulte Kollege biete sodann eine Diagnose
an, die die schwere Lähmung als ein konversionshysterisches Syndrom interpretiert. Uns
interessiert an dieser Stelle nicht, ob und inwiefern „Konversionshysterien“ sich neurologisch
validieren lassen. Uns interessiert ausschließlich der von der Psychoanalyse behauptete
Zusammenhang zwischen den Erkrankungen des konversionshysterischen Formenkreises und
bestimmten somatisch sich bemerkbar machenden Verhaltensstörungen. Die singuläre
Aussage, die das Explanandum umschrieb, lautete: Diese junge Frau leidet unter einer
gravierenden Beeinträchtigung ihrer Gehfähigkeit. Die Erklärung die der Psychoanalytiker
nun abgibt, lässt sich in dem Satz formulieren: Weil diese junge Frau eine
Konversionshysterie „ausweist“, kann sie sich nicht richtig bewegen. Wo aber ist hier die
singuläre Anfangsbedingung?
Wie in dem Leichenbeispiel müssten hier zwei singuläre Tatbestände kausal miteinander
verknüpft werden. Und ebenso muss sich natürlich auch hier eine allgemeine
Gesetzmäßigkeit angeben lassen. Wir geben diese mit dem etwas primitiven Satz wieder:
Konversionshysterien erzeugen Lähmungserscheinungen. Jederzeit können wir diesen
allgemeinen Satz in eine strenge allgemeine Form überführen, so dass der Postulatorik des
HO-Schemas Rechnung getragen ist. Er würde ungefähr so aussehen (dies sozusagen in
halbformaler Sprechweise): Für alle x gilt: Wenn X eine menschliche Person ist und X unter
einer konversionshysterischen Erkrankung leidet, dann ist eine Möglichkeit diejenige, dass
z.B. schwere Lähmungserscheinungen auftreten.
199
Noch einmal gefragt: Welches ist die singuläre Randbedingung dafür, dass bei der jungen
Frau eine Lähmung aufgetreten ist?
Der allgemeine Hinweis des Psychoanalytikers auf die Konversionshysterie liefert ganz
offensichtlich keine genaue Erklärung, und dies ist in genau diesem Fall ganz offensichtlich
deshalb so, weil die hierzu in Betracht zu ziehende Anfangs- bzw. Randbedingung nicht
explizit ausgezeichnet wurde. So sind seinerzeit, wenn wir einen Blick in die Geschichte der
Psychoanalyse werfen, Breuer und Freud auch nicht vorgegangen. Sie haben vielmehr
tatsächlich zwei empirisch gesicherte Tatbestände zunächst einmal kausal miteinander
verknüpft und erst dann begonnen, ihre Theorie hierzu zu entwickeln und zu verfeinern: Eine
junge Patientin hatte jahrelang hingebungsvoll ihren kranken Vater gepflegt und erst als der
Vater gestorben war, sie also eigentlich von einer schweren Last befreit war, trat die massive
Lähmung bei ihr auf. Breuer und Freud vermuteten ein dahintersteckendes allgemeines
Problem im Jahre 1895. Die Theorie der konversionshysterischen Formen war zu diesem
Zeitpunkt nicht ausgearbeitet, steckte vielmehr in ihren Anfängen, ein Hinweis, der mir aus
den bereits oben genannten Gründen sehr wichtig ist. Unser hypothetischer Psychoanalytiker
müsste also, wenn er wirklich sorgfältig hätte verfahren wollen, mit Hilfe der ausgearbeiteten
Theorie
über
konversionshysterische
Syndrome
auch
auf
spezifische
Randbedingungen/Anfangsbedingungen, die den spezifischen Anlass zu beschreiben
gestatteten, schließen können.
Mit anderen Worten: Die fragliche Hypothese über den Zusammenhang zwischen
konversionshysterischen Tatbeständen und dem Auftreten einer Gehlähmung müsste so
präzise sein, dass sie einen Zusammenhang postuliert zwischen einer Konversionshysterie,
dem Auftreten ganz bestimmter Erfahrungstatbestände (z.B. Pflegedienste an eine geliebten
Person, die dann stirbt) und dem Auftreten sich bemerkbar machender Verhaltensstörungen,
ein Zusammenhang, der z. B. nur das Auftreten einer Gehlähmung vorauszusagen gestattet.
Aus diesem Grunde hatte ich weiter oben auch gesagt, dass es eine Möglichkeit ist, eine
schwere Lähmung zu entwickeln, wenn die Diagnose „konversionshysterisches Syndrom“
korrekt sein soll, woraus sich ja zwanglos ergibt, dass unsere fragliche Hypothese eben nicht
präzise genug ist.
Doch wie auch immer. Als Kliniker müsste er jedenfalls mit dieser Hypothese ,,im
Hinterkopf“' nach ganz konkreten krankheitsauslösenden Faktoren suchen, die präzise zu
beschreiben natürlich eine Angelegenheit der entsprechend allgemein gefassten und präzise
ausgestalteten Theorie ist.
Man sieht hier sehr schön, wie ich finde, das bestätigt, was Popper über den Zusammenhang
200
zwischen dem Allgemeinheits- und Präzisionsgrad einer Theorie und ihrer Erklärungs- und
Prognoserelevanz ausgeführt hat, und man sieht bereits hier, dass es nicht ganz leicht sein
dürfte, eine Theorie der Identitätskrisen zu entwickeln, die den kausalen Zusammenhang
zwischen ganz bestimmten Kategorien von Identitätskrisen mit ganz bestimmten empirisch
beobachtbaren Verhaltensmustern auf der einen Seite und ganz bestimmten familialen
Bedingungskonstellationen auf der anderen Seite in einen kausalen Zusammenhang zu
bringen gestattet.
Doch legen wir dies hier vorerst beiseite. Zu beachten ist zunächst einmal, dass unsere
Erklärung nicht zirkulär sein darf. Das bedeutet, dass Konversionshysterien unabhängig
definiert werden müssen von denjenigen Definitionskriterien, die den Ausdruck „Lähmung“
betreffen. Würde der Psychiater gefragt werden, wie er denn darauf komme, dass eine
Konversionshysterie die Lähmung hervorgerufen habe, dann wäre es albern wenn er
antworten würde: Aber schauen Sie doch, die junge Frau ist ja schließlich gelähmt.169
Ich weise auf dieses Problem besonders hin, weil sehr viele Arbeiten, die sich mit dem
Zusammenhang zwischen Identitätskrisen und personellen Zerrüttungsformen befassen,
genau diese hier angeprangerte logische Todsünde begehen. Das wird nur deshalb zumeist
nicht offensichtlich, weil die verwendete Begrifflichkeit so unpräzise ist, dass die
semantischen Überschneidungen sich gerade nicht in Wenn-Dann-Hypothesen abspiegeln
lassen.170 Aus diesem Grunde ist mir die Methodik von Redlich und Freedman so wichtig,
die, wie angedeutet, zu Recht unterscheidet zwischen beobachtbarem Verhalten und
erschlossenen d.h. immer vermuteten – kausalen Hintergründen, die ihren Ort in einer nicht
präzise ausformulierten Theorie haben. Fast notorisch lässt sich diese logische Sünde
169
Vgl. hierzu das bei Popper in [Zielsetzung] so eindringlich beschriebene "Neptun-Beispiel".
170
Ein berühmter Verfassungsrechtler - Carl Schmitt - hat die These formuliert, dass immer dann, wenn man
von politischen Verhältnissen reden wolle, es sich dabei um "Freund-Feind-Verhältnisse" handele. Schmitt
macht nicht hinreichend deutlich, ob er damit eine empirische Hypothese im Auge hat, oder ob er damit lediglich
angeben möchte, wie er "politische Verhältnisse" zu verstehen wünscht. Fast alle Aussagen die Carl Schmitt in
seiner Schrift "Der Begriff des Politischen" formuliert, "hängen" an dieser Formulierung und ihrer
Grundsicherheit. Seinen angebotenen "Erklärungen" für die Dynamik realer politischer Verhältnisse, die auf den
ersten Blick verblüffend plausibel erscheinen, werden dadurch fast wertlos: Man kann einfach nicht entscheiden,
ob hier Aussagen mit hohem Informationsgehalt vorliegen, oder ob man es mit bloßen Scheinerklärungen zu tun
hat. Die bereits beklagte "begriffliche Not" in vielen psychoanalytischen Abhandlungen konfrontiert selbst einen
wohlwollenden Betrachter dieser faszinierenden Theorie mit genau demselben Dilemma. Deshalb wurde im Text
scharf unterschieden zwischen der beobachtbaren Gehunfahigkeit unserer Patient in und einer möglichen
Erklärung, die sich auf eine Theorie stützt, welche konversionshysterische Tatbestände betrifft. Zu einer etwas
genaueren Betrachtung vgl. weiter unten die Ausruhrungen zu den "Rationalitätskatalogen".
201
nachweisen, wenn es um den Aufweis kausaler Voraussetzungen für die primordiale
Identitätsbildung geht. Das soll an dieser Stelle jedoch zunächst einmal nicht weiterverfolgt
werden.
Hier ist mir vorerst ein anderer Aspekt wichtiger: Der Psychoanalytiker, welcher ein
konversionshysterisches Syndrom diagnostiziert, rekurriert dabei auf eine Menge von
gesetzesartigen Aussagen, deren begriffliche Präzision bisweilen sehr zu wünschen übrig
lässt. Bezogen auf unser Beispiel heißt das: Eine Konversionshysterie kann sich – den
theoretischen Prämissen zufolge – ebenso wie eine „Identitätskrise“ – sehr wohl auch in
anderen Symptomstrukturen manifestieren als in einer schweren Lähmung. Die Theorie
selbst ist es in diesem Fall, die uns wegen ihrer nicht besonders gut ausgebauten Ätiologie
keine genauen Angaben darüber zu machen gestattet, wann eine Konversionshysterie zu
Lähmungserscheinungen, wann zu herzneurotischen Erscheinungsformen und wann zu
massiven Magen-Darm-Problemen führt. Aus diesem Grunde ist streng genommen der
Hinweis auf die konversionshysterische Hintergrundsfolie nicht ausreichend. Wenden wir
nunmehr diese Überlegung auf unser eigenes Beispiel an.
Gesagt wurde eingangs, dass die strukturellen Bedingungen von Identitätskrisen zu
Devianzen mannigfaltiger Art führen. In dieser Form ist dieses „Theoriekonstrukt“ viel zu
unspezifisch, d.h. viel zu wenig ausgearbeitet, um uns sagen zu können, welche Form von
Devianz wir eigentlich erwarten können. Problemlos sehen wir, dass und inwiefern der
Ausdruck der Identitätskrise in diesem Fall nicht mehr ist, als ein bloßes Etikett für eine
eigentlich zu konstruierende hypothetische Mannigfaltigkeit: Erst wenn wir den Begriff der
Identitätskrise genauer explizieren und im Bezugsrahmen einer streng empirisch
falsifizierbaren Sozialisationstheorie „ansiedeln“ könnten, so dass sich hier einige
klassifikatorische Prinzipien ergeben könnten, lassen sich auch differenzialdiagnostische
Präzisierungen für die jeweilige Form von Devianzen herleiten. Hier handelt es sich um eine
Schwäche der Theoriekonstruktion und um eine Schwäche der Empirie.171
171
Wir werden später sogar sehen, das streng genommen der behauptete Zusammenhang zwischen
Identitätskrisen und jeglicher Form von Devianz nicht einmal ganz richtig ist. Er gilt nämlich nicht für eindeutig
politische Formen von Devianz und nur bedingt für delinquente Formen von Devianz. Ich weise auch hier auf
ein Beispiel hin: In der Zeit des Nationalsozialismus haben sich bekanntlich vor allem konsequente
Kommunisten und Mitglieder der sog. „Zeugen Jehovas“ in einem geradezu radikalen Sinne deviant verhalten.
Ihr Sozialisationsmilieu wies Werte auf, die im krassen Gegensatz zu der damals geltenden Werteordnung und
deren legalistische Formen standen. Dennoch wird man wohl kaum behaupten können, dass hierbei massive
Identitätskrisen im Spiel waren. Wir sehen einmal mehr, wie notwendig es ist, eine empirisch gehaltvolle
Sozialisationstheorie zu konstruieren, in deren Rahmen der Begriff der Identitätskrise seinen relativ gut
bestimmbaren Ort erhalten kann. Dieser Punkt lässt sich als methodologische Maxime formulieren: Dann und
202
Das „DN-Schema einer wissenschaftlichen Erklärung“ ist, wie gesagt, derartig oft
Gegenstand erbitterter Grundlagenkontroversen geworden und in diesem Zusammenhang
nahezu immer pauschalisiert worden, dass man seine klärende Kraft eigentlich gar nicht mehr
gesehen hat. Ich möchte deshalb an dieser Stelle noch einige Möglichkeiten durchspielen, um
so die Relevanz dieser wissenschaftstheoretisch faszinierenden Einsicht für die hier in Frage
stehende Problemsituation verdeutlichen zu können.
Gehen wir von der Situation aus, dass wir über eine sehr gut bestätigte nomologische
Hypothese verfügen, die, wie in unserem Popper'schen Beispiel den Zyankaligenuss mit
normalerweise ziemlich sicher zu erwartenden letalen Folgen für den betreffenden
Organismus verbindet. Ist die oben bereits beschriebene Bedingung gegeben, wo ein
bestimmter Mensch gerade dabei ist Zyankali zu sich zu nehmen, so können wir unter
Berufung auf unser allgemeines Gesetz in diesem ganz konkreten singulären Fall
voraussagen („prognostizieren“), was mit diesem Menschen in den nächsten Minuten
passieren wird. Dennoch ist natürlich nicht absolut sicher, was passieren wird, denn erstens
kann unser Gesetz ja irgendwie doch durchaus falsch sein, und zweitens wäre immerhin
denkbar, dass dieser Mensch bereits bei der Einführung in den Mund sich erbrechen muss
(„störende Bedingungen“, siehe oben). Wichtig ist mir, dass selbst in diesem „todsicheren“
Fall unser empirisches Gesetz letztendlich eben doch nur unter „ceteris-paribus-Vorbehalt“
gilt. Das Gesetz selbst beinhaltet eben doch nur einen hypothetischen Zusammenhang, es
designiert keinen ontologischen Determinismus. Die Wahrscheinlichkeit mag auch noch so
groß sein, gesetzesartiges Wissen ist in der Tat immer nur, wie der bereits zitierte
Wissenschaftsphilosoph Stegmüller es ausgedrückt hat, „ein Wissen auf Widerruf“.
Aber auch noch aus einem anderen Grunde ist mir die genauere Erläuterung unseres
Beispiels wichtig, denn es ergeben sich zwei Möglichkeiten. Hierbei habe ich nunmehr nicht
so sehr den Blick in die Zukunft, sondern den Blick in die Vergangenheit im Auge, die
mittels des Erklärungsvorgangs ja angesprochen ist. Dieser Punkt ist mir deswegen wichtig,
weil gemäß meiner einleitend formulierten These eine adäquate „Identitätskrisentheorie“
einen
strukturellen
Zusammenhang
postulieren
muss
zwischen
den
primordialen
nur dann, wenn eine empirisch gehaltvolle Sozialisationstheorie genügend Hypothesen zur Verfügung stellt, um
"Identitätskrisen" differenzialdiagnostisch kategorisieren zu können, lässt sich der behauptete
Kausalzusammenhang von "Identitätskrisen" und pathologischen Formen der Devianz relativ genau
spezifizieren.
203
Konstitutionsbedingungen
subjektiv
sinnhaften
sozialen
Handelns
im
familialen
Sozialisationsverband und den im späteren Leben eines Individuums auftretenden und
zunehmend maligner sich herausbildenden Identitätskrisen, in deren Verlauf das (subjektiv
sinnhafte) rationale Handeln dieses Individuums sich mehr und mehr mit „gestörten
Verhaltensmustern“ durchsetzt, wodurch zunehmend auch dessen „Rationalstruktur“ zersetzt
wird. Wie Porath richtig betont hat172, ist nämlich auch ein auf einer solchen Hypothese
basierender Rückgriff in die Vergangenheit, der von einer gegenwärtig diagnostizierten
schweren Verhaltensstörung auf vergangene, nämlich in der frühen Kindheit liegende
Ereignisse schließt, streng genommen ebenfalls nur eine „Wahrscheinlichkeitsaussage“.
Machen wir uns auch diesen Aspekt der DN-Problematik so deutlich wie möglich:
Der erste Fall betrifft den von Popper beschriebenen. Der Gutachter, welcher die
Zyankalivermutung des Dedektives bestätigt, könnte im Zweifelsfalle die Ereigniskette, die
von der (vermuteten) Einnahme des Zyankali zum Versagen der Vitalfunktionen führte,
lückenlos rekonstruieren und uns so gewissermaßen ein recht klares Bild von den
stattgehabten Ereignissen liefern, ohne dass wir in der Lage wären, diese Ereigniskette auch
wirklich beobachten zu können. Obwohl also der Schluss auf die „in der Vergangenheit“
stattgehabte Ereigniskette streng genommen ein theoretisches Konstrukt beinhaltet, können
wir dennoch, um es in der Sprache der Juristen auszudrücken, mit „an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit“ eine entsprechende Aussagenklasse formulieren. Man beachte
gleichwohl, dass diese „Sicherheit“ nahezu vollständig abhängt von dem Ausmaß, in dem die
behauptete Verknüpfung von Zyankaligenuss und Ableben empirisch validiert ist, woraus
sich ja trivialerweise ergibt: Die Rekonstruktion vergangener und prinzipiell der
Beobachtung nicht mehr zugänglicher Ereignisse kann umso sicherer vollzogen werden, je
größer der Informationsgehalt der jeweiligen Hypothese/Theorie – deren Allgemeinheit und
Präzision also – ist, auf der diese „Rekonstruktion vergangener Ereignisse“ beruht.173
Wir wollen nunmehr den Fall in zwei Richtungen verfolgen: Gesetz den Fall, dass wir
„Fremdeinwirkung“ ausschließen können und wir nunmehr die Frage klären wollen, warum
dieser arme Mensch Selbstmord begangen hat, haben wir dann nicht mehr ein biologisches
172
In Porath, H.-J., [Narratives Paradigma]
173
Vgl. hierzu Baumgartner/Rüsen [Erträge], S. 691ff, in: Lämmert, E., [Erzählforschung], wo die
Kontroverse referiert wird, die sich zu Porath’s „Theoretizitätsthese“ auf dem Harzburger Kongreß ergeben
hatte.
204
bzw. ein biochemisches, sondern ein psychologisches Problem. Nehmen wir weiter an, wir
hätten hinreichend Kenntnisse von seiner sozialen Lage: Der arme Mann ist plötzlich
arbeitslos geworden, hat monatelang die Familie darüber nicht informiert, hat immer mehr
Schulden gemacht etc. etc. Wie sieht nunmehr die Logik aus?
Zweifelsohne besteht eine starke „Evidenz“, d.h. wir können sehr gut verstehen, warum
dieser offenkundig verzweifelte Mann sich umgebracht hat. Ist aber unsere Erklärung dann
auch valide genug? Dies wäre offensichtlich nur dann der Fall, wenn wir über eine
gesetzesartige
Hypothese
verfügten,
die
den
Zusammenhang
von
„verzweifelter
Lebenssituation“ und „Selbstmordtendenz“ als einen Kausalzusammenhang behauptet.
Der entscheidende Punkt auf den es hier ankommt ist der folgende: Wir hätten auf Grund der
Kenntnis seiner verzweifelten Lage und mit Bezugnahme auf die hier angedeutete
psychologische Hypothese ganz sicher nicht genau prognostizieren können, dass dieser Mann
sich umbringen wird, und noch weniger sicher hätten wir sein können, dass er sich dabei des
Zyankalis bedienen wird. Es folgt: Die Validität einer Erklärung hängt dergestalt von der
dabei benutzten gesetzesartigen Hypothetik ab, dass man im Prinzip auch hätte
prognostizieren können, was Menschen in verzweifelten Situationen tun werden. Man
beachte, dass ich dieses Beispiel nicht diskutiere um damit den Unterschied zwischen
psychologischen und eventuellen biochemischen Gesetzmäßigkeiten zu dramatisieren. Die
hier verwendete „psychologische“ Gesetzmäßigkeit ist lediglich weniger gut empirisch
bestätigt als die Zyankali-Vermutung, gleichwohl handelt es sich um eine gesetzesartige
Aussage. Nur darauf kommt es an.
In einer etwas abstrakteren Sprechweise bedeutet dies: Selbstverständlich sind bei jeder
Erklärung ebenso wie bei jeder Prognose gesetzesartige („nomologische“) Hypothesen im
Spiel, die sich, wenn wir sie in einen logischen Ableitungszusammenhang bringen können,
eben auch als Theorien präsentieren. Eine Erklärung wird ebenso wie eine Prognose umso
unsicherer, je weniger gut bestätigt die Menge der nomologischen Hypothesen ist, mit denen
wir unsere Erklärung zustande bringen oder aber Prognosededuktion vollziehen. Das jedoch
haben wir ja hinreichend anlässlich der DN-Problematik ohnehin erläutert.
Wir müssen nunmehr den Fall noch in einer etwas anderen Richtung betrachten, um den
Bezug zu unserer Sozialisationstheorie herstellen zu können, die ja wie eingangs behauptet
einen kausalen Sinnbogen konstruiert zwischen bestimmten Ereigniskonstellationen in der
frühen Kindheit eines Menschen und dem Auftreten bestimmter psychopathologischer
205
Verhaltensmuster, was bedeutet: Die Kausalkette zwischen dem vermuteten Anfangsereignis
und dem zu erklärenden Schlussglied der Kette, kann unter Umständen sehr lang sein, ohne
das dadurch an der Logik des Erklärungsvorganges nicht das geringste sich ändert. Die
wissenschaftstheoretische Forschung spricht in diesem Zusammenhang von den sog.
„historisch genetischen Erklärungen“.
In
seiner
Auseinandersetzung
mit
dem
traditionellen
Methodologen
der
Geschichtswissenschaft hat Porath nachweisen können, dass die sog. narrativen Erklärungen
der Geschichtsschreibung in fundamentaler Diskrepanz zu den Objektivitätsprinzipien des
Wissenschaftsdenkens sich befinden, wobei er sich auf ein modifiziertes DN-Schema gestützt
hat, welches die Wahrscheinlichkeitsstruktur von Retrodiktionen – das sind, ähnlich wie bei
unserem Zyankali-Pilz-Forscher, „rückwärtsgewandte Prognosen“ – noch sehr viel stärker
einbezieht, als dies bei Popper der Fall ist.174 Zwar wird die Erklärungskette der sog.
narrativen Beschreibungen und Erklärungen ziemlich komplex und entsprechend unsicher,
jedoch müssen die dabei im Spiele befindlichen Hypothesensysteme ebenso eine
grundsätzlich nomologische Struktur haben, wie die zumeist in strenger mathematischer
Sprache repräsentierten Theorien der Naturwissenschaften. Auf diese Untersuchung stütze
ich
mich,
wenn
ich
nunmehr
auf
den
folgenden
Aspekt
der
allgemeinen
Erklärungsproblematik bezug nehme:
Wie in dem obigen „wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“ bereits angedeutet,
verknüpft der Psychoanalytiker seine Diagnose bezüglich des konversionshysterischen
Syndroms
mit
einer
ganz
bestimmten
Grundannahme
der
psychoanalytischen
Theoriekonstruktion: Die Erlebniswelt der frühen Kindheit sei ein zwar komplexer aber im
Prinzip aufklärbarer Hintergrund für eine adäquate Ätiologie der Konversionshysterien. Man
sieht hier ohne große Schwierigkeiten, dass es sich hierbei um eine Konstruktion handelt, die
eine sehr „störanfällige“ Kette temporal angeordneter Ereignisglieder betrifft. Die
„Randbedingungen“ werden dabei in der Regel nur sehr hypothetisch konstruiert werden
können. Das ändert gleichwohl an der logischen Struktur unserer Argumentation nicht das
geringste. Wie bereits bei Popper nachgelesen werden kann, der allerdings die sog.
„historischen Erklärungen“ nicht korrekt hat beschreiben können.175 Bei dem Versuch eine
174
ibid.
175
Ich habe sie deshalb bei meinen obigen „DN-Lehrstücken“ auch nicht erwähnt. Was gleichwohl die
Beweisstruktur als solche betrifft, besteht zwischen Popper und Porath Konsens. Näheres hierzu in Lämmert, E.,
[Erzählforschung], wo im Anhang zu Poraths Aufsatz die Kontroverse vor allem zwischen der Rüsen’schen, der
206
Sozialisationstheorie zu konstruieren, die die Genese ganz bestimmter Identitätskrisen so
aufzuklären gestattet, dass ein kausaler Zusammenhang behauptet werden kann zwischen
ganz bestimmten Identitätskrisen und ganz bestimmten Formen abweichenden (sozialen)
Verhaltens wird uns eben dieser Aspekt noch sehr viel genauer interessieren müssen.
Abschließend noch ein kurzer Hinweis auf eine Differenz, die sehr oft nicht genügend
beachtet wird:
Hält man daran fest, dass sowohl Erklärungen als auch Prognosen, mithin also sowohl der
Blick in die Vergangenheit als auch der Blick in die Zukunft an der These von der
„Gesetzesartigkeit“ bestimmter Hypothesen festzumachen ist, so sieht man, dass es sich
hierbei auch um die Position einer prinzipiellen deterministischen Vorgehensmöglichkeit
handelt, wie sie ja auch von Freud in seiner „Vierten Fundamentalannahme“ vertreten wird.
Man
darf
nur
eins
nicht
verwechseln:
Gut
bestätigte
Aussagen
erhöhen
die
Wahrscheinlichkeit zum einen retrospektiv erschlossener zum anderen prognostizierter
Ereignisse, jedoch kann diese Wahrscheinlichkeit eben variieren. Nie jedoch kann diese
Wahrscheinlichkeit in Sicherheit übergehen, dergestalt, dass sich ein ontologischer Schluss
anbieten würde: Wir bewegen uns immer im Bereich von Propositionen (Sätzen, Aussagen,
statements) und wir hoffen natürlich, dass wir mit diesen Propositionen „Sicheres“ treffen.
Zu glauben jedoch, dass eine wie auch immer geartete „Wirklichkeit“ von sich aus Sicheres
anzeigt, bezeichne ich als ontologischen Fehlschluss. Der „Determinismus“, den ich hier in
Anlehnung an Porath's Forschungen vertrete, kann immer nur ein methodologischer
Determinismus sein.
Kehren wir nunmehr abschließend auf die weiter oben aufgeworfene Frage zurück, welche
Funktion den empirisch falsifizierbaren Hintergrundstheorien/Hypothesen der medizinischen
Wissenschaften für deren klinische Disziplinen, denen es ja in erster Linie um praktischtherapeutische Anwendung geht, eigentlich zukommen kann. Und dabei wollen wir erstens
berücksichtigen, was wir bisher über den Zusammenhang von Falsifizierbarkeit/Prüfbarkeit,
Prognosededuktion und empirischem Gehalt (Erklärungskraft) gelernt haben, und zweitens,
was wir bei Max Weber über den „Erfolgschancen-Satz“ sowie den „Kosten-Satz“ haben
nachlesen können. Dann ergibt sich nunmehr:
Während sich bei der Prozedur der Überprüfung die Aufmerksamkeit des Forschers, wie am
Dantoschen, der Habermas’schen und der Porath’schen Position abgedruckt ist. Vgl. Baumgartner/Rüsen
[Erträge], S. 691ff
207
Beispiel unseres etwas verrückten Zyankali-Forschers dargelegt, in der Regel nur auf die zu
überprüfende Hypothese richtet, kommen bei der klinischen Anwendungspraxis zwecks
„Therapie“ immer zugleich auch alternative Hypothesen ins Spiel. Genau dies macht, streng
wissenschaftslogisch betrachtet, den Unterschied zwischen der „Anwendung“ einer
Hypothese z. B. im Experiment, welches den Zweck hat, die betreffende Hypothese zu
überprüfen, und der therapie-intendierten „Anwendung“, die den Zweck hat, mittels
bestimmter, für „wahr“ gehaltener Hypothesen und mittels bestimmter als geeignet erachteter
„Mittel“ die Wirklichkeit zu verändern, aus. Der Punkt ist wissenschaftslogisch deswegen
von Bedeutung, weil hierdurch sich ganz besonders sinnfällig der Handlungscharakter aller
„angewandten Wissenschaften“ offenbart. Und dies bedeutet natürlich - das ist nach allem,
was bisher ausgeführt wurde, offenkundig und genau darauf kommt es mir natürlich an -, dass
vornehmlich die anwendend-therapeutische Praxis in den Kompetenzbereich des genuin
soziologischen Denkens fällt. Überspitzt ausgedrückt: Die klinisch-therapeutische Praxis
designiert paradigmatisch die soziologische Grundsituation sinnhaft-rationalen sozialen
Handelns. Ich wiederhole also um der Kontinuität meiner Argumentationsstruktur willen, was
bereits mehrfach genau hierzu weiter oben ausgeführt wurde:
1. Die
Konstruktion
wie
auch
die
empirische
Validierung
streng
erfahrungswissenschaftlich gefasster Verhaltenstheorien, so hieß es auf S. 125,
bilde die Voraussetzung dafür, dass bei beliebig vorgeprägtem Therapieziel das in
der Grundlagenforschung akkumulierte Wissen auch erfolgreich angewendet
werden kann. Tut man das jedoch, so ist man ganz automatisch mit all denjenigen
methodologischen Fragen konfrontiert, die das Verhältnis zwischen „Erklärung“,
„Prognose“ und (technologischer) „Applikation“ betreffen: Therapeutische
Anwendung von „Grundlagenwissen“ besteht in dem gezielten Eingriff in ein
ansonsten
„natürlich“
ablaufendes Geschehen. Um jedoch einen solchen
„gezielten Eingriff" überhaupt vornehmen zu können, muss zuvor eine Prognose
erstellt werden, die besagt, wie der infrage stehende Ablauf z. B. einer
Tuberkulose sich gestalten würde,
würde man einen gezielten Eingriff
unterlassen. Und auf S. 132 hieß es:
2. „Soziologisch ist die Psychiatrie ebenso wie die Justiz ein organisatorisch
durchgebildetes komplexes System der sozialen Kontrolle, die sich mittels einer
eigenen Fachsprache und mit einem ganz bestimmten kulturellen Auftrag auf das
Verhalten der Individuen in unserer Gesellschaft bezieht. Wie Redlich und
208
Freedman richtig gesehen haben, bezieht sich deshalb die psychiatrische
Fachsprache als der Jargon einer sozialen Institution auf ganz bestimmte
Tatbestände, die sie als Verhaltensmuster und damit als „typisch“ in einer
generellen Form umschreibt, wobei in Gestalt eines kulturell vorgegebenen
Menschenbildes in der Regel immer zugleich auch ein ganz bestimmtes Ideal
desselben eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Prinzipiell lässt sich das
terminologische
Arsenal
der
Psychiatrie
insgesamt
als
ein
komplexes
Klassifikationsschema in ähnlicher Weise, wie dies in der Jurisprudenz geschieht,
präsentieren, so dass auch in dieser Beziehung eine ziemlich weitreichende
Analogie zu unseren als „Strafrecht“ bekannten Systemen der sozialen Kontrolle
besteht: Der klinische Mediziner ist ebenso wie der praktisch tätige Strafrechtler
gezwungen, den infrage stehenden „Tatbestand“ so präzise wie möglich zu
beschreiben, weil davon die Wahl der Maßnahmen abhängt, die vorschreiben, wie
man mit einem solchen – erwünschten oder unerwünschten – Tatbestand
umzugehen hat. Wir haben es hier wesentlich mit einem Problem der Sprache zu
tun: Existiert keine wirklich gut entwickelte Ätiologie, so kann eben auch keine
wirklich treffsichere Diagnose formuliert werden: Je allgemeiner und präziser
eine das infrage stehende Krankheitsgeschehen betreffende Theorie ist, welche
eine entsprechend umfassende Ätiologie beinhaltet, desto präziser ist die
Diagnose und desto genauer lässt sich zum einen eine Erklärung, zum anderen
eine Prognose formulieren." Und nunmehr hinzuzufügen wäre: Eine sinnvolle
Erörterung bestehender Therapiemöglichkeiten beruht auf dem simulativen
Durchspielen denkbarer Prognosen, was umso genauer geschehen kann, je
allgemeiner und je präziser die dabei vorausgesetzte und bisher "korroborierte"
Theorie ist. Es ergibt sich dann bezüglich der Wahl eventuell zu ergreifender
therapeutischer Maßnahmen, was weiter oben auf S. 138 nach dem „Schaubild 1“
nachgelesen werden kann:
3. Wissenschaften, so hieß es dort mit Bezug auf den „Thesenkatalog“, seien
„rationale Formen der Wahrheitssuche“, die sich arbeitsteilig in normative
Wissenschaften (Ästhetik, Ethik, Rechtswissenschaft), in formale Wissenschaften
(Mathematik, Logik), in Erfahrungs- bzw. Wirklichkeitswissenschaften und in
sog. „angewandte Wissenschaften“ zerlegen ließen. Als Kriterium fungiere
hierbei
das
Merkmal,
dass
es
sich
wesentlich
um
ganz
bestimmte
Aussagenstrukturen handele, die hierbei infrage kämen: Erstens normative Sätze
209
bzw.
Werturteile,
zweitens
Satzsysteme,
die
nur
dem
Widerspruchsfreiheitspostulat zu genügen hätten (Mathematik und Logik), und
drittens erfahrungswissenschaftliche Satzsysteme, welche außer, dass sie dem
Widerspruchsfreiheitspostulat zu genügen hätten, zusätzlich noch so „gebaut“
sein müssten, dass sie empirischen Gehalt besitzen würden. Nur dann nämlich
seien sie überhaupt „anwendbar“, denn nur dann auch könnten sie Erklärungen
liefern und gestatteten nur dann auch die Formulierung von Prognosen, welche
selbst wiederum von entscheidender Bedeutung für die Wahl eventueller
therapeutischer Maßnahmen wären. Man könne problemlos sehen, so heißt es
dann weiter, wie sehr hier alles zugeschnitten sei auf das von uns ins Zentrum
gestellte Problem des Verhältnisses zwischen „Forschung“ und „Anwendung“,
woraus sich ergibt: „Vor allem die Erfahrungswissenschaften sind es, die uns hier
interessieren,
liefern
uns
diese
doch
in
erster
Linie
diejenigen
„Erkenntnisinstrumente“, mittels derer wir die natürliche wie soziale Welt, in der
wir leben, rational durchzukonstruieren und vernünftig umzugestalten imstande
sind, wobei wir im Zuge dieser vernunftgeleiteten Tätigkeiten permanent Neues
„an“ und „in“ unserer Welt entdecken bzw. zu entdecken hoffen. Das Erkennen
von Zusammenhängen, die Entdeckung von Neuem, die (wahrheitsfähige)
Beschreibung von Tatbeständen sowie die Erklärung derselben bzw. deren
Voraussage und schließlich die sinnvolle bzw. vernünftige Veränderung von
„Wirklichkeit“ designieren gewissermaßen die Systemziele wissenschaftlichen
Handelns und dafür bedarf es eben ganz bestimmter Instrumente oder auch
Erkenntnisinstrumente“.
Diese
„Erkenntnisinstrumente“
seien
dann
die
erfahrungswissenschaftlichen Theorien. Abschließend beziehe ich mich dann
noch auf den obigen Hinweis in der „Weber-Interpretation“, die sich mit dem sog.
„Erfolgschancen-Satz“ sowie dem „Kosten-Satz“ befasste:
4. Die Begriffe für die diagnostische Symptomatologie könnten nämlich, so hieß es
auf S. ..., „umso schärfer gefasst werden, je besser eine theoretische Grundlage für
eine gute Ätiologie sorgt. Eine gute Ätiologie jedoch ist gleichbedeutend mit einer
entsprechenden „guten“, d.h. erklärungskompetenten, d.h. explanativen Theorie
...“. Die Konstruktion von Theorien fiele jedoch nicht in den Bereich der
angewandten Forschung, wurde gesagt. Sie sei eine Angelegenheit der
Grundlagenforschung. Man könne jedoch sehen, dass hier tatsächlich ein
systematischer Zusammenhang bestehe zwischen dem Theorieniveau der
210
Grundlagenforschung, dem „Ausgeprägtheitsgrad“ einer ganz bestimmten
Ätiologie und der „Treffgenauigkeit“ präziser symptomatologischer Diagnostik.
Die Begriffe für die diagnostische Symptomatologie können nämlich in der Tat,
wie wir nunmehr im Anschluss an die Behandlung des DN-Schemas sehen
können, umso schärfer gefasst werden, je besser eine theoretische Grundlage für
eine gute Ätiologie sorgt. Eine gute Ätiologie kann also tatsächlich, wie weiter
oben behauptet, als gleichbedeutend mit einer entsprechenden „guten“, d.h.
erklärungskompetenten, d.h. explanativen Theorie aufgefasst werden, beruht jene
doch auf dieser, wie oben gezeigt. Fassen wir also auch diesen Zusammenhang in
Form einer expliziten Aussage: Je besser, umfassender und fachterminologisch
ausgefeilter die Grundlagenforschung einer medizinischen Disziplin, desto
allgemeinere und präzisere Theoriegebilde
mit entsprechend größerem
empirischen Gehalt lassen sich konstruieren, und da das terminologische Gerüst
der
theoretischen
Forschung
ja
zugleich
das
Vokabular
abgibt
für
Symptomatologie und Diagnostik, gilt nunmehr, dass eine präzise Diagnostik eine
direkte „Funktion“ des verfügbaren theoretischen Hintergrundswissens ist. Und
hieraus lässt sich dann die folgende Regel ableiten: Sage mir, auf welche
allgemeine theoretische Grundlage Du Dich berufst, und ich sagen Dir, wie gut
Deine Krankheitsformenlehre ist und wie präzise Deine Diagnostik gestaltet
werden kann. Die Beantwortung der Frage, welche Mittel geeignet sein könnten,
um bestimmte Zwecke realisieren zu können - dies ja eine Fiktivüberlegung setzt voraus, dass man über eine einigermaßen gut gesicherte Prognose verfügt,
die angibt, was passiert, wenn nicht in den infrage stehenden Ablauf eingegriffen
würde. Und in der Tat ist dies, wie weiter oben bereits angedeutet wurde, der
entscheidende Punkt: Die gedankliche Überlegung, was sein könnte, geht immer
der jeweiligen Therapiemaßnahme als einem „subjektiv sinnhaften Handeln“,
welches um eines ganz bestimmten Zweckes willen mit ganz bestimmten hierfür
für „geeignet gehaltenen Mitteln“ praktisch sich betätigt, voraus. Das auf
praktische Urteilskraft beruhende „menschliche Ermessen“ des erfahrenen
Klinikers hat nur hierin eine entsprechend gesicherte Grundlage. Ich wiederhole
deshalb in Gestalt einer „Therapie-Maxime“, was bereits oben anklang: Je besser
– d. h. nunmehr: je allgemeiner und präziser diejenige Theorie ist, welche dem
Hintergrundswissen einer praktisch-klinischen Maßnahme zugrundeliegt, und je
besser diese sich empirisch bewährt hat – d. h. je schwierigere Überprüfungen
211
bzw. „echten Falsifikationsversuchen“ sie bislang überstanden hat –, desto
präziser auch die Prognose und desto risikoärmer natürlich auch die empfohlene
Therapiemaßnahme. Und in der Tat: Ob unser Kliniker eine solche Theorie nun
bewusst handhabt oder hierbei mehr intuitiv – sozusagen von seinem
reichhaltigen Erfahrungssatz ausgehend – vorgeht, ändert ja nichts an der
grundsätzlichen methodologischen Sachlage: Immer bildet eine jeweils für „wahr“
gehaltene Theorie dabei den kognitiven Hintergrund für seine Prognose und diese
wiederum den Fiktivhintergrund für die entsprechende „Wahl der Mittel“ um den
prognostizierten Ablauf des Krankheitsverlaufes kulturwertbezogen – zugunsten
des Patienten – zu beeinflussen: Die „Grenzen unseres Wissens“ designieren
zugleich auch die Grenzen der praktischen – z.B. therapeutischen –
Möglichkeiten. Das folgt ja nunmehr ganz zwanglos. Und auch der zweite
Aspekt, auf den in diesem Zusammenhang hingewiesen wurde, ist in diesem
Zusammenhang von Bedeutung, wie man nunmehr deutlich sehen kann, wenn wir
uns an das Poppersche „tetradic-schema“ erinnern: Die „Grenzen unseres
Wissens“ sind keine Konstanten, sie sind vielmehr Variablen. Fragen wir nämlich
ganz naiv, worin sich der jeweilige Forschungsstand, an dem sich unsere
praktischen Handlungsmöglichkeiten orientieren müssen, eigentlich präsentiert,
dann stoßen wir sofort auf das für jedwede Ätiologie relevante theoretische
Hintergrundswissen, so dass folgt: Je allgemeiner und präziser das erreichte
Theorieniveau in einer Wissenschaft ist, desto mannigfaltiger ist der
Handlungsspielraum für den verändernden Eingriff in das, was normalerweise
völlig selbstverständlich geschieht.
5.6. Der systemische Gesichtspunkt und die Zerlegung der Erklärungen in
Funktional- und in Kausalerklärungen: Organismische und personale Systeme
Bereits weiter oben hatten wir hier und da eine Sprache gewählt, die „systemisch“ genannt zu
werden pflegt. Wir müssen uns hiermit aus zwei Gründen befassen:
Erstens, weil sich Kausalerklärungen auch als Funktionalerklärungen interpretieren lassen –
und umgekehrt – und zweitens, weil die systemisch funktionale Sprechweise sich mehr
anbietet, wenn man menschliche Wesen nicht in der umgangssprachlich verständlich
gewordenen „Individual- und Personalsprache“, sondern in der „biologisch-organismischen“
Sprechweise beschreibt. Sowohl in der biologischen Sprache als auch in bestimmten
212
systemtheoretisch abgefassten Teilsprachen von Soziologie und Psychologie spricht man von
personalen Systemen bzw. von kulturellen Systemen oder auch von sozialen Systemen. Unser
Selbstmörder im vorangegangenen Denkabschnitt hatte zwar auch einen Namen und
repräsentierte eine ganz bestimmte Person, zugleich jedoch war er auch ein biochemisch bzw.
psychosomatisch beschreibbares systemisches Geschehen.
Vorab ist freilich zu betonen, dass diese „strukturell-funktionalistische“ Sprechweise nicht,
wie sehr oft angenommen, andere Formen des Erklärens beinhaltet, als eine Sprechweise die,
wie wir es im vorigen Abschnitt demonstriert haben, explizit mit Kausalerklärungen operiert.
