Sensorische Integration Grundlagen und Therapie bei Entwicklungsstörungen Bearbeitet von Susanne Smith Roley, Erna Imperatore Blanche, Roseann C. Schaaf, E. Söchting 1. Auflage 2003. Taschenbuch. xxxii, 488 S. Paperback ISBN 978 3 540 00093 8 Format (B x L): 19,3 x 24,2 cm Gewicht: 1408 g Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie > Verhaltenstherapie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. 294 14 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern Fachkräfte, die mit Säuglingen und Kleinkindern arbeiten, bestätigen die sensorisch-integrativen Prinzipien und ihre praktische Anwendung weitgehend (Stallings-Sahler 1998). In diesem Kapitel wird die Anwendung der SI bei dieser Gruppe von Kindern dargestellt. Ausgangspunkt sind Überlegungen darüber, welche einzigartigen Herausforderungen und Gelegenheiten das Säuglings- und Kleinkindalter bietet. Im zweiten Abschnitt wird ein Modell zum Verständnis des frühkindlichen Verhaltens unter sensorisch-integrativer und entwicklungsorientierter Perspektive vorgestellt. Der Schwerpunkt des Modells liegt auf dem Zusammenspiel zwischen sensorischer Responsivität und Verhaltensorganisation bei Säuglingen und Kleinkindern. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels wird ein Gerüst für die Befundung von Säuglingen und Kleinkindern präsentiert. Um ein ganzheitliches Bild vom Verhalten des Kindes im familiären Kontext zu erhalten, sollten quantitative und qualitative Informationen kombiniert werden. Abschließend werden Interventionsprinzipien besprochen, die sich aus der Theorie der Sensorischen Integration ergeben. Es wird ein dreistufiger Interventionsansatz vorgestellt, der sowohl die Bedürfnisse des Kindes als auch den Einfluss der sozialen und physikalischen Umwelt auf die Verhaltenskompetenz des Kindes berücksichtigt. 14.1 Das rasche Entwicklungstempo bietet eine außergewöhnliche Chance, durch frühkindliche Erfahrungen zukünftige Fähigkeiten zu formen. 14.1.1 „Die genau richtige Herausforderung“ Die Fertigkeiten,die das Kind während seiner Entwicklung erwirbt, beeinflussen seine zukünftigen Leistungen. In Bezug auf die motorische Entwicklung und Praxie„lernt das Kind zu lernen“,indem es das grundlegende sensomotorische Körperschema aufbaut und die motorischen Meilensteine erreicht (⊡ Abb. 14.1). Kinder, die keine adäquaten Fähigkeiten zur Verarbeitung sensorischer Informationen mitbringen, sind nicht in der Lage, die Fülle der Umweltanregungen aufzunehmen und effektiv darauf zu reagieren. Dadurch Die einzigartigen Gelegenheiten und Herausforderungen der frühen Kindheit ! Beachte Die Aufnahmefähigkeit und rasche körperliche Reifung im frühen Kindesalter birgt Möglichkeiten für entwicklungsneurologische Veränderungen, die mit keinem anderen Lebensabschnitt zu vergleichen sind. ⊡ Abb 14.1. Durch sensomotorische Erfahrungen entwickelt das Kind sein Körperschema und motorische Fähigkeiten 295 14.1 · Die einzigartigen Gelegenheiten und Herausforderungen der frühen Kindheit sind sie gefährdet, elementare Lebenserfahrungen zu versäumen. Ein Kind braucht ▬ eine anregende physikalische Umwelt, ▬ eine verständnisvolle soziale Umwelt sowie ▬ Gelegenheiten für erfolgreiche anpassende Reaktionen auf die Fülle an Angeboten. Die Tatsache, dass dieses Bedürfnis nach sensorischem Input und sozialer Interaktion so wichtig ist, stellt die Therapeutinnen vor eine große Aufgabe. Es sind nämlich die Bezugspersonen und Therapeutinnen, die in der frühen Kindheit die passenden Erfahrungen anbieten müssen – Angebote, die das Potenzial des Kindes erweitern, ohne seine Toleranz zu übersteigen. ⊡ Abb 14.2. Interaktion und gegenseitige Aufmerksamkeit zwischen Elternteil und Kind sind entscheidend für die Entwicklung der primären Bindungen Der optimale Grad an Herausforderung und Anregung wurde von Ayres (1972, 1979) „just the right challenge“ genannt und von Vygotsky (1978) die „Zone der proximalen Entwicklung“. ! Beachte Anforderungen und Chancen müssen ausgewogen sein, damit eine Kompetenzerweiterung möglich wird. Das heißt, dem Kind soll eine Handlung erfolgreich gelingen, aber nur mit Anstrengung und Unterstützung. Während dieser Herausforderungen findet der Prozess der sensorischen Integration – die Organisation sensorischer Informationen für den Gebrauch – statt. 