Sabin | Shakespeare auf 100 Seiten

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Sabin | Shakespeare auf 100 Seiten
Stefana Sabin
Shakespeare auf 100 Seiten
Reclam
reclams universal-bibliothek Nr. 19276
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Umschlagzeichnung: Rosalie Kletzander
Gestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2014
reclam, universal-bibliothek und
reclams universal-bibliothek sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
isbn 978-3-15-019276-4
www.reclam.de
Inhalt
1. Das biographische Rätsel
oder: Wer war Shakespeare? 7
2. Die elisabethanische Theaterszene
oder: Unterhaltung für alle 14
3. Das Werk oder: Die Erfindung des Menschlichen 24
3.1 Die Komödien oder: Das Glücksversprechen 27
Die Komödie der Irrungen 29 | Der Widerspenstigen Zähmung 30 |
Die zwei Herren aus Verona 32 | Liebes Leid und Lust 33 |
Ein Sommernachtstraum 34 | Der Kaufmann von Venedig 35 |
Die lustigen Weiber von Windsor 36 | Viel Lärm um nichts 37 |
Wie es euch gefällt 38 | Was ihr wollt 39 | Ende gut, alles gut 40 |
Maß für Maß 42 | Ein Wintermärchen 42 | Der Sturm 43
3.2 Die Historien oder: Der Wille zur Macht 44
König Johann 48 | Richard II. 49 | Heinrich IV. 50 | Heinrich V. 51 |
Heinrich VI. 52 | Richard III. 56 | Heinrich VIII. 57
3.3 Die Tragödien oder: Die Todesspirale 57
Titus Andronicus 59 | Romeo und Julia 60 | Julius Cäsar 61 |
Troilus und Cressida 62 | Hamlet 63 | Othello 64 | König Lear 65 |
Macbeth 66 | Antonius und Cleopatra 67 | Coriolan 68 |
Timon von Athen 69 | Cymbeline 69
3.4 Die Sonette oder: Das Liebesdreieck 71
4. Die fernen Schauplätze
oder: Die Italienschwärmerei 78
5. Das Pfund Fleisch
oder: Der Antisemitismusvorwurf 84
6. Das ewig Andere
oder: Die Geschlechterspannung 91
7. Ein deutscher Klassiker aus England
oder: Shakespearomanie 97
Inhalt 5
1. Das biographische Rätsel
oder: Wer war Shakes­peare?
1588 wurde Elisabeth Tudor Königin von England. Sie war
die Tochter von Heinrich dem Achten und Anne Boleyn,
deren Liebesgeschichte als folgenreichste Liebesgeschichte
des Jahrtausends gilt. Denn Heinrichs Entschluss, die bürgerliche Anne zu heiraten, hatte zur ersten königlichen
Scheidung im christlichen Abendland und diese wiederum
zum Bruch Londons mit Rom und zur Gründung einer unabhängigen protestantischen Kirche in England, der Anglikanischen Kirche, geführt.
Von Anfang an musste Elisabeth sich gegen Feinde im
In- und Ausland behaupten. Den Katholiken galt sie als
Bastardin ohne Anrecht auf die Krone, den Protestanten
war sie nicht protestantisch, nämlich nicht antikatholisch,
genug, und die Beziehungen zu Spanien und Frankreich,
den katholischen Mächten, waren äußerst gespannt. Zudem war das England, das sie übernahm, wirtschaftlich
und militärisch geschwächt.
Dank einer Mischung von Nachgiebigkeit und Stärke,
von Gerissenheit und Charme, setzte Elisabeth sich durch;
sie hatte, schrieb der Romancier Anthony Burgess, »the
mind of a man and the arts of a woman« – den Verstand
­eines Mannes und die Geschicklichkeit einer Frau. Sie hatte – und behielt – einen kühlen Kopf und ein kühles Herz.
Sie setzte ihr Ledigsein als Köder und als Waffe ein; sie war
gebildet und förderte die Künste; sie umgab sich mit klugen Beratern und verstand es, deren Klugheit zu nutzen, ja
auszunutzen.
Unter Elisabeths Regierung wurde England See- und
Das biographische Rätsel 7
Kolonialmacht, und mit diesem Bewusstsein einer neuen
wirtschaftlichen Stärke wuchs die Sehnsucht nach kultureller, dem nationalen Selbstgefühl angemessener Bedeutung. Zwar gab es einen literarischen Fundus an Romanzen
französischer Prägung, an Reimerzählungen, an historischen Schriften; darüber hinaus hatte die Bibelübersetzung von John Wycliff (1383) die Sprachentwicklung im
14. Jahrhundert ebenso beeinflusst wie Geoffrey Chaucers
Canterbury Tales, die den mittelenglischen Dialekt Londons als Dichtungssprache etablierten. Aber auch lange
nach Chaucer blieb das Mittelenglische, das nie eine einheitliche Sprache war, sondern sich aus verschiedenen Dialekten nährte, eine Mischsprache: reich, aber derb und ästhetisch roh. Der kulturelle Behauptungswille aber, den
der Wohlstand der elisabethanischen Epoche mit sich
brachte, hatte auch eine sprachliche und literarische Sensibilisierung zur Folge: die Zeit verlangte nach einem großen
englischen Dichter.
Dieser Dichter wurde zu Elisabeths berühmtestem Untertan. 1564 in Stratford-upon-Avon, 160 Kilometer nordwestlich von London (die Reise, zu Pferd oder mit der Kutsche, dauerte damals vier Tage), in eine Handwerkerfamilie
geboren, sollte er mit seinen Stücken für die Londoner Unterhaltungsindustrie zum Aufstieg der englischsprachigen
Literatur beitragen. Dabei sind Einzelheiten der Biographie
und überhaupt die Identität dieser Dichterfigur unklar, die
als William Shakespeare in die Literatur- und Geistesgeschichte eingegangen ist.