Die Wissenschaftstheorie hat offensichtlich minutiös nachweisen können – ich denke hier
vornehmlich an die Untersuchungen von Ernest Nagel – dass sich jede Funktionalerklärung
mit entsprechendem logischen Aufwand in eine Kausalerklärung umwandeln lässt. Uns
interessiert der Grundlagenstreit, der sich in der strengen Wissenschaftslehre hierzu
entwickelt hat, nur am Rande. Wichtig ist lediglich, dass sich auch Funktionalerklärungen nur
dann als adäquat erweisen, wenn dabei mit gesetzesartigen Annahmen operiert wird. Ob diese
sich dann funktionalistisch oder „rein kausal“ präsentieren, kann uns gleichgültig sein.
Gehen wir noch einmal auf das in II. 4. 1. skizzierte „Grunddilemma der Psychiatrie“ zurück.
Worin genau bestand es?
Nun es bestand darin, dass die allgemeinen Werte der Institution der Psychiatrie und damit
auch die therapeutischen Ziele keine „Binnenwerte“ der Psychiatrie sind, sondern dass wir es
hierbei vielmehr mit kulturell vorgegebenen Werten und Zielen zu tun haben. Es muss also
dem Mediziner darauf ankommen, auch eine Sprache zu sprechen, die es gestattet, die ihm
vorgegebenen Soll-Werte (gesund bzw. mündig) in einer Sprache abzuspiegeln, die ihm das
klinische Vorgehen ermöglicht. Es kommt also dem Mediziner darauf an, insoweit das
notwendig sein sollte, die „Soll-Zustände“ wie „Ich-Stärke“, „gesund“, „normal“,
„Mündigkeit“, „Rationalität“ etc. die ihm in unsere Gesellschaftsformation als therapeutische
Ziele, als Sozialisationsziele, wie auch als Re-Sozialisationsziele kulturell vorgegeben sind –
und damit natürlich auch kulturell variieren können –, in eine quasi-objektivistische
Fachsprache zu übersetzen. Dafür bedarf es ganz bestimmter Übersetzungsregeln und genau
diese Übersetzungsregeln liefert eben die systemische Sprechweise.
Werfen wir deshalb noch einmal einen kurzen Blick auf den „Redlich/Freedman“, wobei
deutlich werden soll, wie sehr auch von diesen beiden Autoren der von mit vertretene
Standpunkt des methodologischen Determinismus vertreten wird. Man muss hierbei lediglich
213
„mit den Augen“ dessen lesen, der gerade versucht hat, die obige „DN-Analyse“
nachzuvollziehen.
Zu Beginn formulieren Redlich und Freedman ihre methodologische Grundposition, welche
dieselbe ist, wie ich sie im vorherigen Abschnitt als die meinige skizziert habe: die Position
des methodologischen Determinismus.
Die Psychiatrie nehme „einen deterministischen Standpunkt“ ein. Sie sei „als Technologie auf
die biologischen und Verhaltenswissenschaften gegründet“. Sie sei verpflichtet, „in jedem
Falle
mit
wissenschaftlichen
Methoden
nach
wesentlichen
und
verlässlichen
Zusammenhängen zu suchen“. Kausalität werde vorausgesetzt. Darunter sei der „Grundsatz“
zu verstehen, „dass gleichartige Komplexe von Voraussetzungen (wobei immer Organismus
und Umwelt zu berücksichtigen sind) auch gleichartige Komplexe von Folgen
hervorbringen“. Dabei werde im allgemeinen genauso vorgegangen wie bei den theoretischen
Grundlagenwissenschaften, indem zu bestimmen versucht wird, „innerhalb welcher Grenzen
ein bestimmter Komplex von Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gleichen Folgen
führt. Stimmen die Ergebnisse nicht mit dem überein, was nach den Voraussetzungen zu
erwarten gewesen wäre, so ist nach unberücksichtigen Faktoren im Organismus oder in der
Umwelt zu suchen, die diese Differenzen erklären. Beim Menschen haben wir es, wie bei
allen biologischen Systemen, mit einem Organismus zu tun, der sich an veränderlichen Zielen
orientiert. Wir [die Psychiater] schauen also nicht nur nach zeitlich vorangehenden Ursachen,
sondern versuchen auch die Ziele und Zwecke des betreffenden Systems zu erkennen. Wir
[die Psychiater] untersuchen, welche Faktoren die Ziele bestimmten und mit welchen Mitteln
das Verhalten auf diese Ziele hin strukturiert wird.“ Und sodann der entscheidende Satz:
„Kausale und teleologische Erklärungen bilden heute keinen unversöhnlichen Gegensatz
mehr, seit die Kybernetik den Begriff der Rückkoppelung eingeführt hat. Diese fundamentale
Konzeption ermöglicht es uns [Psychiatern], zweckmäßige, zielgerichtete Aktionen – sei es
bei ferngelenkten Geschossen, Amöben oder im menschlichen Verhalten – als durch
bestimmbare Ursachen gesteuert zu betrachten, d.h. als gelenkt durch innere und äußere
Signale,
die
die
psychobiologischen
Abläufe
aktivieren,
bremsen,
korrigieren“.176
Worauf kommt es mir hier an?
176
Redlich/Freedman S. 126f Hervorhebungen mittels Kursiv durch mich Ch. K.
214
modifizieren,
Zunächst einmal darauf, dass sich die zitierten Äußerungen von Redlich und Freedman
problemlos in eine Sprache übersetzen ließen, die sich bei dem, was die Autoren hierbei über
das Prinzip konsequenten Kausaldenkens zu sagen haben, explizit des HO-Schemas bedient.
Das brauchen wir wohl kaum in ausführlicher Weise vorzuführen. Der Punkt auf den es mir
hier ankommt, ist jedoch darüber hinaus der folgende:
In der Kennzeichnung von Redlich und Freedman wird nicht nur aus der Position des
methodologischen Determinismus heraus für eine systemtheoretische Sprache plädiert, die,
wie die beiden Autoren zurecht sagen, nicht im Widerspruch gesehen werden darf zu den
Prinzipien der im vorigen Abschnitt behandelten DN-Erklärung, es wird auch und gerade für
eine solche „systemische Methodologie“ um einer möglichen Integration der verschiedenen
„Theorieansätze“ willen plädiert. Auf genau diesen, wie ich meine: zentralen, neuralgischen
Punkt sollte sich unsere Aufmerksamkeit richten, wobei zunächst einmal einige „Warntafeln“
zu beachten sind, die eine möglich Konfusion von handlungstheoretischer und „systemischer“
Sprechweise betreffen.
Funktionale Zuordnung von determinierenden Faktoren im Hinblick auf ganz bestimmte SollZustände organismischer Systeme ist deckungsgleich mit der Formulierung von strengen
Kausalerklärungen. Das ist jedenfalls kaum strittig. Dennoch ist auffällig, dass die hierbei
auftretenden zentralen Begrifflichkeiten an genau diejenige Sprechweise erinnern, die wir aus
der „Begriffslehre des sozialen Handelns“ kennen und die wir in Abschnitt II. 8. noch genauer
erläutern werden. Wir müssen bei der Lektüre systemtheoretisch verfasster Arbeiten
allerdings sehr genau den Unterschied beachten, auf den es hier wesentlich ankommt: Die
menschliche Niere hat beispielsweise hinsichtlich der Aufrechterhaltung eines stabilen
Kreislaufsystems eine ganz bestimmte Funktion, dennoch würde es eine bedenkliche
Metaphorik bedeuten, wenn man daraus den Satz zu gewinnen versuchen würde, die Niere
habe die Intention, zur Aufrechterhaltung der Stabilitätsbedingungen des Kreislaufsystems
irgendetwas beizutragen. Überspitzt formuliert: Nieren können nun einmal nicht „subjektiv
sinnhaft handeln“, erfüllen gleichwohl ganz bestimmte systemstabilisierende Funktionen,
welche das somato-mentale Geschehen „menschlicher Organismus“ betreffen.
Bezogen auf das Nierenbeispiel ist also offenkundig, dass eine handlungskonzeptionellintentionalistische Sprechweise unbedingt vermieden werden muss, wenn man die Funktionen
systemischer Strukturen zu beschreiben versucht. Leider ist in vielen Abhandlungen der sog.
strukturell-funktionalen Theorie die dabei zu beachtende Sorgfalt häufig nicht zu
215
beobachten.177 Das liegt vor allem daran, dass auch soziale Institutionen, die in einer
systemischen Sprechweise funktionalistisch beschrieben werden, als soziale Kollektive
ausgefasst werden, die so etwas wie einen kollektiven Willen haben könnten. Das jedoch ist
vollkommen falsch: Institutionen haben soziale Funktionen bzw. kulturell vorausdefinierte
Zielvorgaben, sie haben aber nicht die Absicht, irgendetwas zu tun bzw. nicht zu tun,
irgendetwas zu unterlassen oder irgendetwas zu wollen. Formulierungen wie „die Psychiatrie
hat die Absicht“ oder aber „das Interesse einer bestimmten sozialen Schicht“, erwecken den
Eindruck, als könne man Handlungskonflikte ohne Gefahr der Konfusion der Sprachebenen in
stetem Wechsel von Handlungsvokabular und systemischem Vokabular unbestraft
charakterisieren.
Doch das mag als metaphorische Sprechweise noch einigermaßen hingehen. Ausgesprochen
problematisch wird es allerdings, wenn sich z.B. die Psychoanalytiker des metaphorischen
und anthropomorphistischen Charakters ihrer Funktionsbeschreibungen („das Über-Ich
zensiert“) nicht bewusst sind. Dann dient eine funktionalistische und systemische
Sprechweise zur Maskierung unseres Nichtwissens bzw. Noch-Nicht-Wissens bezüglich
dessen, was wir bei genauerer Kenntnis der jeweiligen systemischen Strukturen in einer
tatsächlich
„objektivistischen“
Sprache
beschreiben
könnten,
wäre
unser
„Theoretizitätsniveau“ höher.178 Gerade im Gebiet der Seelenforschung, wo nach wie vor
unser theoriefähiges Detailwissen noch derart gering ist, ergäbe sich eine ausgesprochen
gefährliche, da im Grundprinzip forschungsfeindliche Handlungs- und Willensmetaphorik.
Ich weise an dieser Stelle auf das hierbei involvierte Problem lediglich hin, behalte mir jedoch
vor, bestimmte Bedenken geltend machen zu können, wenn es um die Beschreibung z.B. von
„Ich-Funktionen“ geht.
177
Genau hierzu vgl. vor allem die Homans’sche Funktionalismuskritik, die sich konsequent an genau den
selben Argumenten abstützt, wie wir sie anlässlich der „DN-Analyse“ entwickelt haben. Homans plädiert aus
eben diesem Grunde für eine konsequente „Reduktion“ der gesamten soziologischen Forschung auf
„Psychologie“. Er ist nämlich unter Berufung auf das DN-Schema der Meinung, nur so könne die
„Wissenschaftlichkeit“ der Soziologie gerettet werden, die das Problem der gesellschaftlichen Dynamik in den
Griff zu bekommen versucht. Ich zeige bereits an dieser Stelle, dass dieser „Fundamentalpsychologismus“ gar
nicht nötig ist, worauf zurecht eben Redlich und Freedman hinweisen: „Systemische Sprechweise“,
Kausalprinzip und Funktionalerklärungen widersprechen sich keineswegs. Hier wäre naturgemäß eine
entsprechende – nämlich sehr differenzierte – Kritik an der Position des sog. „methodologischen
Individualismus“ angebracht, wie in Abschnitt II. 4. 1. betont. Eine solche Kritik muss ich mir allerdings
versagen.
178
Der Ausdruck von Porath [Forschungsantrag]. Siehe hierzu das obige Zitat im „Thesenkatalog“.
216
Sodann wenden sich die Autoren dem mit dem sog. „Integrationsproblem“ engstes
verknüpften Problem der Multifaktorialität verursachender Bedingungen zu, was gleichfalls,
wie unschwer gesehen werden kann, mit dem übereinstimmt, was wir anhand der DNAnalyse kennengelernt haben:
„Sowohl in der Medizin wie auch in der Psychiatrie haben sich Erklärungen, die nur einen
einzelnen Faktor berücksichtigen, seit langem als unzureichend erwiesen. Selbst für solche
Krankheiten, für die sich eine wesentliche und notwendige Ursache auffinden ließ – z.B.
Infektionskrankheiten –, gilt es doch, nicht nur den Erreger, sondern die Wechselwirkungen
zwischen diesen und dem Wirtsorganismus unter den gegebenen Umweltbedingungen zu
begreifen.
Eine
solche
mehrdimensionale
Betrachtungsweise
ermöglicht
einerseits
angemessene Erklärungen des Geschehens, andererseits rückt sie auch ganz spezifische
Variablen in den Blick (z.B. Resistenzfaktoren), die gesondert zu untersuchen sind. Alle
Überlegungen zur Ätiologie psychiatrischer Erkrankungen müssen die biologischen
Gegebenheiten des betreffenden Patienten, seine materielle und soziale Umwelt und vor allem
die wechselseitigen Beziehungen berücksichtigen, die der Patient in der Vergangenheit und in
der Gegenwart zu anderen Menschen hatte. Der subjektive Niederschlag dieser Beziehungen
in Form von Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen – kurz: psychologische Variablen sind
ebenfalls entscheidend wichtige Determinanten menschlichen Verhaltens“.179
Genauso ist es. Die analytische Heuristik einer dergestalt streng methodisch aufgebauten
Psychiatrie ist damit klar ausgesprochen: Die „Ursachen“ für bestimmte pathologisch
auffällige Verhaltensmuster bilden ein „Mehrfaktorengefüge“, was bei der Zuordnung
bestimmter Einflussfaktoren für ganz bestimmte Effekte peinlichst genau beachtet werden
muss. Niemand der am Wissenschaftsprinzip festhält würde dieser Heuristik widersprechen.
Was jedoch bedeutet dies ganz konkret für die Ausarbeitung einer Sozialisationstheorie, deren
Grundbegriff der Begriff der „Identitätskrise“ sein soll?
Dass bei dem Ausbau einer solchen Theorie biologische, psychologische und soziale Faktoren
interdependenzfunktional „ineinanderspielen“, dürfte nicht zweifelhaft sein.180 Würde es aber
genügen, wenn man eine solche Sozialisationstheorie aufzubauen versucht und dabei ganz
einfach Begriffe und Methoden der Biologie der Psychologie und der Soziologie mischt?
179
Redlich/Freedman a.a.O. S. 126f Hervorhebungen mittels Kursiv und Unterstreichung durch mich.
180
Zur Methodologie der sog. „Interdependenzrelationen“ vgl. den, wie ich finde, nach wie vor vorzüglichen
Artikel von Hans Zetterberg [Theorie, Forschung und Praxis] in René Königs [Handbuch] aus dem Jahre 1962.
217
Doch offenkundig nicht, können wir nunmehr unter Berufung auf unsere Ausführungen
bezüglich der Geltung des DN-Schemas expressis verbis betonen. Bei einem solchen
Verfahren könnte man nämlich die entsprechenden Faktoren nicht im Hinblick auf die
fraglichen pathologischen Verhaltensmuster konkret gewichten. Das aber genau ist unser
zentrales Problem, eben weil es den eigentlichen neuralgischen Punkt der sog.
„Integrationsproblematik“ unmittelbar berührt. Wir werden nämlich sehen, dass hierbei eine
zentrale Voraussetzung aller Integrationsversuche, die das Problem der kausalen Gewichtung
multifaktorieller „Einwirkungen“ betrifft – dies gilt selbst für diese ansonsten mustergültige
Monographie von Redlich und Freedman – keine Berücksichtigung findet: Wir benötigen ein
idealtypisches Konstrukt rationalen Handelns, welches in der „empirischen Wirklichkeit“
nirgendwo anzutreffen ist, um sodann die entsprechenden kausalen Faktoren, die die
beobachtbaren Verhaltensmuster „hervorbringen“, gewichten zu können, denn genau dafür
benötigen
Komparativierungen,
wie
sich
anhand
der
weiter
unten
vorgeführten
„Rationalitätskataloge“ (Abschnitt II. 8. 2.). Aus genau diesem Grunde ist eine streng
soziologische, d.h. rollenstrukturell ergänzte Konzeption des sozialen Handelns, wie sie
eigentlich zu entwickeln wäre, unabdingbar. An dieser Stelle möchte ich lediglich an
folgendes hinweisen:
Die Mentalerkrankungen, von denen die moderne klinische Psychiatrie spricht, scheinen vor
allem bezogen auf den sog. psychotischen Formenkreis durchwegs ein „Privileg“
menschlicher Wesen zu sein. Ist dem aber so, dann bedarf es eines idealtypologischen
Konstruktes, welches genau diesem „Privileg“ auch Rechnung trägt. Und genau hier liegt der
methodische Ort, der in der vorliegenden Arbeit getätigten systematischen Anleihe bei der
Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ und dessen Methodologie der sog.
idealtypologischen Konstruktion. Ist aber diese Überlegung einmal einigermaßen gesichert –
und wir werden anhand der „Rationalitätskataloge“ sehen, wie sie gesichert werden kann –,
dann muss ein ganz bestimmter Zusammenhang existieren zwischen ganz bestimmten
Rollenkonfigurationen, die ein Mensch im Verlaufe seiner Sozialisation „durchlebt“ hat und
ganz bestimmten Dispositionen zu genuin pathologischen Formen des Verhaltens. Natürlich
darf daraus nicht abgeleitet werden, dass es pauschal „die Gesellschaft“ sei, welche „die
Menschen krank macht“. Man sieht mühelos, dass eine solche Pauschalaussage streng
genommen gar nicht überprüfbar wäre, gestattet sie doch gerade nicht die bitternotwendige
Gewichtung derjenigen „Wirkfaktoren“, die in einem multifaktoriellen Gefüge möglicher
„Ursachen“ repräsentiert wären. Ganz gewiss nämlich, gibt es im strengen Sinne kränkend
sich auswirkende Interaktiv- und Kommunikativkonstellationen, die bei entsprechender
218
Krankheitsdisponiertheit verstärkend wirken. Um genau diese geht es, wenn wir uns um die
Konstruktion einer auch und gerade das „Krankheitsgeschehen“ miteinbeziehende
Sozialisationstheorie bemühen.
Und genau hier ist auch der methodische Ort, des weiter oben idealtypisch gefassten
„Gadamerschen“ Gespräches: Nicht an sich sind solche Gesprächsformen bereits
„pathologieblockierend“ bzw. von „therapeutischer Bedeutung“ und bewirken relativ sanft
sich ereignende Identitätsmetamorphosen, jedoch kann sehr wohl bei geeigneter personeller
Disposition der Gesprächspartner eine solche Gesprächstruktur sich in dieser oder jener Form
auswirken. Welche Auswirkungen genau jedoch zu gewärtigen sind, kann nur in einer
allgemeinen Sozialisationstheorie „durchgespielt“ und auf den jeweiligen konkreten Fall
bezogen werden. Wie auch immer. Jedenfalls können wir den nachstehend zitierten
Überlegungen von Redlich und Freedman aus all den hier aufgeführten Gründen nur aus
vollem Herzen zustimmen:
„Mehrere verschiedene Ursachen können auf eine gemeinsame Wirkung hin konvergieren;
was Verhalten anbetrifft, so steht jede Verhaltensreaktion immer im Dienste mehrerer
verschiedener Funktionen und bringt mehrfache Wirkungen hervor. Damit ist natürlich
spekulativen Interpretationen viel Spielraum gegeben [den wir ja gerade einengen wollen].
Unsere Aufgabe [der Psychiater] ist es, festzustellen, wie Ausgangsbedingungen [die ihren
pathogenetischen Hintergrund z.B. in den primordialen Lebensverhältnissen eines Patienten
haben können] und Folgen miteinander verknüpft sind [eben!], und die speziellen
Bedingungen aufzuzeigen, unter denen ein bestimmtes Verhaltensphänomen sich am
wahrscheinlichsten ereignen wird. In der Praxis versuchen wir uns ein Bild zu machen, wie
die verschiedenen Determinanten zusammenwirken und welche von ihnen jeweils
dominieren; wir versuchen für den betreffenden Einzelfall eine Hypothese über den
Stellenwert der einzelnen Determinanten und ihr wahrscheinliches Ergebnis aufzustellen –
was im üblichen medizinischen Sprachgebrauch der Diagnose und Prognose spricht.“181
Und wie genau geschieht das? Was genau muss dabei beachtet werden.
Überdeutlich sehen wir nunmehr, wie ich meine, welchen Sinn diese Ausführungen machen,
wenn wir sie im Lichte des weiter oben behandelten DN-Schemas betrachten:
Der „Spielraum“ für „spekulative Interpretationen“ engt sich ja ganz automatisch ein und
gestattet die genaue Verknüpfung von „Ausgangsbedingungen – das sind die im DN-Schema
181
Redlich/Freedman a.a.O. S. 128f Hervorhebungen mittels Kursiv durch mich
219
behandelten Randbedingungen – und Folgen“, die „speziellen Bedingungen [also auch], unter
denen ein bestimmtes Verhaltensphänomen sich am wahrscheinlichsten ereignen wird“. Die
„Hypothese“ von der die Autoren sprechen ist dann natürlich die gesetzesartige Annahme im
DN-Modell, wobei im Auge zu behalten ist, dass eine solche „Hypothese“ u.U. die Form
einer recht komplexen Sozialisations(-Theorie) annehmen kann und vielleicht sogar muss.
Man darf sich das Ganze also, wie bereits mehrfach betont, nicht so einfach vorstellen: Die
„Hypothese“ von der hier die Rede ist, impliziert unter Umständen eine komplexe Ätiologie,
stellt also ein Gefüge von Hypothesen, ein streng allgemeingefasstes und in sich
widerspruchsfreies Gefüge von Hypothesen, eine Theorie also, dar. Zu der Ausarbeitung einer
solchen formulieren wir in dieser Arbeit lediglich die ersten – bisweilen recht unsicheren
Schritte.182
Wichtig ist mir die bereits weiter oben getroffene Feststellung: Je präziser und
allgemeingefasster jene Theorie ist, die bestimmte „Anfangsbedingungen“ mit ganz
bestimmten als pathologisch einzuschätzenden Verhaltensmustern kausal zu verknüpfen
gestattet, desto präziser gestalten sich Symptomatologie und Anamnese. Doch wie wir
nunmehr sehen können nicht nur dies: Auch die Prognose wie die eventuellen therapeutischen
Eingriffsmöglichkeiten resultieren aus der „Erklärungskraft“ der hierbei infrage stehenden
Sozialisationstheorie.
Was bedeutet das nun für unsere Problemstellung?
Auch dies wollen wir an dieser Stelle in Gestalt einer relativ abstrakten Aussage zumindest
festhalten: Je allgemeiner und je präziser eine die hier vorgeführten Überlegung
einbeziehende Sozialisationstheorie ist, desto präziser lassen sich die möglichen
„Auslösefaktoren“ für ein bestimmtes Krankheitsgeschehen erfassen und desto präziser
ergeben sich Diagnose, Prognose und mögliche therapeutische Eingriffe. Wenn man also
zugesteht – und Redlich und Freedman tun dies – das genuin soziale Faktoren überhaupt auf
irgendeine Art und Weise die Verhaltensmuster genuin pathologischer Formen der Devianz
beeinflussen können, dann muss man wohl auch zugestehen, dass eine streng soziologisch
aufgebaute Sozialisationstheorie zu einer möglichen Gewichtung genau dieser Faktoren auch
182
Insofern stellt die vorliegende Arbeit zugleich auch ein Plädoyer dar für konsequente interdisziplinäre
Kooperation. Ich maße mir nämlich ganz bestimmt nicht an, alleine leisten zu wollen, mit dem hier vorgestellten
Entwurf ganz bestimmt nicht bereits die Bewältigung dessen an, was Aufgabe eines Teams sein muss, in
welchem sich verschiedene Spezialisten aus anderen Fachgebieten zusammenfinden können. Und ich mache
lediglich auf den genuin soziologischen Aspekt im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit aufmerksam, und
zwar, wie Weber so schön sagt, „unter durchaus einseitigen Gesichtspunkten“. Vgl. hierzu meine einleitend
formulierten Ausführungen zur Frage der „Relevanz“ der hier vorgelegten Arbeit.
220
einiges beitragen könnte. Um mehr als die Plausibilisierung genau dieser Grundüberlegung
geht es mir in diese Arbeit ja auch gar nicht. Und in genau diesem Sinne wäre dann
abschließend auch das folgende zu verstehen:
„Wir [die Psychiater] betrachten biologische Organismen, einschließlich des Menschen, als
Systeme, die Information verarbeiten und physikalische Energie umsetzen. Ein solches
biologisches oder Verhaltenssystem – überhaupt jedes Rückkopplungssystem – verfügt über
Einrichtungen zur Festsetzung von Zielen sowie über die Fähigkeit, über innere
Umordnungen Aktivitäten in Gang zu setzen, die das betreffende Ziel entweder zu erreichen
oder zu modifizieren versuchen. Alle einzelnen Bestandteile eines Verhaltenssystems, gleich
welcher Art, sind durch codierte Muster (coded patterns) gegliedert und miteinander
verknüpft. Es wäre denkbar, dass der geregelte Umsatz physikalischer Energie, wie er ständig
im Körper vor sich geht, Signale liefert, die schließlich zu Verhaltensaktivitäten führen;
solche energetischen Prozesse dienen jedoch in erster Linie zur Aufrechterhaltung der
zellulären Funktion“.183
Wie nunmehr unschwer erkennbar, wäre bei etwas „verschobener“ Blickrichtung sehr wohl
auch ein anderer Standpunkt denkbar:
„Irgendwie“ beeinflussen ja ganz sicher diejenigen „Reizimpulse“ der sozialen Welt, welche
das „Informationsverarbeitungssystem Mensch“ zu bewältigen hat, wenn es als ein
„Neugeborenes“ überhaupt erst einmal die Bühne dieser sozialen Welt betreten hat,
bewältigen muss, jenen „geregelten Umsatz physikalischer Energie, wie er ständig im Körper
vor sich geht“ auf eine je spezifische, d.h. kausale, Art und Weise. Ansonsten wäre das ganze
Gerede von den vielzitierten „psycho-somatischen Zusammenhängen“ ja auch ziemlich
nichtssagend.
Ich sage ganz bewusst „denkbar“, denn Voraussetzung hierfür wäre zunächst einmal die
Erarbeitung einer konsequent sozialwissenschaftlich ausgestatteten und methodologisch
sensibilisierten
Sozialisationstheorie
mit
wesentlich
höherem
Erklärungs-
und
Prognoseniveau als demjenigen, welches die bisher vorhandenen „Ansätze“ aufweisen. Oder
überspitzt ausgedrückt: Die sog. „systemische Sprechweise“ in den Humanwissenschaften
kann nur metaphorisierenden Charakter haben, solange wir nicht über eine empirisch
falsifizierbare Sozialisationstheorie verfügen, welche zumindest in die Nähe desjenigen
183
Redlich/Freedman a.a.O. S.129 Hervorhebungen mittels Kursiv durch mich.
221
Niveaus kommt, welches z.B. die Hypothesenkonstruktionen der sog. „Neurowissenschaften“
derzeitig
bereits
aufweisen.
Bei
dem
gegenwärtigen
Forschungsstand
gesellschaftswissenschaftlichen „Theoriewissens“ ist jedenfalls die so viel beschworene
„Integration“ neurowissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Hypothesensysteme kaum
mehr als ein Wunschtraum im durchaus psychoanalytischen Sinne.
6. Die Psychoanalyse und ihre Grundannahmen
6.1. Rückblick und Fragen
Wie einleitend gesagt, stellt sich die vorliegende Arbeit die Aufgabe, Rolle und Funktion der
sog. „Identitätskrisen“ zum einen für gelungene, zum anderen für misslungene
Sozialisationsvorgänge abzuklären. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns
zunächst einmal auf die Heraushebung des genuin soziologischen sowie des genuin
methodologischen Gesichtspunktes bei dieser Problemstellung konzentriert und in diesem
Zusammenhang in einer noch etwas groben Weise die Webersche „Begriffslehre des sozialen
Handelns“ skizziert. In dieser jedoch, die ja bestrebt ist, explizit den genuin soziologischen
„point of view“ zu akzentuieren, um so mittels des Handlungsbegriffs sowie der Methode des
Verstehens die „Soziologie“ gegenüber der „Psychologie“ scharf abgrenzen zu können, taucht
genaugenommen der Begriff der „Identitätskrise“ gar nicht auf, darf dies noch nicht einmal.
Gleichwohl ist ohne große Schwierigkeiten einsehbar, dass gerade die Webersche
„Begriffslehre des sozialen Handelns“, die ja mit den Konstrukten des „subjektiv sinnhaften
individuellen
Verhaltens“
bzw.
des
„zweckrationalen
Handelns“
arbeitet,
ganz
selbstverständlich ein solches „Identitätskonstrukt“ ebenso voraussetzen muss, wie sie ja auch
stattgehabte Sozialisationsvorgänge unterstellen muss, was trivialerweise bedeutet: Gäbe es
den sozialen Tatbestand des Sozialisationsvorganges nicht, so gäbe es auch kein individuelles
subjektiv sinnhaftes (soziales) Sichverhalten zu „wirklichen“ oder „imaginierten“ Objekten.
Und der für die Identitätsproblematik entscheidende Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
eines dieser „imaginierten“ oder auch „wiklichen“ Objekte, zu dem das subjektiv sinnhafte
Sichverhalten eines Einzelindividuums Stellung nehmen kann (oder muss), eben dieses
Einzelindividuum selbst ist oder sein kann, woraus trivialerweise folgt: Sich seiner selbst
bewusst sein oder werden – Selbst-Bewusstsein also „haben“ –, ist eine Form des subjektiv
sinnhaften Sichverhaltens, des intentionalen Handelns. Und genau diese Form des
222
intentionalen Handelns sollte dann auch, wie ich meine, Identitätskonstruktion genannt
werden, schließt doch die Fähigkeit des subjektiv sinnhaften Sichverhaltens zu sich selbst
immer zugleich auch die Fähigkeit ein, „seine“ durch bestimmte Umstände vielleicht
fragwürdig gewordene Identität mehr oder weniger erfolgreich stets aufs Neue konstruieren
zu können.
Dennoch: Zunächst einmal sind in expliziter Form sowohl das „Identitätskonstrukt“ als auch
der Begriff der „Identitätskrise“ wesentlich basale Begriffe der Psychologie, oder genauer
noch: der kognitiven Lerntheorie(n), mittels derer „mentale Zustände“ designiert werden,
welche der direkten Beobachtung zwar nicht zugänglich sind, die wir jedoch erschließen
können, ein Problem, auf welches wir hier nur hinweisen, auf das wir jedoch nicht explizit
eingehen können.
Hier halten wir nur fest: Sozialisationsvorgänge sind in erster Linie Lernvorgänge, welche
streng behavioristisch als Verhaltensmodifikationen und im Rahmen der sog. „kognitiven
Theorien“
als
kognitive
Umorientierungen
zu
interpretieren
sind.
Auf
den
geistesgeschichtlichen Hintergrund, der das Verhältnis des strengen Behaviorismus in
Beziehung setzt zu der Entstehungsgeschichte der sog. kognitiven Theorien, kann ich in
dieser Arbeit nicht eingehen. Nur soviel
sei hierzu gesagt: Mittels der sog.
„Hypothesentheorien der sozialen Wahrnehmung“ lassen sich (mittlerweile) streng
behavioristisch gefasste Verhaltensmodifikationen als kognitive Umorientierungen deuten.
Die Detailprobleme sind auch methodologisch sehr kompliziert, vielfach nach wie vor völlig
ungeklärt und interessieren in der vorliegenden Arbeit, der es ja zunächst einmal nur darum
geht, die „Bauelemente“ für eine mögliche Sozialisationstheorie zusammenzustellen, nur am
Rande.
Denn die Gewichtung des Aufmerksamkeitsschwerpunktes ist hier anders gesetzt: Wählen wir
für den Bereich des „Gesellschaftlichen“ den Oberbegriff der „sozialen Tatbestände“,
worunter sowohl institutionelle als auch psychologische Tatbestände zu subsumieren sind, so
haben wir es, wie bereits in der These 10 des Abschnitts II. 1. dargetan, mit zwei Klassen von
Theorien zu tun, deren „Bündelung“ uns die gesuchte empirisch falsifizierbare
Sozialisationstheorie ermöglichen soll: Lerntheorien, die sich mit der Verhaltensdynamik
personaler Systeme und Institutionentheorien, die sich mit der „Metamorphose“
rollenstrukturell beschreibbarer sozialstruktureller Tatbestände (sozialer Systeme) befassen.
Denn selbstverständlich sind in diesem Sinne auch Sozialisationsvorgänge sowie
223
Enkulturationsvorgänge ebenso soziale Tatbestände wie au fond psychologische Tatbestände,
die dem sog. „Affektdrosselungsgeschehen“ (Norbert Elias) angehören und die in der
strengen Psychoanalyse als Sublimierungs- Versagens- und Verdrängungsvorgänge
beschrieben werden. In diesem Sinne ist auch der Untertitel der vorliegenden Arbeit zu
verstehen: Diskutieren wir die „sozialisationstheoretische Dimension des sozialen Handelns“,
so diskutieren wir ebenso einen sozialen Tatbestand, wie wir es tun, wenn wir z.B. die
Psychoanalyse selbst oder auch die „Handlungssoziologie“ als einen kulturellen bzw. sozialen
Tatbestand diskutieren. Und selbstverständlich handelt es sich dann auch beispielsweise bei
der Pädo-Psychiatrie, welche wir als Teilsystem der Systeme der sozialen Kontrolle
auffassen, um einen sozialen Tatbestand.184
Dass und inwiefern wir diesen Oberbegriff dringlichst benötigen, werden wir später noch
genauer sehen.
Beziehen wir uns auf die „sozialisationstheoretische Dimension des sozialen Handelns“, so
geht es uns wesentlich um die „Werdestruktur“ dessen, was Weber in seiner „Begriffslehre“
als kompetentes soziales Handeln zu umschreiben versucht hat. Dass er dies mit der erklärten
Absicht getan hat, vornehmlich die institutionellen Tatbestände des sozialen Geschehens in
den Blick zu nehmen, diejenigen Aspekte also, die wir z.B. mittels der sog. „Rollentheorie“
zu fassen versuchen, braucht uns an dieser Stelle nicht zu interessieren.
Interessieren tut uns vielmehr, was es denn nun eigentlich mit der sog. „Psychoanalyse“ auf
sich hat, und hierzu ergeben sich dann die folgenden Fragen:
Warum erscheint uns ausgerechnet die Psychoanalyse geeignet für eine vornehmlich
psychiatrisch-relevante Sozialisationstheorie, die es gestatte, dass „Identitätskonstrukt“ sowie
den Begriff der „Identitätskrise“ so zu präzisieren, dass es tatsächlich möglich sei, zwischen
„gelungenen“ und „misslungenen“ Sozialisationsverläufen zu unterscheiden? In was für
einem Verhältnis steht die Psychoanalyse zur Weberschen „Begriffslehre des sozialen
Handelns“? Und wenn doch – gemäß der Weberschen „Begriffslehre“ – das Hauptaugenmerk
bei der Konstruktion einer auch psychiatrisch-relevanten Sozialisationstheorie auf die
„Werdestruktur“ des rationalen sozialen Handelns gelegt werden muss, weshalb sind dann
nicht, wie bei nahezu allen entwicklungspsychologischen Erklärungsmodellen, die im engeren
Sinne kognitiven Lerntheorien wesentlich besser geeignet, interpretieren diese doch die für
184
Auf das auch methodologisch außerordentlich schwierige Problem, in welchem historisch realisierte
Gesellschaftsformationen, welche (sozialen) Tatbeständen dem jeweiligen kulturellen System angehören bzw.
nicht angehören, gehe ich hier natürlich nicht ein. Vgl. hierzu demnächst Porath [Historische Forschungslogik].
224
den „normalen“ Sozialisationsverlauf infrage kommenden Verhaltensmodifikationen nach
Maßgabe der sog. „Hypothesentheorien der Wahrnehmung“ explizit als kognitive
Umorientierungen? Könnten wir denn hierbei nicht relativ problemlos den funktionalen
Stellenwert bewusst gehandhabter Identitätskonstruktionsmethoden deutlich machen? Warum
müssen wir uns also eigentlich, wie bereits einleitend bemerkt, mit jenem „Unbewussten“
herumschlagen, welches bekanntlich den eigentlichen Kern der sog. Psychoanalyse
ausmacht? Gibt es denn so etwas wie „unbewusst“ gehandhabte Identitätskonstruktionen
überhaupt? Beinhaltet nicht vielmehr bereits das begriffliche Gefüge „Methode der
Identitätskonstruktion“ als solches, dass es sich dabei um etwas bewusst gehandhabtes
handeln muss? Liegt es nicht auch und gerade aus diesem Blickwinkel einer wesentlich auf
die Methodik der Hermeneutik gegründeten „Verstehenden Soziologie“ näher, die Piaget’sche
bzw. die Kohlbergsche Variante der kognitivistischen (Entwicklungs-)Psychologie als
„Ergänzung“ zur Weberschen „Begriffslehre des sozialen Handelns“ zu verwenden, um so
vornehmlich die kognitive Struktur von Sozialisationsvorgängen aufklären zu können? Diese
würden doch immerhin, wie Habermas beharrlich zu zeigen versucht hat, der fundamentalen
Divergenz von humanspezifischen und „infrahumanen“ Lernprozessen sehr viel besser
Rechung tragen, als die Psychoanalyse, die ihrem Selbstanspruch zufolge ja eine konsequent
naturwissenschaftliche Theorie hatte sein wollen. Vor allem aber: Müsste sich nicht
eigentlich, wo doch die Psychoanalyse vornehmlich die unbewusste Dimension von
(humanspezifischen) Lernprozessen betont, die sie ja als sehr viel wichtiger erachtet als die
dem Rationalitätsprinzip sehr viel näher stehenden kognitiven Umorientierungen, das Problem
ergeben, den „Identitätsbegriff“ sowie das Problem der „Methode der Identitätskonstruktion“
so eng mit dem „Ich-Begriff“ zusammenzuschließen, dass sozialstrukturelle Tatbestände wie
z.B. die Rollenstruktur familialer Sozialisationsagenturen notwendigerweise „außen vor“
bleiben müssten? Ja, wäre es nicht vielleicht dann sogar denkbar, dass ein mündig
gewordenes menschliches Wesen zwei Identitäten, eine „bewusste“ und eine „unbewusste“
hat, die dann natürlich auch in Konflikt miteinander liegen könnten und so eventuelle
„Identitätskrisen“ auslösen würden? Überspitzt formuliert: Sind maligne Identitätskrisen u.U.
letztendlich eben doch so etwas ähnliches wie „Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Syndrome“ und liegt
hier vielleicht das Geheimnis der sog. „Schizophrenie“ verborgen?
Ja und Nein.
Die Beantwortung dieser Fragen ist, wie man sich denken kann, nicht ganz einfach, werfen
sie doch unabdingbar eine ganze Reihe sowohl methodischer als auch methodologischer
225
Probleme auf, deren Lösung für die Absichten der hier vorgelegten Arbeit zwar wichtig sind,
die jedoch nur teilweise behandelt werden können. Unser Plädoyer für eine psychoanalytische
Ergänzung des genuin soziologischen „point of view“, mittels derer wir uns um eine
empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie bemühen wollen, gründet sich jedenfalls auf
etwas anderes, nämlich: Die sog. „kognitivistische Psychologie“ gestattet nicht – jedenfalls
nicht für sich allein – die Ausarbeitung eines Forschungsprogramms, welches Aussicht hätte,
die eingangs genannte „Kernfrage“ einer „empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie“
irgendwann einmal beantworten zu können. Ihr Basalbegriff des „Lernens“ ist wesentlich
gebunden
an
die
Beschreibungsmöglichkeiten
des
Mechanismus´
der
kognitiven
Umorientierungen, eine „adäquate“ Sozialisationstheorie muss jedoch vor allem auch die
Transformation organismischer Verhaltensmodifikationen in der Postnatalperiode in die
ersten Ansätze „subjektiv sinnhaften Sichverhaltens zu Objekten“ beschreiben und erklären
können. Wie bereits in der Anmerkung (34) betont, ist die Psychoanalyse das bislang einzig
verfügbare Theoriekonstrukt, welches zumindest den Versuch gemacht hat, die hereditären
bzw. konnatalen Faktoren des humanspezifischen Sozialisationsprozesses mit den
primordialen Ansätzen subjektiv sinnhaften Sichverhaltens zu (imaginären bzw. „äußeren“)
Objekten evolutiv zusammenzuschließen Genau hier liegt ihr systematischer Ort.
An dieser Stelle halten wir zunächst einmal diejenige These fest, die, bereits einleitend
erwähnt, für die Ausarbeitung einer allgemeinen Sozialisationstheorie von, wie wir glauben,
entscheidender
Bedeutung
ist:
Zu
jedem
Sozialisationsgeschehen,
welches
dem
Handlungsparadigma zufolge wesentlich eine Abfolge von kognitiven Umorientierungen ist,
muss ein äußerst komplexes unbewusstes „Beiprogramm“ hinzugedacht werden, welches die
Modalitäten der auf kognitiven Umorientierungen beruhenden Verhaltensänderungen
tiefgreifend beeinflusst. Wenn dem nämlich so ist, so ist jedwede idealtypologische
Konstruktion des Begriffs der „Identitätskrise“, die nur die kognitive Dynamik des
Sozialisationsgeschehens, nicht jedoch deren „unbewusstes Beiprogramm“ berücksichtigt,
wesentlich defizient.185 Und die entscheidende Frage betrifft natürlich auch in diesem
185
Kriterium für „Irrationalität“ ist, wie wir später sehen werden, anhand des Ausmaßes beurteilbar, in dem
idealtypologisch konstruiertes Rationalhandeln beeinträchtigt ist. Bezeichnenderweise ist es Freud niemals
gelungen, die Extremformen irrationalen Verhaltens in Form einer idealtypologischen Konstruktion ähnlich
einleuchtend „abzuspiegeln“, wie dies Max Weber bezüglich des Rationalitätskonstruktes gelungen ist. Jedoch
wird es uns natürlich darauf ankommen, zusätzlich ein Kriterium angeben zu müssen, welches wiederum
pathologisch auffällige Formen der „Irrationalität“ gegenüber bloß „normalaffektiv“ verzerrten Formen des
Rationalhandelns zu diskriminieren gestattet. Man kann freilich eben diese Überlegung nur präzisieren, wenn
man mit operativen Begrifflichkeiten arbeitet, und dafür sind nun einmal Komparativierungen klassifikatorischer
Begriffsschemata erforderlich. Insofern hat naturgemäß auch das Tafelbild 3 („Irrationalität“) ein nur begrenzten
Aussagewert. Auf der Grenzlinie zwischen „noch verstehbaren“ Irrationalismen und „psychopathologisch
226
Zusammenhang den dabei ins Spiel kommenden sozialisationstheoretischen Aspekt, so dass
sich
nunmehr
zwanglos
die
zur
einleitend
formulierten
„Kernfrage
des
Sozialisationsgeschehens“ komplementäre psychoanalytische (Doppel-)Frage ergibt:
Wie und wodurch ist eigentlich dieses von Sigmund Freud entdeckte „unbewusste
Beiprogramm“ subjektiv sinnhaften Sozialverhaltens entstanden und welcher funktionale
Stellenwert kommt diesem „unbewussten Beiprogramm“ z.B. bei der mehr oder weniger
erfolgreichen Handhabung je subjektiver Identitätskonstruktionen zu?