14.1.2 Erste Beziehungen Ein anderer wichtiger Aspekt der Anwendung der SI bei Risiko- und Kleinkindern ist die besondere Bedeutung der ersten beiden Lebensjahre für die Entwicklung der primären Bindungen (Ainsworth 1991; Bowlby 1969). Diese frühen Beziehungen (⊡ Abb. 14.2) bilden das Fundament für die lebenslange soziale und affektive Entwicklung. ! Beachte Die wichtigste affektive Beziehung – die zwischen Eltern und Kind – wird stark von der Fähigkeit des Kindes beeinflusst, sensorischen Input zu verarbeiten und darauf zu antworten. Zu den wichtigsten Faktoren für die Entstehung dieser Beziehungen gehören die sensorischen Erfahrungen, die während der Versorgung und der Pflege in dieser frühen Lebenszeit aufgenommen wurden (Ayres 1972; Field 1995; Montague 1971; Stern 1985). Jede Störung in diesem Prozess – sei es durch schlechte sensorische Reizverarbeitung, durch die Unfähigkeit, sensorische Reize zu modulieren, durch schlechte Betreuung oder durch chaotische bzw. wechselnde Umweltbedingungen – kann wichtige soziale und affektive Prozesse unterbrechen. Die Entwicklung des Kindes wird entscheidend dadurch beeinflusst, ▬ wie gut Kind und Bezugsperson aufeinander abgestimmt sind ( „goodness of fit“ nach Thomas & Chees 1977; Zeith & Williamson 1994) und ▬ welche Anforderungen die physikalische und soziale Umwelt stellen. Es ist daher sinnvoll und notwendig, während der ersten Lebensjahre die Familie oder Hauptbezugsperson in jede therapeutische Intervention einzubeziehen.Die Arbeit der Therapeutin mit der Familie hat sowohl Einfluss darauf, wie die Eltern das Verhalten ihres Kindes interpretieren, als auch darauf, wie die Eltern mit dem Kind interagieren. 14 296 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern 14.1.3 Physiologische Faktoren Auch der physiologische Erregungszustand des Kindes und seine Auswirkungen auf die Anpassung im Verhalten sind für dieses Alter und diesen Entwicklungsabschnitt von großer Bedeutung. Säuglinge entwickeln Selbstregulation, um eine physiologische Homöostase zu erlangen (Greenspan 1992; Porges 1993; Porges et al. 1982). Ihre Responsivität auf sensorische Reize ist oft unvorhersehbar. Die Fähigkeit des Säuglings, sich an die natürlich auftretenden Veränderungen der Umweltreize anzupassen, ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung der Selbstregulation. dern mit der SI-Theorie im Verständnis von Ayres (1972) übereinstimmen. Die Kombination der sensorisch-integrativen und synaktiven Theorie ermöglicht Therapeutinnen, das Verhaltens von Säuglingen und Kleinkindern besser zu verstehen und dadurch eine zielführendere Interventionsplanung. Obwohl physiologische Faktoren beim Neugeborenen am deutlichsten sichtbar werden, beeinflussen sie auch Säuglinge und Kleinkinder.Deshalb ist es wichtig,die physiologischen Faktoren auch bei älteren Kindern zu berücksichtigen. 14.2 > Beispiel 14 Aufgrund des relativ instabilen physiologischen Zustandes junger Kinder können sie von Reizen, die ältere Kinder nicht überfordern, überstimuliert oder übererregt werden. So können bereits Temperaturveränderungen, einfache Lageveränderungen oder eine Zunahme visueller oder auditiver Reize Veränderungen im physiologischen Zustand des Säuglings auslösen. Diese Zustandsänderungen zeigen sich im Extremfall in verhaltensmäßiger Erregung, erhöhter Atem- oder Herzfrequenz oder gastrointestinalen Reaktionen (u.a. Schluckauf oder Erbrechen). Änderungen des Erregungszustandes können auch zu desorganisiertem Verhalten (u. a. unstillbares Weinen) oder Abwehrverhalten (u. a. Blickvermeidung, um fremde Reize auszuschalten) führen. Die Befundung der Verhaltensanpassung des Säuglings muss deshalb seinen physiologischen Zustand und seine Regulationsfähigkeit und ihre Anpassung an Umweltveränderungen berücksichtigen. Als’ (1986) Theorie der synaktiven Entwicklung betonte die Notwendigkeit, ▬ die physiologische Reaktivität, ▬ die Responsivität in Motorik und Verhalten, ▬ den Erregungszustand und ▬ die interaktive Organisation (oder Desorganisation) des Säuglings in Relation zu den sensorischen Herausforderungen und Veränderungen zu sehen. In diesem Kapitel wird nachgewiesen, dass die Prinzipien der synaktiven Entwicklung bei Säuglingen und Kleinkin- Sensorisch-integrative Betrachtungsweise von Säuglingen Die Theorie der Sensorischen Integration bietet einen brauchbaren Bezugsrahmen, um Verhaltens- und der Fähigkeitsbeobachtungen an jungen Kindern zu strukturieren und die Ergebnisse zu interpretieren. Die