Offenkundig gibt es dafür nämlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder bringt jedes neu auf die
Welt kommende menschliche Wesen bereits bei seiner Geburt dieses „Beiprogramm“ fix und
fertig mit, oder aber es ist Bestandteil des Sozialisationsprozesses.
6.2. Die Fundamentalannahmen
Das in wissenschaftstheoretischer Hinsicht sehr komplizierte Netzwerk von geistigen
Leistungen, die vor allem mit dem Namen Sigmund Freud verbunden sind, nämlich die
„Psychoanalyse“,
ist
zugleich
ein
ausgesprochen
komplexes
und
heterogenes
erfahrungswissenschaftliches Theoriegebilde, eine Forschungsmethode, eine medizinische
Disziplin und eine therapeutische Methode, die sich – ihrem Selbstverständnis zufolge –
einem Notstand der klinischen Praxis verdankt. An diesen Punkt muss zunächst einmal
erinnert werden. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr
naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin war vornehmlich bezüglich der sog. „Geistesund Gemütskrankheiten“ auf – wie es den Anschein hatte: prinzipielle – Schwierigkeiten
gestoßen, die sowohl die Ätiologie als auch die Therapie des sog. „Irrsinns“ betrafen und das
Lebenswerk von Sigmund Freud stellte, wie Mahrenholz und Porath [Kelsen] gezeigt haben,
den Versuch einer Lösung dieser einstigen klassischen Problemlage der modernen Medizin
dar, welche sich offensichtlich seinerzeit in einer echten „Paradigmakrise“ befand.186
auffälligen“ Verhaltensmustern scheinen die meisten von Freud beschriebenen Formen psychopathologischen
Alltagshandelns zu liegen.
186
Ich beziehe mich hier auf ein Arbeitspapier, welches Porath 1985 für einen Vortrag im „Wiener
Kolloquium“ ausgearbeitet hat, den er seinerzeit mit dem damaligen Stellvertretenden Vorsitzenden des
Bundesverfassungsgerichts Mahrenholz über den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen gehalten hat.
227
Von Anbeginn an war deshalb auch diese Psychoanalyse als ein neuer streng
naturwissenschaftlich orientierter Forschungsansatz im Rahmen der klassischen Medizin
erstens mit den somatisch zwar auffälligen, jedoch somatisch-ätiologisch nicht zureichend
erfassbaren Krankheiten und zweitens mit den Mentalerkrankungen, d.h. mit den irrationalen
Verhaltensmustern, konfrontiert bzw. mit klinisch auffälligen Syndromen konfrontiert, die
jedoch – das galt vornehmlich für die sog. „Hysterien“ –, weil sie keine eindeutige somatische
Grundlage zu haben schienen, gar nicht als „krankhaft“ diagnostiziert wurden.
Beginnen wir mit einer prima facie etwas paradox anmutenden Frage:
Was genau in einem genuin soziologischen Sinne ist eigentlich die Psychoanalyse?
Makrosoziologisch ist die Psychoanalyse, da sie den wesentlich therapeutisch
ausgerichteten Institutionen zugehört, ein Teilsystem der Systeme der sozialen Kontrolle
unserer Gesellschaft und hat, wie alle diese Systeme, eine wesentlich konfliktregulative
Aufgabe, die sich auf ganz bestimmte Devianzformen bezieht. Ihrer Entstehungsgeschichte
zufolge ist sie dasjenige Teilsystem derjenigen therapeutisch funktionierenden Systeme der
sozialen Kontrolle, welches die Funktion hat, konfliktregulativ auf die genuin irrationalen
Formen der Devianz zu reagieren.187 Die Psychoanalyse ist aus diesem Grund als ein
Teilsystem der medizinischen Systeme der sozialen Kontrolle dasjenige Institut, welches von
Anbeginn an für die psychopathologischen Erscheinungsformen abweichenden sozialen
Verhaltens zuständig war.
Mikrosoziologisch hingegen haben wir es, sobald wir es mit dem therapeutischen Medium der
Psychoanalyse schlechthin, dem Gespräch, befassen, geradezu mit einer klassischen
minimalen sozialen Situation zu tun, welche konstitutiv in die überkommenen Formen
traditionellen medizinischen Handelns „hineinpasst“. Wir sprechen hier von denjenigen
psychiatrischen Grundsituationen, die gemeinhin als das „Vertrauensverhältnis“ zwischen
„Arzt und Patient“ genannt zu werden pflegen.
So ist die Psychoanalyse zuallererst einmal eine neue verhaltenstherapeutische Methode,
welche die therapeutische Funktion des „Gesprächs“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit
medizinischen Denkens und Handelns gerückt hat, zugleich jedoch war sie für das Medium
187
Nämlich auf solche, die sich dem damaligen „normalen“ juristischen wie medizinischen Verständnis
verschlossen. Dass ein von starkem Wundfieber Befallener sich halluzinatorisch abweichend verhält, ist und war
auch der damaligen bürgerlichen Welt völlig verständlich, das mörderische Verhalten Woyzeks jedoch
beschäftigte seinerzeit eine ganze Reihe von Juristen wie medizinischen Sachverständigen.
228
des
„Gesprächs“
von
Anfang
an
auch
eine
neue
(humanwissenschaftliche)
Forschungsmethode und eine mit dem Verhalten der menschlichen Individuen befasste
erfahrungswissenschaftliche Theorie, welche der Institution „Psychologie“ zugeordnet
werden muss. Ausdrücklich hat Freud darauf bestanden, dass genau diese „Theorie“, die er als
„Metapsychologie“ verstanden wissen wollte, als systematischer Beitrag zur psychiatrischen
Grundlagenforschung aufgefasst werden müsste. In dieser Eigenschaft interessiert sie uns an
dieser Stelle zunächst einmal, weshalb wir nunmehr versuchen, einige ihrer vornehmlich in
dieser Beziehung interessanten Grund- bzw. Fundamentalannahmen aufzulisten. Den
bisherigen Ergebnissen der Forschungsgruppe Dossenheim zufolge sind das die folgenden
vier, die ich anschließend benenne und zugleich auf meine bisherigen Arbeitsergebnisse zu
beziehen versuchen werde:
1. Die erste Fundamentalannahme der Psychoanalyse betrifft den Tatbestand, dass es
so etwas wie „das Unbewusste“ überhaupt gibt: Analysiert man ausschließlich die
kognitiv-evaluative
Dimension
des
Sozialisationsprozesses,
dann
wird
das
Internalisierungsgeschehen, welches die kulturspezifischen Werte und Ideen von
Sozialmilieus ganz allgemein betrifft, von denen wir annehmen, sie würden
Handlungsrelevanz erlangen, nur unzulänglich erfasst. Und dies aus dem ganz
einfachen Grund, weil sie im späteren Leben eines Menschen bewusst gar nicht mehr
in Erscheinung treten. Es besteht also die Gefahr, das die Enkulturationsdimension
von Sozialisationsvorgängen, welche die primordiale Vermittlung bestimmter Werte
und Ideen betrifft, ganz allgemein viel zu sehr ins Hintertreffen gerät. Wie auch
immer. Ohne die Grundannahme, es gäbe „Unbewusstes“, gelingt es der
psychoanalytischen Auffassung zufolge nicht, jene irrationalen Formen devianten
Verhaltens ätiologisch in befriedigender Weise zu deuten, die dem neurotischen bzw.
dem psychosomatischen oder aber dem psychotischen Formenkreis individuellen
Verhaltens zugerechnet zu werden pflegen. Streng genommen ist in dieser Beziehung
die Webersche Kategorienlehre methodologisch unterbestimmt – wohlgemerkt: das ist
nur aus dieser Perspektive der Fall – so dass sie in folgender Weise der
tiefenpsychologischen – oder, wie Freud selbst sagt: der „metapsychologischen“ –
Ergänzung bedarf: Die wichtigsten seelischen Vorgänge, die Vorgänge mithin, die
eigentlich das Handeln von Menschen steuern – und so eben auch deren jeweilige
229
unverwechselbare Identität konstituieren –, sind die unbewussten Vorgänge.188 Soll
also eine ganz bestimmte Handlung eines ganz bestimmten Menschen in einer ganz
bestimmten Situation wirklich adäquat gedeutet werden, dann muss nach denjenigen
Vorgängen im Seelenleben dieses Menschen gesucht werden, die diesem Menschen
selbst gerade nicht bewusst sind. Dies hat Konsequenzen: Ein Mensch, welcher nach
den Gründen seines Verhaltens gefragt wird, wird diese Frage in der Regel nicht in
strengem Sinne kausalanalytisch zu beantworten in der Lage sein. Er wird, wie es
umgangssprachlich so schön heißt, zu nachträglichen Rationalisierungen tendieren,
indem er die Gründe seines Verhaltens benennt, um so sein Verhalten vor sich und
den anderen rechtfertigen zu können. Und dies nicht deshalb weil er eine echte
Kausalanalyse seines Verhaltens nicht leisten will, sondern deshalb, weil er dies nicht
kann. Immer erscheint aus diesem Blickwinkel die eigentlich interessante Kausalfrage
als
ein
Legitimationsproblem.
Die
psychoanalytische
Ergänzung
der
sog.
„Verstehenden Soziologie“ geht, wie unschwer zu sehen, sehr viel weiter als es z.B.
die kognitiven Lerntheorien tun würden: Prinzipiell kann ein Mensch niemals die
richtige Auskunft bezüglich seines Handelns geben, weil ihm die wirklichen
seelischen Gründe dafür gar nicht bewusst sein können. Gewiss ist „Seelisches“ auch
das, was Menschen denken, sich vorstellen, fühlen, wünschen oder auch wollen. Aber:
Das, was Menschen offen über ihre Wünsche, Gefühle, Imaginationen und Gedanken
sagen (können) ist auf gar keinen Fall dasselbe wie das, was sie in ihrem Unbewussten
wirklich „denken“, „sich vorstellen“, „fühlen“, „wünschen“ oder „wollen“, woraus
logisch folgt: Es gibt unbewusstes Denken, Imaginieren, Fühlen, Wünschen, Wollen,
welches sich immer so oder so auf das jeweilige rationale soziale Handeln auswirkt.
Gibt es aber deshalb auch zweierlei Methoden der Identitätskonstruktion? So gefasst
doch offenkundig nicht. Und während das entscheidende Problem für die konsequent
naturwissenschaftlich ausgerichtete psychoanalytische Forschung selbst zunächst
einmal darin besteht, dieses „Unbewusste“ als einen real existierenden Bereich auch
nachzuweisen, besteht für die psychiatrie-relevante Sozialisationsforschung das
gravierende
Problem
darin,
das
Wechselwirkungsverhältnis
188
zwischen
den
Später wenn wir das Tafelbild 3 („Irrationalität“) interpretieren, werden wir diese Aussage umformulieren
müssen: Unbewusste Vorgänge sind diejenigen seelischen Vorgänge, die das subjektiv sinnhafte Verhalten eines
Individuums mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Ob sie tatsächlich die wichtigsten bzw. die das subjektiv
sinnvolle Handeln bestimmenden sind, wie es die Psychoanalyse behauptet, können wir dabei getrost
dahingestellt sein lassen. Hier zeigt sich jedenfalls, welche argumentativen Konsequenzen es hat, wenn man die
hier aufgeworfene Thematik konsequent aus dem Blickwinkel der „Soziologie“ zu betrachten versucht.
230
handlungstheoretisch fassbaren kognitiven Umorientierungen und der Dynamik der
unbewusst verlaufenen Lern- und Denkvorgänge aufzuzeigen. Dies jedoch geht aus
offenkundig methodischen Gründen nur, wenn man die eventuellen „Impulse aus dem
Unbewussten“ als Störungen des Kognitivgeschehens interpretiert. Oder anders noch
formuliert: Unbewusstes beeinträchtigt Kognitives.
2. Die zweite Fundamentalnahme der Psychoanalyse betrifft die Homogenität des
Kausalgeschehens für jedwede Form abweichenden wie konformen Handelns und
Verhaltens:
In
der
Verursachung
nicht
nur
der
Nerven-,
Gemüts-
und
Geisteskrankheiten spielen diejenigen Triebregungen, welche man nur als sexuelle
(dies sowohl im engeren wie im weiteren Sinne) bezeichnen kann, eine
schlechterdings ausschlaggebende Rolle. Diese sexuellen Triebregungen sind es auch,
die den eigentlichen Nährboden für die höchsten kulturellen (künstlerischen bzw.
wissenschaftlichen) wie sozialen Leistungen des Menschengeistes bilden. Sexuell
„eingefärbte“ Wünsche, Gedanken, Phantasien, welche ihren Ursprung im
Unbewussten haben, sind es, die gleichermaßen neurotisch Kranke wie charismatisch
Geniale in ihrem sozialrelevanten Verhalten ausmachen. Oder anders formuliert:
Neurosen und Psychosen sind die differenzialdiagnostischen Erscheinungsformen für
Außeralltäglichkeit in jeder Form, denn Außeralltäglichkeit wird nun einmal seitens
der sozialen Mitwelt, wenn sie diese nicht bewundert, immer verrechnet als
„Irrationalität“.
3. Die dritte Fundamentalannahme der Psychoanalyse betrifft die Gewichtung
primordialer
Wahrnehmungs-,
Erfahrungs-
und
Lernprozesse
für
die
sog.
„Persönlichkeitsentwicklung“. Und genau diese Fundamentalannahme ist nun von
kaum überschätzbarer Bedeutung für unseren Versuch, mittels der Aufdeckung der
Wurzeln der kognitiven Dynamik subjektiv sinnhaften sozialen Verhaltens zugleich
auch die eingangs bereits vorgestellte Kernfrage einer allgemeinen empirisch
falsifizierbaren Theorie des Sozialisationsgeschehens zu beantworten. Sie wurde
seinerzeit nicht als skandalös empfunden und besagt, dass insbesondere die frühe
Kindheit eines Menschen von ausschlaggebender Bedeutung für die spätere
Handlungsdynamik sei. Insofern ist sie sogar fast schon eine Trivialität. Erst in
Verbindung mit der zweiten Grundannahme erzeugte sie allgemeine Empörung: Der
Mensch ist qua organismischer Daseinsform bereits im frühsten Kindesalter ein
wesentlich sexuell getriebenes Wesen, welchem erst im Verlaufe vornehmlich der
frühkindlichen Phase des Lerngeschehens so etwas wie „Sozialverträglichkeit“
231
beigebracht wird. Die Sexualität, so argumentierte Freud, erwache keineswegs erst
mit der in der Pubertät sich entwickelnden hormonellen Reifung, sie sei vielmehr
konstitutives Moment auch und gerade der Reifungsphasen in den ersten
Lebensjahren, in denen ganz bestimmte Bereiche des endokrinologischen Systems,
wie man damals glaubte, schlichtweg noch gar nicht vorhanden wären: Ebenso wie die
Kompetenz sprechen zu können, nicht gelernt werden muss, ebenso muss der
menschliche Organismus die Sexualität als solche nicht lernen. Sie ist, wenn mir diese
Wortschöpfung erlaubt ist, primartriebstrukturell. Lernen muss das Kind allerdings –
und genau hier liegt natürlich die Bedeutsamkeit der Psychoanalyse für die (mögliche)
Konstruktion einer Theorie des Sozialisationsgeschehens –, die Voluptativstrukturen,
die sein primartriebstrukturelles Motivgeschehen ausmachen, in ein sozial
überlebensfähiges Verhältnis zu bringen, sie in „Einklang“ zu bringen mit den
komplexen Erfordernissen der externen Realität. Dem sog. „Ich“ kommt ja
bekanntlich in den späteren Phasen der Verhaltensdynamik eines Individuums genau
diese Funktion zu: Lernen muss ein sozial handlungskompetenter Organismus im
Zuge
seiner
„Ich-Werdung“
zusammen
mit
der
„Beherrschung“
seines
Triebgeschehens die Ausbildung eines „mit sich identischen Selbst“, welches in den
nachfolgenden Stadien des Sozialisationsprozesses in der Lage ist, situationsadäquat
und in genau diesem Sinne rational zu handeln. Und genau dafür muss ein solches
menschliches Individuum eben die Methode beherrschen, in beliebigen Konfliktlagen
und angesichts noch so komplex erscheinender „Realitäts- und Rollenzumutungen“
jederzeit seine Identität neu konstruieren zu können. Die „sozialverträgliche
Handhabung“ der Sexualität ist so eine Funktion des Erwerbs derjenigen
Kompetenzen, die in den primordialen Sozialisations- und Enkulturationsphasen eines
menschlichen Lebens ihr Fundament haben. Und es ist aus diesem Blickwinkel ja
sonnenklar, dass und inwiefern die sozialstrukturelle Beschaffenheit der familialen
Mitwelt eines Kleinkindes von entscheidender Bedeutung ist, womit wir wiederum bei
der Soziologie wären.
4. Es gibt noch eine vierte Fundamentalannahme der Psychoanalyse, die im Hinblick
auf die moralphilosophischen Grundlagen pädagogischen Denkens letztendlich
mindestens genauso skandalös ist wie die anderen der bereits genannten, die jedoch in
diesem Umfang bzw. in diesem Ausmaß zunächst einmal nicht als skandalös
empfunden worden ist. Es handelt sich dabei um die psychoanalytische Leitregel des
methodologischen Determinismus. Freud selbst spricht in seinen „Vorlesungen zur
232
Einführung in die Psychoanalyse“ in diesem Zusammenhang von der „Illusion“ der
psychischen Freiheit (S.70) und nennt diese (S.121) den „tief wurzelnden Glauben an
psychische Freiheit und Willkürlichkeit ...., der aber ganz unwissenschaftlich [sei] und
der vor der Anforderung eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus
die Segel streichen“ müsse. Mit genau dieser „Leitregel“ haben wir dann unsere liebe
Not, sieht sie doch im diametralen Gegensatz zum Handlungskonzept, welches ja
gerade die Fähigkeit zur freien Entscheidung bei gegebenen Wahlalternativen
postuliert, ja postulieren muss, wie wir angesichts der weiter unten zu behandelnden
„Rationalitätskataloge“ sehen werden. Unschwer ist zu sehen, dass aus diesem
Blickwinkel unser gesamter Ansatz ebenso vom Kollaps in den Selbstwiderspruch
bedroht ist, wie ich ihn eingangs dem Resch’schen „Lehrbuch“ vorgerechnet habe.
Halten wir zunächst einmal diejenige zentrale These der Psychoanalyse fest, die wir für den
Aufbau einer psychiatrisch interessanten Sozialisationstheorie dringlichst benötigen:
Die unbewussten Vorgänge, welche, da sie die Tiefendimension des Verhaltens ausmachen,
das subjektiv sinnhafte und damit das zumindest der Möglichkeit nach rationale
Sozialverhalten „störend“ bzw. „verstörend“ beeinflussen, sind die, sozusagen die
gegenwärtigen Bewusstseinsvorgänge, das Wahrnehmungsgeschehen wie auch die sichtbare
Handlungsdynamik
„einrahmen“,
„einfärben“,
„steuern“.
Sie
stammen
aus
der
Entwicklungsphase der Persönlichkeitsstruktur, in welcher sie die einzige Art von seelischen
Vorgängen waren: aus der Phase der frühsten Kindheit.
Da die Psychoanalyse – zumindest ihrem Anspruch zufolge – so einen Kausalzusammenhang
postuliert zwischen den Erlebnis- und Erfahrungsgehalten eines einstmals sehr wohl zu
subjektiv sinnhaftem Sichverhalten disponierten Individuums in der frühen Kindheit und
dessen tatsächlicher hic et nunc beobachtbarer pathologischer Verhaltensdynamik, verfügt sie
virtuell über die methodischen Instrumente, die erforderlich sind, um pathogenetische
Vorgänge in einer – zumindest im Prinzip möglichen – empirisch überprüfbaren Art und
Weise rekonstruieren zu können. Dezidiert bezieht sich nämlich die Psychoanalyse auf die
(möglichen) Wurzeln subjektiv sinnhaften (sozialen) Handelns und gestattet so u.U. Einblicke
in jene ausgesprochen schlechten „Startbedingungen“ in der primordialen Sozialisationsphase
eines menschlichen Wesens, die dessen (gegenwärtige pathologische) kognitive Dynamik
geprägt haben könnten. Sie lieferte so ja vielleicht auch ganz bestimmte Erklärungen dafür –
wäre mithin also auch sozusagen „ätiologisch kompetent“ –, dass bei ganz bestimmten
233
Individuen mit ganz bestimmten problematischen Startbedingungen ganz bestimmte Formen
von Identitätskrisen mehr und mehr maligne Gestalt annehmen mussten und folglich sodann
auch dergestalt in ganz bestimmte identitätskritische Dauerzustände übergegangen sind, das
über kurz oder lang eben auch die ursprünglich durchaus auf Rationalität hin angelegt
gewesene Kognitivdynamik des Handelns dieses Menschen erodierte.
7. Devianzformen – Eine fundamentale Differenzierung
7.1. Das Kriterium der (gegenwärtigen) Moral- und Rechtsordnung und die Formen
der Devianz
Es müsse, so hatte ich in der Einleitung hervorgehoben, in der hier vorgelegten Arbeit darum
gehen, die Begriffe „Identitätskrisen“, „Devianz“ und „soziale Kontrolle“ in ihrem
Bedeutungsgehalt so zu explizieren, dass sich dabei ein Erklärungsmodell ergibt, aus dem
sich empirisch überprüfbare Hypothesen ableiten lassen. Ein solches Modell habe, so wurde
ausgeführt, zunächst einmal und vor allem eine Differenzierung abweichenden sozialen
Verhaltens zu leisten. Gelänge es nämlich, den Bedeutungsgehalt der Begriffe
„Identitätskrise“, „Devianz“ und „soziale Kontrolle“ dergestalt präzise aufzuklären, dass sich
ein Erklärungsmodell für klinisch auffälliges abweichendes soziales Verhalten ergibt, dann
müsste sich – aus diesem Blickwinkel – im Hinblick auf die Ätiologie der sog. „Geistes- und
Gemütskrankheiten“ eine verbesserte Diagnostik und, bezogen auf diese, sodann auch eine
verbesserte therapeutische Methode ergeben.
Bereits aus dieser noch relativ abstrakt und allgemein gehaltenen Skizzierung der
Problemlage ergibt sich, was vor allem ein solches Modell zu leisten hätte: eine zumindest
ungefähre Charakterisierung psychiatrisch-therapeutischer Zielvorstellungen. Die damit
zusammenhängenden Fragen sollen zumindest ansatzweise in den folgenden Abschnitten
dieser Arbeit geklärt werden.
Differenzierung heißt zunächst einmal Klassifizierung. Weiter unten, wo ich die Methode der
idealtypologischen Konstruktion soweit wie möglich anschaulich machen werde, wird sich
dann zeigen, dass klassifikatorische Begriffskonstruktionen nur dann auch eine hinreichend
große Aussagekraft besitzen, wenn komparative Hypothesen formuliert werden können,
234
mittels derer sich die klassifikatorischen Kriterien genauer bestimmten lassen.189 Die in
diesem Zusammenhang zu diskutierenden begriffstheoretischen Probleme sind nicht ganz
einfach zu lösen. Das liegt daran, dass eine therapierelevante Symptomatologie genaue
klassifikatorische Zuordnungsprinzipien benötigt, dass jedoch die eigentliche theoretische
Grundlage
für
die
Konstruktion
klassifikatorischer
Systeme
immer
in
einer
erklärungskompetenten Theorie verankert ist, welche operative Begrifflichkeiten benötigt.
Entgegen weitverbreiteter Auffassung ist nämlich die Webersche „Idealtypologie“
keineswegs so klar, dass man sich ihrer ganz einfach bedienen könnte. Interessanterweise sind
diejenigen Probleme, die bereits Max Weber zur vollen Zufriedenheit nicht hatte lösen
können, auch in der neueren Wissenschaftslehre noch weitgehend ungeklärt.
An dieser Stelle jedoch geht es zunächst einmal ausschließlich um die klassifikatorische
Präsentation.
In den nachstehenden Abschnitten werden wir sodann die bereits in diesem Abschnitt
angeschnittenen Problembereiche noch wesentlich genauer analysieren. Der besseren
Übersicht halber liste ich jedoch bereits an dieser Stelle diese Problembereiche
schlagwortartig auf:
1. Das Begriffspaar „rational-irrational“, welches sich idealtypisch auf das sog. „Normal-Ich“
anwenden lassen muss, liefert zugleich die analytischen Möglichkeiten für eine systematische
Zerlegung von Verhaltensmodifikationen, die deren kognitiven Bereich betreffen: Das
„Normal-Ich“ ist ausgestattet – dies allerdings nur dann, wenn es die Hürden der primordialen
Sozialisation erfolgreich genommen hat – mit Rollendistanzkompetenz, kommunikativer
Kompetenz, sowie der Fähigkeit zu subjektiv sinnhaften Handeln, was immer die Fähigkeit
einschließt, angesichts stets neu sich stellender positionaler Zumutungen sowie der damit
vrbundenen Rollenerwartungen stets neu erforderlich werdende Identitätskonstruktionen
bewerkstelligen zu können. Die sog. Interaktivkompetenz, das ist die Kompetenz zur
virtuellen Rollenübernahme auch dann, wenn die Dimensionen der kommunikativen
189
Die Komparativierung von Begriffen, die der Deskription dienen, ist unabdingbares Erfordernis für die
Bildung von empirisch gehaltvollen Hypothesen, welche ja explanativ zur Verwendung gelangen sollen:
Eigenschaftszuschreibungen, wie z.B. die „kommunikative Kompetenz“, müssen komparativ abstufbar gemacht
werden können, sollen Korrelationen bzw. kausalhypothetisch interpretierbare Korrelationen formulierbar sein.
Bei solchen muss dann z.B. der Begriff der kommunikativen Kompetenz in einen operativen Begriff (ich benutze
hier die Homans’sche Terminologie) umgewandelt werden können. Wie wir vor allem in Abschnitt II. 8. anhand
des Begriffspaares „rational-irrational“ sehen werden, lassen sich nur so die Übergänge von den „bloßen
Definitionen“ zu den empirisch falsifizierbaren Hypothesen bewältigen. Wie sich zeigen wird, wird nur so auch
die Webersche Idealtypologie eigentlich als ein wirklich brauchbares Erkenntnisinstrument verständlich.
235
Kompetenz massiv eingeschränkt sind, darf uns selbstverständlich nur am Rande
interessieren, da sich hierbei eine sehr spezielle und deshalb schwierig zu bewältigende
Kasuistik von sozialstrukturellen Zusammenhängen ergibt.190
2. Makrosoziologisch haben wir uns hier mit dem derzeitig geltenden Moral- und
Rechtssystem zu befassen, denn in dieses „eingebunden“ sind die beiden wichtigsten Systeme
der sozialen Kontrolle, die sich selbst wiederum in mannigfaltige Teil- und Untersysteme
zerlegen. Diesen geht es ja nicht nur um Bewahrung bestimmter kultureller Werte, sondern
auch und gerade um deren Realisation. „Mündigkeit“, „Ich-Stärke“, „Selbstverantwortung“
etc. werden ja nicht nur seitens einer mehr oder weniger unverbindlichen Ethik postuliert,
vielmehr handelt es sich dabei um personalkonfigurative Werte, welche zu den Systemzielen
unseres gegenwärtig geltenden Moral- und Rechtssystems zählen und deren Realisation der
endogenen Dynamik z.B. von Strafjustiz und Psychiatrie überantwortet wird: Ihre Realisation
ist auf gar keinen Fall lediglich fakultativ. In genau diesem Sinne sind die „Funktionäre“
genau dieser beiden Systeme der sozialen Kontrolle aufgrund der ihnen qua Position
zugeschriebenen Rollen angehalten, sich streng wertrational zu verhalten: Den familialen
Funktionären unserer Sozialisationsagenturen (sog. „Eltern“) obliegt, da vor allen in ihren
Hände die Enkulturationsvorgänge gelegt sind, die Internalisierung der in unserer
Gesellschaftsordnung
herrschenden
Kulturwerte
der
„Mündigkeit“
und
der
„Selbstverantwortung“ etc. Den justiziären Funktionären (sog. „Organe der Rechtspflege“)
obliegt die doppelte Aufgabe des „Gemeinschaftsschutzes“ sowie der „Re-Integration“ bzw.
der „Re-Sozialisation“ delinquentgewordener Agenten unseres Gemeinwesens und den
„Gesundheitsfunktionären“, die sich grob in die Teilgruppe der für somatische Leiden
190
Das Beispiel der arbeitsproduktiven Integration der sog. „Gastarbeiter“ vornehmlich in den 60er und 70er
Jahren in der damaligen BRD, zeigt schlagend, dass aus den Funktionalerforderlichkeiten der seinerzeitigen
Fabrikarbeit ganz bestimmte, nämlich „interaktivkompetente“ Rollenanforderungen vorgegeben waren, denen
seitens „unserer“ Gastarbeiter natürlich genügt werden musste: Die in den damaligen deutschen
Produktionsprozess integrierten Arbeitskräfte, die aus den Ländern mit sehr unterschiedlicher Kultur und
Sprache rekrutiert worden waren, mussten natürlich insofern „interaktiv kompetent“ sein, als sie ganz sicher über
die Fähigkeit zu subjektiv sinnvollen sozialen Handeln verfügten. In Bezug auf den damaligen westdeutschen
„Sozial- und Lebensraum“ waren sie gleichwohl bezüglich ihrer kommunikativen Kompetenz restringiert,
brauchten sie doch bekanntlich noch nicht einmal der deutschen Umgangssprache mächtig zu sein. Das änderte
sich freilich, als mit zunehmender Automatisierung der Produktionsroutinen sich auch die Anforderungen des
Leistungsniveaus erhöhten: Wer „Einrichter“ oder gar Ingenieur werden wollte, musste für die hierfür
erforderlichen Schulungskurse naturgemäß auch über entsprechende Deutschkenntnisse verfügen, war also
gezwungen das Niveau seiner kommunikativen Kompetenz zu erhöhen. Interessanterweise wurde gleichwohl bei
Auftreten von „Delinquenz“ eine „Vollverantwortlichkeit“ postuliert, welche dem Delinquenten entsprechende
kommunikative Fähigkeiten zugestand. Mir kommt es hier lediglich auf die begriffliche Unterscheidung, nicht
jedoch auf die dabei ja auch involvierten Zusammenhänge zwischen „Interkulturalität“ und kommunikativer
Kompetenz an.
236
Zuständigen und in die Teilgruppe der für Mentalerkrankungen Zuständigen zerlegen lässt,
obliegt die Sorge für das Kulturgut „geistige und körperliche Gesundheit“. Vor allem die
zweite Teilgruppe unserer „Gesundheitsfunktionäre“ hat es mit denjenigen Formen der
„Devianz“ zu tun, bei denen die „Rationalitätskompetenz“ massiv beeinträchtigt ist.
3. Selbstverständlich bildet das, was wir hier grob die „gegenwärtige Moral- und
Rechtsordnung“ genannt haben, kein in sich logisch kohärentes System von Werten, Ideen,
Normen, und Rollenerwartungen mit entsprechender Verbindlichkeitsverpflichtung für alle
Mitglieder dieser Gesellschaftsordnung. Dazu sind sie ganz einfach in sich viel zu heterogen
und überdies ändern sich ja auch fortlaufend die jeweiligen „Akzentuierungen und Gewichte“
unserer Ideen und Werte nach Maßgabe differenzierter Sozial- und Kulturmilieus: sie sind
eben kulturell differenziert und historisch variabel. Dennoch – und darauf kommt es mir hier
wesentlich an – lässt sich zweifelsohne, was die Sozialisationszielvorgaben anbetrifft, die
praktisch alle im Rahmen unserer Rechtsordnung wirkenden Sozialisationsagenturen zu
beachten normativ verpflichtet sind, zumindest so etwas wie einen „gemeinsamen Nenner“
ausmachen, auf den sich die allen unseren Sozialisationsagenturen und Systemen der sozialen
Kontrolle gemeinsamen Legitimationshintergründe bringen lassen. Nur darauf kommt es mir
an dieser Stelle an.
4. Strafjustiz und Psychiatrie sind die uns hier am meisten interessierenden Systeme der
sozialen Kontrolle. Sie reagieren, so hatten wir gesagt, konfliktregulativ auf ein naturwüchsig
stets sich neu bildendes Universum von Devianzen. Und es muss uns selbstverständlich in
ganz besonderem Maße interessieren, wie sie das tun und welcher wissenschaftlicher
Hilfsmittel sie sich dabei bedienen. Jedenfalls haben wir es in diesem Zusammenhang grob
umschrieben zum einen mit einem Resozialisierungsauftrag, zum anderen mit einem
Therapieauftrag zu tun, eine Begrifflichkeit, die ja bereits von sich aus auf bestimmte
Techniken der Handlungs- und Verhaltensevaluation hindeutet.191
191
Die in der modernen Industriegesellschaft „verbandsmäßig“ organisierten Rechts- und Moralsysteme sind
die Bildnerinnen von Kulturwerten und sie fungieren in diesem Sinne als Systeme der sozialen Kontrolle und als
Sozialisationsagenturen sowie als Re-Sozialisationsagenturen. Allen Systemen der sozialen Kontrolle obliegt so
die Realisation bestimmter Kulturwerte, was selbstverständlich auch für dasjenige System der sozialen Kontrolle
gilt, welches „Familie“ genannt zu werden pflegt und welches sozusagen als primäre Sozialisationsagentur
fungiert. Primär deshalb, weil dieser Agentur die Realisation des Wertes „Individuum“ obliegt, ein „Wert“,
welcher sozusagen das „Material“ für die anderen Sozialisationsagenturen wie für die „regulierenden“ Systeme
der sozialen Kontrolle abgibt. Die „Familie“ stellt diesen Wert her und macht ihn den anderen Systemen der
sozialen Kontrolle verfügbar.
237
Dies sozusagen eine „Vorausschau“ auf die nachfolgenden Argumentationsschritte. In diesem
Abschnitt jedoch geht es mir zunächst einmal, wie bereits gesagt, um bloße Klassifikation.
Grob lassen sich die Formen abweichenden sozialen Verhaltens soziologisch in zwei große
Teilklassen zerlegen, deren „Behandlung“ in den Kompetenzbereich von genau zwei
komplexen und (in unserer Gesellschaft) perfekt durchorganisierten Systemen der sozialen
Kontrolle fällt:
a) delinquentes Verhalten, welches in den Kompetenzbereich der justiziären Systeme der
sozialen Kontrolle in „unserer“ Gesellschaft und
b) klinisch auffälliges Verhalten bzw. „krankhaftes“ Verhalten, welches in den
Kompetenzbereich der klinisch-fürsorgerischen Systeme der sozialen Kontrolle in
„unserer“ Gesellschaft fällt
Nach meinem Dafürhalten ist diese auf den ersten Blick eigentlich recht triviale
Unterscheidung seitens der psychiatrischen Fachliteratur viel zu sehr vernachlässigt worden,
ist sie doch bei genauerem Hinsehen alles andere als trivial. Wird nämlich der seitens unserer
großen sozialstrukturell dominierenden Systeme der sozialen Kontrolle öffentlich – das genau
heißt: politisch – definierte „Therapieauftrag“ unserer klinischen Institutionen zu sehr in den
Hintergrund gerückt, dann werden auch die normativ definierten Kriterien für das sog.
„normale Verhalten“ zu sehr abgeschattet und es wird sodann auch der folgende
Zusammenhang zu sehr vernachlässigt: Unsere derzeitig geltende Moral- und Rechtsordnung,
die, nebenbei gesagt, völlig unabhängig von dem „Verhalten“ der innerhalb ihres
Zuständigkeitsbereiches stehenden Agenten als ein objektiv bestehendes Normen- und
Wertgefüge, wie es so schön heißt, „in Geltung ist“, ermöglicht eine sehr präzise Festlegung
des Begriffs der „Mündigkeit“ – nämlich in Gestalt des Begriffs der „Strafmündigkeit“ –, und
dieser Tatbestand wird wiederum getreulich widergespiegelt zum einen mittels des
soziologischen Fachterms des sozialen Handelns, zum anderen mittels des psychologischen
Fachterms der Ich-Stärke, wodurch immerhin so etwas wie ein erster Zugang eröffnet wird zu
dem bekanntermaßen ausgesprochen prekären Problem einer scharfen Unterscheidbarkeit
zwischen den rationalen und den im eigentlichen Sinne irrationalen Formen des
abweichenden
Verhaltens:
Der
Begriff
der
„Ich-Stärke“,
hier
zunächst
einmal
arbeitsdefinitorisch gefasst als die „Kompetenz eines Individuums, die in seinem (bisherigen)
Sozialisationsprozess angehäuften, mithin also (gegenwärtig bewusst oder unbewusst) mental
238
repräsentierten gesellschaftlichen Anforderungen mit den je eigenen Triebansprüchen
realitätsadäquat und handlungsrelevant in Einklang zu bringen“, der sich ja problemlos
komparativ
fassen
lässt,
designiert
je
spezifische
Funktionsmöglichkeiten
bzw.
„Ausprägungsgrade“ realitätsadäquater Handlungsmuster von personalen Systemen. Justiziäre
Re-Sozialisierungsmaßnahmen müssen sich ebenso wie alle pädagogischen Institutionen
unserer Gesellschaft („Sozialisationsagenturen“) oder aber eben auch der therapeutische
„Eingriff“ in bestimmte Lebensverläufe an diesem „Leitwert“ für soziales Verhalten in ihrem
jeweiligen praktischen Prozedere orientieren.
Bezogen auf die Webersche Theorie des sozialen Handelns, lässt sich mithin das folgende
Anschauungsmodell konstruieren, jedoch ist dabei mitzubedenken, dass ein solches „Modell“
zunächst einmal lediglich eine klassifikatorische Bedeutung hat:
Soziales Handeln
Konformes
Handeln/Verhalten
A bw eichendes
Handeln/Verhalten
P olitische
Devianz
Delinquenz
Verw ahrlosungsdevianz
Innovation
Pathologische
Devianz
Tafelbild 2
Erläuterung:
Wir richten in dieser Arbeit unseren Blick vor allem auf das abweichende soziale Handeln
und nicht auf das konforme soziale Handeln. Es muss jedoch darauf aufmerksam gemacht
werden, dass es ja auch konforme Formen des Verhaltens gibt, die psychiatrisch interessant
sind oder sein können.192 Darüber hinaus unterscheiden wir an dieser Stelle ganz bewusst
nicht zwischen „Handeln“ und „Verhalten“.
192
Auf diese hat expressis verbis Kraus aufmerksam gemacht und so rollentheoretisch eine Symptomatologie
zu entwerfen versucht, die es gestattet, zwischen manisch-depressiven und psychotischen Verhaltensmustern zu
unterscheiden: Der Psychotiker tendiere zu realitätsfugativ-rollendiffundierenden Verhaltensmustern, der
239
Es handelt sich hier noch um ein sehr grobes Schema. Streng genommen müsste man,
wenn man konsequent handlungssoziologisch vorgehen wollte, außer der bereits erwähnten
Delinquenz sowie der pathologischen Devianz noch mindestens drei weitere Formen
abweichenden
Sozialverhaltens
unterscheiden:
die
innovatorische
Devianz,
die
„Verwahrlosungsdevianz“ und die politische Devianz. Auch und gerade aus dem Blickwinkel
einer streng soziologischen Betrachtungsweise vermeintlich genuin psychiatrisch auffälliger
Probleme müsste eigentlich sehr viel genauer auf diese Formen der Devianz eingegangen
werden, als dies hier geschehen kann. An dieser Stelle nur soviel dazu:
Genuin politische Formen abweichenden Verhaltens, für deren genaue Analyse vor allem die
Weberschen Forschungen zur Herrschaftssoziologie hinzugezogen werden müssten, sind
ebenso wie delinquente Formen der Devianz, für deren genaue Analyse vor allem die
Weberschen Forschungen zur Rechtssoziologie hinzugezogen werden müssten, Formen des
rationalen sozialen Handelns, bei denen die wesentlichen primordial erworbenen „IchQualifikationsfunktionen“ – das gilt vor allem für den Erwerb der bereits weiter oben
angesprochenen sog. „kommunikativen Kompetenz“ – erhalten geblieben sind. Allerdings
besteht natürlich zwischen Delinquenz und politisch motivierter Verletzung geltender
Normen ein Unterschied, der sich auf das Legitimitätsproblem und damit auf die Modalitäten
der kulturellen Systeme der makrosoziologisch zu interpretierenden gesellschaftlichen
Kontrollmechanismen bezieht: Während der politische Abweichler das den dominierenden
Systemen der sozialen Kontrolle zugrundeliegende Wertsystem als solches infrage stellt, tut es
der „Delinquenzler“ gerade nicht. Das genau macht den Unterschied zwischen krimineller
Aktivität und Widerstand aus: Während der „Widerständler“ darauf hinzielt, Proselyten zu
machen, rechnet der Dieb darauf – und muss dies tun! –, dass andere die Eigentumsordnung
nicht verletzen.
Gemäß dem hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellten Kriterium (Orientierung an der
gängigen rechtlichen Praxis) gehört das innovative Verhalten weder zum delinquenten noch
zum „klinisch auffälligen“ bzw. „krankhaften“ Verhalten. Es handelt sich dabei also aus
Manisch-Depressive hingegen mehr zur Rollenüberidentifikation. Unklar bei Kraus bleibt, ob er diese Einsichten
als Definitionen oder aber als empirische Hypothesen verstanden wissen will.
Zu den rollenfixativen Ritualen vgl. auch das bekannte von Robert Merton [Social Structure] entwickelte
Klassifikationsschema zum Anomieproblem: Ritualismus lässt sich rollentheoretisch zum einen mit dem Begriff
der „Rollenfixation“, zum anderen mit dem bereits erwähnten Kraus’schen Begriff der
„Rollenüberidentifikation“ fassen. Aus psychiatrischer Sicht scheint sich so ein Zusammenhang zu ergeben mit
der Symptomatologie der anankistischen Syndrome.
240
dieser Perspektive um eine sog. „Residualkategorie“. Dennoch beansprucht meine
Untersuchung eine systematische Verortung genau dieser Form von abweichendem
Verhalten, die hier freilich nur unzulänglich geleistet werden kann: Aus der Weberschen
„Kategorienlehre“ fällt zunächst einmal die „Innovation“ genannte Devianz heraus, hingegen
gewinnt sie systematische Bedeutung, wenn man, wie ich es in der vorliegenden Arbeit
versuche, mittels der Forschungsmethode der Psychoanalyse die sozialisationstheoretische
Dimension sozialen Handelns herausarbeitet, behauptet diese doch in ihrer zweiten
Fundamentalannahme, dass die sexuellen Triebregungen den Nährboden sowohl für die
Hauptformen der Mentalerkrankungen als auch für die höchsten geistigen Leistungen der
Menschen bilden. Wir sehen bereits hier, dass und inwiefern die psychoanalytische Heuristik
theoretisch kompetenter sein muss als die Webersche Kategorienlehre und dies zu zeigen, ist
auch der eigentliche Sinn der vorliegenden Arbeit: Identitätskrisen sind die strukturellen
Bedingungen der Möglichkeit für das Auftreten von Devianzen jeglicher Art, und wenn es
gelingt, eine Sozialisationstheorie zu entwickeln, die es gestattet, Identitätskrisen
differenzialdiagnostisch zu kategorisieren, dann müsste es auch möglich sein, die jeweils zu
erwartenden Formen der Devianz differenzialdiagnostisch zu behandeln.193
193
Zum Problem der innovatorischen Formen abweichenden sozialen Handelns verweise ich an dieser Stelle
auf die Forschungsprogramme meiner Kollegin Dietlinde Michael (Ästhetische Sensibilisierung und Erziehung
zur Mündigkeit) und meiner Kollegin Marina Demetriou (Die poetische Konstruktion der Wirklichkeit bei
Gottfried Benn. Studie zur kulturgeschichtlichen Signifikanz des sog. „Frühexpressionismus“.) Diese beiden
Arbeiten können als „komplementär“ zu dem hier vorgestellten Forschungsprogramm aufgefasst werden. Frau
Michael, die sich in diesem Zusammenhang ähnlich, wie ich es tun werde, auf die Gadamersche Idealtypologie
des „Gesprächs“ stützt, versucht nachzuweisen, dass eine jegliche auf „Mündigwerdung“ abzielende Pädagogik
konstitutiv angewiesen ist auf jene Klasse von „Zeigehandlungen“, die mittels des Terms der „Ästhetischen
Sensibilisierung“ zu umschreiben sind. Und Frau Demetriou zeigt an Hand einer texthermeneutischen Analyse
der „Morgue-Gedichte“ werkästhetisch auf, wie sich die nicht zuletzt auch berufsbedingte Identitätskrise eines
jungen Arztes aus dem bildungsbürgerlichen familialen Umfeld des preußisch-deutschen Kaiserreiches
(„lutherisch-protestantisches Pfarrhaus“) in Gestalt einer ganz bestimmten „poetischen Konstruktion der
Wirklichkeit“, nämlich fragmentarlytrisch, und damit wesentlich innovativ ausgewirkt hat: Die
texthermeneutisch als ein kohärentes Ganzes zu interpretierenden „Morgue-Gedichte“ repräsentieren das
paradigmatische Belegstück für die Konstruktion eines (fiktiven) sozialen Universums, ein lyrisches Ortsgefüge,
„in“ welchem sich der Dichter-Arzt Gottfried Benn in Gestalt „seines“ lyrischen Ichs selbst positional zu
situieren versucht hat. Frau Demetriou hat bereits jetzt überzeugend zeigen können, in welchem Umfange nicht
nur „poetische Formgestaltungskompetenz“, sondern überdies sogar poetologische Reflexionen –
metakommunikative Kompetenzen also – vonnöten sind, wenn der „Wille zur Gestaltung“ sich in benigne und
eben nicht in maligne „Wirklichkeitsverarbeitungsprozeduren“ ummünzen soll. Der Lebensverlauf des Gottfried
Benn scheint mir, wenn Frau Demetriou’s Thesen sich als tragfähig herausstellen sollten, ein ausgezeichnetes
Beispiel für die immer problematische „Gradwanderung“ zwischen au fond „innovativträchtigen“ und
„malignen“ Möglichkeiten der Identitätsstabilisierung zu sein: In der Zeit des Nationalsozialismus sind dann ja
auch gerade die „Morgue-Gedichte“, die bereits „bei ihrem Erscheinen nicht nur ein für die damalige Zeit
ungewöhnliches Aufsehen erregt, sondern überdies exorbitant heftige Abwehrreaktionen hervorgerufen haben“
(M. Demetriou), als besonders krasse Belegstücke „entarteter Kunst“ nicht nur verboten, sondern überdies als
Ausgeburten krankhaften Phantasierens perhorresziert worden. Zweifellos also gehörten zur ihrer Zeit
insbesondere die „Morgue-Gedichte“ Gottfried Benns zu derjenigen Klasse der von Redlich und Freedmann als
241
Auf ein weiteres Problem, welches das in dieser Arbeit zum Tragen kommende intime
Verhältnis von „Methodologie“ und „Inhalt“ (Gegenstandsbereich) betrifft, ist an dieser Stelle
zumindest aufmerksam zu machen: Ausgehend von der Weberschen „Begriffslehre des
sozialen Handelns“ wird auch die „Theorie der Elementarformen des sozialen Verhaltens“
von G.C. Homans im Hinblick auf ihre Aussagenstruktur nach zwei Gesichtspunkten hin
betrachtet werden müssen. Es muss scharf unterschieden werden zwischen „quasiaxiomatisch“ gesetzten Grundannahmen einer theoretischen Konzeption und deren empirisch
falsifizierbaren Haupthypothesen. Ein bloß klassifikatorisches Schema repräsentiert diese
fundamentale Unterscheidung nur sehr unzulänglich. Die als empirisch falsifizierbare
Hypothesen formulierten „Lerngesetze“ des sozialen Verhaltens machen nämlich nur Sinn
unter der Prämisse, dass ganz bestimmte und eben nicht falsifizierbare „Grundannahmen“
gelten.
Dieses
methodologische
Instrument
–
Zerlegung
in
nicht
falsifizierbare
Grundannahmen und erklärungskompetente, weil falsifizierbare Hypothesen – benötigen wir,
um wichtige Überschneidungen der Weberschen „Begriffslehre“ mit der Homans’schen
Theorie der „Elementarformen des sozialen Verhaltens“ herausarbeiten zu können. Sie
betreffen vor allem Fragen des Rationalitätsproblems. Die Homans’schen Grundannahmen,
sich erklärtermaßen auf Elementarformen des sozialen Verhaltens beziehend, sind nämlich –
wie ich meine: bezeichnenderweise – deckungsgleich mit den Grundannahmen der
Weberschen „Begriffslehre“. In dieser Beziehung von entscheidender Bedeutung – gemeint
ist das Rationalitätsproblem – ist die Homans’sche Grundannahme, die sich auf die
Kompetenz eines – im Weberschen Sinne – „mündigen“ Individuums bezieht,
Handlungsalternativen wahrnehmen zu können. Floride Formen insbesondere des
schizophrenen Formenkreises sind nämlich genau dazu unfähig. Handlungsalternativen kann
ein menschliches Individuum dann und nur dann wahrnehmen, wenn es über ein Minimum an
Kompetenzen
zur
Unterscheidung
zwischen
kommunizierten
Inhalten
und
metakommunikativem Bezug verfügt: Das Spielverhalten des kleinen Kindes mag noch so
sehr, wenn eben das Kind sich von „seinem“ Spiel gefangen nehmen lässt, den hier gemeinten
„abnorme, subnormale, unerwünschte, inadäquate, unangemessene, unangepasste oder fehlangepasste“
beschriebenen „Verhaltensweisen, deren gemeinsames Kennzeichen es ist, dass sie zu den Normen und
Erwartungen des sozialen und kulturellen Systems, dem der Patient angehört, im Widerspruch stehen.“ War aber
Gottfried Benn tatsächlich auch „unfähig“, seine „innere und äußere Realität angemessen zu bewältigen und
[seine] sozialen Beziehungen konstant und adäquat zu organisieren“? War er tatsächlich außerstande, sich sozial
oder sexuell oder im Beruf gemäß den Erwartungen [seiner] Umwelt zu betätigen“? Litt er etwa und „[machte]
andere leiden“? Man sieht zweifelsohne das Problem, um das es hier geht. Ich werde noch ausgiebig hierauf
zurückkommen. Die Zitate an dieser Stelle alle aus dem „Redlich-Freedman“.
242
Unterschied verwischen. Lernt das Kind aber den Unterschied tatsächlich irgendwann nicht,
dann ergibt sich sozusagen eine Einbahnstrasse zu den genuin malignen Identitätskrisen. 194
Das Schema orientiert sich, weil es zunächst einmal nicht „psychiatrisch“ sondern streng
soziologisch „gebaut“ ist, an der gängigen rechtlichen Praxis, das bedeutet:
Wird ein Individuum in der Form sozial auffällig, d. h. verhält es sich in der Form
abweichend, dass seitens unserer Systeme der sozialen Kontrolle der Verdacht ausgesprochen
wird, es liege eine Straftat vor, dann muss als erstes geklärt werden, ob das Individuum
schuldhaft gehandelt hat oder nicht. Um dies zu können, muss die Schuldhaftigkeit des
Individuums, welches abweicht, festgestellt werden. Es muss festgestellt werden, ob das
betreffende Individuum für sein abweichendes Verhalten verantwortlich gemacht werden
kann. Stellt sich heraus, dass es nicht für sein Tun verantwortlich gemacht werden kann, so
wird es in den Kompetenzbereich der medizinisch – psychiatrischen Betreuung überstellt,
denn die Gesellschaft, in der wir leben, geht mit Delinquenten anders um als mit psychisch
Kranken.195
Wofür ist diese hier angesprochene Unterscheidung von bedeutender Wichtigkeit? Vor allem:
Was hat diese Unterscheidung mit unserem Gegenstand des Identitätsproblems zu tun?
194
Streng genommen lernt ein solches Kind dann nicht eine der wichtigsten Voraussetzungen für die
Fähigkeit zur personellen Identitätskonstruktion. Diese empirische Hypothese ist abgeleitet aus den
seinerzeitigen Befunden des wesentlich kognitivistisch ausgerichteten „Double-Bind-Paradigmas“, wie sie in
dem Sammelband „Schizophrenie und Familie“ zusammengestellt worden sind. Eine konsequent vom
rollentheoretisch-soziologischen „point of view“ durchgeführte texthermeneutische Feinanalyse der dort
zusammengestellten Befunde stellt zwar ein dringliches Desiderat dar, müssen wir uns gleichwohl in der
vorliegenden Untersuchung leider versagen. Für eine solche Untersuchung müsste sehr viel intensivere
methodologische Vorarbeit geleistet werden im Hinblick auf eine mögliche „Amalgamierung“ von „Freud“,
„Weber“ und den sog. kognitiven Lerntheorien. In der projektierten Arbeit meiner jungen Kollegin Janna
Rinderknecht, die erst kürzlich Mitglied des „Dossenheimer Kreises“ ist und deren methodische wie
methodologische Ausbildung sehr viel intensiver als die meinige ist, wird genau dieses Problem behandelt
werden.
195
Dies muss hier explizit betont werden, denn bekanntlich ist in der Zeit des Nationalsozialismus dieser
Unterschied aufgeweicht worden – ein wesentlicher Unterschied zwischen dem NS-Rechtssystem und dem
unsrigen: Psychisch Kranke und delinquent Gewordene verfielen dem gleichen Verdikt des „Asozialen“.
Zur totalitären Aufweichung rechtsstaatlichen Denkens und damit zur „Psychiatrisierung“ insbesondere der
Strafjustiz im Nationalsozialismus vgl. die im Rahmen der „Dossenheimer Forschungsgruppe“ betreute
Habilitationsschrift von G. Werle [Verbrechensbekämpfung].
243
Eine genuin soziologische Reformulierung psychiatrischer Probleme hat die Aufgabe,
aufzuzeigen, nach Maßgabe welcher Kriterien in unserer Gesellschaft ein Individuum,
welches sich deviant verhält, dem Kompetenzbereich der Jurisprudenz oder dem der Medizin
zuzuweisen ist bzw. zugewiesen zu werden pflegt. Hierbei müsste dann der Begriff der
„Mündigkeit“ als Kriterium explizit in den Mittelpunkt gestellt und mit dem Weberschen
Konstrukt des „kompetenten sozialen Handelns“, welches selbst wiederum wesentlich mit
dem Rationalitätskonstrukt konnotiert ist, in Beziehung gesetzt werden.
An dieser Stelle halte ich zunächst einmal fest: Mündigkeit, soziale Handlungskompetenz
sowie kommunikative Kompetenz überschneiden sich in ihren semantischen Kerngehalten,
wenn man dabei auf die Grundannahme zurückgreift, dass diese drei Fähigkeiten wesentlich
assoziiert sind mit der Kompetenz zur Wahrnehmung eventueller Handlungsalternativen und
damit trivialerweise zur simulativen Beurteilung eventueller Handlungskonsequenzen.196
Dann nämlich, und nur dann, gilt auch die Erweiterung des Konstrukts der
Handlungskompetenz durch den weiter oben bereits erörternden „Kostensatz“. Kompetent in
diesem Sinne kann freilich ein „Individuum“ nur dann sein, wenn es mit Erfolg seine Lektion
in der Ausbildung ganz bestimmter Ich-Funktionen und damit zum einen seine Lektion in
„Metakommunikation“, zum anderen „seine“ Methode der Identitätskonstruktion gelernt hat:
Ein Kind muss sozial lernen, zwischen dem was es sagt bzw. sagen will und dem Modus zu
unterscheiden, in welchem gesagt wird, was es sagen will. Und hierfür muss es gelernt haben,
virtuell seine Identität konstruieren zu können. Man kann in diesem Zusammenhang von dem
„Sozialisationsnadelöhr der Realitätsprüfung“ sprechen, durch welches ein Sozialisand nun
einmal „hindurch muss“, soll sein ihm „von Natur aus mitgegebenes“ Repertoire von
Verhaltensbereitschaften sich erfolgreich um die Dimension der Befähigung zu subjektiv
196
Vgl. hierzu die in Abschnitt II. 8. 2. vorgeführten Variationen des „Rationalitätskatalogs“, wo der
„Theoriekern“ genuin soziologisch gebauter Sozialisationsmodelle herauszuschälen versucht wird: die Relation
zwischen dem (primordialen) Erwerb der kommunikativen Kompetenz, der „auf Dauer gestellten“ Fähigkeit zur
kognitiven Bewältigung von Entscheidungssituationen und Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von
Rationalitätsprinzipien subjektiv sinnhaften sozialen Handelns. Wie wir sehen werden, gestaltet sich diese
Herausschälung eines solchen „Theoriekerns“ keineswegs einfach, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass um
der Transparenz der Argumentationsstruktur willen auf formalistische Vorgehensweisen verzichtet werden muss.
Später werden wir dann sehen, dass und inwiefern die Analyse der für „Normale“ konstitutiven Fähigkeit zu
meta-kommunikativen Deutungen situativ vorgegebener „Cues“ wesentlich von der Ausarbeitung eines solchen
„Theoriekerns“ abhängig ist. Und erst aus dieser Perspektive wird sodann auch Licht geworfen auf jenen
Übergang vom „bloßen Verhalten“ zu sinnhaftem sozialen Handeln, der sich in der Primordialphase jedweden
Sozialisationsgeschehens abspielt und der, wie die vorliegende Abhandlung behauptet nur und ausschließlich
mittels ganz bestimmter Theorieteile der psychoanalytischen Forschungsmethodik geleistet werden kann.
244
sinnhaftem Handeln bereichern, um so einen ganz anderen, ganz neuen Zugang zu seiner
sozialen Mitwelt gewinnen zu können.
–
Das
„Normal-Ich“
und
die
7.2. Zum
Problem
der
Irrationalität
psychopathologischen Erscheinungsformen von „Konformität“ und „Devianz“:
Selbstverantwortliches Handeln und zwanghaftes Verhalten
Der Weberschen Verstehenslehre zufolge sind die Affekte, welche rationales Handeln
verzerren gerade nicht im klinischen Sinne „irrational“, sie gehören vielmehr dem
verstehbaren Verhalten an. Bei den nachstehend vorgestellten „Rationalitätskatalogen“ ist aus
diesem Grunde immer mitzudenken, dass „Irrationalität“ – auch und gerade dann, wenn wir
uns mit Extremformen derselben im durchaus klinischen Sinne zu beschäftigen haben – nicht
automatisch der Gegenbegriff zum Rationalitätskonstrukt ist. Vielmehr geht es im Hinblick
auf die Formen irrationaler Verhaltensmuster immer um Struktur und Umfang der
Beeinträchtigung idealtypologisch konstruierter Rationalitätsprinzipien. Max Webers
„Verstehenslehre“ schließt deshalb als durchaus subjektiv sinnhaftes Verhalten die Formen
der Irrationalität ein, legt jedoch entschiedenen Wert darauf zu zeigen, dass die Extremformen
der Irrationalität generell aus dem Umkreis des verständlich Deutbaren herausfallen: Ebenso
wie die Webersche „Begriffslehre des (sozialen) Handelns“ keine Sozialisationstheorie ist, ist
sie selbstverständlich als solche auch keine Psychologie, und insofern „Psychologisches zur
Sprache kommt“ (Neid, Liebe, Stolz, Haß, Leidenschaftlichkeit, Eifersucht etc. etc.), kommt
es als etwas zur Sprache, was jedermann, der halbwegs seine fünf Sinne beieinander hat,
problemlos verstehend nachvollziehen kann, weil er die und ähnliches ja auch einmal „am
eigenen Leibe“ erfahren hat. Ganz bewusst habe ich hier auf einen umgangssprachlichen
Jargon zurückgegriffen, um die sog. „Affektstrukturen“ charakterisieren zu können.
Hinsichtlich einer adäquaten Behandlung des sog. „Irrationalitätsproblems“ gilt deshalb, wie
insbesondere der nächste Arbeitsschritt darzutun bemüht sein wird, das Webersche
idealtypologische Grundpostulat der „Verstehenden Soziologie“: Es ist prinzipiell unmöglich,
die Erscheinungsformen der Irrationalität – gleichgültig ob noch normal und verständlich oder
im klinischen Sinne pathologisch – beschreiben und erklären zu können, ohne zuvor ein
idealtypologisches Rationalitätssystem entwickelt zu haben. Hierbei wirkt sich sozusagen
erkenntnispraktisch aus, dass die arbeitsteilige Zerlegung der sozialwissenschaftlichen
245
Gegenstandsbereiche
ein
ausschließlich
erkenntnistheoretisches,
nicht
jedoch
ein
ontologisches Problem darstellt. Wir haben es hierbei tatsächlich mit der, wie Max Weber es
scharfsinnig ausgedrückt hat, „denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit“ zu tun.
Dass also beispielsweise zwischen „Handeln“ und „Verhalten“ scharf unterschieden werden
muss, ist ein idealtypologisches Postulat, welches ausschließlich den Sinn hat, Dimensionen
der sozialen Wirklichkeit erschließen zu können, die unserem Erkenntnisstreben ansonsten
verschlossen blieben.
Wie ein Blick auf das anschließend vorgeführte Tafelbild lehrt, muss aus dem Blickwinkel
der Methodik der sog. „Verstehenden Soziologie“, welche das Ausmaß der Beeinträchtigung
rationalen sozialen Handelns als „Irrationalität“ verrechnet, scharf unterschieden werden zum
einen zwischen den Klassen von „Beeinträchtigungen“, die noch zum „Normalbereich“ des
intuitiv Nachvollziehbaren gehören, zum anderen zwischen zwei Extremformen von
„Beeinträchtigungen“, die folglich extremtypologisch als im klinischen Sinne bedeutsam zu
umschreiben sind. Und der für uns interessante Punkt ist, dass die „Verstehenssoziologie“ als
solche eine derartige scharfe Trennung nicht vornehmen kann. Das eigentliche Problem in der
Methodik der sog. „Verstehenden Soziologie“ besteht darin, den Grenzbereich einigermaßen
klar beschreiben zu können, der sich zwischen „noch verstehbaren“ und nur noch
psychologisch erklärbaren Irrationalismen erstreckt. Zu mehr jedoch ist die Verstehenslehre
außerstande. Angesprochen hat Max Weber dieses Problem bereits in der „Kategorienlehre“
von 1913. Wir müssen sehen, dass es nicht zufälligerweise um „Grenzbereiche“ geht, bei
denen nicht immer scharf unterschieden werden kann, ob ein bestimmtes affektbesetztes
Verhalten noch psychologisch verständlich nachvollziehbar, oder aber bereits als
„unverständlich“ und damit als prinzipiell irrational einzuschätzen ist. Zu konstruieren ist
jedenfalls eine Menge von Verhaltensmustern, welche „uns“, die wir in einem bestimmten
Kulturraum aufgewachsen sind, „unverständlich“ oder gar als „abartig“ vorkommen, die
jedoch in anderen kulturellen Zusammenhängen als völlig normal oder eventuell sogar als
bewundernswert eingeschätzt werden. Gewiss liegt hier ein gleichfalls psychiatrisch sehr
kompliziertes Problem vor, welches Tellenbach in [Normalität] zwar angesprochen, jedoch
nicht gelöst hat.
Ich zitiere:
„Die spezifische Evidenz des zweckrationalen Sichverhaltens hat natürlich nicht zur Folge,
daß etwa speziell die rationale Deutung als Ziel soziologischer Erklärung anzusehen wäre. Bei
246
der Rolle, welche »zweckirrationale« Affekte und »Gefühlslagen« im Handeln des Menschen
spielen, und da auch jede zweckrational verstehende Betrachtung fortgesetzt auf Zwecke stößt,
die ihrerseits nicht mehr wieder als rationale »Mittel« für andere Zwecke gedeutet, sondern nur
als nicht weiter rational deutbare Zielrichtungen hingenommen werden müssen, - mag ihre
Entstehung als solche dann auch weiterhin Gegenstand »psychologisch« verstehender
Erklärung sein, - könnte man ebensogut das gerade Gegenteil behaupten. Allerdings aber
bildet das rational deutbare Sichverhalten bei der soziologischen Analyse verständlicher
Zusammenhänge sehr oft den geeignetsten »Idealtypus«: die Soziologie wie die Geschichte
deuten zunächst »pragmatisch«, aus rational verständlichen Zusammenhängen des Handelns.
Derart
verfährt
z.B.
die
Sozialökonomik
mit
ihrer
rationalen
Konstruktion
des
»Wirtschaftsmenschen«. Ebenso aber überhaupt die verstehende Soziologie. Denn als ihr
spezifisches Objekt gilt uns nicht jede beliebige Art von »innerer Lage« oder äußerem
Sichverhalten, sondern: Handeln. »Handeln« aber (mit Einschluß des gewollten Unterlassens
und Duldens) heißt uns stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen, sei es
auch mehr oder minder unbemerkt, »gehabten« oder »gemeinten« (subjektiven) Sinn
spezifiziertes Sichverhalten zu »Objekten«. Die buddhistische Kontemplation und die
christliche Askese der Gesinnung sind subjektiv sinnhaft auf für die Handelnden »innere«, das
rationale ökonomische Schalten eines Menschen mit Sachgütern auf »äußere« Objekte
bezogen. Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln nun ist im speziellen
ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das
Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf
mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar
ist. Subjektiv sinnhaft auf die Außenwelt und speziell auf das Handeln anderer bezogen sind
nun auch die Affekthandlungen und die für den Ablauf des Handelns, also indirekt, relevanten
»Gefühlslagen«, wie etwa: »Würdegefühl«, »Stolz«, »Neid«, »Eifersucht«.“197
Interpretation:
Ich habe dieses relativ lange Zitat gebracht, weil es mir aus mehreren Gründen
bemerkenswert erscheint.
Was fällt auf?
Weber, dem die stilistischen Mittel der deutschen Bildungssprache vorzüglich zur Verfügung
standen, schreibt hier einen Stil, der als ausgesprochen umständlich erscheint. Dies kann zwei
Gründe haben:
197
Weber [Kategorienaufsatz] Hervorhebungen mittels Unterstreichung durch mich Ch. K.
247
1. rein psychologische Gründe, als da sind: mangelnde Beherrschung des Stoffes, etc.
2. Weber betritt, wie anhand des Gadamerschen „Gespräches“ weiter oben demonstriert,
intellektuelles Neuland und nimmt aus diesem Grunde stilistische Unbeholfenheit in
Kauf, um der Erfassung der Sache willen.
Texthermeneutisch interessiert uns hier ausschließlich der zweite Aspekt. Schauen wir
daraufhin den Text genauer an.
Es sind zwei Problemklassen, die Max Weber in diesem Text in einem Argumentgang zu
bewältigen versucht. Zum einen das weiter oben beschriebene Problem des Grenzbereiches
von affektgeladener Handlungsoption und Irrationalität, zum anderen das Problem der
methodologischen Funktion des Idealtypus. Diese beiden Problemstränge sind durch
Interpretation zu entzerren, um so das von Weber in einem komplizierten intellektuellen
Verfahrensgang Entdeckte für die in dieser Arbeit interessierende Problematik fruchtbar zu
machen.
Es sind hierzu drei Aspekte, welche zunächst einmal festzuhalten sind: das Problem der
rationalisierenden Formen des Verstehens von Handlungen und Handlungszusammenhängen,
die Frage nach der Erkenntnisfunktion der konsequenten Rationalisierung in Gestalt von
idealtypologischen Konstruktionen und das Problem, ein zuverlässiges Kriterium zu
konstruieren, welches die noch psychologisch nachvollziehbaren „Gemütslagen“ von den
unverständlichen, da dem klinischen Bereich zuzuordnenden Irrationalismen zu unterscheiden
gestattet.
In expliziter Weise ergibt sich also:
1. Da jede Handlung objektbezogen bzw. intentional ist, ergibt sich bei jedweder Form
menschlichen Handelns notwendigerweise ein affektgeladenes Beiprogramm, welches
mit den jeweiligen Zielen des Handelns assoziiert zu sein pflegt. In der „historischempirischen Wirklichkeit“ gibt es keine menschlichen Handlungszusammenhänge, die
ausschließlich von Rationalitätserwägungen gesteuert sind. Eine in diesem Sinne
rationale Deutung realen Verhaltens als Ziel soziologischer Erklärung, würde die
Wirklichkeit, dass nämlich immer Gefühlslagen und Affekte in Form von Wünschen
oder Befürchtungen im Spiele sind, wenn es tatsächlich „um etwas geht“, permanent
verfehlen.
248
2. Dennoch hat die Reflexion der rationalen Fiktion für die Interpretation
affektgeladenen Handelns eine wichtige Erkenntnisfunktion: Wir könnten das Ausmaß
der durch Affekte verzerrten Zweckrationalität gar nicht abschätzen, wenn wir nicht
zuvor uns in Gestalt einer idealtypologischen Konstruktion vollständig klargemacht
hätten, wie die Handelnden sich verhalten würden, wenn alles streng rational ablaufen
würde.
3. Wir bewegen uns hier im Bereich des psychologisch Nachvollziehbaren. Das eingangs
beschriebene Problem einer wirklich präzisen Diskriminierung genuin irrationaler
Verhaltensmuster gegenüber den psychologisch verständlichen affektgeladenen
Gemütslagen wird jedoch nicht berührt.
Wir bemühen uns um eine Feininterpretation der Textstelle im Lichte unserer bisherigen
Arbeitsergebnisse und fragen mit Max Weber, ob nicht unter Umständen „die rationale
Deutung als Ziel soziologischer Erklärung anzusehen“ ist. Würde dies der Fall sein, so würde
das bedeuten, dass es bei der Interpretation aller empirisch aufweisbarer Handlungsvollzüge
letztendlich darum gehen muss, implizites oder explizites rationales Handeln zu unterstellen.
Bekanntlich verfahren einige Historiker genauso: Sie zeigen, wenn sie sich um Erklärungen
bemühen, dass bei einer historisch bedeutsamen Handlungskonfiguration letztlich alles so hat
kommen müssen, wie es dann auch gekommen ist. Die dabei zu konstruierenden
Kausalzusammenhänge pflegen zumeist hierbei rationalisierend „zurecht gebogen“ zu
werden. Diese der Erzähllogik innewohnende „retrospektive Rationalitätskonstruktion“ ist
Bestandteil sehr vieler Geschichtserzählungen, die der historischen Mannigfaltigkeit Gewalt
antun, indem sie dieser eine Rationalität unterstellen, die sie in Wahrheit natürlich nicht
gehabt hat. Sehr viele Zeugenaussagen, ja überhaupt die meisten Erzählungen, konstruieren
im Nachhinein eine „Logik der Ereignisse“, bei der immer nur aufgezeigt wird, dass es
genauso hat kommen müssen, wie es dann gekommen ist. Dergestalte „Erklärungen“ sind
empirisch völlig gehaltlos: In [Narratives Paradigma] ist diese Erklärungslogik als „Ex-postfacto-Erklärung“ beschrieben worden, und es konnte gezeigt werden, dass genau so die
zirkulären Erklärungen gebaut sind. Im Nachhinein wird eine Rationalstruktur in die
Ereignisse hineinprojeziert, ein entsprechendes Schema konstruiert, und es wird sodann im
Lichte dieser Projektion nur das an den Tatsachenzusammenhängen selektiv beschrieben, was
249
zu diesem Schema passt. Die meisten konspirationstheoretischen Deutungen operieren mit
solch einer Logik.198
Wie auch immer.
Weber weist mit Recht daraufhin, dass man auch genau umgekehrt verfahren kann: Ziel
soziologischer Erklärung wäre es dann, die normale Affektbetontheit allen Handelns
hervorzuheben, um so zeigen zu können, dass sich überhaupt keine soziale Ordnung bilden
kann. Auch dieses Argument lässt sich leicht ad absurdum führen: Würde die soziale
Wirklichkeit vollständig chaotisch verlaufen, so wäre das Ausmaß von relativer Geordnetheit,
auf das wir uns bei unserem Planen und Handeln alltäglich stützen müssen, schlicht
unerklärlich.
Es ergibt sich mithin die Frage, welche Erkenntnisfunktion der rationalen Deutung von
Handlungen, von Handlungszusammenhängen zukommt.
Völlig richtig weist Weber daraufhin, dass Soziologie und Geschichtsschreibung „zunächst
pragmatisch“ d.h. „aus rational verständlichen Zusammenhängen des Handelns“ deuten.
Diese
pragmatische
Interpretation
ist
das
wichtigste
Hilfsmittel,
um
überhaupt
Zusammenhänge einigermaßen kohärent darstellen zu können, ohne konspirationstheoretisch
zu werden. Dies bedeutet:
1. Es muss die Situation rekonstruiert werden, in der sich der Handelnde befand bzw. vor
die er sich gestellt sah und die ihm ganz bestimmte Probleme bereitet hat. Diese
zumeist retrospektiv dargestellte „Logik der Situation“ ist in der Tat vom Betrachter
objektiv darlegbar, indem man den eigentlichen Problemkern, vor den jeder sich
„normalerweise“ gestellt sieht herausarbeitet. Als typisch für eine solche
Rekonstruktion einer Situationslogik gilt die klassische Schlacht: Kennen wir die
geographischen Verhältnisse, Truppenstärke, Bewaffnung usw., so können wir
ungefähr abschätzen, wie groß die Chancen sind, dass der Feldherr A oder der
Feldherr B die Schlacht gewinnt.
2. Wir können uns also fiktiv in die Lage eines solchen Feldherren versetzen und können
so „durchsimulieren“, wie die Schlacht hätte verlaufen müssen, wenn den Beteiligten
alle diejenigen Informationen zur Verfügung gestanden hätten, die uns, die wir das
Schlachtergebnis kennen, zur Verfügung stehen. Man muss also fiktiv unterstellen,
198
Porath hat diesen Bereich als die „Kernproblematik der Historischen Forschungslogik“ beschrieben und
so die Frage gestellt, wie angesichts unserer normalen Tendenz, „die Vergangenheit nach Maßgabe des uns
selbstverständlich Gewordenen“ zu beschreiben, überhaupt historische Objektivität möglich sei.
250
dass sich jemand einer Logik bzw. den Erfordernissen genau dieser Situation
angemessen völlig zweckrational verhält. Das aber heißt: Man muss die Frage zu
beantworten versuchen, wie sich der Betreffende hätte verhalten müssen, wenn er
völlig rational hätte handeln wollen und können. Bei dieser „Berechung“ läuft alles
nach einer fiktiven Logik ab, jedoch wissen wir natürlich, dass sich in Wirklichkeit die
Dinge nie so verhalten, wie es unser Kalkül erfordert.
3. Der dritte Schritt ist nun der wichtigste, jedoch muss uns bewusst sein, dass wir ihn
überhaupt nicht gehen könnten, wenn wir die ersten beiden Gedankenschritte nicht
gemacht hätten. Dieser dritte Schritt besagt, dass nunmehr die Beeinträchtigung des
(fiktiven) rationalen Handelns durch „Affektverzerrung“ abzuschätzen ist: Eigentlich
hätte der XY sich in dieser Situation, wenn er sich völlig rational hätte verhalten
können und wollen, so und so verhalten müssen. Da er jedoch „blind vor Hass, Liebe
und Eifersucht“ war, hat er sich tatsächlich folgendermaßen verhalten und z.B. die
Schlacht in den Sand gesetzt.
Zu Recht verweist Max Weber auf das Lehrbeispiel der Sozialökonomie, die mit einem
sozusagen affektfreien „homo oeconomicus“ arbeitet, um real ablaufende Wirtschaftsverläufe
beschreiben und erklären zu können. Hier ist jedoch nur ins Extrem getrieben („idealtypisch
konstruiert“), was für jede Form des Handelns gilt. Wir sollten hierbei durchaus sorgfältig
verfahren, um klarzumachen, welche Funktion der Konstruktion möglichst reiner Typen für
die Erfassung der empirischen Wirklichkeit zukommt. Denn die Formel bei Max Weber
besagt, dass es um „subjektiv sinnhaftes“ Handeln geht. Auch hierbei ein Beispiel:
Ein Geschäftsmann will ein größeres Geschäft abschließen, hat seine Ressourcen korrekt
berechnet und steht nunmehr vor der Entscheidung, ob er die endgültige vertragliche
Regelung unterzeichnen soll oder nicht. Wir wählen zwei Typen von Geschäftsleuten: Einen
extrem gläubigen Katholiken und einen extrem gläubigen Calvinisten. Der Katholik hält es
für subjektiv geboten, d.h. vernünftig, zwecks glücklichen Gelingens eine Kerze anzuzünden
und seiner Kirche einen größeren Betrag zu spenden. Außerdem betet er natürlich heftig, um
so Gott Vater milde stimmen zu können. Es gehört zu den Glaubensüberzeugungen dieses
Mannes, dass Gebet und Opfer wesentliche Bestandteile vernünftigen Handelns sind. Sehen
wir also den Katholiken sich so verhalten wie er sich verhält, so handelt er subjektiv sinnvoll,
da in Übereinstimmung mit seinen Glaubensüberzeugungen.
Wie sieht die Sache für den Calvinisten aus?
251
Für diesen sind die religiösen Handlungen des Katholiken schlicht sündhaft, da hierbei der
Versuch gemacht wird, den allmächtigen Gott zu bestechen. Dass der radikale Calvinist auf
diese Hilfsmittel verzichtet, ist im Rahmen seiner Glaubensüberzeugung vernünftig und
sinnvoll: Die Kerze ist Hokuspokus, das Gebet ein unzulässiger Bestechungsversuch und der
Betrag den er seiner Kirche stiftet hat bestenfalls die Funktion das eigene schlechte Gewissen
zu beruhigen.
Ich habe dieses Beispiel gewählt, um zu zeigen, dass beide aus ihrem jeweiligen Blickwinkel
heraus durchaus zweckrational handeln.
Was wäre nun in diesem Zusammenhang irrational?
Das wird deutlich, wenn wir das Beispiel des Calvinisten nehmen, der im letzten Moment vor
dem Geschäft sozusagen „Angst vor der eigenen Courage bekommt“ und eben doch zu den
Hilfsmitteln greift, die er eigentlich als konsequenter Calvinist als abergläubisch ablehnen
müsste. Hierbei wird durch die plötzlich auftretende Angst („Affektgeladenheit“) das
eigentlich zu erwartende Handeln beeinträchtigt. Für unsere Fragestellung ist hierbei von
Wichtigkeit, dass wir die plötzliche Angstanwandlung des Calvinisten durchaus verstehen
können, ist doch ein konsequenter und hartgesottener calvinistischer Geschäftsmann (ein
reiner Typus) vermutlich genauso selten wie ein Kalb mit zwei Köpfen. In genau diesem
Sinne ist die obige Textstelle zu verstehen: „Subjektiv sinnhaft auf die Außenwelt und
speziell auf das Handeln anderer bezogen sind nun auch die Affekthandlungen und die für den
Ablauf des Handelns, also indirekt, relevanten »Gefühlslagen«, wie etwa: »Würdegefühl«,
»Stolz«, »Neid«, »Eifersucht«.“
Man sieht, dass die Textstelle so keine großen gedanklichen Schwierigkeiten bereitet:
„Normale“ Gefühlslagen, die wir alle aus eigener Erfahrung kennen, beeinträchtigen
fortlaufend irgendwelche rational durchkonstruierten Pläne und Handlungen. Ja wir können
sogar soweit gehen zu sagen, dass jemand, der in idealtypischer Reingestalt in geradezu
perfekter Form in jeder Situation sich rational zu verhalten versucht und in dieser Beziehung
fortlaufende Perfektion anstrebt, psychopathologisch genauso verdächtig ist, wie derjenige,
der sich vollständig seinen Triebregungen und seinem Wunschdenken hingibt und sozusagen
immer „aus dem Bauch heraus“ entscheidet.
Worauf es mir hier ankommt ist folgendes: Die Weberschen „Gefühlslagen“ beeinträchtigen
also die jeweilige idealtypisch konstruierte rationale Handlungsweise. Schauen wir jedoch
hier noch etwas genauer hin, so stoßen wir auf Schwierigkeiten, die den weiter oben bereits
252
angedeuteten „Grenzbereich“ zwischen verständlichen Gefühlslagen und möglichen
psychopathologisch auffälligen Handlungsmustern betrifft. Auch hierfür versuchen wir uns in
einem Fallbeispiel:
Jemand hat einem anderen all sein Hab und Gut überschrieben, weil er diesen anderen
abgöttisch liebt. Natürlich nehmen wir an, dass er dies vor allem deshalb getan hat, weil er
den anderen auf irgendeine Weise dazu veranlassen wollte, ihn ebenfalls zu lieben. Objektiv
ist diese Handlung allerdings irrational. Stellt sich nämlich heraus, dass seine Rechnung nicht
aufgeht, zeigt sich, dass es ein Fehler war, alle seine Trümpfe aus der Hand zu geben. Und in
der Tat: Nachdem er dem Objekt seiner Liebe alles überschrieben hat, versetzt dieser andere
ihm einen Tritt. Gemessen an dem Vernunftmaßstab, ist seine Verhaltensweise irrational
gewesen. Dies ist jedoch nicht der Aspekt der uns hier interessiert. Das sieht man daran, dass
sehr wohl noch andere Deutungen möglich sind: Nehmen wir an unser Liebender, der, wie
man so schön sagt, mit seiner hingebungsvollen Liebe bzw. mit seiner Berechnung so
schlimm auf die Nase gefallen ist, zeigt im Nachhinein nicht das geringste Bedauern. Dann
kann es sehr wohl sein, dass er einem ganz anderen Liebesideal frönt, einem Ideal, welches
bedingungslose Liebe mit Selbstaufopferung und völliger Hingabe bei konsequenter Absage
an irgendwelche selbstsüchtigen Interessen gedanklich verknüpft. Weil seine Liebe so groß
war, war es subjektiv sinnvoll, dem geliebten Anderen alles zu geben. In diesem Fall ist ja
sogar unwichtig, wer oder was charakterlich „der andere“ in Wirklichkeit ist. Der Betreffende
handelte ganz einfach gemäß der „Maxime seines Wollens“, dass wahre Liebe in
konsequenter Selbstaufgabe bestehe, die nichts für sich wolle. Hierbei ist restlos alles davon
abhängig, welchen Maßstab man anlegt. Legt man den Maßstab des gesunden
Selbstinteresses an, so hat der Betreffende irrational gehandelt. Hierbei jedoch wäre dieser
Maßstab völlig unangebracht, ist doch das subjektive Weltbild unseres hingebungsvoll
Liebenden in sich völlig stimmig, da in Übereinstimmung mit den Grundauffassungen dessen,
was für ihn „wahre Liebe“ heißt. Der wirkliche Verlierer in diesem Spiel ist dann
zweifelsohne der andere, hat dieser doch, wie die Bibel es ausdrückt, „Schaden an seiner
Seele genommen“. Anders ausgedrückt: Unser vermeintlich irrational handelnder Liebender
handelt gemäß dem Wertmaßstab des Zusammenhangs von hingebungsvoller Liebe und
Selbstaufopferung, was zentraler Bestandteil seiner Überzeugungen ist, und ist durchaus mit
sich und der Welt im Reinen.
Das Beispiel aber lässt sich noch in einer anderen Hinsicht deuten. Dabei hängt restlos alles
davon ab, wie für den Betreffenden die „Wertlogik“ seiner Liebesethik im Kern aussieht.
Insofern ist der Tatbestand, dass er „nicht aus Schaden klug geworden ist“, durchaus in
253
Ordnung. Es ist jedoch unübersehbar, dass die ganze Angelegenheit sich etwas schwieriger
gestaltet, wenn wir den Tatbestand berücksichtigen wollen, dass es bei der ganzen Sache nicht
um ein gessinungsethisch radikalisiertes Prinzip, sondern tatsächlich um „heimlichen
Lustgewinn“ geht, wobei hierbei die in Frage kommende gesinnungsethische Maxime nichts
anderes als eine bloße Rationalisierung darstellt. Die ethische Maxime hat ihren Wert darin,
dass aus einer Ideologie des Leidens heraus hierbei konsequent gehandelt worden ist. Die in
diesem Sinne radikale Absage an jeglichen Lustgewinn, bildet dabei den eigentlichen
moralischen Kern. Nun zeige aber unser armer Trottel, nachdem er sozusagen formvollendet
auf die Nase gefallen ist, offenkundige Anzeichen von Lustempfinden, d.h.: Er leidet mit
Lust, könnte auch einem klinisch auffälligen „Liebeswahn“ verfallen sein, der aus dem
Leiden seelischen Gewinn zieht. Die Scheidelinie zwischen „psychiatrisch interessant“ und
„gesinnungsethisch radikal“ ist, wie man sieht, hauchdünn. Gerade weil dieser hier
angesprochene Bereich so schwierig zu erfassen ist, sprach ich von „Grenzbereich“. Die
Anzeichen offenkundigen Lustempfindens, die vielleicht ein sensibler Psychoanalytiker
entdeckt, strafen die prätendierte ethische Regel Lügen und wir haben in Wahrheit einen
waschechten Masochisten vor uns. Es ist ohne große Phantasie problemlos zu sehen, wie eng
bisweilen komplizierte ethische Zusammenhänge in Verbindung stehen zu genuin
psychopathologischen Tatbeständen.
Wenden wir uns nunmehr dem folgenden Tafelbild zu, welches zuerst zu beschreiben und zu
erläutern, dann vor allem im Lichte der psychoanalytischen Fundamentalannahmen zu
interpretieren ist:
254
Soziales Handeln
Konformes
Handeln/Verhalten
Irrationale
Konformität
Abweichendes
Handeln/Verhalten
Rationale
Konformität
Rationale
Devianz
Irrationale
Devianz
?