SI-Theorie verlangt per definitionem die Berücksichtigung innerer und äußerer Faktoren, die das Verhalten beeinflussen (⊡ Abb. 14.3 und ⊡ Übersicht 14.1, 14.2). ⊡ Abb 14.3. Modell des kindlichen Verhaltens, das auf sensorischer Integration und Selbstregulation basiert 297 14.1 · Die einzigartigen Gelegenheiten und Herausforderungen der frühen Kindheit Übersicht 14.1. Innere ( intrinsische) Faktoren, die das Verhalten von Säuglingen beeinflussen ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ Erregung1 Aufmerksamkeit1 Affekt1 Aktivität1 Sensorische Empfindlichkeit Selbstregulation 1 Im Englischen die „4 A“ der Verhaltensorganisation: arousal, attention, affect, action. Übersicht 14.2. Äußere ( extrinsische) Faktoren, die das Säuglingsverhalten beeinflussen ▬ Anforderungen ▬ Gelegenheiten ▬ Abstimmung zwischen sozialer und physikalischer Umwelt ( „goodness of fit“) Diese inneren Faktoren stehen zueinander in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Intrinsische Faktoren, die das Verhalten beeinflussen Da die Fähigkeit, sensorischen Input zu verarbeiten und darauf zu reagieren (=sensorische Responsivität), in diesem Modell als zentraler intrinsischer Faktor gesehen wird, steht sie im Zentrum des Schemas. Die sensorische Responsivität hat Einfluss auf ▬ das Erregungsniveau, ▬ die Aufmerksamkeit, ▬ die Affekte und ▬ Aktivitäten des Säuglings und wird umgekehrt von diesen beeinflusst. Der Ring oder Filter um den zentralen Kern veranschaulicht in ⊡ Abb. 14.3 die wichtige Wechselbeziehung zwischen sensorischer Responsivität, den „4 A“ und der Selbstregulation. > Beispiel Ein Kind, das zwar müde ist, jedoch über adäquate Selbstregulationsstrategien verfügt, wird in einem lauten Zimmer den Kopf vom Geschehen abwenden und intensiv an seinem Schnuller zu saugen beginnen. Dies sind seine Strategien, trotz der intensiven Reizeindrücke die Regulation aufrechtzuerhalten. Ein Kind mit mangelhafter Selbstregulation wird in dieser Situation wahrscheinlich überstimuliert und desorganisiert. Dementsprechend sind sensorische Responsivität und Selbstregulation aufeinander bezogene Aspekte des kindlichen Verhaltens. > Beispiel Die Fähigkeit eines Kindes, sensorische Information zu verarbeiten und darauf zu reagieren (=die sensorische Reaktivität des Kindes) ist ein intrinsischer Faktor, der das Erregungsniveau, die Affektlage, die Aufmerksamkeit und die Aktivität des Kindes beeinflusst. Ebenso ist die sensorische Reaktivität wiederum eine wichtige Determinante der Selbstregulation. Auch die äußeren Faktoren sind wichtige Determinanten sensorisch-integrativ basierten Verhaltens. ! Beachte Die Responsivität und die Fähigkeit des Kindes, einen regulierten Zustand in einer sich verändernden sensorischen Umwelt aufrechtzuerhalten, sind voneinander abhängig. Responsivität und Selbstregulation haben wiederum einen entscheidenden Einfluss auf Erregung,Aufmerksamkeit, Affekt und Aktivität und umgekehrt (wie in ⊡ Abb. 14.3 veranschaulicht). 14 298 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern ▬ ▬ ▬ ▬ Das obige Beispiel zeigt die Beziehung zwischen Erregung (Schreien oder ruhiger Zustand), Aufmerksamkeit ( organisiert oder desorganisiert), Affekt (z. B.die negative Emotion,die durch Weinen vermittelt wird im Vergleich zur Ruhe eines saugenden Kindes) und Aktivität (z. B. die Hand zum Mund bringen, um zu saugen). Das Beispiel soll auch zeigen, wie alle vier Komponenten in Wechselbeziehung stehen, um eine organisierte Reaktion auf ein sensorisches Ereignis zu produzieren. Gemeinsam steuern die in ⊡ Abb. 14.3 dargestellten intrinsischen Faktoren die zielgerichtete Aktivität oder Beschäftigung des Kindes. Extrinsische Faktoren, die das Verhalten beeinflussen 14 Soziale und physikalische Umwelt stellen die letzte Komponente des Modells dar: die äußeren Faktoren. Auch sie spielen eine wichtige Rolle für das beobachtbare Verhalten des Kindes. In ⊡ Abb. 14.3 werden die extrinsischen Faktoren durch den Außenrand repräsentiert. Die physikalische Umwelt beinhaltet die Objekte und Räume, die das Kind in seinem täglichen Leben erfährt. Die soziale Umwelt umfasst die Pflegebeziehung, den Erziehungsstil und die Fähigkeit des sozialen Partners, in der Interaktion auf die kommunikativen Signale des Kindes einzugehen.Auch die Übereinstimmung ( „goodness of fit“) zwischen Kind und Umwelt, die sich darauf bezieht, wie gut die Anforderungen