Pathologische
Konformität
« Rollendistanz»
Schwere
Zwangsneurosen
Fehlleistungen
Politische
Devianz
Delinquenz Verwahrlosungsdevianz
?
Innovation
Fehlleistungen
Pathologische
Devianz
Halluzinatorische
Psychosen
Tafelbild 3
Beschreibung und Erläuterung. Der besseren Übersichtlichkeit halber listen wir auch hier die
uns interessierenden Punkte auf. Im Hinterkopf zu behalten ist hierbei die Eingangsthese, dass
den
genuin
pathologischen
Verhaltensmustern
immer
(maligne)
identitätskritische
Mentalzustände zugrunde- und vorausliegen. Der Bezug zu den Identitätskrisen wird uns
nämlich später ganz besonders interessieren (müssen). Es ergibt sich dann:
1. Wie das obige Tafelbild 2 auf S. 239, ist auch das vorliegende normen- und
rollenstrukturell angeordnet: Jemand verhält sich normen- und rollenkonform bzw.
normen- und rollendiskrepant. Während jedoch das vorherige Tafelbild sich auf die
Formen der Devianz konzentrierte, ist das hier vorgestellte Tafelbild am
Irrationalitätsproblem orientiert, wobei „Irrationalität“ als Beeinträchtigung von
Rationalität „definiert“ wird. Dies ein Problem, welches uns im nächsten Abschnitt
noch ausführlich beschäftigen wird. Im strikt klassifikatorischen Sinne ist dieses
Tafelbild nicht ganz korrekt, da es bereits mit einigen Vermutungen operiert, die
255
jedenfalls an dieser Stelle noch völlig unausgewiesen sind. Diese betreffen vor allem
die Schemata in der letzten Zeile und haben hier ausschließlich thetischen Charakter:
Angenommen wird, dass die von Sigmund Freud beschriebenen Formen der
„Psychopathologie des Alltagslebens“ erstens noch wesentlich „näher“ zu rationalen
Verhaltensformen stehen und dass diese „Fehlleistungen“ zweitens gleichermaßen bei
schweren Zwangsneurosen wie auch bei sich abzeichnenden halluzinatorischen
Psychosen auftreten. Dies ist jedoch ein Sonderproblem auf das weiter unten noch
einmal zu sprechen zu kommen sein wird.
2. Das vorliegende Tafelbild trägt dem bereits des öfteren erwähnten Tatbestand
Rechnung, dass pathologische Verhaltensmuster keineswegs immer als deviante
Formen auffällig sind. Es gibt, wie wir wissen, pathologische Verhaltensmuster die
durch ihre „Überangepasstheit“ auffallen. Später werden wir in diesem Sinne scharf
unterscheiden,
zwischen
realitätsfugativen
und
realitätsverengenden
Verhaltensmustern. Die psychoanalytische Interpretation ist hierbei nicht ganz
einfach, da mehrer Deutungen möglich sind, um die sog. „anankistischen“ Syndrome
als
neurotische
„Reinformen“
gegenüber
den
halluzinatorischen
Psychosen
diskriminieren zu können.
3. Verwahrlosungsdevianz und Innovation sind hier nur der Vollständigkeit halber
aufgeführt, bleiben jedoch systematisch außer Betracht. Die gestrichelten Linien sowie
die Fragezeichen, tragen dem Rechnung und sollen zugleich darauf verweisen, dass
ihr Verhältnis zu dem Irrationalitätsproblem weitgehend ungeklärt ist. Insbesondere
die Innovation ist es ja, die hierbei interessant ist. Darauf jedoch näher einzugehen
wäre nur dann möglich, wenn der sozialisationstheoretische Hintergrund bereits
deutlicher herausgearbeitet wäre, als er es ist.
4. Orientierungskern ist die schraffierte Fläche, welche die rationalen Verhaltensmuster
betrifft: Widerstand und Delinquenz wurden in diesem Sinne bereits weiter oben
behandelt. Aus einem ganz bestimmten Grunde prekär ist der Zusammenhang
zwischen Rationalität, Konformität und Rollendistanz. Auch hierbei ließe sich erst
genaueres sagen, wenn man auf den sozialisationstheoretischen Hintergrund bezug
nehmen könnte. Vorgreifend sei jedoch auf folgendes aufmerksam gemacht: Der
Ausdruck Rollendistanz wurde in Anführungszeichen gesetzt, weil gezeigt werden
kann, dass diese Verhaltenseigentümlichkeit wesentlich zu einem normalen ich256
starken Rationalverhalten gehört. Man kann sogar soweit gehen zu sagen, dass
Rollendistanz zum Wesenskern dessen gehört, was man als „Normal-Ich“ aufzufassen
pflegt. Weiter oben (S. 53) wurde hierauf bereits hingewiesen. Es hieß dort: „Webers
Idealtypologie des sozialen Handelns beinhaltet die hypothetische Konstruktion eines
„Normal-Ich“, d. h. eines menschlichen Individuums, welches in dem Sinne rational
zu handeln im Stande ist, dass es seine Interessen und Bedürfnisse sinnadäquat zu
interpretieren und zu deren Durchsetzung bzw. Befriedigung entsprechend zu handeln
vermag, welches „aus Schaden klug zu werden“ und Fehlverhalten zu korrigieren
vermag“. Ich vermute, dass die Konstruktion eines solchen „Normal-Ichs“ wesentlich
verkettet ist zum einen mit der weiter oben behandelten „kommunikativen
Kompetenz“, zum anderen mit der Fähigkeit eines menschlichen Individuums zur
„Rollendistanz“.
5. Wie gesagt ist die schraffierte Fläche unser Bezugssystem für eventuell auftretende
und zu beschreibende Irrationalität. Ganz besonders interessant ist für uns also das
Verhältnis zwischen „Rationalität“ und „Irrationalität“, ist doch gemäß den obigen
Ausführungen genau darin das eigentliche methodische wie methodologische
Kernproblem der hier vorgelegten Arbeit insgesamt verborgen.
6. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Zeile vier, so wird genau diese
Problematik konkret: Pathologische Konformität sowie pathologische Devianz
designieren die Extremtypen bezogen vor allem auf das Problem des Widerstandes
und der Delinquenz. Hierbei haben wir nämlich die Möglichkeit, den Begriff des
„Zwanges“ einzuführen. Widerstand und Delinquenz sind ja vor allem deshalb genuin
rationale Formen der Devianz, weil den betreffenden Handlungstypen die Möglichkeit
zur Entscheidung offen steht: Sie können die Position des „Diebes“ bzw. des
„Revolutionärs“ einnehmen oder aber auch nicht, und sie wissen um die mit diesen
sozialen Positionen verbundenen Rollenerwartungen, wissen in der Regel auch, mit
welchen Handlungskonsequenzen sie jeweils zu rechnen haben, kennen die „Kosten“
ihrer Entscheidungen, können das alles sozusagen im Vorhinein fiktiv durchrechnen.
Genau dieses Merkmal der Entscheidungsfreiheit im Prinzip, welche sie seitens der
„Gesellschaft“ sozusagen „handhaftbar macht“, fehlt sowohl den pathologischen
Konformitätstypen als auch den pathologischen Devianztypen, was man insbesondere
an den sog. „Fehlleistungen“ ablesen kann. Hierauf wird zum einen in der
gegenwärtigen Auflistung zum anderen – und dies vor allen Dingen –, in den
257
„Rationalitätskatalogen“ im nächsten Abschnitt noch einmal zurückzukommen sein:
Die Fähigkeit, zwischen simulativ durchgespielten Wahlalternativen Entscheidungen
treffen zu können, kann als „Basalcharakteristikum“ der personellen Rationalität
angesehen werden.
7. Auch eine ganz bestimmte Differenzierung, die – bezeichnenderweise – im
vorliegenden Tafelbild nicht explizit erscheint, muss zumindest erwähnt werden.
Zuwenden können wir uns dieser Differenzierung erst im Rahmen der Behandlung der
„Rationalitätskataloge“ im nächsten Abschnitt. Es ist die Differenzierung in solitäres
und in soziales Handeln. Überschrieben ist das Tafelbild mit dem „sozialen Handeln“.
Aber: Obwohl hier in enger Anlehnung an die Webersche Soziologiedefinition das
soziale Handeln in den Blick genommen wird, ist dennoch das Tafelbild, wie
unschwer erkennbar, wesentlich individuenzentriert. Dass dennoch hier auf beides
abgezielt wird, hat seinen Grund darin, dass wir aus dem Blickwinkel der Weberschen
Soziologiedefinition zwischen zwei verschiedenen Formen von psychopathologischen
Verhaltensmustern scharf unterscheiden müssen: zwischen denjenigen, welche ganz
allgemein als Beeinträchtigungen subjektiv sinnvollen Verhaltens aufzufassen sind,
wobei diese Beeinträchtigungen sich wesentlich auf das solitäre Individuum beziehen,
und denjenigen, die sich auf das Sozialverhalten beziehen.
8. Der klinisch arbeitende Psychiater wird in diesem Schema die Auflistung von
„Fallbeispielen“ vermissen, bei denen bekanntermaßen der theoretische Hintergrund
eklektizistisch zusammengebunden zu werden pflegt mit unmittelbar in der Diagnostik
beschriebenen beobachtbaren Verhaltensmustern. Ganz bewusst nimmt das Tafelbild
nicht bezug auf solche als „typisch“ geltende Verhaltensmuster, die der unmittelbaren
Beobachtung zugänglich sind. Der Grund hierfür ist jedoch, wenn man dem
Argumentgang der vorliegenden Arbeit bis zu diesem Punkt aufmerksam gefolgt ist,
ganz offenkundig: Das Verhältnis zwischen beobachtbaren Verhaltensmustern und
den diesen zugrunde liegenden und immer nur erschlossenen identitätskritischen
Zuständen, ist ja gerade ein offenes methodologisches Problem, wie weiter oben in II.
3 ( wissenschaftstheoretischer Thesenkatalog) ausgeführt worden ist.
9. Ebenfalls ausgespart ist das Problem der Ätiologie, Diagnostik und Anamnese der sog.
psychosomatischen Krankheitsformen. Auch dies hat seinen Grund: Wie bereits
hervorgehoben, soll die vorliegende Studie ja vor allem insofern einen Beitrag zur
„Theorie und Praxis der Psychiatrie“ liefern, als sie die Möglichkeit eröffnet, auf
längere Sicht auch diagnostische klassifikatorische Schemata konstruieren zu können.
258
Denn die eigentliche Nagelprobe einer psychiatrisch relevanten Sozialisationstheorie
wäre
natürlich
zugestandenermaßen
eine
wesentliche
Verbesserung
des
differenzialdiagnostischen Prozedere. Sie darf jedoch nicht ihre Kompetenzen
überschreiten. Ansonsten würde die Ausbeute, welche der hier verfolgte rigoros
soziologische Standpunkt sowie die mit diesem verbundenen Methodologie ja mit sich
bringen soll, ganz automatisch wieder verloren gehen. Wenn überhaupt die
Phänomengruppe
der
psychosomatischen
Krankheitsformen
diagnostisch
einigermaßen präzise abgrenzbar wäre gegenüber den Zwangsneurosen auf der einen
Seite und gegenüber den halluzinatorischen Psychosen auf der anderen Seite, dann
nur, indem man die beiden letzteren unter dem Blickwinkel einer streng soziologisch
bzw.
psychoanalytisch
gefassten
Verknüpfung
von
Identitätskrisen
und
psychopathologischen Verhaltensmustern betrachtet. Im übrigen aber muss das
Problem offen bleiben: Solange der Bezug der massiven Beeinträchtigungen der je
subjektiven Kompetenzen zur Identitätskonstruktion – genau so ist nunmehr der
Begriff
der
„Identitätskrise“
arbeitsbegrifflich
zu
fassen
–
zu
genuin
zwangsneurotischen und genuin psychotischen Verhaltensmustern nicht wirklich
überzeugend herstellbar ist, kann man bezüglich des Phänomenfeldes der sog.
„Konversionshysterien“ auch nicht allzuviel sagen, wie mir scheint. Vielleicht ergibt
ja die Diskussion meines hier vorgestellten „Ansatzes“ in dieser Hinsicht mehr.
10. Dem Betrachter wird die relative Sonderstellung der sog. „Fehlleistungen“ auffallen.
Das Tafelbild nimmt an, dass diese zwar immer im Grenzbereich von „noch
normalen“ und bereits pathologischen angesiedelt sind, dass sie jedoch nicht
ätiologisch eindeutig behandelt werden können. Folgt man konsequent der Freudschen
Argumentation und verknüpft diese mit dem Identitätsproblem, so lässt sich zumindest
sagen, dass durch Fehlleistungen bestimmte Identitätsirritationen sich gewissermaßen
„ankündigen“. Unklar ist jedenfalls auch im Rahmen der Psychoanalyse, ob sie
psychotische oder neurotische Krankheitsformen designieren. Ja selbst der Bezug zu
den psychosomatisch begründeten Spannungskopfschmerzen und Migräneattacken ist
alles andere als geklärt. Dem trägt das Tafelbild insofern Rechnung, als diese
Fehlleistungen an zwei Stellen notiert sind. Hinzu kommt jedoch ein aus der
soziologischen Perspektive noch sehr viel wichtigerer Aspekt: Betrachtet man den von
Homans mitgeteilten Fall eines jugendlichen Keglers, der, obwohl in der
Gruppenhierarchie sozial sehr niedrig positioniert, bei dem – seitens der Gang hoch
bewerteten – Kegelspiel überraschend gute Leistungen zeigt, so ist folgendes
259
interessant: Die Gruppenmitglieder empfinden den Widerspruch als Zumutung und
beginnen ganz automatisch den betreffenden Jungen gezielt zu irritieren. Der Junge
reagiert zunächst einmal mit Aggressivität – einer in diesem Zusammenhang durchaus
vernünftigen Reaktion –, dann jedoch häufen sich seine Fehlwürfe, die ganz
offenkundig darauf zurückzuführen sind, dass der Betreffende ganz einfach nicht mehr
weiß, ob er sich mit seinem niedrig dotierten Gruppenstatus oder mit seiner Rolle als
„Leistungsstarker Kegler“ identifizieren soll/darf. Der Gruppendruck ist hierbei so
groß, dass die gute Leistungsfähigkeit schließlich aufgegeben wird, um nur ja nicht
der Zuwendung der anderen Gangmitglieder verlustig zu gehen. Jedesmal wenn
ähnliche Situationen anstehen häufen sich bei dem Jungen nicht nur die
kegelbezogenen Fehlleistungen, er fängt auch an zu stottern und macht Unmengen von
Symptomgesten.
In
diesem
Fall
geht
„ätiologisch
eindeutig“
eine
Serie
psychopathologischer Verhaltensmuster auf das Konto des Gruppenkonflikts, der ihm
eine rollensystematische Identitätsentscheidung zumutet, der er sich nicht gewachsen
fühlt. Die durch Fehlhandlung auffällig gewordenen realitätsfugativen Tendenzen sind
sinnenfälliger Ausdruck seiner in dieser Situation sich geltend machenden Unfähigkeit
zur Identitätskonstruktion. Konkret aber bedeutet das, dass wir es hierbei mit eindeutig
sozialstrukturell bedingten psychopathologischen Verhaltensmustern zu tun haben, bei
der sich zwei konfligierende Identitätsstrukturen überschneiden: Die durch die
niedrige Positionierung „eingeschliffene“ Identitätsverortung des Jugendlichen
befindet sich im Widerspruch mit der Identitätsanmaßung desselben, eine
hochbewertete Gruppenleistung möglichst gut zu bringen. Die hier angesprochene
Fehlleistungsproblematik ist jedoch noch aus einem anderen Grunde für unser Thema
hoch interessant: Sinnvoll lässt sich der Begriff der „Fehlleistung“ nur dann
verwenden, wenn wir mit einer – wie oben beschrieben – idealtypischen Fiktion
operieren. Sie lässt sich ungefähr folgendermaßen skizzieren: Eigentlich, das heißt
„normalerweise“, hätte der XY in der und der Situation sich folgendermaßen verhalten
müssen, was er jedoch nicht getan hat. Wie unschwer zu sehen, stoßen wir selbst in
diesem Zusammenhang auf das analytische Hilfsmittel der idealtypologischen
Konstruktion.
11. Völlig außer Acht gelassen wird überdies das Problem der personalen Desintegration,
oder genauer noch: der variierenden Erscheinungen von personaler Desintegration.
Auch dies ist ganz bewusst geschehen. Der mögliche Zusammenhang zwischen
malignen
Identitätskrisen
bzw.
identitätskritischen
260
Dauerzuständen
mit
personalsystemischen Desintegrationserscheinungen bildet ein eigenes Problemfeld,
auf welches so lange nicht eingegangen werden kann, solange die theoretischen
Voraussetzungen einer adäquaten Diagnostik nicht geklärt sind. Angesprochen wird
hiermit jedenfalls – und darauf muss zumindest hingewiesen werden – ein Problem
der Psychodynamik, zu dessen genauer Behandlung ganz einfach die bisher
vorliegenden
klinsich-psychiatrischen
Fachkenntnisse
und
Erfahrungen
nicht
ausreichend sind. Zweifelsohne wird der erfahrene klinische Praktiker zu genau
diesem Problem durchaus sehr viel mehr zu sagen haben, der Soziologe hingegen
würde sich einer Kompetenzenüberschreitung schuldig machen.
Interpretation im Lichte des bisher erarbeiteten Erkenntnisstandes:
1. Bekanntlich wird aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse das Auftreten
psychopathologischer Verhaltensmuster generell unter dem Oberbegriff der „IchSchwäche“ subsumiert, wobei gleitende Übergänge angenommen werden von „noch
normalen“ bis hin zu den extremen Formen. Aus diesem Blickwinkel sind
Zwangsneurosen
komparativ
und
gestaffelt:
Erscheinungsformen
Einige
des
Psychoanalytiker
psychotischen
umschreiben
Formenkreises
die
graviden
psychotischen Erscheinungsformen als narzisstische Zwangsneurosen, andere
plädieren für eine prinzipielle Trennung. Freud selbst zeigt bei der Interpretation
dieses Problems einige Schwankungen, die nur durch konsequente texthermeneutische
Analyse geklärt werden könnten. Jedenfalls sind sowohl die Zwangsneurosen als auch
die Krankheitsformen des psychotischen Formenkreises extrem realitätsfugative
Verhaltensformen, welche, als Erscheinungen von „Ich-Schwäche“, sich sozusagen
aus „zwei Quellen“ speisen, wenn man hierbei konsequent rollensystematisch vorgeht:
Realitätsfugativität wird gleichbedeutend aufgefasst mit der Unfähigkeit, dem
Anforderungskatalog der dem „Ich“ zugemuteten sozialen Rollen adäquat Rechnung
tragen zu können, und ist Resultante einer primordial „angelegten“ Unfähigkeit, in
bestimmten „kapazitätsüberfordernden“ Handlungskontexten die einmal gelernten
Identitätskonstruktionsprinzipien anzuwenden. Das Tafelbild 3 zerlegt die möglichen
Realitätsabweisungen in zwei große Teilmengen: Entweder „klammert“ sich das durch
soziale Anforderungen überforderte „Ich“ an ganz bestimmte Rollenstereotype, die
dann ritualistisch und „zwanghaft“ wahrgenommen werden – wir haben dann den
Tatbestand der „Rollenfixation“ –, oder aber – so drückt es Freud selbst aus – das
261
durch Realität bedrohte „Ich“ zieht sich in eine Wahnwelt zurück und ist bei
identitätskritischem Dauerzustand letztendlich nur noch damit beschäftigt, diese
„innere Realität“ möglichst logisch perfekt durchzukonstruieren.
2. Mir kommt es hier ausschließlich darauf an, darauf hinzuweisen, dass sich, wenn man
das soeben aufgewiesene Problemfeld ernst nimmt, eine extrem spannende Diskussion
zwischen psychoanalytisch orientierten Psychiatern und genuin soziologischem „point
of view“ ergeben könnte, die vielversprechend zu sein scheint. Es ist unschwer zu
sehen, wie sich im Schnittpunkt beider Perspektiven das sog. Irrationalitätsproblem
ausgesprochen fruchtbar diskutieren ließe, jedoch müsste man dann wohl von der in
dieser Arbeit verfolgten Heuristik ausgehen, die seitens der psychoanalytisch
orientierten Psychiater vorgetragene Klassifikation von Krankheitsformen nach
Maßgabe ihrer jeweiligen Beeinträchtigung idealtypisch gefassten rationalen
Verhaltens zu diskutieren. Dafür jedoch müssten erst einmal die derzeitig in den
meisten
„Krankheitsformenlehren“
üblichen
klassifikatorischen
Schemata
so
komparativiert werden, wie ich es im nächsten Abschnitt an Hand der
„Rationalitätskataloge“ vorführen werde.
3. Ausschließlich in diesem zuletzt angedeuteten Sinne, d.h. mit Block auf mögliche
Komparativierungen und sodann eben auch mit Blick auf die Erarbeitung möglicher
empirisch falsifizierbarer Hypothesen erinnern wir an die in Abschnitt II. 6. 2.
vorgestellten „Fundamentalannahmen der Psychoanalyse“ und versuchen aus diesem
Blickwinkel eine entsprechende Interpretation. Die wichtigsten seelischen Vorgänge,
so hieß es in der ersten Fundamentalannahme, seien die unbewussten Vorgänge.
Dieser Interpretation zufolge bilden dann die Formen des subjektiv sinnhaften
rationalen
Handelns
des
„Normal-Ichs“
lediglich
so
etwas
wie
eine
„Verhaltensoberfläche“. Die Annahme postuliert auch und gerade bezüglich der mit
dem Rationalitätsetikett versehenen schraffierten Fläche des Tafelbildes ein
mitlaufendes unbewusstes Begleitprogramm von Lernprozessen. Es wäre ja auch
extrem unwahrscheinlich, dass beispielsweise der klassische „Widerständler“ oder
aber der „reine Delinquent“ niemals psychopathologisch auffällig werden könnten.
Zuzugeben jedoch wäre, dass sich hierbei eine interessante These ergäbe:
Psychopathologische Erscheinungsformen in der Verhaltensdynamik korrelieren
negativ mit virtuos gehandhabter Delinquenz oder radikalem Widerstandsverhalten.
Bekanntlich ist in den militanten Randgruppen der 68er-Bewegung, insbesondere vom
262
sog. „Sozialistischen Patientenkollektiv“, genau diese These später dann auch
vertreten worden. Hierauf gehe ich in dieser Arbeit nicht näher ein. Wichtiger ist mir
an dieser Stelle vielmehr, dass aus der hier entwickelten soziologischen Perspektive
und mit Blick auf mögliche Komparativierungen, die sozusagen den „Übergang
markieren“ für die eventuellen empirisch falsifizierbaren Hypothesen die erste
Fundamentalannahme umformuliert werden muss. Sie lautet dann: Unbewusste
Vorgänge sind diejenigen Vorgänge, die sich durch Beeinträchtigungen eigentlich zu
erwartenden rationalen Handelns als Zwänge bemerkbar machen. Diese Zwänge
drücken gewissermaßen auf das subjektiv sinnhafte intentionale Handeln und
beeinträchtigen
die
zum
Handlungskonzept
ja
genuin
zugehörigen
Entscheidungsspielräume, was noch deutlicher werden wird, wenn wir uns
nachstehend mit den „Rationalitätskatalogen“ eingehender befasst haben werden. Zu
erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die Erläuterung der ersten
Fundamentalannahme: In der Regel kann ein rational handelnder Mensch die Frage,
warum er so und nicht anders gehandelt habe im Nachhinein durchaus beantworten
und auf diese Art und Weise gemachte Fehler analysieren und seine Auffassung
revidieren. Mit anderen Worten: Er kann aus seinen Fehlern lernen. Dies ist jedoch
nur idealtypisch der Fall, würde der aufmerksame Psychoanalytiker – und dies in der
Tat zu Recht – anmerken: Wirklich konsequent kann er das keineswegs, da ihm die
eigentlichen Gründe seines fehlerhaften Verhaltens gar nicht bewusst werden können.
Daraus aber folgt: Fehlerkorrektur in rationalem Umfang ist zwar bis zu einem
gewissen Punkt möglich, dieses rationale Verhalten wird jedoch mit Sicherheit sofort
aufgekündigt, wenn es an den eigentlichen Affekthaushalt geht. Problemlos ist so
sichtbar, in welcher Hinsicht das Webersche Konstrukt des „subjektiv sinnhaften
Verhaltens“ aus psychoanalytischer Sicht ergänzungsbedürftig wäre.
4. Reflektieren wir – dies ebenfalls aus dem mit der vorigen These sich eröffnenden
Blickwinkel – die zweite Fundamentalannahme so lässt sich die Struktur der
Beeinträchtigung rationalen Handelns aus dem Bereich des Unbewussten sogar
inhaltlich „auffüllen“: Es sind insbesondere die sexuellen Triebstrukturen, die
vornehmlich ganz bestimmte Beeinträchtigungen rationalen Handelns verursachen.
Eine genauere Erfassung dieser Form von Beeinträchtigungen jedoch wäre nur dann
überhaupt möglich, wenn wir uns näher mit dem von Freud analysierten
Verdrängungsmechanismus beschäftigen würden. Das ist an dieser Stelle natürlich
263
nicht möglich, bräuchten wir doch hierfür die erst im nächsten Denkabschnitt
vorgeführten Ausformulierungen des Rationalitätsproblems. Jedoch können wir
durchaus eine Zusatzhypothese bereits an dieser Stelle wagen: Je umfassender die
Impulse aus der sexuellen Dynamik in der Primordialphase der Sozialisation einst
verdrängt worden waren, desto massiver die jeweiligen psychopathologisch
auffälligen Verhaltenssyndrome.
5. Ich komme zum (vorläufigen) Abschluss und fasse zusammen: Aus dem Blickwinkel
einer Idealtypologie rationalen Verhaltens, wie sie die Webersche „Begriffslehre des
sozialen Handelns“ liefert, sind die irrationalen Verhaltensmuster in ihrer ganzen
Bandbreite
streng
genommen
Ausnahmefälle.
Aus
dem
Blickwinkel
der
Psychoanalyse jedoch ist es genau umgekehrt: Tatsächliches Rationalverhalten ist der
absolute Ausnahmefall, welcher in „reiner“ Form in der Psychoanalyse genauso
wenig auftreten kann wie in der Verstehenssoziologie. Dieser Punkt ist mir sehr
wichtig, verweist er doch auf das mir am Herzen liegende methodologische
Grundproblem. Wie ein Blick in den obig behandelten wissenschaftstheoretischen
Thesenkatalog lehrt, standen wir vor dem gravierenden Problem, dass die
Zusammenfügung vom soziologischen Handlungsmodell und psychoanalytischem
„point of view“ einen glatten Selbstwiderspruch in den Grundannahmen erzeugen
würde. Wie wir sehen können, ist dies auch der Fall, und zwar nicht erst im Hinblick
auf das erkenntnistheoretische Verstehensproblem. Wir sehen jedoch, dass genau
dann, wenn es uns gelingt, die „Beeinträchtigungsthese“ in Gestalt von
Komparativierungen
und
operativen
Begrifflichkeiten
auszuformulieren,
eine
vernünftige Chance besteht, Psychoanalyse und Handlungssoziologie so miteinander
zu verknüpfen, dass ein solcher Selbstwiderspruch vermeidbar ist. Wir müssen uns
lediglich der Tatsache bewusst sein, dass wir damit konsequent das Problem des
Zusammenhangs von „Identitätskrisen“ und „psychopathologischen auffälligen
Verhaltensmustern“ auf das Gebiet der methodologischen Betrachtungsweise
verlagern. Und das genau ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit, woraus sich
vorläufig ergibt: Pathologische Erscheinungsformen humanspezifischen Verhaltens
manifestieren
sich
Verhaltensmuster,
–
die
gegenüber
sich
der
sowohl
im
sozialen
Mitwelt
–
als
irrationale
Konformitätsbereich
als
auch
im
Devianzbereich antreffen lassen. Während jedoch deviante Formen der Irrationalität
zumeist realitätsfugativ sind, sind die in Gestalt von anankistischen Syndromen sich
264
äußernden rollenfixativen Irrationalismen in der Regel realitätsverengend. Das
subjektiv sinnhafte Verhalten von Menschen beruht auf der gekonnten Handhabung
der
in
der
primordialen
Sozialisationsphase
erworbenen
Methoden
der
Identitätskonstruktion, die, wie zu vermuten ist, ein ganz bestimmtes Grundmuster bei
jedem Individuum aufweisen, auf das in den späteren identitätskritischen Phasen
immer wieder zurückgeriffen wird, sich dann bewähren kann oder auch nicht. Die
pathologischen Verhaltensmuster sind dann die Resultanten jeweils auf eine
bestimmte Art und Weise angewandter erfolgloser Methoden der Versuche Identitäten
zu rekonstituieren.
8. Zum Problem der Rationalität
8.1. Einige überleitende Bemerkungen – Der genuin soziologische Gesichtspunkt
und die zentrale Bedeutung des Handlungsbegriffs
Zu erinnern ist an dieser Stelle zunächst einmal an die Eingangsausführungen, in denen darauf
hingewiesen wurde, dass die vorliegende Arbeit im Problembereich der Kinder- und
Jugendpsychiatrie – oder genauer noch: im Problembereich der sog. „psychosozialen
Heilkunde“ – angesiedelt ist. Es ist also davon auszugehen, dass das, was hier als
soziologische Perspektive entwickelt wird, auf einen Rezeptionsraum zugeschnitten ist, dem
vieles von dem, was „Soziologie“ heißt, fremd sein dürfte. Nachstehend werden in diesem
Sinne einige soziologische Selbstverständlichkeiten zur Sprache kommen, die dem
Fachsoziologen trivial erscheinen mögen. Das braucht uns jedoch nicht zu kümmern. Hier
geht es ausschließlich darum, den genuin soziologischen Standpunkt so klar wir nur möglich
hervortreten zu lassen, um von diesem her das Problem der „Identitätskrisen“ vor allem
diagnostikrelevant beleuchten zu können.
Zu beachten ist bei den nachstehenden Ausführungen in erster Linie die (selbstgesetzte)
Aufgabenstellung des hier Vorgelegten, wie sie weiter oben in dem „Relevanzabschnitt“ der
Einleitung formuliert wurde: Zwar sind letztendlich nur genuin maligne Identitätskrisen in
dem Sinne diagnostikrelevant, als sie mit genuin irrationalen Verhaltensmustern verknüpft
265
sind, jedoch lassen sich dergestalt „irrationale“, d.h. Verhaltensmuster im klinischpathologischen Sinne, nur und ausschließlich vor dem Hintergrund einer als Bezugssystem
fungierenden Idealtypologie rationalen sozialen Handelns, wie Max Weber sie erarbeitet hat,
überhaupt diagnostizieren.
Was aber ist – noch einmal gefragt – die „Soziologie“ und was genau ist ihr Gegenstand,
wenn wir versuchen, bei der Bestimmung desselben erst noch einen Schritt hinter das von
Max Weber Geleistete zurückzugehen? Denn wie bei der Skizzierung des Forschungsstandes
bereits angedeutet, dürften sehr wenige mit dem Wort „Soziologie“ mehr als nur Triviales
verbinden.
Sie ist diejenige Wissenschaft, die sich mittels der Methode des „deutenden Verstehens
sozialen Handelns“ mit dem Phänomen, „Gesellschaft“ als einem Tatbestand an sich befasst,
als einem Tatbestand also, der auf unserem Planeten irgendwann einmal eingetreten ist, und
den diese „Soziologie“ eben als ein sich entwickelt habendes und nach wie vor sich weiter
entwickelndes Geschehen in seinen mannigfaltigen Formen zu analysieren versucht.199 Ihren
Gründungsvätern zufolge – ich denke hierbei vor allem an Durkheim und Weber – ist sie eine
Notwendigkeit, weil die anderen Wissenschaften, die sich mit bestimmten Aspekten genau
dieses Geschehens befasst haben bzw. befassen, einen wesentlichen Gesichtpunkt bei der
Erforschung genau dieses Teilphänomens der „Menschenwelt“ außer Acht gelassen haben,
außer Acht lassen mussten bzw. es nach wie vor müssen: den Gesichtspunkt, dass zwei oder
mehr Menschen, die sich aufeinander beziehen und sich in ihrem „Verhalten“ subjektiv
sinnhaft aneinander orientieren, etwas anderes bilden und sind, als sie es jeweils für sich oder
199
Ganz bewusst habe ich diesen prima facie etwas umständlich wirkenden heuristischen Zugang gewählt.
Ebenso wenig wie „die Sprache an sich“ etwas konkret vorfindliches ist und streng genommen nur als
Kunstprodukt der seit Saussure bestehenden strengen Linguistik „existiert“, ebenso steht es mit dieser
„Gesellschaft“. Wie meine Kollegin Marina Demetriou die mich auf diesen Aspekt eines Forschungsansatzes
freundlicherweise hingewiesen hat, sich bei ihren „ästhetiko-linguistischen“ Forschungen auf die hierzu
relevanten Ausführungen von F. de Saussure stützt, tue auch ich es bei meinem Soziologieverständnis. Dies
allerdings in enger Anlehnung an die Webersche „Begriffslehre des sozialen Handelns“, die ich so
gewissermaßen „saussureanisch“ behandelt wissen will: Ebenso wie es zwar Unmengen von historisch
gewordenen „Sprachen“, nicht jedoch „die Sprache an sich“ gibt, gibt es Unmengen von historisch realisierten
„Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens“, nicht jedoch „die Gesellschaft an sich“. Der Grundgedanke,
auf den ich hier abhebe, ist als solcher vermutlich sehr wohl bei Max Weber vorhanden, jedoch hat die
monopolistisch gehandhabte dogmatische Weber-Exegese vor allem der „Heidelberger Schule der
Kultursoziologie“ (Lepsius, Schluchter, Schwinn) ihn „so“ noch nicht einmal bemerkt.
266
auch als Angehörige der – biologisch gefassten – Spezies „Mensch“ sind.200 Sowie nämlich
mindestens zwei Menschen sich ins Benehmen zueinander setzen, passiert etwas, was eben
Gegenstand der Soziologie und nur der Soziologie sein kann: Die beiden Individuen müssen
handeln bzw. sozial handeln, weil sie „urplötzlich“ in einem allgemeinen, institutionell
vorausgestifteten Sinnzusammenhang stecken. In genau diesem Sinne ist der Begriff des
„sozialen Handelns“ der eigentliche Grundbegriff derjenigen Abteilung der empirischen
Sozialforschung, die „Soziologie“ genannt zu werden pflegt. Diesen Gedanken galt es in der
vorliegenden Untersuchung in enger Anlehnung vornehmlich an die Webersche
Grundlagenforschung konsequent und möglichst umfassend so zu entwickeln, dass dadurch
vom soziologischen Standpunkt her Licht geworfen wird auf bestimmte Aspekte der
„Psychiatrie“, welche sie selbst aufgrund ihres spezifischen Erkenntnisstandpunktes
notwendigerweise nicht so deutlich sehen kann.
Genauso hat bereits Marx in einem 1846 geschriebenen Brief an Annenkow den Begriff
der „Gesellschaft“ definiert: „Gesellschaft“ sei „das Produkt des wechselseitigen Handelns
der Menschen“ und folgerichtig findet sich bei Weber die Soziologiedefinition welche besagt,
dass es sich bei der sog. „Soziologie“ um diejenige „Wissenschaft“ handele, welche „soziales
Handeln deutend verstehen“ und eben dadurch dieses soziale Handeln „in seinem Ablauf wie
in seinen Wirkungen ursächlich erklären“ wolle.
Wir können uns vorläufig auf die Formel stützen: Menschliche Wesen als biologische
Organismen verhalten sich ebenso wie menschliche Wesen psychologisch als Individuen sich
verhalten, wohingegen sie soziologisch gesehen „subjektiv sinnhaft Handeln“ und sich dabei
an anderen gleichfalls subjektiv sinnhaft Handelnden orientieren (können). Oder um ein
berühmtes Beispiel Max Webers zu nehmen: Stoßen zwei Radfahrer zufällig zusammen, weil
sie vielleicht für einen Augenblick die nötige Aufmerksamkeit im Straßenverkehr
vernachlässigt haben, so verhalten sie sich (bloß), sehen sie jedoch – vielleicht erst im letzten
Moment – auf, nehmen den anderen wahr, erkennen die Gefahrensituation und versuchen
noch einander auszuweichen, in der Absicht den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden,
dann handeln beide subjektiv sinnhaft, ganz einfach deshalb, weil sie etwas zu vermeiden
trachten, was als bedrohlich empfunden unmittelbar auf sie zukommt. In genau diesem
Augenblick, in welchem sie sozusagen „im letzten Moment“ aufeinander Bezug nehmen und
200
In dem wunderschönen Film „Die Reisen des Mr. Leary“ hat dies der Protagonist ungemein treffend
formuliert: „Wichtig ist nicht so sehr, dass bzw. ob man jemanden liebt, sondern vielmehr: was man ist, wenn
man mit jemand anderem zusammen ist.“
267
sich auszuweichen versuchen, „passiert“ Gesellschaft, denn nunmehr ist die „Interaktion“
zwischen den beiden zuvor in ihre je eigene Gedankenwelt versunkenen Radfahrer, welche
ihre Pflichten gegenüber ihren Rollen als Verkehrsteilnehmer gröblichst verletzt hatten, durch
die wechselseitige Bezugnahme auf das mögliche Handeln „des anderen“ strukturiert, d.h. wir
haben eine typische „minimale soziale Situation“, für die selbstverständlich auch ganz
bestimmte soziale Ordnungskriterien angegeben werden können: Die beiden Radfahrer
interagieren in genuin soziologischem Sinne, könnten ja vielleicht auch noch mimischgestisch kommunizieren, tun es vielleicht sogar, und müssen überdies – bei einem eventuellen
Prozess, welcher die Schuldfrage juristisch zu klären hätte – miteinander über den Vorfall
sprechen. Alles das aber ist virtuell nur und ausschließlich denkbar, weil ein vorausgestifteter
institutioneller Sinnzusammenhang überhaupt existiert. Insofern gilt eben auch die in
Abschnitt II. 2. vorgestellte zweite Grundannahme des sog. „symbolischen Interaktionismus“,
die ich an dieser Stelle noch einmal der Deutlichkeit halber zitiere:
„Die Theorie [des symbolischen Interaktionismus] nimmt ferner an, dass der fruchtbarste
Weg zu einem wissenschaftlichen Verständnis des menschlichen Verhaltens über eine
Analyse der Gesellschaft führt.“ Und er „hält ..... daran fest, dass jedes denkbare Individuum
in eine bestehende ..... Kultur [bzw. in ein vorausdefiniertes Rollensystem] hineingeboren
wird. Statt eine metaphysische Priorität der Gesellschaft vor dem Individuum oder umgekehrt
zu behaupten, umgeht der „symbolische Interaktionismus“ diese philosophische Frage
dadurch, dass er seine Analyse [ebenso wie Max Weber] mit dem sozialen Handeln beginnt
und daraus sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft ableitet. Auf diese Weise sorgt
er für eine klare Soziologie und Sozialpsychologie: Die erstere beginnt mit dem sozialen
Handeln und baut darauf auf bis zur Gesellschaft; die letztere beginnt ebenfalls mit dem
sozialen Handeln und arbeitet in die andere Richtung, nämlich in Richtung auf das
Individuum.“
Um vollends deutlich zu machen, worum es geht, wenn von genuin soziologischen
Sozialphänomenen die Rede ist, denken wir uns einen Verkehrpolizisten, der den Vorfall des
Radfahrerzusammenstoßes durch ein Videogerät hat verfolgen können. Für ihn als den am
unmittelbaren Vorfall ja unbeteiligten Beobachter, befinden sich die beiden Radfahrer in
bestimmten durch die jeweilige Verkehrssituation – dies die institutionelle Rahmenbedingung
– festgelegten sozialen Positionen, die in diesem Fall überdies auch noch geographisch
268
bestimmt sind – was soziologisch eigentlich keine Rolle spielt201 –, denen ganz bestimmte
Rollenverpflichtungen auferlegt sind und die sie ganz offenkundig wegen ihrer
Unaufmerksamkeit nicht situationsadäquat wahrnehmen bis zu dem Moment, wo sie, „in
letzter Minute“ vor dem drohenden Zusammenstoß erschreckend, hoch blicken und nunmehr
ihre Rolle gemäß ihrer verkehrsmäßigen Positioniertheit auch subjektiv zu übernehmen
versuchen, was ihnen freilich wirklich situationsadäquat kaum noch gelingen dürfte. Dies
können wir natürlich auch in einer etwas anderen Sprache ausdrücken, die auf unser Thema
zurückführt: Die im letzten Moment erfolgten Rollenübernahmen designieren zugleich auch
den sozialen Tatbestand, dass sich unsere beiden erst im letzten Augenblick und vermutlich
viel zu spät mit ihren Rollen als verantwortliche Verkehrsteilnehmer identifizieren.
Wenn es nachstehend um die Aufhellung der Struktur(en) der personalen Rationalität
gehen wird, ist dieser genuin soziologische „Sinnzusammenhang“, auf den expressis verbis
bereits in Abschnitt II. 2. aufmerksam gemacht wurde, immer mitzudenken: „Gegenstand der
Menschenwissenschaften“, so hieß es dort, seien „Wesen, die, weil sie kommunikativ
(sprachlich) kompetent mithin also auch zu subjektiv sinnhaftem Sozialverhalten fähig sind,
etwas wollen, und die bezüglich dessen, was sie wollen, eben Mittel anwenden, von denen sie
glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie wollen, geeignet sind. Sie handeln, insofern
sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, als aktiv Handelnde, die gelernt haben (müssen),
dass es andere aktiv Handelnde gibt, die ebenfalls ihre Interessen verfolgen bzw. etwas
wollen, und die bezüglich dessen, was sie wollen, (gleichfalls) Mittel anwenden, von denen
sie glauben, dass sie zur Erreichung dessen, was sie wollen, geeignet sind.“
201
Worauf es soziologisch ausschließlich ankommt, ist, dass die verschiedene Positionierung der beiden
Radfahrer je spezifische situationsadäquate zweckrationale Handlungsmuster erforderlich macht: Der von links
kommende Verkehrsteilnehmer – muss sich gemäß der objektiv bestehenden Verkehrsituation – dies der
sozialstrukturelle Aspekt – gemäß anders verhalten als der von rechts kommende Radfahrer. Beide haben in
diesem durch die formellen wie informellen (Verkehrs-)Regeln bestimmten „Spiel“ verschiedene Positionen und
nehmen folgerichtig auch verschiedene Rollen ein, welche ganz bestimmte (normierte) Anforderungen bzw.
Erwartungen beinhalten.