und Unterstützung der Umwelt auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Säuglings abgestimmt sind (Thomas & Chess 1977; Zeitlin & Williamson 1994), zählt zu den äußeren Faktoren. ! Beachte Extrinsische Faktoren sind die Anforderungen und die Unterstützung, die dem Kind bei der Entwicklung seiner sensorisch-integrativen Kompetenz zur Verfügung stehen. Zusammenfassung Insgesamt zeigt dieses Modell, dass das Verhalten des Kleinkindes auf einem komplexen Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren beruht, welches das sichtbare Verhalten und die daraus resultierenden Interaktionen beeinflusst. ! Beachte Die Rolle der therapeutischen Intervention ist es, jenen Faktor zu bestimmen, an dem die Behandlung ansetzen muss, um die Alltagsbewältigung zu optimieren. Aus therapeutischer Sicht besteht die Herausforderung darin, während natürlich auftretender funktioneller Aktivitäten das Wechselspiel zwischen den inneren Fähigkeiten des Kindes und der Umwelt zu nützen. Die Therapeutin muss die Abstimmung zwischen dem Kind und seiner physikalischen und sozialen Umwelt verbessern, um so für das Kind die „gerade richtigen Herausforderungen“, die Wachstum und Entwicklung fördern, zu schaffen und zu modifizieren. 14.2.1 Sensorische Responsivität ! Beachte Einer der wichtigsten Aspekte der Sinnesverarbeitung ist die sensorische Responsivität, die Fähigkeit, die Reaktion auf einen sensorischen Input zu regulieren. Dieser Begriff ist nicht neu. Ayres (1972, 1985) verwendete den Ausdruck „sensory registration“ für das unmittelbare Bewusstwerden eines sensorischen Inputs. Durch die Einbeziehung der Reizschwelle,jenes individuellen Punktes, an dem die Person sensorische Information wahrnimmt und darauf reagiert (Dunn 1997; Williamson & Anzalone 1997), wurde der Begriff des sensorischen Registrierens weiter entwickelt. In ⊡ Abb. 14.4 ist die Reizschwelle dargestellt. Sie ist jener Punkt, an dem das Kind einen neuartigen sensorischen Input registriert. Unterhalb dieser Schwelle ist der Reiz dem Kind nicht bewusst (d. h. das Kind hat 299 14.2 · Sensorisch-integrative Betrachtungsweise von Säuglingen ⊡ Abb 14.4. Reizschwelle noch keine Veränderung oder Neuheit in der sensorischen Umwelt bemerkt). > Exkurs Anmerkung der Übersetzerinnen: Im Deutschen war bislang der Begriff „Empfindlichkeit“ gebräuchlich. „Empfindlichkeit“ beschreibt einen hypothetisch angenommen, nicht sichtbaren neurologischen Zustand, wogegen mit „Responsivität“ das tatsächlich beobachtbare Verhalten des Kindes beschrieben wird. Die Reizschwelle ist jedoch kein fixer, konstanter Punkt, ab dem das Kind einen Reiz von bestimmter Intensität,Dauer oder Frequenz wahrnimmt.Die Schwelle ist vielmehr dynamisch und variabel, und wird nicht nur vom individuellen Ausgangspunkt des Kindes, sondern auch von eine Reihe innerer und äußerer Faktoren beeinflusst, darunter die zeitliche Akkumulation von Sinnesempfindungen und die sensorische Modalität, Intensität und die Lokalisation des Reizes. ⊡ Abb 14.5. Interaktion der Reizschwelle mit der Erregungskurve bestimmt die verhaltensmäßige Reaktion und Organisation In ⊡ Abb. 14.5 ist die Beziehung zwischen Erregungszustand, Reizschwelle und der daraus resultierenden Verhaltensreaktion (organisiertes vs. desorganisiertes Verhalten) dargestellt (Posner & Boies 1971;Williamson & Anzalone 1997). ! Beachte Steigt die Erregung an, so verbessert sich die Verhaltensorganisation bis zu der Grenze, ab der das Individuum mit dem sensorischen Input nicht mehr zurechtkommt. Ab diesem Punkt wird das Verhalten unorganisiert. Wie in ⊡ Abb. 14.5 ersichtlich ist, werden darüber hinaus sowohl der Erregungszustand als auch die folgende Reaktion von der Reizschwelle des Kindes beeinflusst. ⓘ Tipp Das Verhalten eines Kindes mit niedriger Reizschwelle ist rascher desorganisiert als das eines Kindes mit hoher Reizschwelle. Reizschwelle und Verhaltensorganisation Weitere Faktoren, die die Reizschwelle beeinflussen, sind ▬ sensorische und affektive Erfahrungen, ▬ die subjektive Wichtigkeit eines Reizes, ▬ die Erwartungen des Kindes bezüglich der Reize, ▬ das aktuelle Aktivitätsniveau und Erregungsniveau. Empfindlichkeitskontinuum In ⊡ Abb. 14.6 sind zwei unterschiedliche Kategorien von sensorischer Responsivität (Dunn 1997; Williamson & Anzalone 1997 ) dargestellt: 1. Kinder mit niedriger Reizschwelle (gesteigerter Empfindlichkeit), 2. Kinder mit hoher Reizschwelle (verminderter Empfindlichkeit). 14 300 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern ⊡ Abb 14.6. Reizschwelle: Kontinuum der Responsivität Das Ziel einer Intervention muss es folglich sein, ▬ die sensorische Responsivität zu erhöhen oder zu vermindern, ▬ die Verhaltensreaktion zu regulieren oder ▬ durch Adaptierung der physikalischen und/oder sozialen Umwelt die Bandbreite anpassender Reaktionen zu erweitern, um die Übereinstimmung zwischen der angeborenen sensorischen Empfindlichkeit des Kindes und den Umweltanforderungen zu verbessern (s. Abschnitt 14.4 „Grundlegende Prinzipien der Sensorischen Integrationstherapie bei Säuglingen und Kleinkindern“). ! Beachte Kinder mit einer sehr niedrigen Reizschwelle brau- chen nicht viel sensorischen Input, um den Punkt des sensorischen Registrierens zu erreichen. Daher können sie auch leicht durch Sinneseindrücke überstimuliert werden. Im Verhalten sind diese Kinder oft sensorisch defensiv oder hyper(re)aktiv auf sensorischen Input (Ayres 1979; Knickerbocker 1980; Wilbarger & Wil- 14 barger 1991). Den Kindern mit niedriger Reizschwelle und der daraus resultierenden Hyperaktivität wurde in den letzten Jahren von Therapeuten- und Wissenschaftsseite viel Aufmerksamkeit gewidmet. Aber auch die Kinder am entgegengesetzten Ende des Kontinuums, jene mit hoher Reizschwelle, dürfen nicht vernachlässigt werden. Damit sie sensorische Informationen überhaupt registrieren und sich danach orientieren können, brauchen diese Kinder intensiven Input.Verhaltensmäßig sind sie folglich hypo(re)aktiv. Kinder mit einer hohen Reizschwelle wirken oft unbeteiligt und affektiv flach. In Folge ihrer Passivität holen sie sich aus der Umwelt weniger Anregung, obwohl gerade sie mehr benötigen würden. Die beiden beschriebenen Zustände (hohe und niedrige Reizschwelle) repräsentieren die Extrempositionen an jedem Ende des Kontinuums. Die meisten Kleinkinder sind in der Lage, ihre sensorische Reizschwelle oder ihre Verhaltensaktivität bei Sinneseindrücken zu modulieren und bleiben im Mittelbereich dieses Kontinuums. Kinder, die mit der Modulation ihrer Verhaltensreaktionen Probleme haben, haben oft auch Schwierigkeiten mit Erregung, Aufmerksamkeit, Affekt und Aktivität. Die Reizschwelle wird als dynamisch und variabel angesehen. Die Reaktion auf sensorischen Input wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst (⊡ Übersicht 14.3) > Beispiel Die Toleranz eines Säuglings für leichte Berührungen kann stark variieren, je nachdem, ob er übermüdet, gestresst oder ausgeruht ist. Auch die Fähigkeit des Kindes, sich nach einem sensorischen Ereignis zu erholen bzw. zum ursprünglichen Erregungsniveau zurückzukommen, ist für die Responsivität entscheidend. Viele Kinder mit taktilem oder sensorischem Abwehrverhalten brauchen länger, um sich von sensorischen Reizen zu erholen,als Kinder, Übersicht 14.3. Faktoren, die die Reaktion des Kindes auf sensorischen Input beeinflussen ▬ Das momentane Erregungsniveau des Kindes ▬ Vorangegangene sensorische und affektive Erfahrungen ▬ Die momentane Beschäftigung des Kindes mit zielgerichteten Aktivitäten ▬ Die subjektive Bedeutung des Reizes ▬ Die Erwartungen des Kindes 301 14.2 · Sensorisch-integrative Betrachtungsweise von Säuglingen die nicht taktil oder sensorisch abwehrend sind (Williamson & Anzalone 2001). Die verlängerte Erholungszeit bedeutet, dass das Kind für eine längere Zeitspanne in einem übererregten oder desorganisierten Zustand bleibt. Das Verständnis der sensorischen Responsivität (sichtbares Verhalten) und Reizschwelle als dynamischer und variabler Zustand wird dadurch erleichtert, dass man sich die Reizschwelle nicht als Punkt,sondern als Bandbreite vorstellt, der bei allen Menschen unterschiedlich ist, aber auch bei jedem Einzelnen zu verschiedenen Zeitpunkten variieren kann. Die Breite der Reizschwelle ( siehe ⊡ Abb. 14.6) hängt, wie bereits besprochen, von mehreren inneren und äußeren Faktoren ab. ! Beachte Je breiter die Reizschwelle, desto größer sind die Möglichkeiten für das Kind einen regulierten, organisierten Verhaltenszustand aufrechtzuerhalten und organisierte anpassende Reaktionen hervorzubringen. Obwohl der Begriff „sensorische Reizschwelle“ für das Verständnis der sensorischen Modulation hilfreich sein kann, erklärt er nicht das daraus resultierende Verhalten. Einige Kinder handeln in Übereinstimmung mit ihrer Reizschwelle; andere versuchen, durch bestimmte Aktivitäten ihre Reizschwelle auszugleichen (⊡ Tabelle 14.1) (Dunn 1997; Williamson & Anzalone 1997, in Druck). Sowohl bei niedriger als auch bei hoher Reizschwelle können sich zwei völlig entgegengesetzte Verhaltensprofile zeigen. ⊡ Übersicht 14.4 und 14.5 zeigen das Verhalten von Kindern mit niedriger und hoher Reizschwelle. Klinisch ist es von besonderer Relevanz zu unterscheiden, ob ein Kind eine niedrige Reizschwelle hat (d. h.