269
8.2. Personale Rationalität
Unter diesem Gesichtspunkt seien an dieser Stelle zunächst einmal acht Kriterien für
rationales Handeln aufgelistet und zwar der individualbezogenen Rationalität. Zu beachten ist
hierbei, dass die Auflistung der nachstehenden Postulate – zunächst noch – relativ willkürlich
ist, ja, relativ willkürlich sein muss. Es wird lediglich so etwas eine Vorverständigung
bezüglich dessen angestrebt, was bei näherer Betrachtung sodann um der Konstruktion
empirisch
falsifizierbarer
Hypothesensysteme
willen
präzisierungs-
und
modifizierungsbedürftig ist. Geachtet wird bei den nachstehenden „Postulaten“ lediglich
darauf, dass wir uns zumindest einigermaßen im Einklang befinden mit der bereits
eingeführten Weberschen Begriffsbestimmung des Gegenstandsbereiches der Soziologie als
einer „Verstehenden Sozialwissenschaft“, welche, wie gezeigt, sowohl mit den Strykerschen
als
auch
mit
den
Gadamerschen
idealtypologisch
gefassten
anthropologischen
„Grundannahmen“ übereinstimmt und in expliziter Form besagt: „Soziologie (im hier
verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft,
welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen
Wirkungen ursächlich erklären will. „Handeln“ soll dabei ein menschliches Verhalten
(einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und
insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. „Soziales“
Handeln aber soll ein solches heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden
gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a n d e r e r bezogen wird und daran in seinem
Ablauf orientiert ist.“202
202
Weber [Wirtschaft und Gesellschaft] S.1.
Bisher ist wohl noch nicht bemerkt worden, dass und inwiefern hier eine begriffliche Ungereimtheit steckt,
die Weber eigentlich nicht hätte unterlaufen dürfen. Genau müsste es heißen: „Soziologie ... soll heißen: eine
Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen
ursächlich erklären will. »Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten heißen, wenn und insofern als der
oder die (sich) Verhaltenden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“ Das sieht man sofort, wenn man diese
„Definition“ sprachlich stringenter fasst: Dann und nur dann, wenn ein menschliches Wesen sich dergestalt
verhält, dass es mit diesem Verhalten bzw. insofern es mit diesem Verhalten einen subjektiven Sinn verbindet,
wollen wir von dem „Handeln“ eben dieses menschlichen Individuums sprechen. Soziologie ist also dieser
Nomenklatur zufolge diejenige Wissenschaft, die nur und ausschließlich (humanspezifische)
270
Es wurde des öfteren bereits auf diese Soziologiedefinition Max Webers bezuggenommen.
An
dieser
Stelle,
wo
es
um
die
Demonstration
der
Erkenntnisfunktion
des
Rationalitätskonstruktes geht, geht es um folgendes:
Wie bereits weiter oben festgestellt, unterscheidet Weber scharf zwischen dem Verhalten
eines Menschen und seinem Handeln, wie man sieht. An einem etwas primitiven Beispiel
lässt sich mühelos demonstrieren was damit gemeint ist: Fällt plötzlich Licht ins Auge, so
verhält sich das Individuum, in dem sich seine Pupillen verkleinern und es „blinzelt“. Sein
organisches Geschehen passt sich den veränderten Lichtverhältnissen an und dieser
Anpassungsvorgang ist als situationsadäquates (Reflex-)Verhalten ebenso beobachtbar wie
z.B. sein Verbalverhalten. Verbindet ein Individuum hingegen mit seinem „Verhalten“, in
dem es z.B. an einem kleinen Teich angelt – entweder zu seinem Vergnügen oder aber um
Fische zu fangen, die es dann verzehren bzw. verschenken oder verkaufen möchte – einen
subjektiven Sinn, so steckt dahinter eine Absicht, ein Wille – die betreffende Person handelt.
Und zwar handelt sie in diesem Sinne zweckrational. Insbesondere in ihrem Verhältnis zur
Medizin ist dieser Punkt, wie unschwer zu sehen, von großer Bedeutung, betrifft er doch die
Struktur des Interaktionsverhältnisses zwischen ihm und der Person die er untersucht: Der
Arzt, der einen Patienten zwecks Feststellung von dessen gesundheitlichen Befinden
untersucht, konzentriert sich in der Regel mehr auf das organismische Geschehen, d.h. er
handelt zweckrational, um überprüfen zu können, ob alles im „Normalbereich“ liegt,
orientiert sich jedoch nicht – das gilt zumindest für diesen Fall – am gleichfalls möglichen
subjektiven sinnhaften Verhalten des Patienten. Konsequent durchgeführt haben wir hier also
keine genuin soziologische Situation, da die Interaktion zwischen Arzt und Patient in diesem
Falle wesentlich assymetrisch verläuft. Der Arzt überprüft mehr das Verhaltensrepertoire
seines Patienten als dessen Handlungsrepertoire. Es ist unschwer zu sehen, dass und
inwiefern in einer genuin psychiatrischen „minimalen sozialen Situation“, zumal dann, wenn
der Arzt als Psychoanalytiker sich versteht, die ganze Angelegenheit völlig anders aussieht.
Die im soziologischen Sinne zwischen dem Arzt und dem Patienten sich ereignende
„Gesellschaftlichkeit“, wie wir sie oben beschrieben haben, nimmt erst dann konkrete Formen
an, wenn der betreffende Arzt das Handlungsrepertoire eines Menschen in den Mittelpunkt
seiner Interaktion mit diesem stellt, wodurch sich die Situation zwischen ihm und dem
Verhaltensvorgänge analysiert, welche mit subjektivem Sinn verbunden sind. Ein Kind in der (unmittelbaren)
Postnatalperiode handelt nicht, es verhält sich.
271
Patienten fundamental wandelt. Reflektiert der betreffende Arzt überdies auch noch sein
soziales Handeln, so wird er gewissermaßen zu einem praktischen Soziologen. Und dies ist
genau die Situation, die wir im streng soziologischen Sinne vor uns haben, wenn ein sensibler
Psychiater wirklich verstehen will, was im Inneren seines Patienten vorgeht.
Natürlich müsste die hier nur grob skizzierte Situation positions- und rollentheoretisch
wesentlich verfeinert werden. Darauf muss an dieser Stelle verzichtet werden, denn in diesem
Abschnitt geht es mir mehr um die Kasuistik der Idealtypologie der Rationalität. Jedoch ist
ganz sicher: Gerade ein kundiger und sensibler Arzt will auch verstehen, warum etwas bei
einem Menschen so ist, wie es ist, und dabei nun bezieht er sich eben auch auf das, was sein
Patent will bzw. wollte. Halten wir lediglich fest: Handeln ist als intentionales Verhalten in
der Regel objektbezogen: Man will etwas und handelt entsprechend, um das, was man will,
auch zu bekommen. Wenden wir uns erneut unserem Beispiel zu:
Der an seinem kleinen See sitzende Angler handelt subjektiv sinnvoll und in der Regel
naturgemäß auch „zweckrational“. Er handelt gewissermaßen solitär, denn er orientiert sich
bei dem was er tut ja nicht an anderen Handelnden und bezieht sich in diesem Fall auch nicht
auf solche. Und handelt er aus bloßem Vergnügen, so „genügt“ sein Handeln, wie man so
schön sagt, „sich selbst“. Sein Handeln wird erst dann zu sozialem Handeln, wenn er mit
anderen
1. interagiert
2. (mimisch-gestisch) kommuniziert
3. spricht. 203
203
In der Soziologie der Frankfurter Schule – dies gilt ganz besonders für die Arbeiten von Jürgen Habermas
und seine Schüler – wird auf die moralphilosophische Einbettung dieses Zusammenhang viel zu viel Wert
gelegt, wodurch, wie ich finde, der genuin soziologische Gesichtspunkt, welchen ich explizit hier
herauszuarbeiten versucht habe, viel zu sehr ins Sozialphilosophische hineinverlagert wird. Genau dieser Punkt
ist ja auch dann – wie ich heute meine: bezeichnenderweise – zwischen dem Habermasschüler Rolf
Zimmermann und mir in unserer kleinen Kontroverse am 17.03.2004 zum Angelpunkt unserer – wie ich heute
finde: prinzipiellen – Auseinandersetzung geworden: Faktisch mögen die Ebenen der „Interaktion“, der
„Kommunikation“ und des „Gespräches“ noch so sehr „ineinander fließen“, soziologisch analytisch hingegen
müssen sie scharf auseinandergehalten werden, dürfen also auf gar keinen Fall moralisch interpretiert werden.
Beachtet man diese wissenschaftsanalytische Maxime nicht, so setzt man sich eben dem Vorwurf der
„Ideologisierung“ aus, wie ich Herrn Prof. Zimmermann betont habe: Es gibt nun einmal Interaktionsformen die
rollenstrukturell so perfekt durchgebildet sind, dass die Kommunikativ- und Gesprächsanteile gegen Null
272
Sind andere wie er selbst zum subjektiv sinnvollen Handeln Fähige, mit „im Spiele“ – wie
auch immer –, dann haben wir eine Handlungskonfiguration, bei der sich die „Agenten“
subjektiv sinnhaft aufeinander beziehen können oder müssen: interaktiv, kommunikativ und
sprachlich. Es hat sich, wenn z.B. mehrere Angler sich an dem kleinen See einfinden, die
entweder konkurrieren oder aber kooperieren, eine soziale Gemeinschaft gebildet, die - in
diesem Falle – nach Maßgabe ihrer gemeinsamen Interessen sich vergesellschaftet: Ihr
gemeinsames Hobby – das Angeln – fungiert so als Vergesellschaftungsmodus. Und wichtig
im Sinne des in dieser Arbeit verfolgten Vorhabens ist nun, dass sich in diesem
Zusammenhang ein System von Rollen herausbilden kann, bezüglich derer eben konformes
wie deviantes Verhalten stattfinden kann. Die Beteiligten orientieren sich dann nicht mehr
direkt aneinander, um Vergemeinschaftung überhaupt erst einmal auszubilden, sie orientieren
sich vielmehr an den jeweiligen sozialen Positionen, die die Anglerkollegen hierbei
einnehmen – sie können nebeneinander sitzen, sie können Konkurrenten sein, der eine kann
den anderen mit fehlendem Gerät aushelfen etc. etc. – indem sie mit diesen Positionen
bestimmte (Rollen-)Erwartungen verknüpfen. Handelt es sich gar um einen behördlich
registrierten – einen sog. „eingetragenen“ – Anglerverein, der sich hier wöchentlich einmal
trifft, so verfestigen sich Positionen und Rollen, weil sich ein bestimmtes organisatorisches
Niveau ausbildet bzw. ausgebildet hat. Und ist dies einmal geschehen, so bilden sich natürlich
auch in unserem kleinen Anglerverein ganz bestimmte Systeme der sozialen Kontrolle heraus.
Ob und wie die Beteiligten sich einigen, streiten, beneiden oder aber einander bewundern etc.,
ob nach Maßgabe bestimmter gemeinsam akzeptierter Werte, Hierarchieverhältnisse sich
einspielen, dass alles ist für die hier verfolgten Zwecke nebensächlich. Mir kommt es
ausschließlich darauf an zu demonstrieren, was gemeint ist, wenn der Soziologe von einer
genuin „soziologisch“ sich gebildet habenden „Gemeinschaft“ bzw. „Gesellschaft“ spricht.
In seiner Kritik an Stammler hat Max Weber anhand eines „typisch deutschen“ Skatspiels
verdeutlicht, was mit dieser „Arbeitsdefinition“ des genuin soziologischen „point of view“
gemeint ist. Man kann jedoch auch jedes andere Beispiel einer typischen Spielsituation
nehmen, um sich zu verdeutlichen, um was es hier geht: „Gesellschaft“ ist, wie Marx in dem
bereits zitierten Brief an Annenkow es ausdrückt, „das Produkt wechselseitigen Handelns der
tendieren, und diese gilt es soziologisch zu analysieren, anstatt sie als „unmenschlich“, weil das Gegenüber zum
Objektmachend, zu bewerten.
273
„Individuen“. Menschliche Individuen vergemeinschaften bzw. vergesellschaftlichen sich auf
der Grundlage bestimmter historisch gewachsener institutionalisierter Gegebenheiten, die als
„Regeln“ ihr jeweiliges Verhalten zueinander ordnen und die dabei im Spiel befindlichen
Ordnungsgesichtspunkte wiederum sorgen dafür, dass die „so“ oder „so“ vergesellschafteten
Menschen ganz bestimmte Rollen übernehmen, welche sie sinnstrukturell zu spielen haben,
soll das entsprechende „Spiel“ zustande kommen und aufrechterhalten werden. Tritt im Zuge
einer Spielpartie zu starke „Devianz“ auf, so ergeben sich „Störungen“ bzw. „Verstörungen“,
die, wenn sie eine bestimmte Toleranz überschreiten, den Kollaps des Spiels herbeiführen.
Diskutieren wir die personalen Rationalitätskriterien, so diskutieren wir die sozialen
Kompetenzprinzipien, die erforderlich sind, soll ein solcher Spielkollaps vermieden werden.
Den Fall, den der soziologische Fachbegriff der „Anomie“ betrifft, lassen wir dabei ebenso
außer Betracht wie den Tatbestand, den Max Weber in seiner Herrschafts- und
Religionssoziologie mittels des Begriffs des „Charismatikers“ beizukommen versucht hat.
Von vorneherein achten sollte man jedoch bei den nachstehenden Katalogen auf Kriterien,
die das sozusagen „solitäre Individuum“ und auf Kriterien, die das „sozial kompetente
Individuum“ betreffen. Wie wichtig diese Differenzierung ist, haben wir ja bereits
herauszuarbeiten versucht. Sozialisationstheoretisch stehen nämlich diese beiden Kriterien in
einem ganz bestimmten Verhältnis zueinander.204 Doch davon später. Der Deutlichkeit halber
indizieren wir diese beiden Aspekte der personalen Rationalität (solitär vs. sozial kompetent,
d.h. Kompetenz zu subjektiv sinnvollem und absichtsgeleitetem Handeln auf der einen Seite
und interaktivem, kommunikativem und sprachlichem Bezug auf der anderen Seite), indem
wir in eckigen Klammern die entsprechenden Zuordnungen vornehmen. In diesem Sinne gilt
sodann:
204
Es kann nämlich sein, dass wir gezwungen sind, subjektiv sinnhaft gestaltetes Handeln eines bestimmten
Individuums von seinen sozialen Kompetenzen zu trennen, um empirisch beobachtbare Zusammenhänge in
Form von Hypothesen abspiegeln zu können. Zweifelsohne gibt es ja florid Schizophrene, deren subjektiv
274
Katalog I
1. Ein rational handelndes Individuum muss die Fähigkeit der Entscheidung besitzen. Es
muss seine Wahlalternativen wahrnehmen können. [solitäre Entscheidungskompetenz]
2. Ein rational handelndes Individuum, ist auf das Verhalten anderer bezogen, bezieht
also das (mögliche) Verhalten anderer in seine Überlegungen mit ein. Oder genauer
noch: Ein rational handelndes Individuum muss die Fähigkeit besitzen, sich auf das
Verhalten anderer beziehen zu können, muss also imstande sein, das mögliche
Verhalten
anderer
in
seine
Überlegungen
einzubeziehen.
[solitäre
Entscheidungskompetenz und Sozialverträglichkeit]
3. Ein rational handelndes Individuum ist gesprächsfähig (kommunikativ kompetent).205
Kommunikative Kompetenz schließt die Fähigkeit ein, Symbole (Spielkartenbilder,
Spielfiguren, Verkehrszeichen etc.) situationsadäquat deuten zu können.206 [solitäre
Kompetenz und soziale Kompetenz]
sinnhaft gestaltete (endogene) Kompetenz negativ korreliert mit den entsprechenden sozialen Kompetenzen. Ich
zitiere hier nur das bekannte bon mot, welches besagt „nicht jeder Schizophrene ist verrückt“.
205
Ich erinnere an die obigen Ausführungen Abschnitt II. 2. sowie und Abschnitt II. 5. 4.: Die vorliegende
Arbeit interessiert sich vor allem für den Zusammenhang zwischen der – in der primordialen Sozialisationsphase
erworbenen – Rollendistanz, der Ausbildung entsprechender Rollenübernahmekapazitäten und der
dazugehörigen kommunikativen Kompetenz. Wir stoßen hier allerdings auf ein ausgesprochen schwieriges
sozialisationstheoretisches Problem, welches zur vollen Zufriedenheit in der vorliegenden Arbeit ganz sicher
nicht gelöst werden kann: Auf das Problem derjenigen Dimension des (primordialen) Sozialisationsprozesses,
die in der linguistischen wie in der psycho-linguistischen Forschung „Spracherwerbsprozess“ genannt wird. Es
ist zu hoffen, dass gerade aus dem in der vorliegenden Arbeit explizit gemachten soziologischen Blickwinkel
sich ja vielleicht auch Gewinn ziehen lässt für die z.T. festgefahrenen Diskussion der Linguisten und PsychoLinguisten. Hierzu sind in unserer Forschungsgruppe derzeitig vier Arbeiten geplant: die von Marina Demetriou,
die von Eleni Liousi, die von Dietlinde Michael und die von Janna Rinderknecht. Im Resch’schen Lehrbuch ist
dieser Aspekt absolut unzulänglich abgehandelt.
Marina Demetriou und Porath glauben, dass die hierzu einschlägige Auseinandersetzung zwischen
Linguisten und Psychologen vor allem deshalb so festgefahren ist, weil man den genuin soziologischen Aspekt
des Problems wie er dezidiert bei Saussure noch vorherrschte, bereits bei Chompsky völlig in den Hintergrund
getreten ist. Überdies scheint, wenn Porath Recht hat, die nativistische Chompskysche Argumentation wie auch
die von dessen Epigonen vor allem daran zu kranken, dass nicht scharf genug unterschieden wird zwischen
idealtypologischer Begriffskonstruktion, Grundannahmen und empirischen Hypothesen.
206
Ich erinnere hier an die Ausführungen II. 2., wo es um die Erläuterung der dritten Grundannahme des
symbolischen Interaktionismus ging. Dort hieß es, dass der Mensch auf eine soziale Umwelt reagiere, die sich
ihm von Anbeginn seines Lebens an – nämlich im Bezugsrahmen des familialen Interaktions- und
Kommunikationsgefüges – als ein kategorial vermitteltes Symbolsystem darbiete, welches rollenstrukturell
„immer schon“ seiner Daseinsform vorausliege und aus genau diesem Grunde könne er überhaupt subjektiv
275
4. Ein rational handelndes Individuum, muss nach Lage der Dinge unterscheiden
können, was möglich ist und was nicht. [solitäre Entscheidungskompetenz und
Realitätsadäquatheit]
5. Ein rational handelndes Individuum, muss die Konsequenzen je nach Entscheidung
einkalkulieren können. Es muss die Kosten einkalkulieren können, die sich ergeben
könnten, wenn eine bestimmte Entscheidung nun einmal getroffen worden ist. Und der
entscheidende Punkt: Bevor es das tut, muss es gemäß den Bedingungen
realgegebener Verhältnisse durchdenken können, welche möglichen Konsequenzen
sich
aus
einer
stattgehabten
Entscheidung
ergeben
könnten.
[solitäre
Entscheidungskompetenz, Realitätsadäquatheit und Sozialverträglichkeit]207
6. Ein rational handelndes Individuum muss, bevor es Entscheidungen trifft, seine
Interessen erkennen und interpretieren können. [solitäre Entscheidungskompetenz.
Basale Bedarfsstrukturen müssen hierfür als „Interessen“ interpretierbar geworden
sinnhaft handeln. Eines dieser rollensystemisch strukturierten Symbolsysteme ist nämlich die „Familie“, welche
in der primordialen Sozialisationsphase ja zugleich auch die Identitätsbildung bestimmt. Menschen reagieren
nämlich tatsächlich – und dies von Anfang an vermutlich – keineswegs nur „quasi reflexologisch“, sie sind
vielmehr Wesen, die von Anbeginn ihres Lebens an mit Phantasie begabt das ihnen je zu eigene
Reaktionspotenzial kreativ zu handhaben wissen. Nicht die Individuen als solche seien es, so wurde betont,
vielmehr seien sie es als menschliche Wesen, die in genau dieser Hinsicht als „kreativitätskompetent“ aufgefasst
werden müssen. Dass der Mensch in diesem Sinne sowohl Handelnder als auch Reagierender sei, dass er nicht
auf die Umwelt als einer bloß physikalischen Gegebenheit, sondern auf eine Umwelt antworte, wie sie
symbolisch vermittelt ist, sei von ausschlaggebender Bedeutung: „Da [nämlich] die Menschen auf symbolische
Umwelten reagieren und die Menschen ihre eigenen Symbole produzieren, kann der Mensch sich also selbst
stimulieren“, hieß es dann wörtlich in dem Stryker-Zitat.
207
Ich erinnere hier an den Schlußabsatz von II. 7. 1., wo es um das „Sozialisationsnadelöhr der
Realitätsprüfung“ ging. Es hieß dort: Mündigkeit, soziale Handlungskompetenz sowie kommunikative
Kompetenz überschneiden sich in ihren semantischen Kerngehalten, wenn man dabei auf die Grundannahme
zurückgreift, dass diese drei Fähigkeiten wesentlich assoziiert sind mit der Kompetenz zur Wahrnehmung
eventueller Handlungsalternativen und damit trivialerweise zur simulativen Beurteilung eventueller
Handlungskonsequenzen. Dann nämlich, und nur dann, gilt auch die Erweiterung des Konstrukts der
Handlungskompetenz durch den weiter oben bereits erörternden „Kostensatz“. Kompetent in diesem Sinne kann
freilich ein „Individuum“ nur dann sein, wenn es mit Erfolg seine Lektion in der Ausbildung ganz bestimmter
Ich-Funktionen und damit zum einen seine Lektion in „Metakommunikation“, zum anderen „seine“ Methode der
Identitätskonstruktion gelernt hat: Ein Kind muss sozial lernen, zwischen dem was es sagt bzw. sagen will und
dem Modus zu unterscheiden, in welchem gesagt wird, was es sagen will. Und hierfür muss es gelernt haben,
virtuell seine Identität konstruieren zu können. Man kann in diesem Zusammenhang von dem
„Sozialisationsnadelöhr der Realitätsprüfung“ sprechen, durch welches ein Sozialisand nun einmal „hindurch
muss“, soll sein ihm „von Natur aus mitgegebenes“ Repertoire von Verhaltensbereitschaften sich erfolgreich um
die Dimension der Befähigung zu subjektiv sinnhaftem Handeln bereichern, um so einen ganz anderen, ganz
neuen Zugang zu seiner sozialen Mitwelt gewinnen zu können.
276
sein! Die Interpretation der Bedürfnisformationen als (eigene) Interessenlagen ist dem
jeweiligen „Entscheidungsverhalten“ vorgeschaltet.]208
7. Ein rational handelndes Individuum muss Kompromisse schließen können um seine
Interessen mit anderen abstimmen zu können. [soziale Entscheidungskompetenz und
Sozialverträglichkeit]
8. Ein rational handelndes Individuum muss erkennen ob es das, für was es sich
entschieden hat, auch wirklich will. [solitäre Entscheidungskompetenz und
Identitätskonstruktionsprinzip] 209
Was fällt auf, wenn wir hierbei zunächst einmal a) die sprachliche Form, sodann b) die
Webersche „Definition“ des Gegenstandsbereiches und schließlich c) unsere bisher
eingeführten Sozialisationszielvorstellungen berücksichtigen?
Selbstverständlich ist die hierbei relevante Kasuistik nicht nur auf relativ künstliche
Handlungskontexte, wie es die Spiele ja nun einmal sind, beschränkt: Man kann problemlos
auch das Beispiel einer ampelgeregelten Verkehrskreuzung oder eines Überholmanövers auf
dicht befahrener Landstrasse, oder aber auch unser Radfahrerbeispiel nehmen, um zu zeigen,
dass und inwiefern die Verkehrsteilnehmer sich gemäß der Weberschen „Definition“
verhalten (müssen bzw. sollten). Beim Durchspielen von Fallbeispielen müssen wir allerdings
im Auge behalten, dass erstens Engagement, Interesse und Motiv sehr stark variieren (starke
208
Der Interessenbegriff ist einer der schwierigsten Begriffe der Weberschen Soziologie. Darauf muss an
dieser Stelle zumindest hingewiesen werden. Wie Jürgen Habermas zu Recht hervorgehoben hat, sind
„Interessen“ und „Bedürfnisse“ immer interpretierte „Interessen“ und „Bedürfnisse“. In genau diesem Sinne ist
auch die methodische Leitregel der „Verstehenden Soziologie“ zu interpretieren, die sich in der „Einleitung in
die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ aus dem Jahre 1916 findet: „Interessen (materielle wie ideelle), nicht:
Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die »Weltbilder«, welche durch »Ideen«
geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen
das Handeln fortbewegte.“ Weber [Einleitung] Hervorhebungen mittels Kursiv durch mich Ch. K.
209
Man beachte dass in dieser Auflistung von Rationalitätskriterien ein ganz bestimmtes Postulat, welches
gemeinhin als wichtigstes für „Rationalität“ überhaupt aufgeführt zu werden pflegt, fehlt: die sog.
„Triebaufschubskompetenz“. Das Aussparen dieses Postulates geschieht an dieser Stelle mit voller Absicht. Im
übrigen aber gilt natürlich: Zu entscheiden, ob man das, was man will, auch wirklich will, bedeutet: entscheiden
zu müssen, ob das, was man will, denjenigen Kriterien entspricht, die man für sich als typisch erachtet. Genau
hier liegt nämlich der Bezug zur subjektiven Identitätskonstruktion.
277
bzw. schwache Affektbesetzung) und sich auch auf sehr unterschiedliche Ziele richten können
und
zweitens,
das
erforderliches
Teamverhalten
(z.B.
die
Kooperation
der
Mannschaftsmitglieder in einem Fußballspiel) die Rationalitätskriterien anders gewichten
können. Der Phantasie setzt die Kasuistik mögliche Handlungskonfigurationen kaum
irgendwelche Grenzen, wenn man verdeutlichen will, um was es hier gehen soll: Immer geht
es um ein Minimum an allgemeinen Verhaltenskompetenzen, wenn einem bestimmten
Individuum die Teilhabe an den eigentlich wichtigen rollenstrukturell interpretierbaren
Handlungskontexten in „unserer“ Kultur nicht versagt bleiben soll.
a) Zur sprachlichen Form:
Da sie Postulate sind, repräsentieren die Sätze, mittels derer die hier aufgeführten
Rationalitätskriterien festgelegt worden sind, Normen. Es sind Soll-Sätze, was nicht
verwunderlich ist, da wir es hier mit definitorischen Festlegungen für den Rationalitätsbegriff
zu tun haben. Als „Soll-Sätze“ sind sie nicht wahrheitsfähig, und würde man sie zu einem
einheitlichen in sich widerspruchfreien Ganzen zusammenfassen, indem man eventuelle
Abhängigkeiten zwischen ihnen konstruiert, so entstünde ein Rationalitätsmodell, welches als
solches gleichfalls wesentlich definitorisch-postulatorischen Charakter hätte, mithin als
solches ebenfalls nicht wahrheitsfähig wäre. Die Angelegenheit sieht natürlich anders aus,
wenn man die in diesem Katalog aufgelisteten Definitionen von Rationalitätskriterien in
assertorische Sätze umformt, was weiter unten geschehen soll.
b) Zum Gegenstandsbereich:
Immer geht es um Handlungskontexte, welche dem jeweiligen „subjektiv sinnhaften“ und
„auf das Verhalten anderer bezogen[en]“ Verhalten (historisch) vorgegeben sind und denen
sich unser „Akteur“ anzupassen hat. Das ist, wie wir später sehen werden, sogar dann der
Fall, wenn wir die Verhaltensaktivitäten „sozial isolierter Individuen“ (die sog.
„Robinsonaden“) in den Blick nehmen. Allerdings ist der einzelne Handelnde, das solitäre
Individuum, insofern ein Sonderfall, als bei ihm ja nur partiell die obige Weberdefinition in
Geltung ist:
Ein Mann, der an einem abgelegenen See angelt – so ja das von Homans gewählte Beispiel
– handelt zweifelsohne ebenso, „subjektiv sinnhaft“ wie der in ein Gebet versunkene
278
Gläubige, jedoch handeln beide natürlich nicht in demjenigen strengen Sinne „sozial“, da ihr
subjektiv sinnhaftes Verhalten ja gerade nicht auf andere bezogen bzw. „an dem Verhalten
anderer orientiert“ ist: Weder interagieren sie mit anderen, noch kommunizieren sie mit
anderen, noch sprechen sie mit anderen.210
Ich erwähne diesen Punkt dennoch explizit, weil u.U. psychopathologisch interessant
werden könnte, dass jemand „mit sich selbst“ interagiert, kommuniziert oder aber
Selbstgespräche führt.211
c) Zu den Sozialisationszielvorstellungen:
Betrachten wir die Beispiele unserer Kasuistik, so fällt auf, dass zwischen zweierlei
Sozialisationszielvorgaben scharf unterschieden werden muss: kontextualbezogene und
„allgemeine“. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt unseren bisherigen Katalog von
Rationalitätskriterien, so zeigt sich, dass hier allgemeine Bedingungen erfüllt sein müssen –
210
Die vornehmlich auf mikrosoziale Tatbestände – das sind in der Regel soziale Gruppen – bezogenen
Begriffe der Interaktion und der Kommunikation „Gesprächs“ designieren, wie bereits weiter oben angedeutet,
strukturelle Beschaffenheiten von beliebigen Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens, die als
Handlungskonfigurationen beschrieben und rollenstrukturell interpretiert werden können. Gegeben sein muss in
jedem Fall die sog. „minimale soziale Situation“, jene „gruppoide Vergemeinschaftsform“, die soziologisch
„Paar“ genannt zu werden pflegt. Beispiele für „reine“ Interaktionen – das sind Interaktionen mit relativ
niedrigem Kommunikativanteil – ergeben sich immer dann, wenn Rituale mit hohen Anteilen an
Fremdbestimmung involviert sind, wie es z.B. bei den Akkordarbeitergruppen unter Fließbandbedingungen der
Fall gewesen ist: Die Interaktionsdensität war hierbei sogar sehr hoch, obwohl Kommunikation sehr wenig
ausgeprägt war und das „Gespräch“ u.U. sogar unmöglich war. Hohe Bandgeschwindigkeit und die dadurch
bedingte starke Vigilanzabsorbtion reduzierten drastisch bei dergestalt institutionell durchregulierten
Arbeitsabläufen den möglichen Blickkontakt oder eventuelle „Gespräche“.
211
Prof. Achim Aurnhammer (Uni Freiburg), ein ehemaliger Schüler von Porath, der wie Prof. Rolf
Zimmermann dem Dossenheimer Forschungskreis nahesteht – er hat im März 2002 im Rahmen unserer
Arbeitssitzung einen hochinteressanten Vortrag über „Identitätskonstruktionen in der Lyrik der Klassischen
Moderne“ gehalten – arbeitet derzeitig an einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt zu den sog.
„Pathographien“. Untersucht wird dabei vor allem das Briefwerk U.v.Huttens, in dem dieser deutsche Humanist
des 16. Jhs. In Form von „Gesprächen mit seiner Krankheit“ – v. Hutten war an der Lues erkrankt die damals
unheilbar war – versucht, so etwas wie einen „Selbstheilungsprozess“ in Gang zu halten, der ihm zumindest die
drohende Geisteskrankheit ersparen sollte. Auf Porath’s Rat hin ist das Projekt so angelegt, dass die
psychoanalytische Methodik hierbei sozusagen streng literaturwissenschaftlich als texthermeneutische Methodik
zur Anwendung gelangt. Untersucht werden soll die Funktion genuin ästhetischer Formen der
Identitätskrisenbewältigung für die Ausbalancierung des mentalen Gleichgewichts, welches durch den Schock
einer seinerzeit als unheilbar geltenden Krankheit massiv gestört worden war. In diesem Fall liegt also eine
Identitätskrise vor, bei der sich nachweisen lässt, dass sich dem betreffenden Individuum die „Identitätsfrage“ in
einer ganz besonders vitalen Weise stellte: Die Dialogisierung des „Ich“ mit „seiner“ personifikativdefinierten
Krankheit spaltet dieses „Ich“ ja ganz konsequent in ein mental erkranktes bzw. von mentaler Erkrankung
bedrohtes „Ich“ und dem Krankheitsgeschehen selbst auf.
279
nämlich die acht Rationalitätskriterien –, damit kontextualbezogene Regelstrukturen ganz
bestimmter Handlungskontexte überhaupt gelernt werden können. Hierbei ergeben sich dann
Minimalbedingungen der Rationalität, die natürlich den Anforderungen spezifischer
Handlungskontexte gemäß variieren können: Ein heranwachsender Jugendlicher ist mithin im
Erwerb entsprechender Rationalitätskriterien von unterschiedlicher Kompetenz.
Was mit diesen Andeutungen gemeint ist, wird sofort deutlich, wenn wir in den obigen
Kriterienkatalog diejenige Kontextualindizierung expressis verbis einführen, für die uns unser
„Radfahrerbeispiel“ das Material liefert. Auch dies exerzieren wir der Klarheit halber
vollständig durch [Man achte dabei auf die grammatikalische Funktion des Modalverbs
„müssen“, welches ich deshalb mittels Unterstreichung hervorhebe, weil es um die
Normstrukturen des institutionellen Sinnzusammenhangs „Strassenverkehr“ verweist]:
Katalog II
1. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als er über
die Fähigkeit verfügen muss Entscheidungen zu treffen. Hierfür muss er
selbstverständlich in der Lage sein, Wahlalternativen wahrnehmen zu können, sonst
könnte er an dem institutionell vorausgestifteten Sinnzusammenhang „Verkehr“ eben
nicht situationsadäquat teilnehmen. [Entscheidungskompetenz]
2. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es auf
das Verhalten anderer (Verkehrsteilnehmer) sich beziehen, mithin das (mögliche)
Verhalten anderer (Verkehrsteilnehmer) in seine Überlegungen mit einbeziehen kann.
[Sozialverträglichkeit]
3. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es
280
gesprächfähig (kommunikativ kompetent) ist. Kommunikative Kompetenz schließt die
Fähigkeit
ein
Symbole
(Spielkarten,
Spielfiguren,
Verkehrszeichen
etc.)
situationsadäquat deuten zu können).
4. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es nach
Lage der Dinge unterscheiden können muss, was möglich ist und was nicht.
5. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es die
Konsequenzen je nach Entscheidung einkalkulieren können muss. Es muss die Kosten
einkalkulieren können, die sich ergeben könnten, wenn eine bestimmte Entscheidung
nun einmal getroffen worden ist. Und der entscheidende Punkt: Bevor es das tut, muss
es gemäß den Bedingungen real gegebener Verhältnisse durchdenken können, welche
möglichen Konsequenzen sich aus einer stattgehabten Entscheidung ergeben könnten.
6. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es, bevor
es Entscheidungen trifft, seine Interessen erkennen und interpretieren können muss.
7. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es
Kompromisse schließen zu können muss, um seine Interessen mit anderen
(Verkehrsteilnehmern) abzustimmen zu können.
8. Ein Rad- oder Autofahrer, der seine Rolle als Verkehrsteilnehmer erfolgreich und
verantwortungsvoll wahrnehmen will, muss in dem Sinne ein rational handelndes
Individuum sein – d.h. er muss die Voraussetzungen hierfür mitbringen –, als es
erkennen, können muss, ob es das, für was er sich entschieden hat, auch wirklich will.
281
Vermutlich gilt die empirisch falsifizierbare Hypothese, auf die wir später zurückkommen
werden: Notwendige Bedingung dafür, dass ein Individuum die in 1,2,4,5,6,7 und 8
beschriebenen Fähigkeiten ausbildet ist die in 3 beschriebene Fähigkeit. Wäre dies richtig, so
würde das bedeuten, dass Rationalität wesentlich verknüpft ist zum einen mit der Fähigkeit
zur (subjektiven) Identitätskonstruktion, zum anderen mit kommunikativer Kompetenz.
Identitätskonstruktionskompetenz
und
kommunikative
Kompetenz
(im
Sinne
der
Ausführungen der Abschnitte II. 2. bzw. II. 5. 4.) wären dann idealtypisch wesentlich
miteinander verknüpft.
Erinnern wir uns, dass wir bereits in der Einleitung vermieden haben, die Webersche
Konzeption als eine „Theorie“ zu charakterisieren. In Anlehnung an den Winckelmann‘schen
Vorschlag haben wir den Ausdruck „Begriffslehre“ gewählt. Wie wir nun sehen können,
bewährt sich diese Vorsicht: Webers Rationalitätskonstruktion designiert ein idealtypisches
Gebilde, im Bezug auf welches wir nun die irrationalen Formen des Verhaltens als
Annäherungshypothesen konstruieren können212: Intentionales Handeln ist rational, hingegen
verhalten sich in einem eindeutig empirischen Sinne bestimmte Menschen in bestimmten
Situationen irrational.213 Und erst aus dieser Perspektive wiederum lässt sich sodann auch
empirisch feststellen, ob sich eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation rational
verhalten hat oder nicht. Diese Heuristik ist, wie wir nun sehen können, völlig
übereinstimmend mit unserer bereits eingangs genannten These, dass die „Begriffslehre des
sozialen Handelns“ den empirisch gehaltvollen Lerntheorien explizit oder implizit implantiert
ist.
Trivialerweise
folgt
daraus,
dass
eine
Theorieanstrengung,
die
sich
auf
212
Wir unterscheiden an dieser Stelle nicht zwischen denjenigen „irrationalen“ Einflüssen auf das rationale
Handeln, die auf „hohe Affektbeträge“ zurückzuführen sind, und denjenigen, die im klinischen Sinne als
pathologisch einzustufen sind. Dies muss hier unbedingt betont werden, weil die „Methodik des Verstehens“ wie
Weber sie entwickelt hat, solche „durch Leidenschaften normale Verzerrungen“ noch explizit in das „Verstehen“
einbezieht.
213
Der große Vorteil, den die Verwendung des Verhaltensbegriffs mit sich bringt, besteht darin, dass er
gegenüber den „Kognitivitätsproblemen“ neutral gebraucht werden kann: Beschreibbar wird dadurch etwas
Beobachtbares, wie vor allem die Behavioristen zu Recht immer wieder betont haben: Die Streckung des Beines
nach Reizung durch einen Gummihammer ist ein beobachtbarer Verhaltensvorgang eines menschlichen
Organismus, jedoch handelt natürlich der Organismus dabei nicht, weder rational noch irrational. Man sieht: Ein
bloß deskriptiv erfasster Verhaltensakt z.B. im Rahmen einer Schachspielpartie bedarf der Deutung und genau
dies leistet der Handlungsbegriff. Verfügt der Beobachter nicht über hinreichende Kenntnisse bezüglich der
Regeln, die die Ordnung des Spiels ausmachen, so kann er die entsprechenden Spielhandlungen auch nicht
sinnadäquat deuten, ganz einfach deshalb, weil er sie nicht versteht. Dem Verhalten eines jungen Mädchens,
welches in einem Kaufhaus in der Kosmetikabteilung einen Lippenstift in seine Handtasche steckt, sieht man ja
zunächst einmal nicht an, um was für eine Art von Handlung es sich hierbei dreht. Erst durch Interpretation z.B.
durch den in dieser Beziehung hochvigilanten und zur Beurteilung des betreffenden Verhaltens kompetenten
Warenhausdetektiv klärt sich auf, dass wir es hier mit einer sog. „Diebstahlshandlung“ zu tun haben.
282
psychopathologische Verhaltensmuster bezieht, wesentlich defizient ist, wenn sie sich dieser
„Begriffslehre des sozialen Handelns“ nicht explizit versichert. In thetischer Überschärfung
formuliert aber heißt das: Jede bisher vorgelegte Ätiologie abnormer Verhaltensmuster leidet
unter
dieser
Schwäche.214
Die
Argumentation
trifft
gleichermaßen
mangelhafte
Repräsentanten psychiatrischer Publikationen wie auch solch bewundernswerte Arbeiten wie
die von Redlich und Freedman oder Resch et al. Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt
nun noch einmal den Katalog genauer an, wobei wir schon jetzt darauf achten wollen, dass
der Rationalitätsbegriff assoziiert ist mit den Begriffen der „Mündigkeit“, der „Ich-Stärke“,
der „Selbstverantwortlichkeit“ und des „Normal-Ich“. Wir sprechen also hier vom
„Typischen“ nicht jedoch von jemandem der sich gelegentlich in der genannten Art und
Weise verhält.
Als erstes muss gesehen werden, dass wir den Begriff des Handelns durch den Begriff des
Verhaltens ersetzen müssen.
Dann erhalten wir:
Katalog III
1. Ein Individuum, welches sich irrational verhält, hat erhebliche Schwierigkeiten sich
entscheidungsrelevant zu verhalten. Es ist unfähig angesichts ganz bestimmter
momentan gegebener Entscheidungssituationen Wahlalternativen korrekt einschätzen
bzw.
wahrnehmen
zu
können.
[Sind
diese
Kriterien
tatsächlich
persönlichkeitsspezifisch so wird – auf unser Beispiel angewandt – ein solches
Individuum wohl kaum in der Lage sein die Rolle eines erfolgreichen und
verantwortungsbewussten Verkehrsteilnehmers zu übernehmen].
2. Ein Individuum welches sich irrational verhält, zeigt massive Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten. Insbesondere jene Teilklasse sozialen Verhaltens, die in den
214
Siehe hierzu auch die vielleicht etwas zu hart ausgefallene Kritik in dem Abschnitt „Forschungsstand“ der
Einleitung.
283
„Elementarformen sozialen Verhaltens“ unter dem Oberbegriff „Kooperation“
subsumiert wird, demonstriert erhebliche Defizienzen.
3. Ein Individuum welches sich irrational verhält, zeigt Beeinträchtigungen in seiner
kommunikativen Kompetenz (Gespräch).215 Es ist überdies auch nicht in der Lage,
Symbole situationsadäquat zu deuten.
4. Ein Individuum welches sich irrational verhält, hat massive Schwierigkeiten die
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die eine fiktive Entscheidung
mit sich bringen würden (logisches Implikat von 1), woraus sich sodann ergibt: Wenn
ein Individuum erhebliche Schwierigkeiten hat, sich entscheidungsrelevant zu
verhalten, dergestalt, dass es unfähig ist angesichts ganz bestimmter momentan
gegebener Entscheidungssituationen bzw. Wahlalternativen korrekt einschätzen bzw.
wahrnehmen zu können, dann hat dieses Individuum auch massive Schwierigkeiten,
die Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die eine fiktive
Entscheidung mit sich bringen würden.216 Der entscheidende Punkt um den es hierbei
geht: Es ist unwichtig, ob und in welchem Umfang die obige „Hypothese“, empirisch
validiert werden kann, wichtig ist ausschließlich die Möglichkeit, die obige Aussage
als empirisch falsifizierbare Hypothese deuten zu können. Dies jedoch setzt voraus –
und
hier
liegt
der
„Irrationalitätskonstrukt“
eigentliche
die
Clou
–
dass
idealtypologische
das
hier
verwendete
Konstruktion
des
Rationalitätskonstruktes definitorsich voraussetzt.