überempfindlich ist) und sich sensorisch vermeidend verhält, oder ob es eine hohe Reizschwelle hat (d. h. unterempfindlich ist) und seine Reizschwelle noch nicht erreicht hat. ⊡ Tabelle 14.1. Sensorische Profile und entsprechende Verhaltensreaktionen Verhaltensreaktion Niedrige Reizschwelle Hohe Reizschwelle Verhält sich der Reizschwelle entsprechend Hyperresponsiv Hyporesponsiv Versucht, der Reizschwelle entgegenzuwirken Reizvermeider Reizsucher Vorsicht Sowohl Kinder mit niedriger, als auch Kinder mit hoher Reizschwelle können von der Umwelt zurückgezogen erscheinen, aber aus entgegengesetzten Gründen! Der Interventionsansatz ist daher bei beiden Gruppen sehr unterschiedlich. ⓘ Tipp ▬ Für das reizvermeidende Kind mit niedriger Reizschwelle wird in der Behandlung der sensorische Input herabgesetzt, während aktives anpassendes Verhalten unterstützt und angeregt wird. ▬ In der Behandlung des unterempfindlichen Kindes muss intensiver, anregender sensorischer Input geboten werden, der anpassendes Verhalten auslöst. Der beste Weg, um zwischen den zwei sehr verschiedenen Gruppen von Kindern zu unterscheiden, besteht darin, den sensorischen Input zu vermindern: ▬ Ist ein Kind überempfindlich und reizvermeidend, so sollte sich die Verminderung der sensorische Reize positiv auf die Verhaltensorganisation auswirken. ▬ Ist ein Kind tatsächlich unterempfindlich, so kann eine Verminderung von sensorischem Input weitere Desorganisation des Verhaltens auslösen. 14 302 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern Übersicht 14.4. Kinder mit niedriger Reizschwelle Übersicht 14.5. Kinder mit hoher Reizschwelle Kinder mit niedriger Reizschwelle, deren Verhalten der Reizschwelle entspricht, sind hyperaktiv. Sie ▬ haben ein erhöhtes Erregungsniveau, ▬ können die Aufmerksamkeit nicht fokussieren, ▬ zeigen eine überwiegend negative Affektlage oder stehen unter Stress, ▬ neigen zu Handlungen, die impulsiv oder abwehrend erscheinen. Kinder mit hoher Reizschwelle können ebenfalls zwei verschiedene Verhaltensausprägungen zeigen: entweder hyporeaktives oder reizsuchendes Verhalten. Kinder mit hoher Reizschwelle, deren Verhalten der Reizschwelle entspricht, sind hypoaktiv. Sie ▬ stehen häufig nicht mit ihrer Umwelt in Kontakt, weil sie normale sensorische Reize nicht registrieren und sich nicht darauf hin orientieren, ▬ tendieren zu einem herabgesetzten Erregungsniveau, ▬ zeigen eine verlängerte Latenzzeit, um fokussierte Aufmerksamkeit zu erlangen, ▬ weisen flache Affekte auf, der soziale Interaktionen entmutigt, ▬ wirken passiv und unflexibel. Kinder mit niedriger Reizschwelle, die versuchen ihrer Reizschwelle entgegenzuwirken, ▬ neigen zu sensorischem Vermeidungsverhalten, was ihnen hilft, den Erregungszustand die meiste Zeit hindurch zu modulieren, ▬ sind in ihrer Aufmerksamkeit oft überwachsam beim Versuch, Reizüberflutung zu vermeiden, ▬ sind affektiv eher ängstlich und furchtsam, ▬ sind in der Handlungsfähigkeit eingeschränkt, da sie viele sensomotorische Erfahrungen meiden, statt wie andere Kinder ihre Umwelt zu erforschen. 14 14.2.2 Kriterien der Verhaltensorganisation ⓘ Tipp Zum besseren Verständnis der Verhaltensweisen, die bei jungen Kindern Rückschlüsse auf die sensorische Integration und Regulation zulassen, können Verhaltenszustand und Aktivitäten des Säuglings hinsichtlich 4 Kriterien („4 A“ – siehe Übersicht 14.1) beschrieben werden: ▬ Erregung (arovsal), ▬ Aufmerksamkeit (attention), ▬ Affekt (affect), ▬ Aktivität (activity). Kinder mit hoher Reizschwelle, die versuchen ihrer Reizschwelle entgegenzuwirken, sind Reizsucher. Sie versuchen, ihre Reizschwelle zu regulieren, indem sie aktiv sensorischen Input suchen. Sie ▬ weisen oft ein erhöhtes Erregungsniveau auf, ▬ können labil sein, da es für sie schwierig ist, eine sensorische Homöostase zu erlangen, ▬ werden häufig überstimuliert und desorganisiert (s. ⊡ Abb. 14.5), ▬ haben oft eine kurze und schlecht modulierte Aufmerksamkeit, ▬ zeigen wechselnde Affekte von flach bis hektisch, abhängig vom Status der sensorischen Reizschwelle und der Verhaltensorganisation, ▬ richten ihre Aktivitäten danach aus, den sensorischen Input zu steigern, ▬ tendieren manchmal zu Risikoverhalten und Impulsivität. 303 14.2 · Sensorisch-integrative Betrachtungsweise von Säuglingen ! Beachte Zur optimalen Funktion erfordert jeder dieser Prozesse Regulation, wobei sie jeweils einen regulierenden Einfluss aufeinander ausüben. > Beispiel Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, ist von einem ruhigen, wachen Erregungszustand abhängig; diese Aufmerksamkeit kann wiederum die Fähigkeit beeinflussen, eine anpassende Aktion erfolgreich zu vollbringen. Wie bereits beschrieben, beeinflusst die sensorische Modulation bzw. die Reizschwelle diesen regulierenden Prozess und wird wiederum von ihr beeinflusst. Erregungsniveau ! Beachte Der Begriff „Erregungsniveau“ bezieht sich auf die Fähigkeit, verschiedene Schlaf- und Wachzustände aufrechtzuerhalten oder von einem zum anderen zu wechseln (Berg & Berg 1979). Neugeborene befinden sich zumeist in einem der folgenden Verhaltenszustände: ▬ tiefer Schlaf, ▬ leichter Schlaf, ▬ Schläfrigkeit, ▬ ruhiger Wachzustand, ▬ aktiver Wachzustand, ▬ Weinen. Das Beobachten dieser Zustände ist ein wichtiger Teil vieler klinischer Assessments und Beobachtungsansätze auf neonatologischen Intensivstationen (Als 1982; Brazelton 1984). Die Fähigkeit, den Verhaltenszustand zu regulieren,ist bei Risikokindern oft ein erstes Anzeichen einer positiven Entwicklung, und umgekehrt sind Schwierigkeiten mit dieser Regulation ein erstes Anzeichen für Probleme (Als 1989; Lombroso & Matsumiya 1985). ⊡ Abb 14.7. Der ruhige Wachzustand mit dem optimalen Erregungsniveau für Lernen und Interaktion > Beispiel Das Baby in ⊡ Abb. 14.7 gibt ein Beispiel für einen ruhigen Wachzustand, in dem das Kind organisiert und auf einem optimalen Erregungsniveau für Lernen und Interaktion ist. Die Notwendigkeit, Erregungszustände zu beobachten, endet nicht mit der Neugeborenenzeit. Der Erregungszustand beeinflusst die Wahrnehmung und Interpretation des sensorischen Inputs noch lange, nachdem der Säugling einen stabilen Schlaf-WachRhythmus erlangt hat (und wird davon beeinflusst). > Beispiel Berührungsreize, die für ein Kleinkind in einem ruhigen Wachzustand akzeptabel sind, können in einem aktiven Wachzustand oder unter Stress Abwehr auslösen. Aufmerksamkeit ! Beachte Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, sich ausschließlich einem Stimulus oder einer Aufgabe zuzuwenden. 14 304 Kapitel 14 · Sensorische Integration bei Risikokindern und Kleinkindern Die meisten Kinder können fokussierte Aufmerksamkeit am besten in einem ruhigen Wachzustand aufrechterhalten. Drei Faktoren beeinflussen die Aufmerksamkeit des Kleinkindes: Sie vermeiden in der direkten sozialen Interaktion aktiv den Blickkontakt oder verstecken sich unter dem Tisch, wenn sie mit einer Gruppe Gleichaltriger spielen sollten. 1. Wachheit (Aufrechterhalten eines ruhigen Wachzustandes), 2. Selektion (Auswahl, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll, und die Fähigkeit, zwischen mehreren Fokussen zu wechseln), 3. Verteilung (Dauer, die ein Kind bei einem Stimulus bleiben kann und das dafür notwendige Ausmaß an Anstrengung,um diesen Fokus aufrechtzuerhalten). Affekte gehören zu den wichtigsten Verhaltensaspekten bei Risikokindern und Kleinkindern. ⓘ Tipp ! Beachte Eine interessante Tatsache ist, dass Säuglinge eine Vorliebe für gewisse Modalitäten haben können: z. B. beruhigt sich ein Kind durch visuelle Stimuli und orientiert sich darauf, während sich ein anderes den akustischen Reizen einer Spieldose oder der Stimme der Mutter zuwendet, um sich zu beruhigen. 