215
Auch hier weise ich explizit auf die obigen Ausführungen vor allem in Abschnitt II. 5. 4. hin, wo es um
das Gadamersche „Gespräch“ ging.
Ein Aspekt sollte in diesem Zusammenhang nämlich noch angesprochen werden, der in den „Katalogen“
leider viel zu kurz kommt. Gemeint ist der im „wissenschaftstheoretischen Thesenkatalog“ in Abschnitt II. 3. 2.
erwähnte: Der Begriff der „kommunikativen Kompetenz“ ist ebenso wie die Begriffe „Identität“,
„Identitätskrise“ etc. ein theoretischer Begriff dem unmittelbar sicherlich nichts „Beobachtbares“ korrespondiert.
Wir haben also hier dasselbe Problem wie in der Linguistik: Das „Sprechen“ ist – als „sprachliches Verhalten“ –
beobachtbar, nicht jedoch die „competence“. Und dasselbe gilt natürlich für die Fähigkeit Symbole adäquat
deuten zu können: Die Fähigkeit dies zu können, lässt sich natürlich nicht direkt beobachten. Und dennoch: An
dem gehäuft auftretenden rollendiskrepanten Verhalten eines vermeintlich kompetenten Skatspielteilnehmers,
welche die im Spiel auftretenden Spielkartensymbole ganz offenkundig nicht „richtig lesen“ kann, dürfte „immer
und überall“ relativ schnell deutlich werden, ob jemand hinreichend „skatspielkompetent“ ist oder nicht.
216
Genaugenommen stimmt das natürlich nicht, dann nämlich nicht, wenn wir die „Irrationalitätsliste“ als ein
Gefüge von empirischen Hypothesen auffassen: Ein Individuum kann sehr wohl in der Lage sein,
Entscheidungsimplikationen realitätsadäquat durchzusimulieren, und dennoch zu wirklichen Entscheidungen
völlig unfähig sein. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn auf mögliche Handlungskonsequenzen geschaut
284
5. (Weiteres Implikat der Sätze 1 und 4) Ein Individuum welches sich irrational verhält,
kann die Kosten nicht adäquat kalkulieren, die mögliche Entscheidungen mit sich
bringen würden. Anhand dieses Satzes, lässt sich nunmehr in Gestalt einer
empirischen Hypothese das schwierige Konstrukt der „Realitätsadäquanz“ einführen:
Können die Konsequenzen möglichen Entscheidungsverhaltens nicht adäquat
durchkalkuliert werden, so wird das Individuum mehr oder weniger drastisch dazu
gezwungen sein gegebene „Realitäten“ zu verzerren.
6. Ein Individuum welches sich irrational verhält, ist unfähig seine Interessen adäquat zu
kognizieren.
7. Ein Individuum welches sich irrational verhält, demonstriert ein konfliktiöses
Kompromissverhalten: Weil es seine Interessenlage nicht adäquat kognizieren kann,
ist auch seine Kooperativfähigkeit massiv beeinträchtigt, denn in kooperativ
vergemeinschafteten Teams bedarf es einer Synchronisation der je eigenen
Interessenlage mit den Interessen der „anderen“. Problemlos können wir dies nunmehr
auch positions- und rollentheoretisch beschreiben, nämlich:
8. Ein Individuum welches sich irrational verhält (Implikat von 2), zeichnet sich in
seinem Rollenverhalten defizient aus: Es kann sich in einem Sozialgefüge nicht
positional verorten und folglich auch nicht rollenadäquat verhalten. Es ist aus diesem
Grunde unfähig zu entscheiden was es wirklich will und welche Konsequenzen damit
verbunden sein könnten, wenn es sich für eine bestimmte Rolle in einem bestimmten
Handlungskontext entscheidet. Dies sodann der Ausgangspunkt für eine erste
präzisere Fassung des Identitätskonstrukts und des mit diesem assoziierten Konstrukt
der „Identitätskrise“, nämlich:
9. Ein Individuum welches sich irrational verhält – dies sozusagen ein allgemeines
Implikat der bisherigen Sätze –, zeigt streng soziologisch – d.h. aus dem Blickwinkel
dieser idealtypologischen Konstruktion des rationalen sozialen Handelns – massive
Beeinträchtigungen seines Identitätsverständnisses. Weil es nicht mehr weiß wo es
sich positional verorten soll bzw. kann und wie es sich rollengemäß zu verhalten hat,
ist es unfähig zu entscheiden, was es wirklich will wofür es sich entscheiden kann, soll
wird, die angsterregend sind. Hier kommt der Sachverhalt der „Phantasiebegabung“ ins Spiel, den wir eigentlich
wesentlich genauer hätten betrachten müssen.
285
ect.
ect.
Hier
ist
mit
Händen
zu
greifen,
dass
bei
bestimmten
persönlichkeitsspezifischen Voraussetzungen – die wir uns eigentlich genauer
anschauen müssten – ganz bestimmte sozialstrukturelle Bedingungen gegeben sein
können dafür, dass ein bestimmtes Individuum in eine Identitätskrise gerät, in eine
Station also gerät, in welcher es eben nicht mehr in der Lage ist, „seine“ Identität zu
konstruieren. Anhand des von Homans mitgeteilten Falles des jugendlichen
Kegelspielers wäre z.B. dieser Aspekt genauer zu betrachten sein. Hier halten wir
lediglich ganz allgemein fest:
10. Die Fähigkeit eines Individuums zu jener Form von subjektiver Sinnkonstruktion, die
wir Identitätskonstruktion nennen, ist positiv korreliert mit der Annäherung an das
Rationalitätskriterium und negativ korreliert
mit der Annäherung
an das
Irrationalitätskriterium. Verknüpfen wir diese Annahme sodann mit dem Begriff der
Identitätskrise, so folgt [zunächst einmal] eine Definition, welche besagt:
11. Es soll dann und nur dann von einer Identitätskrise gesprochen werden, wenn die
Fähigkeit zur subjektiven Identitätskonstruktion, welche ja immer zugleich auch eine
subjektive Sinnkonstruktion nach Weberschem Muster ist – mithin also die Fähigkeit
zum rationalen Handeln – massiv beeinträchtigt ist, woraus sich nunmehr
trivialerweise ergibt:
12. Identitätskrisen fördern die Tendenz zu irrationalem Verhalten. Und schließen wir
diese Aussage wiederum zusammen mit der von uns bisher entwickelten Thetik, dass
das Lernverhalten in einem systematischen Zusammenhang steht mit dem
Vorhandensein einer Identitätskrise, so folgt:
13. Maligne Identitätskrisen beeinflussen das Lernverhalten von Individuen negativ,
woraus sich trivialerweise eine etwas veränderte Fassung des zweiten Teils des Satzes
5 ergibt:
14. Maligne Identitätskrisen, dadurch definiert, dass die Fähigkeit zur subjektiven
Identitätskonstruktion und damit die Fähigkeit zu rationalem (sozialen) Handeln
massiv beeinträchtigt ist, wirken sich dahingehend aus, dass die Konsequenzen
möglichen Entscheidungsverhaltens nicht mehr adäquat durchkalkuliert werden
können,
mithin
das
Lernverhalten
massiv
Realitätsverzerrungen auftreten müssen.
286
beeinträchtigt
ist
und
folglich
Um verdeutlichen zu können, worum es hierbei geht, stellen wir zunächst einmal die
Frage:
Könnten wir in ähnlicher Weise, wie bei der Auflistung der Rationalitätskriterien (Katalog
I) vorgehen und die Irrationalitätskriterien als Postulate einführen?
Natürlich können wir das tun, nur müssen wir dann beachten, dass die Sätze anders gefasst
werden müssten als bei der Auflistung der Rationalitätskriterien, nämlich:
Wir nennen ein irrational (in diesem Fall) handelndes Individuum ein solches, welches
erhebliche Schwierigkeiten hat sich entscheidungsrelevant zu verhalten. Wir nennen es
deshalb so, weil es angesichts ganz bestimmter momentan gegebener Entscheidungssituation
unfähig ist, Wahlalternativen korrekt einschätzen bzw. wahrnehmen zu können. Unschwer zu
sehen ist gleichwohl, das man dann gezwungen wäre, wiederum das Verhaltensmuster der
„Entscheidungsrelevanz“ zu bestimmen, was mit ziemlicher Sicherheit erneut auf die Frage
nach den „Rationalitätskriterien“ zurückführen würde.
Oder aber:
Wir nennen ein Individuum „irrational“, wenn es Beeinträchtigungen in seiner
kommunikativen Kompetenz (Gespräch) zeigt. Ein solches Individuum ist überdies auch nicht
in der Lage, Symbole situationsadäquat zu deuten.
Usw. usw.
Später werden wir sehen, dass diese Nuancen in der Variation der sprachlichen Logik alles
andere als uninteressant sind. Dennoch:
So verführerisch es auch sein mag, den hier sich andeutenden Grundgedanken der
vorliegenden Arbeit bereits an dieser Stelle weiterzuführen, wollen wir hier abbrechen, da es
ja vorerst lediglich darum geht, in expliziten Propositionalkonstruktionen „vorzuführen“, was
alles an Selbstverständlichem in manchen psychiatrischen Diagnosen steckt, und zwar an
Selbstverständlichem, welches sich bei genauem Zusehen als hochproblematische unter der
Hand eingeführte Hintergrundsthese herausstellt.
Fragen wir erneut: Was fällt auf?
287
Der erste Punkt betrifft auch die sprachliche Form: Hier werden keine Kriterien für
irrationales Verhalten postulatorisch vorgeführt, vielmehr wurden sie aus dem ersten Katalog
abgeleitet, vorausgesetzt, man formuliert den Begriff der Irrationalität als Gegenbegriff, was
ja durch den umgangssprachlichen Gebrauch der entsprechenden Ausdrücke nahegelegt
werden würde. Konsequenterweise sind die dabei auftretenden Sätze wesentlich assertorisch,
nicht jedoch normativ, d.h. es handelt sich um Behauptungssätze. Problematisch ist in diesem
Zusammenhang allerdings der Begriff der „Ableitung“, denn in streng logischem Sinne lassen
sich assertorische Sätze nicht aus normativen Sätzen „ableiten“ und umgekehrt. Doch dies ist
ein Sonderproblem, auf welches wir auf dieser Stelle nicht eingehen wollen.
Da assertorische Sätze wahrheitsfähig sind (d.h. wahr oder falsch sein können), wäre
denkbar, dass es sich insgesamt bei den aufgeführten 14 (Katalog III) Sätzen um empirisch
falsifizierbaren Hypothesen mit Allgemeinheitsanspruch handelt. Dies ist z.T. ja auch der
Fall. Bei genauerem Hinsehen jedoch kommen bedenken. Das liegt daran, wie wir nunmehr
sehen können, dass der Irrationalitätsbegriff hierbei wesentlich auftritt, dass jedoch seine
Bedeutung, wie vor allem die Sätze 1-4 (Katalog III) zeigen, völlig von dem in der ersten
Liste (Katalog I) definitorisch festgelegten Rationalitätsbegriff abhängig ist. Und erst mit
dieser Voraussetzung gleiten wir in die Formulierung empirisch falsifizierbarer Hypothesen
hinüber, wie sodann die nachfolgenden Sätze des letzten Katalogs (Katalog III) zeigen. Und
dennoch: Auch bei diesen gilt, dass der postulatorisch eingeführte Rationalitätsbegriff seine
starke Stellung behauptet. Vor allem der 10. Satz (Katalog III) zwingt uns dazu, eine
Entscheidung darüber zu treffen, ob wir ihn als „Definition“ oder aber als „empirische
Hypothese“ betrachten wollen. Wie wir nunmehr tatsächlich sehen können, nimmt uns gerade
bei der Frage der Interpretation ganz bestimmter Teile idealtypologisch konstruierter Gebilde
niemand eine solche Entscheidung ab. Hier liegt offenkundig einer der Gründe dafür, dass die
Konstruktion einer empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie, welche denjenigen
wissenschaftlogischen Prinzipien zu genügen hätte, die in den vorangegangenen Abschnitten
der Arbeit ausführlich zur Sprache gekommen sind, so exorbitant schwierig ist. Doch dies
hier nur nebenbei.
Wie aber steht es nunmehr mit den jeweiligen entsprechenden Handlungskontexten und
den Sozialisationszielvorgaben?
Wichtig scheint mir vor allem zu sein, dass wir in jedem einzelnen Fall gezwungen sind,
Handlungskontexte, in denen die entsprechenden Verhaltensweisen jeweils auftreten, explizit
288
auszuzeichnen. Täten wir das nicht, so würden wir eine Theorie konstruieren, welche
Persönlichkeitstypen zu umschreiben versuchen würde. Nicht zufällig verschwimmen die
Grenzen nämlich in den letzten Aussagen, wo wir fast unmerklich dazu übergegangen sind
die Irrationalitätszuschreibungen als charakterologische Attributionen vorzunehmen. Sowie
wir die Kontextualindizierung weglassen, bewegen wir uns automatisch in Richtung auf
charakterologische
Zuschreibungen,
die
z.B.
einem
bestimmten
Patienten
„persönlichkeitsspezifische“ Eigenschaften attribuieren. Die hier beschriebene Schwierigkeit,
auf welche wir fast zufällig gestoßen sind, ist nämlich alles andere als ein Zufall. Bereits die
weiter oben vorgeführte Überlegung zur Vorzugsstellung der Begrifflichkeit der
kommunikativen Kompetenz zeigt sich das. Hier deutet sich nämlich das an, was in einer
möglichen Theorie der Sozialisation naturgemäß noch sehr viel genauer ausgeführt werden
müsste.
An dieser Stelle halten wir lediglich fest, dass insbesondere der zweite Teil der
vorgeführten Sätze des dritten Katalogs nicht mehr ganz so eindeutig „ins Bild passt“.
Zweifellos liegt das daran, dass wir hierbei begonnen haben, Charaktereigenschaften zu
postulieren, die wir einem bestimmten Individuum dauerhaft attribuieren.217 Des weiteren
halten wir fest, dass wir angesichts bestimmter Sätze nicht unbedingt von vorneherein klar
sagen können, ob es sich dabei (noch) um begriffliche Konstruktionen oder vielleicht schon
um empirisch falsifizierbare Hypothesen handelt. Warum es mir so sehr auf genau diesen
Aspekt ankommt, kann mühelos aus meiner einleitend formulierten Kritik an der gängigen
„Theorie und Praxis der Psychiatrie“ angesichts der Skizzierung des „Forschungsstandes“
abgelesen werden.
Interpretation unserer bisherigen drei Kataloge (vorläufiges Fazit):
Der erste Katalog designiert ein idealtypologisches Konstrukt, indem es ein Ensemble von
„Grundannahmen“ repräsentiert, die als Maßstab dienen für Beschreibungen und Erklärungen
von Phänomenen, die wir in der Realität antreffen. Auf die Funktionen solcher
idealtypologisch gefassten Grundannahmen für die Beschreibung der Wirklichkeit müsste
217
Ich erinnere hier an die Eingangsthetik: Die Malignität bzw. Benignität einer Identitätskrise, ablesbar an
genuin irrational/rationalen Formen der Wirklichkeitsverarbeitung, ist Resultante der Persönlichkeitsstruktur, die
selbst wiederum Resultante des bis dahin stattgehabten Sozialisationsprozesses ist.
289
eigentlich genauer eingegangen werden, als es hier geschehen kann, wir können jedoch
bereits an dieser Stelle das Verhältnis von idealtypologischen Konstruktionen zu empirisch
falsifizierbaren Hypothesen demonstrieren.
Während die erste Liste eine erste vorläufige Skizzierung des Idealtypus „rationales
Handeln“ repräsentiert, fällt – und dies ist methodisch von entscheidender Bedeutung – an der
dritten Liste zunächst einmal auf, dass die Konstruktion eines Idealtypus „irrationales
Handeln“ gar nicht möglich ist.218 Dies ist jedoch nicht nur deswegen nicht der Fall, weil wir
Gefahr liefen, auf einen logischen Selbstwiderspruch hin zu arbeiten, sondern deshalb, weil
wir aus dem Blickwinkel des idealtypisch konstruierten „rationalen Handelns“ zwei Klassen
von – wie wir hoffen – theoriefähigen Hypothesen herleiten wollen. Dabei bezieht sich die
eine Menge von Hypothesen auf das irrationale Verhalten. Dieser Punkt ist von großer
Bedeutung, zeigt sich doch, dass das in Katalog III erstellt Profil irrationalen Verhaltens
wesentlich komplementar bezogen ist auf das zuvor erstellte Modell rationalen Handelns.
Um zu eingehender zu demonstrieren worum es hier geht, etablieren wir eine vierte Liste:
Katalog IV
1. Ein Individuum welches sich rational verhält, hat keine erheblichen Schwierigkeiten
bzw. weniger Schwierigkeiten sich entscheidungsrelevant zu verhalten. Angesichts
ganz bestimmter momentan gegebener Entscheidungssituationen kann es relativ gut
Wahlalternativen einschätzen bzw. wahrnehmen.[Denn handelt es – gemäß den
Kriterien des ersten Katalogs – rational, so hat es überhaupt keine Schwierigkeiten
sich entscheidungsrelevant zu verhalten und folglich kann es auch optimal
Wahlalternativen einschätzen und wahrnehmen]
2. Ein Individuum welches sich rational verhält, zeigt manchmal weniger manchmal
mehr Beeinträchtigungen in seinem Sozialverhalten. [Denn handelt es – gemäß den
Kriterien des ersten Katalogs – rational, so zeigt es überhaupt keine Schwierigkeiten
218
So lässt sich bezeichnenderweise bezüglich solch massiver Mentalerkrankungen wie der Schizophrenie
gerade nicht behaupten, deren Kriterien würden zusammenfallen mit den Extremwerten für Irrationalität.
290
in seinem Sozialverhalten. Es handelt streng rational und bezieht sich in seinem
Verhalten auf das gleichfalls von ihm als streng rational eingeschätztes Verhalten
anderer. Und tut es dies zu Recht, so dass auch sein Gegenüber sich in genau diesem
Sinne streng rational verhält, dann haben wir eine Handlungskonfiguration vor uns,
die
den
Kriterien
des
Arche-Typos
rationalen
Gesellschaftshandelns
des
Markttausches genügt.]
3. Ein Individuum welches sich rational verhält, hat keine, manchmal weniger manchmal
mehr Beeinträchtigungen in seiner kommunikativen Kompetenz. [Denn handelt es –
..... – rational, dann ist seine kommunikative Kompetenz niemals beeinträchtigt.
Hierbei gilt dasselbe wie bezüglich die im zweiten Satz skizzierte Situation: Sind
beide Handlungspartner im vollen Sinne kommunikativ kompetent und geht es ihnen
darum, ein Problem wirklich zu lösen, so verhalten sie sich, wie man so schön sagt,
streng sachlich und wir haben dann eine Handlungskonfiguration vor uns, welche den
von Gadamer gesetzten Kriterien des vernünftigen Gespräches genügt.]
4. Ein Individuum welches sich rational verhält, hat keine massiven bzw. weniger, oder
zwischendurch mehr Schwierigkeiten. [Denn handelt es – ......... – rational, dann hat es
überhaupt keine Schwierigkeiten die Möglichkeiten und Implikationen adäquat
abzuschätzen, die eine fiktive Entscheidung mit sich bringen würde. Und nimmt ein
solches Individuum an einem Markttausch oder an einem wissenschaftlichen Gespräch
(im Gadamerschen Sinne) teil, so ...... . Wir können das jetzt mühelos auch auf die
Bedingungen des ersten Satzes in diesem Katalog „umrechnen“ wie man sieht.]
5. Ein Individuum welches sich rational verhält, kann die Kosten, welche mögliche
Entscheidungen
mit
sich
bringen
würden,
entscheidungsvariierend
adäquat
kalkulieren [Denn handelt es – ......... – rational, so kann es seine Kosten welche
mögliche Entscheidungen mit sich bringen immer adäquat einkalkulieren] und
folgerichtig ist ein Individuum welches sich in diesem Sinne rational verhält, nicht
gezwungen, gegebene Realitäten zu verzerren. Ein solches Individuum ist damit in der
Lage
aus
Fehleinschätzungen
gemäß
Bedingungen zu lernen.
291
den
nunmehr
tatsächlich
gegebenen
6. Ein Individuum welches sich rational verhält, ist fähig manchmal weniger manchmal
mehr, seine Interessen adäquat zu kognizieren. [Denn handelt es – ......... – rational,
dann kann es immer seine Interessen adäquat kognizieren].
7. Ein Individuum welches sich rational verhält, demonstriert weniger oder kein
konfliktiöses
Kompromissverhalten:
Weil
es
seine
Interessenlage
adäquat
entscheidungsvariierend kognizieren kann, ist auch seine Kooperationsfähigkeit
keineswegs beeinträchtigt, denn in kooperativ vergemeinschafteten Teams bedarf es
einer Synchronisation der je eigenen Interessenlage mit den Interessen der „anderen“.
[Denn handelt es – ......... – rational, dann demonstriert es überhaupt kein konfliktiöses
Kompromissverhalten: Es kann seine Interessenlage adäquat kognizieren und seine
Kooperationsfähigkeit ist überhaupt nicht beeinträchtigt. Auch hierbei können wir
mühelos eine positionen- und rollentheoretische Kasuistik entwickeln wie man sieht.
Beispiele wären Mannschaftsteams, Forschungsgruppen etc. Nämlich:].
8. Ein Individuum welches sich rational verhält, zeichnet sich in seinem Rollenverhalten
weniger oder gar nicht defizient aus: Es kann sich in einem Sozialgefüge fast immer
positional verorten und folglich auch fast immer rollenadäquat verhalten. Es ist aus
diesem Grunde mehr bzw. weniger fähig zu entscheiden was es wirklich will und
welche Konsequenzen damit verbunden sein könnten, wenn es sich für eine bestimmte
Rolle entscheidet. [Denn handelt es – ........... – rational, dann hat es keine Defizienzen
in seinem Rollenverhalten. Es kann sich in einem Sozialgefüge immer positional
verorten und folglich immer rollenadäquat verhalten. Aus diesem Grunde kann es sich
immer entscheiden was es will und welche Konsequenzen damit verbunden sein
könnten, wenn es sich für eine bestimmte Rolle entscheidet]. Dies sodann der
Ausgangspunkt für eine erstere präzisere Fassung des Identitätskonstrukts und des mit
diesem assoziierten Konstrukt der „Identitätskrise“, nämlich:
9. Ein Individuum welches sich rational verhält, zeigt auch rollenstrukturell, d.h. in
diesem Sinne streng soziologisch keine massive Beeinträchtigungen seines
Identitätsverständnisses. [Ein rational handelndes Individuum .....]: Weil es „in der
Regel“ bzw. „normalerweise“ wie und wo es sich positional verorten soll bzw. kann
und wie es sich rollengemäß zu verhalten hat, ist es in der Regel ja auch imstande, zu
entscheiden, was es wirklich will, wofür es sich entscheiden kann, soll etc. Interessant
wird die Sache allerdings, wenn ein solcher Art rationales Individuum in einen echten
292
Rollenkonflikt gerät. Interessant vor allem auch deshalb, weil wir in diesem
Zusammenhang noch gar keine Anleihe tätigen müssen bei der Psychoanalyse. Wie
sich nämlich anhand des von Homans mitgeteilten Falles des jugendlichen
Kegelspielers zeigen lässt, gerät dann auch ein eigentlich ganz normal rational
Handelnder ausschließlich wegen des permanenten Rollenkonflikts in eine
Identitätskrise. Ob und inwiefern dieses Individuum dann auch bestimmte Symptome
zeigt, Fehlverhalten oder nicht, hängt dann gerade nicht von seinen unbewussten
Triebstrukturen ab, sondern wesentlich vom Verhalten der Gruppenmitglieder ihm
gegenüber ab. Aber auch hier halten wir fest:
10. Die Fähigkeit eines Individuums zur (subjektiven) Identitätskonstruktion ist positiv
korreliert mit der Annäherung an das Rationalitätskriterium und negativ korreliert mit
der Annäherung an das Irrationalitätskriterium. Verknüpfen wir diese Annahme
sodann
mit
dem
Begriff
der
„Identitätskrise“
so
folgt
(zunächst)
eine
Doppeldefinition, welche besagt:
11. Wenn die Fähigkeit eines Individuums zur (subjektiven) Identitätskonstruktion positiv
korreliert ist mit der Annäherung an das Rationalitätskriterium und negativ korreliert
ist mit der Annäherung an das Irrationalitätskriterium, so ergeben sich trivialerweise
zwei Klassen von Identitätskrisen: benigne, bei denen das betreffende Individuum
seine Fähigkeit zur (subjektiven) Identitätskonstruktion beibehält, was es als ein „im
Prinzip“, d.h. charakterologisch, rational kompetent handelndes Individuum ausweist,
und
maligne,
bei
denen
dieses
Individuum
seine
Fähigkeit
zur
(subjektiven)Identitätskonstruktion (zunehmend) einzubüßen droht, was dieses
Individuum als ein „im Prinzip“, d.h. ebenfalls charakterologisch, irrational wie auch
sozial inkompetent sich verhaltendes Individuum ausweist. Hoch interessant ist nun,
wie ich meine, was dann aus unserer Aussage 12 im dritten Katalog wird. Wir haben
hierbei natürlich nämlich eine glatte Bestätigung unserer Eingangsausführungen, was
ausformuliert so aussieht:
12. Identitätskrisen als solche fördern keineswegs immer die Tendenz zu irrationalem
Verhalten. Es hängt vielmehr von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur, von dem
Charakter
und
mithin
von
dem
jeweiligen
bis
dahin
stattgehabten
Sozialisationsverlauf ab, ob ein bestimmtes Individuum mehr zu malignen oder mehr
zu benignen Identitätskrisen tendiert. In beiden Fällen geht es aber um die jeweils an
293
das
Rationalitätskriterium
gebundene
Fähigkeit
zur
(subjektiven)
Identitätskonstruktion, deren Ursprünge, wie wir nunmehr zu vermuten mehr als
genug Anlass haben, sich irgendwo in den jeweiligen sozialstrukturellen Bedingungen
der jeweiligen primordialen Sozialisationsphase auffinden lassen. Denn schließen wir
die in dieser Aussage involvierte Erkenntnis wiederum mit der von uns bisher
entwickelten Thetik zusammen, dass das Lernverhalten, in diesem Falle also die
Fähigkeit zur situations- und realitätsadäquaten kognitiven Umorientierung, in einem
systematischen Zusammenhang steht mit dem Vorhandensein einer (malignen oder
benigen) Identitätskrise, so folgt:
13. Während maligne Identitätskrisen, die ihren „Ursprung“ in den sozialstrukturellen
Verhältnissen der frühen Kindheit haben, das Lernverhalten eines Individuums negativ
beeinflussen – es wird mithin ein Zusammenhang behauptet zwischen malignen
Identitätskrisen und den sog. „pathologischen“ Lernvorgängen, wie sie vor allem
Deutsch beschrieben hat –, beeinflussen benigne Identitätskrisen, welche ja ebenfalls
ihren „Ursprung“ in den sozialstrukturellen Verhältnissen der frühen Kindheit haben,
das Lernverhalten eines Individuums positiv, woraus sich, wie nunmehr zu sehen, eine
sehr veränderte Fassung des zweiten Teils des Satzes 5 der bisherigen Kataloge ergibt:
14.
Während maligne Identitätskrisen, dadurch definiert, dass die – gleichfalls in der
frühen Kindheit erworbene – Fähigkeit zur subjektiven Identitätskonstruktion und
damit
die
Fähigkeit
zu
rationalem,
nämlich
subjektiv
sinnvollem
und
absichtsgeleitetem (sozialen) Handeln massiv beeinträchtigt ist, sich dahingehend
auswirken, dass die Konsequenzen möglichen Entscheidungsverhaltens nicht mehr
adäquat
durchkalkuliert
werden
können,
mithin
das
Lernverhalten
massiv
beeinträchtigt ist und folglich sowohl Lernblockaden als auch Realitätsverzerrungen
auftreten (müssen), wirken sich benigne Identitätskrisen, dadurch definiert, dass die
–
gleichfalls
in
der
Kindheit
erworbene
–
Fähigkeit
zur
subjektiven
Identitätskonstruktion und damit die Fähigkeit zu rationalem, nämlich subjektiv
sinnvollem und absichtsgeleitetem (sozialen) Handeln nicht nur vollständig erhalten,
sondern – dies ein Implikat des Verstärkergesetztes – überdies massiv gestärkt wird,
was
wiederum
die
Konsequenz
hat,
dass
die
Konsequenzen
möglichen
Entscheidungsverhaltens immer besser und immer adäquater durchkalkuliert werden
können, mithin auch das Lernverhalten sich immer besser gestaltet und irgendwelche
294
Lernblockaden „abgebaut“ werden (können), weil Realitätsverzerrungen überhaupt
nicht notwendig sind.
Auch bei diesem Katalog fällt das auf, was wir bereits beim „Irrationalitätskatalog“ haben
sehen können. Darüber hinaus jedoch zeigt sich nun:
Der vorstehende Katalog demonstriert die Transformation eines ansonsten lediglich
klassifikatorisch gefassten Begriffsgefüges in ein Gefüge von komparativen Begriffen. Damit
tragen wir dem Postulat Rechnung, Eigenschaftsbegriffe in operante Begriffe umformen zu
müssen, wenn wir Wert darauf legen, mittels eines bestimmten Vokabulars empirisch
falsifizierbare Hypothesen bzw. Theorien formulieren zu wollen. Der vorstehende Katalog
selbst könnte nicht als Arsenal bereits formulierter empirischer Hypothesen fungieren. Auch
er verbleibt im Stadium noch der rein begrifflichen Klärung, was deutlich wird, wenn man die
in den eckigen Klammern ausgeführten Zusätze betrachtet. Würde man ihn als ein Katalog
von empirischen Hypothesen auffassen, so würden die dabei resultierenden Aussagen keinen
empirischen Gehalt haben. Dies ist sofort ersichtlich, wenn wir einige herausgegriffene
Aussagen in diejenige Form bringen, die für empirische Aussagen gültig ist. Im ersten Fall
würde er dann in der überschärften Weise, wie in der eckigen Klammer aufgeführt wurde,
lauten:
Wenn ein Individuum sich rational verhält, dann hat es überhaupt keine Schwierigkeiten,
sich entscheidungsrelevant zu verhalten.
Der Satz hätte nur dann empirischen Gehalt, wenn das Antecedenz „rational“ unabhängig
definiert werden könnte vom Konsequenz, was aber natürlich nicht der Fall, da mit Hilfe des
Konsequenz das Antecedenz ja definitorisch festgelegt ist.
Die Ausbeute dieser Überlegung scheint sich also zunächst einmal darauf zu beschränken,
dass wir hierbei lediglich Komparativierungen der Begrifflichkeiten gewonnen haben. Wie
jedoch die immer komplizierter werdenden Bemühungen um klare Aussagen im zweiten Teil
dieses Katalogs IV sinnenfällig demonstrieren, ist das keineswegs der Fall, worauf weiter
unten zurückzukommen sein wird, wenn wir versuchen werden, Beziehungen zwischen den
hier aufgeführten Eigenschaften herzustellen und mit operativen Begrifflichkeiten zu arbeiten
beginnen. An dieser Stelle bleiben wir jedoch zunächst einmal etwas bescheidener, weil es
295
uns dabei vorerst um den Zusammenhang zwischen den Komparativierungen mit der Bildung
von Extremtypen geht. Also:
Derjenige Begriff der hier im Mittelpunkt steht ist der Begriff der „Rationalität“. Er wird
nunmehr komparativiert und zugleich präzisiert.
Wir können nämlich nunmehr mittels unseres Rationalitätsbegriffs Extremtypen bilden.
Extremtypen zeichnen sich dadurch aus, dass sie wie die Idealtypen auf keine empirisch
vorfindlichen Struktur zutreffen. Für den Rationalitätsbegriff im Hinblick auf den
Handlungsbegriff ist die Angelegenheit klar: Es gibt ganz einfach kein Individuum welches in
idealtypischer Reingestalt den genannten Kriterien genügen könnte. Auf unseren Katalog
angewendet heißt das z.B.: Jedes empirisch vorfindliche Individuum hat in irgendeiner Weise
irgendwelche Schwierigkeiten, sich entscheidungsrelevant zu verhalten. Hat es diese jedoch
generell,
so
dürfte
sein
Rollenlernverhalten
massiv
blockiert
sein,
wie
am
Verkehrsteilnehmerbeispiel sinnfällig ablesbar. Wir können nunmehr auch sehen, inwiefern
es zwar keinen Idealtypus für „Irrationalität“ gibt, sehr wohl jedoch lässt sich ein Extremwert
angeben, dem bestimmte Individuen sich annähern können. Und damit haben wir
(möglicherweise) den Übergang von der komparativen Begriffsbildung zu komparativen
Hypothesen, die wahr oder falsch sein können:
Katalog V
1. Je größer die Schwierigkeiten sind, die ein bestimmtes Individuum damit hat, sich
entscheidungsrelevant in bestimmten Situationen zu verhalten, desto mehr entfernt
sich dieses Individuum vom reinen Typ „rationalen Handelns“ und nähert sich dem
Irrationalitätskriterium. (Wir haben hier ebenso eine definitorische Festsetzung wie
beim ersten Katalog, denn wir können ja mühelos ein „soll“ einführen, ohne dass der
Sinn des Satzes verändert werden würde. Und genau dasselbe gilt weiterhin, wie
unschwer zu erkennen.)
2. Je mehr ein Individuum Beeinträchtigungen seines Sozialverhaltens zeigt, desto mehr
nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
296
3. Je mehr ein Individuum Beeinträchtigungen seiner kommunikativen Kompetenz zeigt,
desto mehr nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
4. Je mehr ein Individuum massive Schwierigkeiten zeigt, Möglichkeiten und
Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen mit sich bringen,
desto mehr nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
5. Je mehr ein Individuum seine Kosten, welche mögliche Entscheidungen mit sich
bringen würden, nicht entscheidungsvariierend adäquat kalkulieren kann, desto mehr
nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung). Und: Je
weniger
ein
Individuum
imstande
ist,
die
Kosten,
die
ein
mögliches
Entscheidungsverhalten mit sich bringen würden, zu kalkulieren, desto größer ist die
Gefahr, dass dieses Individuum zu Realitätsverzerrungen tendiert. [definitorische
Festsetzung oder empirische Hypothese?]
6. Je mehr ein Individuum zeigt, dass es seine Interessen nicht adäquat kognizieren kann,
desto mehr nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
7. Je mehr ein Individuum ein konfliktiöses Kompromissverhalten demonstriert, desto
mehr nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
8. Je mehr ein Individuum sich in seinem Rollenverhalten defizient auszeichnet, desto
mehr nähert es sich dem Irrationalitätskriterium. (definitorische Festsetzung)
9.
???
10. Je stärker die Fähigkeit eines Individuums zur (subjektiven) Identitätskonstruktion
beeinträchtigt ist, desto mehr nähert dieses Individuum dem Irrationalitätskriterium.
11. Es soll dann und nur dann von einer Identitätskrise gesprochen werden, wenn die
Beeinträchtigung eines Individuums zur (subjektiven) Identitätskonstruktion dem
Grenzwert der Irrationalität zustrebt. (definitorische Festsetzung)
12. Identitätskrisen, d. h. massive Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur (subjektiven)
Identitätskonstruktion, fördern die Tendenz zu irrationalem Verhalten, und je öfter
seitens des jeweiligen sozialen Umfeldes diese Tendenz zu irrationalem Verhalten
bzw. zur Realitätsverzerrung belohnt wird bzw. worden ist, desto mehr verstärken sich
die identitätskritischen Aspekte. Und je mehr wiederum dadurch die Fähigkeit zur
297
(subjektiven) Identitätskonstruktion beeinträchtigt wird, desto mehr => maligne
Identitätskrisen !!!
13. ... ?
14. ... ?
Auch hier bewegen wir uns, wie man sieht, noch im Bereich der Begriffskonstruktion,
geraten
dabei
jedoch
zunehmend
in
die
weiter
oben
bereits
beschriebenen
Entscheidungsschwierigkeiten, was ganz einfach daran liegt, dass unsere „im Hintergrund
mitspielenden“ theoretischen Überzeugungen noch nicht zu einer allgemeinen Theorie der
Identitätskrisen haben ausgebaut werden können. Dafür nämlich benötigen wir sehr viel
stärkere Anleihen bei der lerntheoretischen Forschung. Wir brauchen nämlich eine
Sozialisationstheorie, wie eingangs behauptet. Ich verweise hier lediglich darauf, dass wir
„urplötzlich“ mit dem Belohnungsbegriff zu arbeiten gezwungen gewesen sind, was alles
andere als ein Zufall ist, ist doch der Belohnungsbegriff bzw. der in der behavioristischen
Sprache gebrauchte Verstärkerbegriff einer der tragenden Begriffe aller Lerntheorien.
Wie aber, so muss die an dieser Stelle sich ergebende, entscheidende Frage lauten,
gewinnen wir aus diesen Begriffskonstruktionen überhaupt empirisch überprüfbare
Hypothesen? Denn gesucht wird ja ein theoretisches System, welches den kausalen
Zusammenhang
zwischen
(malignen)
Identitätskrisen
und
ganz
bestimmten
psychopathologisch auffälligen Verhaltensmustern konstruiert.
Es ergeben sich sodann nun weitere acht Kataloge, in denen erstens den bisherigen
Satzkonstruktionen die Form streng allgemeiner Allaussagen gegeben wird und in denen
zweitens die bisher aufgeführten Attributionen miteinander „korreliert“ werden. Wir bedienen
uns dabei der sog. „halbformalen Sprechweise“.
298
Katalog VI
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird dieses
Individuum auch in bestimmten Situationen massive Beeinträchtigungen seines
Sozialverhaltens zeigen. (Empirische Hypothese, die sich zum einen auf den idealen
Fall der Rationalität, zum anderen auf den kontrapositionellen Extremfall der
Irrationalität beziehen lässt. Auszeichnungsbedürftig sind sodann genau diejenigen
Situationen, in denen die behauptete Korrelation wesentlich und konstant auftritt.)
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird dieses
Individuum auch in ganz bestimmten Situationen starke Beeinträchtigungen seiner
kommunikativen Kompetenz zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird dieses
Individuum auch in bestimmten Situationen massive Schwierigkeiten haben
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann ist dieses
Individuum in genau solchen Situationen auch nicht in der Lage, die Kosten adäquat
zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen würden.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird dieses
Individuum auch in bestimmten Situationen Schwierigkeiten haben seine Interessen
adäquat kognizieren zu können.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird in solchen
Situationen auch das Kompromissverhalten dieses Individuums umso konfliktiöser
sein.
299
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann wird auch in solchen
Situationen das
Rollenverhalten dieses Individuums umso defizienter sein, was
bedeutet: Es kann sich, weil es sich in bestimmten Situationen nicht so recht
entscheidungsrelevant
verhalten
kann,
in
bestimmten
Rollenkontexten
(Handlungskonfigurationen, Sozialgebilden) nicht positional verorten und folglich
auch nicht rollenadäquat verhalten. Es ist (auch) aus diesem Grunde unfähig zu
entscheiden, was es wirklich will und welche Konsequenzen damit verbunden sein
könnten, wenn es sich für eine bestimmte Rolle in einem bestimmten
Handlungskontext entscheidet. Dies auch hier sodann der Ausgangspunkt für eine
erste präzisere Fassung des Identitätskonstrukts und des mit diesem Konstrukt
assoziierten Konstrukts der Identitätskrise, nämlich:
8. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten hat sich in
bestimmten Situationen entscheidungsrelevant zu verhalten, dann deutet das auf
massive Beeinträchtigungen seines Identitätsverständnisses. Denn nach Obigem gilt
ja: Die Kompetenz, sich positional zu verorten, um sich sodann eben auch
rollengemäß verhalten zu können ist positiv korreliert mit der Kompetenz zur
(subjektiven) Identitätskonstruktion.
9. Usw.
10. Usw.
11. Usw.
12. Usw.
13. Usw.
14. Maligne Identitätskrisen und die Tendenz zu Realitätsverzerrungen korrelieren positiv.
Interpretation: An diesem Katalog ist erstens abzulesen, dass genau dann, wenn wir bei
einem ganz bestimmten Individuum z. B. mittels „Testung“ die entsprechenden
Behauptungen „verifizieren“ können, wir uns in Richtung auf eine Charakterologie bewegen,
was die Konsequenz hat, medizinisch die Persönlichkeitsstruktur eines Patienten bestimmen
300
zu wollen. Und zweitens ist an ihm abzulesen, dass es einen massiven Unterschied macht, ob
wir alle hierbei aufgeführten und für „typisch“ gehaltenen Zusammenhänge als „empirisch
gesichert“ betrachten und zur personalkonfigurativen Kennzeichnung geeignet voraussetzen –
mit diesen „Hypothesen“ also diagnostisch umgehen – oder aber, ob wir sie als zu prüfende
Hypothesen auffassen, um erst noch so etwas wie eine typische psychiatrische Personalität
konstruieren zu können. Worauf es hier zunächst einmal ausschließlich ankommt, ist, dass
sich die aufgewiesenen „wechselseitigen Abhängigkeiten“ als empirisch falsifizierbare
Hypothesen deuten lassen, mit deren Hilfe sodann ja auch Erklärungen sowie Prognosen
formulierbar wären. Und sie gesagt: Hier kommt es nur und ausschließlich auf die
Möglichkeit einer solchen Deutung an, nicht das geringste wird jedoch damit bereits über die
tatsächliche empirische Validität der entsprechenden Hypothesen ausgesagt. Die fraglichen
Hypothesen können falsch sein und nur darauf beruht, wie oben anhand des DN-Schemas
ausgeführt, ihr empirischer Gehalt.
Dasselbe können wir dann an allen Beispielen durchexerzieren, was der Vollständigkeit
halber – und notwenig langweiligerweise – dann so aussieht:
Katalog VII
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive
Schwierigkeiten haben, sich entscheidungsrelevant zu verhalten. (Wir haben hier die
Indizierung weggelassen, weil wir auf den charakterologischen Zug in den hier
aufgeführten Korrelationen aufmerksam machen wollen. Es ergibt sich dann: Bei
Individuen, die zu irrationalen Verhaltensweisen tendieren, zeigt sich eine ausgeprägt
hohe Korrelation zwischen Beeinträchtigungen im Sozialverhalten einerseits und
massiven Schwierigkeiten, sich entscheidungsrelevant zu verhalten, andererseits.
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem
Sozialverhalten
zeigt,
dann
wird
dieses
Individuum
auch
starke
Beeinträchtigungen seiner kommunikativen Kompetenz zeigen. (Auch hier ergibt sich
301
die behauptete Korrelation, die auf Tendenzen zu irrationalen Verhaltensmustern
verweisen.)
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive
Schwierigkeiten haben Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die
fiktive Entscheidungen mit sich bringen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage, die
Kosten adäquat zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten haben
seine Interessen adäquat kognizieren zu können.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann wird das Kompromissverhalten dieses Individuums
umso konfliktiöser sein.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erheblich Beeinträchtigungen in
seinem Sozialverhalten zeigt, dann wird das
Rollenverhalten dieses Individuums
umso defizienter sein.
Der eigentlich interessante Fall ist nun der folgende:
Katalog VIII
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive
Schwierigkeiten haben, sich entscheidungsrelevant zu verhalten.
302
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive
Beeinträchtigungen seines Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive
Schwierigkeiten haben Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die
fiktive Entscheidungen mit sich bringen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage,
die Kosten adäquat zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten
haben seine Interessen adäquat kognizieren zu können.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird das Kompromissverhalten dieses
Individuums umso konfliktiöser sein.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x erhebliche Schwierigkeiten in seiner
kommunikativen Kompetenz zeigt, dann wird auch das Rollenverhalten dieses
Individuums umso defizienter sein, was bedeutet: Für jedes Individuum, dessen
kommunikative Kompetenz massiv beeinträchtigt ist, gilt, dass es sich in bestimmten
Rollenkontexten (Handlungskonfigurationen, Sozialgebilden) nicht positional verorten
und folgerichtig auch nicht rollenadäquat verhalten kann. ...
8. ....
9. ....
10. ....
11. ....
12. ....
303
13. ....
14. Für alle x ... : Massive Beeinträchtigungen der kommunikativen Kompetenz
korrelieren positiv mit der Tendenz zu malignen Identitätskrisen, woraus
trivialerweise folgt:
15. Massive Beeinträchtigungen der kommunikativen Kompetenz und die Tendenz zu
pathologischen Lernprozessen, bei denen notorisch Realitätsverzerrungen zu
beobachten sind, korrelieren positiv.
Der hier durchgespielte Fall ist deswegen so interessant, weil es sich anbietet, ganz
allgemein die Variable der „kommunikativen Kompetenz“ mittels der konsequenten
Konstruktion der anderen korrelativen Zusammenhänge definitorisch festzulegen, sodann mit
dem Extremtypus der Irrationalität in Verbindung zu bringen und schließlich auf das
Konstrukt der „Tendenz zu pathologischen Formen der Realitätsverarbeitung“ zu beziehen.
Wir hätten dann: Sind bei einem bestimmten Individuum „in voller Blüte“ alle vorgeführten
Korrelationen vorhanden, so gilt die eventuell als empirische Hypothese interpretierbare
Aussage: Das Ausmaß der geschädigten kommunikativen Kompetenz bei einer bestimmten
Persönlichkeit,
gemessen
an
dem
jeweiligen
Gegebenheitsgrad
der
aufgeführten
Korrelationen, kovariiert mit der Zunahme an Irrationalität, d. h. mit der Zunahme der
Tendenz zu genuin pathologischen Formen der Realitätsverarbeitung.
Katalog IX
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann wird dieses Individuum auch Schwierigkeiten haben sich
entscheidungsrelevant zu verhalten.
2.
Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
304
mit sich bringen, dann wird dieses Individuum auch massive Beeinträchtigungen
seines Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann wird dieses Individuum auch starke Beeinträchtigungen seiner
kommunikativen Kompetenz zeigen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage, die Kosten
adäquat zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen würden.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten haben seine Interessen
adäquat kognizieren zu können.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann wird das Kompromissverhalten dieses Individuums umso
konfliktiöser sein.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und x massive Schwierigkeiten zeigt
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen, dann wird das Rollenverhalten dieses Individuums umso defizienter
sein.
Katalog X
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird
dieses
Individuum auch Schwierigkeiten haben, sich
entscheidungsrelevant zu verhalten.
305
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, die fiktive Entscheidungen mit sich bringen, dann wird dieses Individuum
auch massive Beeinträchtigungen seines Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird dieses Individuum auch starke Beeinträchtigungen seiner
kommunikativen Kompetenz zeigen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird dieses Individuum auch massive Schwierigkeiten haben
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten haben seine Interessen adäquat
kognizieren zu können.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird das Kompromissverhalten dieses Individuums umso konfliktiöser
sein.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und nicht in der Lage ist seine Kosten
adäquat kalkulieren zu können, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden, dann wird das Rollenverhalten dieses Individuums umso defizienter sein.
Katalog XI
306
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird dieses Individuum auch Schwierigkeiten
haben, sich entscheidungsrelevant zu verhalten.
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird dieses Individuum auch massive
Beeinträchtigungen seines Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird dieses Individuum auch starke
Beeinträchtigungen seiner kommunikativen Kompetenz zeigen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird dieses Individuum auch massive
Schwierigkeiten haben Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die
fiktive Entscheidungen mit sich bringen.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage,
die Kosten adäquat zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen
würden.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird das Kompromissverhalten dieses
Individuums umso konfliktiöser sein.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Schwierigkeiten hat seine Interessen
adäquat kognizieren zu können, dann wird das Rollenverhalten dieses Individuums
umso defizienter sein.
307
Katalog XII
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird dieses Individuum auch Schwierigkeiten haben sich
entscheidungsrelevant zu verhalten.
2.
Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird dieses Individuum auch massive Beeinträchtigungen seines
Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird dieses Individuum auch starke Beeinträchtigungen seiner
kommunikativen Kompetenz zeigen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird dieses Individuum auch massive Schwierigkeiten haben
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage, die Kosten adäquat
zu kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen würden.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten haben seine Interessen
adäquat kognizieren zu können.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und sein Kompromissverhalten konfliktiös
demonstriert, dann wird das Rollenverhalten dieses Individuums umso defizienter
sein.
308
Katalog XIII
1. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt,
dann
wird
dieses
Individuum
auch
Schwierigkeiten
haben
sich
entscheidungsrelevant zu verhalten.
2. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive Beeinträchtigungen seines
Sozialverhaltens zeigen.
3. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann wird dieses Individuum auch starke Beeinträchtigungen seiner
kommunikativen Kompetenz zeigen.
4. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann wird dieses Individuum auch massive Schwierigkeiten haben
Möglichkeiten und Implikationen adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen
mit sich bringen.
5. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann ist dieses Individuum auch nicht in der Lage, die Kosten adäquat zu
kalkulieren, welche mögliche Entscheidungen mit sich bringen würden.
6. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann wird dieses Individuum Schwierigkeiten haben seine Interessen adäquat
kognizieren zu können.
7. Für alle x gilt, wenn x ein Individuum ist und Defizienzen in seinem Rollenverhalten
zeigt, dann wird das Kompromissverhalten dieses Individuums umso konfliktiöser
sein.
Interpretation:
Was fällt als allererstes auf?
309
Zunächst einmal, dass wir hier eine Fülle von empirischen Hypothesen haben, die sich
„extremtypologisch“ zum einen in Richtung auf den Idealfall der Rationalität, zum anderen in
Richtung auf den Extremfall der Irrationalität beziehen lassen. Wir brauchen ja lediglich die
betreffenden Korrelationen konjunktiv zu „häufeln“ und sodann extremtypologisch zu
gewichten.
Sodann fällt zweierlei auf, wie ich meine: Erstens, dass in gewisser Weise die Fähigkeit
der „kommunikativen Kompetenz“ eine ziemlich dominierende Stellung einnimmt, und
zweitens, dass bei genauer Betrachtung alle hier aufgeführten Hypothesen, würden sie als
empirische Hypothesen formuliert werden, zwar – streng allgemein gefasst – falsch sind,
jedoch sehr wohl, wie man so schön sagt, „etwas für sich haben“. Wir reden dann über
Wahrscheinlichkeiten im Sinne des obigen DN-Schemas.
Wir sehen sofort, dass genau dann, wenn es uns tatsächlich um die Gewinnung empirisch
falsifizierbarer Hypothesen geht, wir gezwungen wären, beobachtbare Indizien für das
Vorliegen bzw. die Beeinträchtigung von „kommunikativer Kompetenz“ zu konstruieren, die
nicht direkt bezogen sind auf unseren „Korrelationskatalog“. Eine Möglichkeit hierfür wäre z.
B. wenn man eine Anleihe bei den Freudschen Befunden zu den sog. „sprachlichen
Fehlleistungen“ machen würde und die „Entscheidungsfähigkeit“ eines Individuums mittels
dissonanztheoretischen Experimentaldesigns überprüfen würde. Denn der Punkt ist natürlich,
dass wir alle unsere schönen Hypothesen und Begrifflichkeiten ja auch irgendwie empirisch
zu validieren hätten.
Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst einmal lediglich:
Wir müssen argumentationsstrategisch scharf unterscheiden, ob wir mittels Ausarbeitung
empirisch falsifizierbarer Hypothesen Kriterien entwickeln wollen, die es uns gestatten,
pathologische Persönlichkeitsprofile zu erstellen, mittels derer sodann klinisch-diagnostisch
umgegangen werden kann, oder aber ob wir eine solche Hypothesenmenge erst entwickeln
und in Gestalt einer „Theorie über fehlgelaufene Sozialisationsverläufe“ zusammenfassen
wollen: Forschung und klinische Anwendung müssen völlig voneinander getrennt werden.
Mehr ist an dieser Stelle zunächst einmal nicht zu sagen.
Der entscheidende forschungsheuristische Punkt, um den es hier geht:
310
Die idealtypologische Konstruktion rationalen Handelns schlechthin – ob in der bisher
behandelten Weise oder in der Form, wie wir ihr ansonsten begegnen, ist völlig gleichgültig –
ist die unabdingbare Voraussetzung für die Konstruktion für Irrationalitätsmodellen –
gleichgültig, ob noch verstehbar oder nicht mehr verstehbar – überhaupt.
Selbst der Begriff der „Fehlleistung“ macht ja letztendlich nur unter der Prämisse der
gedanklichen Annahme Sinn, wie angesichts genau dieser Fehlleistung der Betreffende
Handlungsakt als ein subjektiv sinnvoller Verhaltensvorgang hätte ablaufen müssen, wenn
nicht irgendeine „Beeinträchtigung“ vorgelegen hätte. Die Erforschung der Gründe für das
„so“ bzw. für das prima facie „völlig unverstehbare“ Verhalten eines Menschen in einer ganz
bestimmten Situation kann ja nur dann überhaupt erst einsetzen.
Fassen wir nunmehr der besseren Übersichtlichkeit halber in Gestalt eines Tafelbildes ein
mögliches Ergebnis der vorangegangenen Arbeit an den Rationalitätskatalogen hier
zusammen, um so zumindest die groben Umrisse einer (möglichen) Miniaturtheorie des
Sozialisationsgeschehens immerhin andeuten zu können. Der damit gemeinte Sachverhalt
würde sich dann folgendermaßen darstellen:
Schwierigkeiten, sich entscheidungsrelevant zu verhalten
Beeinträchtigungen des Sozialverhaltens
(1)
(2)
Beeinträchtigungen der Fähigkeit, Möglichkeiten und Implikationen
adäquat abzuschätzen, die fiktive Entscheidungen mit sich bringen
(3)
Unfähigkeit zur adäquaten Kalkulierung der Kosten, welche mögliche
Entscheidungen mit sich bringen
(4)
Beeinträchtigungen der
kommunikativen Kompetenz
Schwierigkeiten bei der adäquaten Kognition der eigenen Interessen
Konfliktiöses Kompromißverhalten
(5)
(6)
Defizienzen rollenadäquaten Verhaltens
(7)
Defizienzen in der Identitätskonstruktion
(8)
Beeinträchtigungen des Lernverhaltens und Tendenzen zur Realitätsverzerrung
Tafelbild 4: Grobfassung einer sozialisationstheoretischen Miniaturtheorie
311
(9)
Zu beachten ist hierbei, dass dieses Tafelbild ausschließlich Verdeutlichungscharakter hat,
eine systematische Interpretation muss ich mir an dieser Stelle leider versagen. In diesem
Sinne hier nur zur Erläuterung:
Das Tafelbild trägt dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten Gedanken Rechnung, dass
vor allem dem Konstrukt der „Kommunikativen Kompetenz“ eine herausragende Bedeutung
in einer möglichen Theorie der humanspezifischen Sozialisation zukommen könnte. Aus
diesem Blickwinkel müssten dann die anderen „wechselseitigen Abhängigkeiten“ –
symbolisiert durch die relational aufeinander bezogenen Pfeile – als Korrelationen gedeutet
werden. Der eigentlich Schwachpunkt dieser Argumentation liegt darin, dass „so“ keinesfalls
schon entscheidbar wäre, ob alle in diesem Zusammenhang möglicherweise validierbaren
Korrelationen
als
Bedeutungsverschärfungen
des
theoretischen
Konstruktes
der
kommunikativen Kompetenz oder aber als – bereits so relativ komplexe – Klassen von
abhängigen bzw. intervenierenden Variablen zu interpretieren wären. Dies könnte erst dann
überhaupt einigermaßen sinnvoll diskutiert werden – und genau darauf kommt es mir hier
wesentlich an –, wenn die ja nach wie vor ausstehende allgemeine Theorie des
Sozialisationsgeschehens sehr viel deutlichere Konturen gewonnen hätte, als sie sie derzeitig
hat. Hier geht es nur um die Zusammentragung einiger begrifflicher und methodischer
„Bausteine“ hierfür: Eine Ätiologie der Mentalerkrankungen ist fundiert in einer streng
allgemein konzipierten empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie, die, wie ich zu zeigen
versucht habe, „auf lange Sicht“ mit der Beantwortung der Frage befasst sein muss, wann und
wie sich in der (familialen) Primordialphase des psycho-somatischen Geschehens „Mensch“
dessen je individuelle Verhaltensdynamik in „subjektiv sinnhaftes (soziales) Handeln“
transformiert.
312
III. Bilanz und Ausblick
Die vorliegende Arbeit hat darauf aufmerksam gemacht, dass es sich sowohl für die
„Allgemeine Psychiatrie“, als auch insbesondere für die „Kinder- und Jugendpsychiatrie“
lohnen könnte, dem genuin soziologischen „point of view“ wesentlich mehr Beachtung zu
schenken, als dies bislang der Fall ist. Zugleich jedoch ist dabei deutlich geworden, dass es
sich, wenn man dies tut, wohl kaum umgehen lassen wird, die damit verwobenen
erkenntnistheoretischen wie – im engeren Sinne – methodologischen (Grundlagen-)Probleme
der Gesellschaftswissenschaften systematisch einzubeziehen. Das umgekehrt auch die strenge
Wissenschaftslehre,
welche
sich
mit
dieser
Grundlagenproblematik
der
Gesellschaftswissenschaften befasst, von einer Ausweitung ihres Horizontes in Richtung auf
die Probleme der „Entwicklungspsychopathologie“ vielfältigen Gewinn haben dürfte, steht
außer Frage.
Was jedoch genau hat die hier vorgelegte Arbeit gezeigt? Welche Fragen lassen sich
beantworten, welche Erklärungen bieten sich wofür an? Kann eventuell doch auf der
Grundlage der hier entwickelten Argumentation irgendetwas erklärt werden?
Die Antwort dürfte überraschen:
Anhand der Leitfrage nach dem systematischen Zusammenhang zwischen „Identitätskrisen,
Devianz und sozialer Kontrolle“ sollte auf die sozialisationstheoretische Dimension sozialen
Handelns aufmerksam gemacht und die Bedeutung des psychoanalytischen Paradigmas für
das insbesondere von Max Weber entwickelte Unternehmen einer „Verstehenden Soziologie“
herausgearbeitet werden. Dezidiert wurde dabei die Absicht verfolgt, den in „Klinischer
Psychologie“ und „Psychiatrie“ repräsentierten heilkundlichen Einrichtungen unserer
Gesellschaft, die sich vornehmlich mit der psycho-sozialen Dimension von „Gesundheit“ und
„Krankheit“ befassen, ein wenig Hilfestellung zu leisten. Gezeigt werden konnte zumindest,
worin
genau
diese
„Hilfsdienste“
zu
bestehen
hätten:
Jedwede
Ätiologie
der
Mentalerkrankungen bedarf einer genuin soziologischen Komplementarisierung in Gestalt
einer empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie, deren „Kern- und Generalfrage“ das
Problem der Transformation humanspezifischen Verhaltens in „subjektiv sinnhaftes (soziales)
Handeln“ betrifft.
Wenn also die in der Allgemeinen Psychiatrie wie auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
sehr oft vertretene Auffassung, es gäbe für die wirklich schweren Mentalerkrankungen
313
vornehmlich des sog. „zwangsneurotischen“ und „psychotischen“ Formenkreises bislang
keine wirklich triftige Ätiologie und folglich lägen (naturgemäß) auch Diagnostik, Prognostik,
Anamnestik und Therapie zum einen der im engeren Sinne „anankistischen“, zum anderen der
halluzinatorisch-psychotischen Erscheinungsformen von Realitätsfugativität im Argen,
korrekt ist, dann beantwortet die vorliegende Abhandlung die Frage, warum das so ist,
nämlich:
Es gibt bislang keine empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie in dem in dieser Arbeit
beschriebenen präzisen Sinne. Eine solche jedoch – und genau dies hat die vorliegende Arbeit
plausibel zu machen versucht – wäre unabdingbar, wenn der hier vorgetragenen
Argumentation
zugestimmt
werden
würde,
jedwede
Ätiologie
entwicklungspsychopathologischer Syndrome gründe in einer solchen streng allgemein
konzipierten empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie. Nur aus diesem Blickwinkel
nämlich, so die Grundthese dieser Arbeit, ließen sich benigne gegenüber malignen
Identitätskrisen dergestalt diskriminieren, dass die Wurzeln der kognitiven Dynamik subjektiv
sinnhaften (sozialen) Handelns aufgedeckt werden könnten.
Doch nicht nur dies wurde gezeigt. Es wurde auch der eigentlich Grund dafür genannt, dass
eine solche psychiatrie-relevante empirisch falsifizierbare Sozialisationstheorie bislang nicht
erarbeitet worden ist, nämlich:
Diejenigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachdisziplinen, in deren Kompetenzbereich
die Ausarbeitung einer solchen Theorie fallen würde, haben bis zum heutigen Tage die mit
der Konstruktion einer solchen Theorie notwendigerweise verbundenen methodologischen
Probleme – hier ist vor allem das Integrationsproblem zu nennen – nicht lösen können, denn:
Die je spezifische Ausbildung sinnstiftender Individualitätsmuster und damit der Prozess der
„Ich-Werdung“ in der primordialen Sozialisationsphase gehen einher mit der Ausbildung der
Fähigkeit zur Erstellung je subjektiver Identitätskonstruktionsprinzipien. Und die dabei zu
beobachtende
„Methode“
scheint
wesentlich
auf
die
Herausbildung
der
sog.
„kommunikativen Kompetenz“ angewiesen zu sein, deren humanspezifische Idealtypologie
bislang nur von Gadamer hat beschrieben werden können. Doch selbst wenn in dieser
Hinsicht der Argumentgang der vorgelegten Arbeit einigermaßen überzeugte – und ich hoffe
natürlich, dass er das tut –, ist dennoch nach wie vor methodologisch weitgehend ungeklärt,
wie die dabei hinzugezogenen Konstruktionen, die ja z.T. völlig voneinander abweichenden
„Theorieansätzen“ und „Paradigmen“ entstammen so zu einem in sich widerspruchsfreien
System von Grundannahmen integriert werden könnten, dass sich daraus empirisch
314
falsifizierbare Hypothesensysteme erstellen ließen. Auch diese dürfen sich ja auf gar keinen
Fall widersprechen.
Worin genau besteht also das Problem?
Richtig ist sicherlich die eingangs genannte streng allgemeine Aussage, dass genau dann,
wenn
wegen
ausgesprochen
schlechter
„Startbedingungen“
in
der
primordialen
Sozialisationsphase eines menschlichen Wesens die seine kognitive Dynamik bestimmenden
Identitätskrisen mehr und mehr maligne werdende Gestalt annehmen und diese u.U. gar in
identitätskritische Dauerzustände übergehen, tatsächlich über kurz oder lang die ursprünglich
durchaus auf Rationalität hin angelegt gewesene Kognitivdynamik des Handelns dieses
Menschen erodieren dürfte und dies wiederum dürfte in der Regel sodann auch die bei
Redlich und Freedman beschriebenen desaströsen personalsystemischen Auswirkungen
haben. Der eigentlich neuralgische Punkt dieser Sichtweise jedoch besteht darin, dass es uns
bislang versagt ist, eben diese „Startbedingungen“ genau zu beschreiben. Um das zu können,
benötigten wir nämlich denjenigen Teil einer „Allgemeinen Sozialisationstheorie“, der sich
mit den institutionellen Dimensionen des Familialgeschehens zu befassen hätte. Es ist ja alles
andere als ein Zufall, dass auch und gerade die vorliegende Arbeit in inhaltlicher Beziehung
immer nur dann etwas präziser hat werden können, wenn sie sich einigermaßen auf dem
relativ sicheren Boden der genuin lerntheoretischen Aspekte des Enkulturations- und
Sozialisationsprozesses bewegte.
Doch wie auch immer. Fragen wir zunächst einmal weiter: Worin bestand eigentlich die
grundsätzliche Schwierigkeit des in der vorliegenden Arbeit angelegten „ehrgeizigen
Unternehmens“ (Resch)?
Nun, vor allem darin, dass in der bisher entwickelten Psychiatrie tatsächlich der genuin
soziologische „point of view“ so gut wie überhaupt nicht etabliert ist, wodurch sich ja fast
automatisch
die
Notwendigkeit
ergab,
permanent
zugleich
methodologische
Grundlagenprobleme „mitdiskutieren“ zu müssen, sollte doch zumindest ein halbwegs
plausibler Einblick verschafft werden in die verschiedenen methodischen Probleme sowohl
der theoretischen als auch der – im engeren Sinne – empirischen „Praxis der
Sozialforschung“. Die diskursive Darlegung des Identitätsproblems hätte sich nämlich sehr
viel leichter gestalten lassen, wenn nicht derartig vieles an Information über bestimmte
soziologische Zusammenhänge bzw. wissenschaftstheoretische Probleme notorisch hätte
mitgeliefert werden müssen. Dies betrifft vor allem den Zusammenhang zwischen der
„Kulturwertediskussion“ auf der einen Seite und dem Verhältnis zwischen Makro- und
Mikrosoziologie auf der anderen Seite: Würde es bereits zum festen Bestand
315
allgemeinpsychiatrischer „Theorie und Praxis“ gehören, dass es sich bei den „medizinischen“
Einrichtungen um Systeme der sozialen Kontrolle mit ganz bestimmten normativ
vorgegebenen Systemzielen handelt, die gar nicht von sich aus „ermächtigt“ und folglich auch
nicht in der Lage sind, Sozialisationszielvorgaben autonom festzulegen und „therapeutisch“
zu realisieren, so hätte man sich viel stärker auf den Wechselwirkungszusammenhang von
Rollenstrukturen in Kleingruppen und Identitätskrisen konzentrieren können, – ein
Wechselwirkungszusammenhang, welcher die Problematik der „Kulturwertevorgaben“ und
„Praxis“ ja auf eine ganz bestimmte Art und Weise, nämlich wesentlich konfliktiös,
widerspiegelt.
Bekanntlich hat Erikson den Begriff der „Ich-Identität“ eingeführt und allenthalben wird
beklagt, dass dieses Konstrukt bei Erikson selbst nie die arbeitsbegrifflich handhabbare
Formel geworden sei,
die man benötige.
Auch hier zeigt sich eine gewisse
„wissenschaftslogische Naivität“ der Psychiatrie, wie mir scheint: Hinter der Erikson’schen
„Kurzformel“ steckt eine ganze Theorie, und diese ist eben bei Erikson nicht klar
ausformuliert, kann es auch gar nicht, wie nach allem, was in der vorliegenden Arbeit über
den Zusammenhang von „Idealtypen“, „Grundannahmen“ und „empirisch falsifizierbaren
Theoriegebilden“ ausgeführt wurde, zu einem solchen Unternehmen zu sagen ist. Vor allem
hat Erikson gerade keine wirkliche Sozialisationstheorie vorlegen können. Es ist von daher,
wie mir scheint, auch alles andere als ein Zufall, dass sich in den meisten Besprechungen des
Eriksonschen „Ansatzes“ restlos alles darauf konzentriert, den „Pubertätsraum“ des
Sozialisationsgeschehens in den Blick zu nehmen, um genau hier den Zusammenhang
zwischen Vulnerabilität, Identitätsdiffusion und Rollendiffusion – besser: Rollenkonfusion –
aufzuzeigen. Eine psychiatrie-relevante Sozialisationstheorie muss demgegenüber jedoch
tatsächlich vor allem dreierlei leisten, wie einleitend betont: Sie muss erstens die kognitive
Dynamik humanspezifischen Verhaltens zu beschreiben gestatten, zweitens deren Wurzeln in
der frühen Kindheit freizulegen imstande sein und drittens den funktionalen Stellenwert der
Identitätskrisen für die jeweilige Charakterbildung eines Menschen bestimmen können, um so
zum einen „erfolgreiche“, zum anderen „gründlich schief gelaufene“ Sozialisationsvorgänge
erklären zu können. Vor allem aber – dies folgt praktisch aus allem, was in dieser Arbeit anund ausgeführt worden ist – muss sie dabei den zweiten Aspekt in den Blick nehmen, was wir
mittels der „Kernfrage aller Sozialisationstheorien“ zu umschreiben versucht haben: Die
„Wurzeln“ der kognitiven Dynamik subjektiv sinnhaften Sichverhaltens zu (inneren wie
äußeren) Objekten liegen in der frühen Kindheit, nämlich in derjenigen hochsensiblen Phase
des Sozialisations- und Enkulturationsprozesses, in der sich die noch weitgehend
316
„organismisch“ ablaufenden Verhaltensmodifikationen eines menschlichen Wesens so
langsam in kognitive Umstrukturierungsformen transformiert. Und genau hier stoßen wir
wiederum auf das weiter oben bereits genannte sozialstrukturelle Problem, die institutionellen
Dimensionen des Sozialgeschehens in der „Familialphase“ des Sozialisationsprozesses
beschreiben zu müssen.
Es ergibt sich also nunmehr die folgende zentrale These:
Die Kette der malignen Identitätskrisen, welche zunehmend identitätskritische Dauerzustände
mit entsprechend gravierenden psychopathologischen Verhaltensmustern „einschleifen“ und
sodann eben auch entsprechenden personalen Zerrüttungserscheinungen den Weg bereiten, ist
letztendlich zurückführbar auf ganz bestimmte in der Primordialphase von Sozialisation- und
Enkulturation
dominierende
sozialstrukturelle
Bedingungen,
unter
denen
sich
die
methodischen Prinzipien der je individuellen Identitätskonstruktionskompetenzen etabliert
haben. Denn es ist die Art und Weise, wie Identitätskonstruktion habitualisiert zu werden
pflegt, – eben die „Methode“ – nicht jedoch die jeweilige Persönlichkeitsstruktur der
primordial ausschlaggebenden Bezugspersonen als solche („schizophrenogene Mutter“ bzw.
„ich-schwacher Vater“), die darüber entscheidet, ob jemand einer eher maligne oder eher eine
benigne „Identitätskrisenkarriere“ durchläuft. Und bezogen auf die Ausarbeitung einer
empirisch falsifizierbaren Sozialisationstheorie, welche diese Problematik zu klären hat, fällt
der „Soziologie“ die Aufgabe zu, die sozialstrukturellen Bedingungen zu beschreiben und zu
erklären, die jeweils gegeben sein müssen, damit sich überhaupt eine ganz bestimmte
Identitätskonstruktionsmethode herausbilden kann.
*
317
Abschließend noch einige Worte der Dankbarkeit.
Meine Kolleginnen und Kollegen der „Dossenheimer Forschungsgruppe“ und vor allem
unseren „Mentor“ werde ich nicht mit den üblichen Danksagungsformeln bedenken. Die
gesamte Argumentationsstruktur der Arbeit belegt, was sinnvollerweise hierzu zu sagen wäre.
Wirklich dankbar bin ich Herrn Resch und indirekt natürlich Herrn Verres, dem ich sicherlich
während meiner Beratungstätigkeit an seinem Buch mehr als einmal auf die Nerven gegangen
bin.
Warum Herrn Resch?
Weil er ein Wagnis eingegangen ist um eines möglichen Fortschrittes unseres klinischen
Wissens über die Krankheiten von Kindern willen. Der 13. Juni des Jahres 2005, an dem
zwischen Herrn Resch, Herrn Porath und mir die Modalitäten für die Fertigstellung meiner
Arbeit besprochen worden sind, war, wenn man so will, ein historisches – genauer: ein
wissenschaftshistorisches – Datum.
Warum?
Mein Mentor, Herr Porath, hat mich erst darauf aufmerksam machen müssen, wie weit Herr
Resch in dieser Besprechung in Wirklichkeit gegangen ist. Ich selbst habe das „so“ an jenem
denkwürdigen 13. Juni – naiverweise, muss man wohl sagen – nicht gesehen. Erst in den
folgenden Monaten wurde immer deutlicher, dass ohne diesen „Legitimationshintergrund“,
den Herr Resch mutigerweise „auf seine Kappe genommen“ hat, die Arbeit in dieser Form gar
nicht hätte geschrieben werden können. Er tat es um des Schrittes in die Grundlagenforschung
willen, und für genau diesen Wagemut bin ich ihm dankbar.
Abschließend noch ein Wort des Dankes an eine Institution, der man normalerweise niemals
Dank zu schulden glaubt: dem deutschen Staat. Hätte er mich nicht so tatkräftig vor allem in
den letzten Monaten mit Sachhilfe, Geld, aber auch – in Gestalt seiner Amtsträger – mit
vernünftigem Rat und großzügiger Toleranz unterstützt, wäre der Abschluss dieses
Unternehmens ganz und gar unmöglich gewesen. Die hier vorgelegte Dissertation, deren
Schwächen natürlich voll zu meinen Lasten gehen, ist der in dieser Hinsicht zu verstehende
Versuch einer „moralischen Schuldentilgung“, wenn man so will.
Doch nicht nur dies. Meine Arbeit legt ja zugleich auch Zeugnis ab dafür, dass
„Interkulturalität“ im derzeitig statthabenden Prozess der europäischen Einigung keine leere
Phrase bleiben muss. Deshalb meine hiermit dokumentierte Dankbarkeit gegenüber den sog.
„öffentlich-rechtlichen Einrichtungen“ des deutschen Staates.
318
In diesem Sinne schulde ich des weiteren meinem Landsmann, Herrn Prof. Tsiakalos, Dank.
Er hat mich abgestützt, indem er mir intellektuell kreditierte, dass ich etwas halbwegs
Vernünftiges zu leisten imstande bin auf dem Felde der Sozial- und Kulturwissenschaften. Er
war da, als ich mich verzweifelt bemüht habe, einen kompetenten Zweitgutachter aufzutreiben
und hat sich als ein solcher vorbehaltslos zur Verfügung gestellt. Dies ja weit mehr als nur das
sonst übliche Lippenbekenntnis zu „europäischer Integration“, „Interkulturalität“ und – last
not least – „Frauenemanzipation“. Was ich deshalb niemals verstehen werde, ist die
ablehnende Haltung von Herrn Prof. Zimmermann und Herrn Prof. Thomas Schwinn in der
Frage der sog. „Zweit- bzw. Drittbegutachtung“. Aber das ist wohl eher ein Thema, welches
unter dem Titel „Zivilcourage“, einem „altdeutschen“ Leiden, wie man mir sagte,
abzuhandeln wäre.
319
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Erfassung und Gewichtung kriminogener Faktoren beim Auftreten von Juvenaldelinquenz.
Universität Heidelberg, Institut für Soziologie, Magisterarbeit 2000. Als Manuskript gedruckt.
Kohlberg 1974
KOHLBERG, L.: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes. Frankfurt a. M. 1974.
Kranz/Heinrich 1971
KRANZ, Heinrich; HEINRICH, Kurt (Hrsg.): Schizophrenie und Umwelt. 5. Bad Kreuznacher
Symposion 1970, Stuttgart 1971.
Kraus [Rollentheorie]
KRAUS, A.: Bedeutung und Rezeption der Rollentheorie in der Psychiatrie. Aus: Peters, U. (Hrsg.):
Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band X, Ergebnisse für die Medizin (2) Psychiatrie Zürich
1980. S. 125ff.
Krech/Crutchfield 1968
KRECH, David; CRUTCHFIELD, Richard S.: Grundlagen der Psychologie. Band I, Weinheim und
Berlin 1968.
Lämmert [Erzählforschung]
LÄMMERT, E. (Hrsg.): Erzählforschung - Ein Symposion. Stuttgart 1982.
Lepsius [Institutionen]
LEPSIUS, Rainer M.: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber. IN: Ders.:
Interessen, Ideen und Institutionen, S. 31-44, Opladen 1990.
Liousi [Kompetenzbegriff]
LIOUSI, Eleni: Der Kompetenzbegriff als Grundbegriff der Chomskyschen Linguistik und die Kritik an
der rein linguistischen Betrachtung des Sprachproblems aus dem Blickwinkel der Psycholinguistik.
Universität Heidelberg, Neuphilologische Fakultät, Magisterarbeit 2001. Als Manuskript gedruckt.
Luckmann 1974
LUCKMANN, Th.: Einleitung zu Wygotski. IN: Wygotski, Lev S..: Denken und Sprechen. 5. Auflage,
Berlin 1974.
Mahrenholz/Porath [Kelsen]
MAHRENHOLZ, Ernst Gottfried; PORATH, Hann-Jörg: Das Problem einer rationalen Rekonstruktion
der Kelsenschen "Reinen Rechtslehre". Vortrag im Wiener Kolloquium. Heidelberg 1985.
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Mead 1973
MEAD, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. 2.
Auflage, Reutlingen 1973.
Merton [social structure]
MERTON, R. K.: Social Theory and Social Structure. 2. Auflage, Glencoe 1957.
Michael [Ästhetische Sensibilisierung]
MICHAEL, Dietlinde: Ästhetische Sensibilisierung und Erziehung zur Mündigkeit. Arbeitspapier der
Forschungsgruppe Dossenheim, Dissertationsentwurf.
Michael 2005
MICHAEL, Dietlinde: Funktion des Gadamerschen Gesprächs für den pädagogischen Prozess.
Arbeitpapier der Forschungsgruppe Dossenheim, Vorlage für einen Vortrag im
Doktorandenkolloquium Karlsruhe (Lehrstuhl Schweitzer), WS 2005/2006.
Mitrov 2005
MITROV, Marija: Naturalisierung des Bewußtseins. Universität Heidelberg, Philosophisch-Historische
Fakultät, Magisterarbeit 2005. Als Manuskript gedruckt.
Nagel 1972
NAGEL, Ernest: Probleme der Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften. IN: Albert,
Hans (Hrsg.): Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der
Sozialwissenschaften, 2., veränderte Auflage, S. 67-85, Tübingen 1972.
Opp 1970
OPP, Karl-Dieter: Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer
Theoriebildung. Reinbeck bei Hamburg 1970.
Opp 1974
OPP, Karl-Dieter: Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur. Neuwied 1974.
Opp, Hummel 1973
OPP, Karl-Dieter; HUMMEL, Hans J.: Soziales Verhalten und Soziale Systeme. 2 Bände, Frankfurt a.
M. 1973.
Ostermann [Individuum]
OSTERMANN, Rainer: Die Freiheit des Individuums. Eine Rekonstruktion der Gesellschaftstheorie
Wilhelm von Humboldts, Frankfurt/New York 1993.
Parsons 1978
PARSONS, Talcott: The Social System. IN: Parsons, Talcott; Shils, Edward A.: Toward a General
Theory of Action. 3. Auflage, Harvard 1978.
Peters 1980
PETERS, U. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band X, Ergebnisse für die Medizin (2)
Psychiatrie Zürich 1980.
Piaget 1978
PIAGET, Jean: Das Weltbild des Kindes. Stuttgart 1978.
Popitz 1967
POPITZ, Heinrich: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie. Tübingen
1967. (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart. 331/332)
Popper [A Realist View]
POPPER, Karl R.: A Realist View of Logic, Physics and History. IN: Ders.: Objective Knowledge. An
Evolutionary Approach, S. 285ff, Oxford 1972.
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Popper [Naturgesetze]
POPPER, Karl R.: Naturgesetze und theoretische Systeme. IN: Albert, Hans (Hrsg.): Theorie und
Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen 1964.
S. 87-102.
Popper [Zielsetzung]
POPPER, Karl R.: Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft. IN: Albert, Hans (Hrsg.): Theorie und
Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen 1964.
S. 73-86.
Popper 1966
POPPER, Karl R.: Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit. Neuer Anhang X. IN: Ders.:
Logik der Forschung. 2. Auflage, S. 374ff, Tübingen 1966.
Porath [Begleitpapier]
PORATH, Hann-Jörg: Begleitpapier zu dem Hauptseminar "Der kulturwissenschaftliche Ansatz Edgar
Winds" (Buschendorf/Buschendorf/Porath). Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, WS
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Porath [Forschungsantrag]
PORATH, Hann-Jörg: Die sozialwissenschaftlichen Grundlagen der kulturwissenschaftlichen
Problemstellung - das Intellektuellenproblem. Forschungsantrag zur Erlangung des
Kulturwissenschaftlichen Forschungspreises des Landes Nordrhein-Westfalen 2001 (1999).
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Porath [Narratives Paradigma]
PORATH, Hann-Jörg: Narratives Paradigma, Theorieproblem und Historische Objektivität. IN:
Lämmert, E. (Hrsg.): Erzählforschung - Ein Symposion. Stuttgart 1982. S. 660-690.
Porath [Psychiatrische Historik]
PORAT, Hann-Jörg: Psychiatrische Historik. Arbeitspapier der Forschungsgruppe Dossenheim.
Porath 2003
PORATH, Hann-Jörg: Die Endlösung der Judenfrage - Ein kulturgeschichtlich bedeutsames Ereignis
und ein kulturwissenschaftliches Erklärungsproblem. Vortrag vom 16. Mai 2003 im Jüdischen
Historischen Institut (ZIH), Warschau. Dossenheim bei Heidelberg 2003.
Redlich, Freedman [Psychiatrie]
REDLICH, Fredrick C.; FREEDMAN, Daniel X.: Theorie und Praxis der Psychiatrie. Frankfurt a. M.
1970.
Remplein [seelische Entwicklung]
REMPLEIN, H.: Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter. 14. Auflage,
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Resch et al. [Entwicklungspsychopathologie]
RESCH, Franz, et al.: Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters. Ein Lehrbuch, 2.,
überarb. und erw. Aufl., Weinheim 1999.
Rudolph [Störende Bedingungen]
RUDOLPH, Julian: Störende Bedingungen. Klaus Holzkamps Beitrag zur Analyse des Problems der
experimentellen Bewertung von empirisch-wissenschaftlichen Theorien, Universität Heidelberg,
Philosophisch-Historische Fakultät, Magisterarbeit 1993. Als Manuskript gedruckt.
Sack [Kriminalsoziologie]
SACK, Fritz: Probleme der Kriminalsoziologie. Aus: König, R. (Hrsg.): Handbuch der empirischen
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Schaaf [Macbeth]
SCHAAF, Tatjana: Macbeth als politische Pädagogik im Nachkriegsdeutschland. Studie zum
Reedukationsprogramm der westlichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland.
Vortrag bei der SHINE-Konferenz 2005 in Krakau.
Schmitt [Karl Jaspers]
SCHMITT, Wolfram: Die Psychopathologie von Karl Jaspers in der modernen Psychiatrie. Aus:
Peters, U. (Hrsg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Band X, Ergebnisse für die Medizin (2)
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Schönleben
SCHÖNLEBEN, Christian: Einleitendes Arbeitspapier zu dem Vortrag von Achim Aurnhammer
"Gruppenstile ..." bei einer Arbeitstagung der Forschungsgruppe Dossenheim am 8. März 2002.
Schönleben [Weltbühne]
SCHÖNLEBEN, Christian: Die Weltbühne oder: Was ist Aufklärung? Der Gestaltwandel der
bürgerlichen Öffentlichkeit und die Pathogenese des Faschismus - Die Entwicklung des
Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie. Arbeitspapier der Forschungsgruppe Dossenheim,
Dissertationsentwurf, auch Vortrag im Doktorandenkolloquium des IPW, Heidelberg im SS 2003.
Stegmüller 1970
STEGMÜLLER, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen
Philosophie. 5 Bände, Berlin, Heidelberg, New York 1970.
Stryker [Interaktionismus]
STRYKER, S.: Die Theorie des Symbolischen Interaktionismus. IN: Soziologie der Familie. Sonderheft
14 der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie", Opladen 1970.
Tellenbach [Wesen des Menschen]
TELLENBACH, H.: Die Begründung der psychiatrischen Erfahrung und psychiatrischer Methoden in
philosophischen Konzepten vom Wesen des Menschen. IN: Gadamer, H. G.; Vogler, P. (Hrsg.):
Neue Anthropologie, Band XI, 138ff, Stuttgart 1975.
Verres [Was uns gesund macht]
VERRES, Rolf: Was uns gesund macht. Freiburg im Breisgau 2005.
VuPP 2002
Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis. Schwerpunkt „Therapie der Schizophrenie“ Heft 4, o.
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Weber [Einleitung]
WEBER, Max: Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. IN: Ders.: Soziologie,
Universalgeschichtliche Analysen, Politik, Hrsg. und erläutert von Johannes Winckelmann, 6.
Auflage, 414ff, Stuttgart 1992.
Weber [Objektivität]
WEBER, Max: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. IN: Ders.:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann, 6., erneut
durchgesehene Auflage, 146-214, Tübingen 1985.
Weber [Vorbemerkung]
WEBER, Max: Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie. IN: Ders.:
Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik. 6. Auflage, Hrsg. und erläutert von
Johannes Winckelmann, Stuttgart 1992.
Weber [Wirtschaft und Gesellschaft]
WEBER, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Besorgt
von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972.
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Werle [Verbrechensbekämpfung]
WERLE, Gerhard: Justiz - Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich.
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WINCKELMANN, Johannes: Anmerkungen und Erläuterungen. IN: Weber, Max: Soziologie,
Universalgeschichtliche Analysen, Politik, Hrsg. und erläutert von Johannes Winckelmann, S.532f
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Zetterberg [Theorie, Forschung und Praxis]
ZETTERBERG, Hans L.: Theorie, Forschung und Praxis in der Soziologie. IN: König, R. (Hrsg.):
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Zimmermann [Auschwitz]
ZIMMERMANN, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und
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ZIMMERMANN, Rolf: Gattungsbruch. Die Bedeutung des Holocaust für die Ethik In: Deutsche
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ZIMMERMANN, Rolf: Utopie-Rationalität-Politik. Zur Kritik, Rekonstruktion und Systematik einer
emanzipatorischen Gesellschaftstheorie bei Marx und Habermas, Freiburg, München 1985.
326
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