14 > Beispiel Kleinkinder mit sensorischen Integrations- oder Selbstregulationsproblemen können sich häufig nicht Reizen mehrerer Sinnesmodalitäten gleichzeitig zuwenden. Zusätzlicher Input aus einer anderen Modalität führt zu Verhaltensdesorganisation. So können sie etwa die Mutter nur anblicken und anlächeln, wenn sie nicht spricht. Ein zusätzlicher auditiver Stimulus würde das Kind überstimulieren. In einer ähnlichen Situation ist ein Kindergartenkind, das sich nur konzentriert beschäftigen kann, wenn keine Musik im Hintergrund spielt. Experten beschäftigen sich mit der Aufmerksamkeit vor allem unter dem Aspekt ihrer Dauer (der Aufmerksamkeitsspanne). Aber auch der Effekt, den die Reizschwelle auf die Aufmerksamkeit hat, ist von Bedeutung. Kleinkinder, deren Reizschwelle überschritten wird (üblicher Weise betrifft dies Kinder mit niedriger Reizschwelle oder sensorischer Abwehr) bemühen sich, aktiv sensorischen Input zu vermeiden. Im Gegensatz dazu sind Kinder mit einer hohen Reizschwelle unaufmerksam und reagieren nicht, wenn sie sich noch nicht auf den auffälligen Stimulus in der Umwelt hin orientiert haben. Affekte Unter Affekt versteht man die emotionale Komponente des Verhaltens. Damit sind nicht nur affektive Reaktionen auf sensorischen Input gemeint, sondern auch Emotionen, die im Rahmen sozialer Beziehungen entstehen (Holloway 1998). Wie Kinder jeden Alters, die Schwierigkeiten mit sensorischer Modulation haben,zeigen Säuglinge mit sensorischen Modulationsproblemen oft atypische, übersteigerte oder unterdrückte affektive Reaktionen auf sensorischen Input. Bei Säuglingen und Kleinkindern können diese ungewöhnlichen Reaktionen jedoch die Entstehung der primären Bindung beeinflussen (Stern 1985) und so die Erfahrungen mit der sozialen Umwelt stören. Dies geschieht nicht nur aufgrund der atypischen Reaktion, sondern wird auch durch die Art und Weise beeinflusst, wie die Eltern diese Reaktionen interpretieren (Holloway). > Beispiel Julie war ein taktil abwehrendes, leicht irritierbares Mädchen, das sich steif machte, sobald sie gehalten oder liebkost wurde. Ihre Mutter hatte den Eindruck, dass Julie „sie nicht mochte“. Als Reaktion darauf ließ sie Julie eher in Ruhe, als ihr labiles Gleichgewicht durch Interaktion und zusätzlichen sensorischen Input zu stören. Dies nahm Julie viele Gelegenheiten für fördernden Umgang, soziale Interaktion und Reziprozität. 305 14.2 · Sensorisch-integrative Betrachtungsweise von Säuglingen Aktivität ! Beachte Mit Aktivität ist die Fähigkeit gemeint, sich anpassend und zielgerichtet zu beschäftigen (Anzalone 1993). Motorische Fähigkeiten sind die Grundlage für Aktivität, aber Aktivität ist viel komplexer, als sich nur zu bewegen: Aktivität erfordert darüber hinaus die Organisation der kognitiven und perzeptiven Anteile zu anpassendem, zielgerichtetem Verhalten. Muskelto- nus, Kraft und der asymmetrisch tonische Nackenreflex sind Motorik; Spiel ist Aktivität.Kraft,Muskeltonus und andere Komponenten motorischer Reifung sind Voraussetzungen für das Spielen, dennoch ist eine altersentsprechende motorische Kontrolle nicht gleichbedeutend mit der Fähigkeit, anpassend mit der Umwelt zu interagieren und sie zu erforschen. Dieser spannende Prozess der Interaktion zwischen motorischer Reifung und der Kapazität, diese Fähigkeit für Spiel und Exploration zu nützen, ist bei Säuglingen zu beobachten (⊡ Abb. 14.8). Ayres (1985) beschrieb drei voneinander abhängige Schritte der Praxie. Dieses Modell kann das Verständnis von Aktivitäten im Säuglingsalter erleichtern (⊡ Übersicht 14.6). Eine adäquate Integration von Sinnesreizen ist für alle Komponenten der Praxie notwendig. ⊡ Abb 14.8. Beim Spielen,als Aktivität verstanden,geht es darum,perzeptive, kognitive, sensorische und motorische Fähigkeiten zu koordinieren > Beispiel Zum Beispiel muss man, um ein Ziel zu formulieren, Neuartiges bemerken, sich diesem zuwenden und Übersicht 14.6. Schritte der Praxie ▬ Ideation: Formulieren des Zieles, basierend auf der Wahrnehmung von Umweltanforderungen ▬ Bewegungsplanung: Herausfinden, wie das Ziel zu erreichen ist; beinhaltet kognitives Problemlösen und sensomotorisches Körperbewusstsein, das diesem Plan zugrunde liegt ▬ Ausführung: tatsächliches Umsetzen der geplanten Handlung motiviert sein, die Umwelt zu erkunden. Nimmt ein Kind die Umwelt als überstimulierend und bedrohlich wahr, wird es sie eher meiden als erkunden. Ähnlich verhält es sich, wenn ein Kind taktile und propriozeptive Rückmeldungen, die es durch motorische Aktivitäten erhält, nicht optimal verarbeitet: Es wird kein adäquates Körperschema entwickeln, auf dem die Bewegungsplanung aufbauen könnte. Die vier Kriterien Erregungsniveau, Aufmerksamkeit, Affekt und Aktivität bieten also einen hilfreichen Weg, um die vier in ⊡ Tabelle 14.1 dargestellten Profile anhand des beobachtbaren Verhaltens voneinander abzugrenzen (Williamson & Anzalone 1997). In ⊡ Tabelle 14.2 sind diese Verhaltensprofile zusammengefasst. 14