»Und nun will ich die gesicherten Tatsachen aufstellen,
die uns etwas angehn«, heißt es in einem Vortrag von Gustav Landauer über »Shakespeares Persönlichkeit«: »Eine
8 Das biographische Rätsel
kleine Landschaft – Flüsse, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches, zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung
ganz mittelalterlich. Was der junge William trieb, wissen
wir nicht. Gerüchte allerlei Art besagen nur, was wir uns
sowieso denken müssen: daß eine glühende Jugendnatur
in der Enge wild und schäumend wurde. … Etwa 18 ½ Jahre
alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die
erfolgt November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die
Tochter Susanna … Daß es da stürmisch, unregelmäßig
herging, ist sicher. Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwil­
linge: der Sohn Hamnet, der dann als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith. Von 1592 an ist Shakespeare
in London als Schauspieler und Theaterdichter bekannt.
Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist,
wann er mit Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte,
die sich von allem Anfang an zeigt: nichts von alledem wissen wir … Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau
und die Kinder je in London gewesen wären. … Von 1612
an etwa … wird Shakespeare wieder seinen Wohnsitz in
Stratford gehabt haben. … Am 25. März 1616: Testament.
Am 23. April – nach unserem Kalender 3. Mai – starb er.«
Landauers Abriss enthält die wesentlichen Daten der
Shakespeare-Biographie. Nicht geklärt ist bis heute, warum
William Shakespeare seine Geburtsstadt Stratford-uponAvon, seine Frau und seine Kinder verließ und mit Anfang
zwanzig nach London zog. Manche Biographen meinen,
dass er sich Wanderschauspielern, die in den 80er Jahren
des 16. Jahrhunderts in der Gegend von Stratford auf Tournee waren, anschloss, mit ihnen zuerst herumzog und
schließlich nach London kam. Aber neueren biographi
Das biographische Rätsel 9
schen Studien zufolge hat Shakespeare mehrere Jahre auf
Houghton Tower, einer katholischen Enklave in Lancashire, verbracht – es sind die sogenannten »verlorenen
Jahre«, weil es dafür keine biographische Dokumentation
gibt – und musste von dort vor der antikatholischen Repression fliehen.
Auch, wann genau Shakespeare nach London kam, ist
nicht sicher, aber um 1590 war er als Schauspieler und Theaterdichter bekannt. Nachdem er sich zuerst mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatte, trat er der berühmtesten Schauspielertruppe Londons bei, die unter dem
Schutz des Lordkämmerers stand und ein eigenes Theater
hatte. Schon nach wenigen Jahren hatte Shakespeare sich
zum Hauptautor der Truppe emporgeschrieben und war
Teilhaber des Theaters. Vom armen Wanderschauspieler
zum Theaterbesitzer – Shakespeares Karriere ist eine Erfolgsgeschichte, aber seine Identität steht nicht eindeutig
fest und ist bis heute Quelle biographischer Spekula­tionen.
Dass Will Shakespeare bloß ein Theaterjunge gewesen
sei, unter dessen Namen Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford, sein eigenes Werk veröffentlichen ließ; dass es der
Name gewesen sei, unter dem der Dramatiker Christopher
Marlowe nach seinem inszenierten Tod weiterschrieb; dass
es ein Pseudonym des Schriftstellers Ben Jonson oder des
Gelehrten Francis Bacon gewesen sei – das sind die geläufigsten Hypothesen. Doch es gibt auch die Unterstellung,
dass Shakespeare Jude gewesen sei und dieses im ›judenfreien‹ England lebensgefährliche Geheimnis habe hüten
müssen, weswegen er seine biographischen Spuren konsequent verwischt habe – oder dass eine Conversa, also eine
zum Christentum übergetretene Jüdin, die eigentliche Au10 Das biographische Rätsel
torin des Werks sei, das man Shakespeare zuschreibt, nämlich Amelia Bassano Lanier, die Tochter eines italienischen
Musikers, der am elisabethanischen Hof tätig war. Nach
noch einer anderen Vermutung hat der italienische Flüchtling John Florio seinen ursprünglichen Namen Crollalanza
zu »Shakespeare« anglisiert und unter diesem Pseudonym
geschrieben. Sogar die Annahme, dass Elisabeth I. selbst
die Autorin jenes dramatischen und lyrischen Werks sei,
das Shakespeare zugeschrieben wird, taucht immer wieder
auf. Schließlich gibt es Argumente dafür, dass die Stücke
Gemeinschaftswerke von Autoren und Schauspielern der
Truppe gewesen und bloß der Einfachheit halber unter
dem Namen William Shakespeare erschienen seien. »ich
selber neige zu Shakespeare als chef der dramaturgie,« notierte Bertolt Brecht 1940 in seinem Arbeitsjournal, »das
benutzen alter stücke, die notwendigkeit, repertoire zu
schaffen, das rollen-auf-den-leib schreiben, der soufflierbuchcharakter der stücke, die hastig zusammengeleimten
partien, die naive theaterlust und das ingeniöse handwerk,
der umstand, dass sowohl lyrik als reflexion ganz und gar
bühnenmäßig und unselbstständig erscheinen, all das
spricht für die autorschaft eines schauspielers oder theaterleiters.«
Auch über Shakespeares Aussehen wird gerätselt. Zwar
hat das Porträt, das auf der ersten Seite der postum erschienenen sogenannten Ersten Folio-Ausgabe von 1623 abgedruckt wurde (vgl. S. 26), die Vorstellung von Shakespeares
Aussehen geprägt, aber dessen Entstehungszeit ist ungewiss. Die andere anerkannte Darstellung Shakespeares ist
die Büste auf dem Grab in Stratford-upon-Avon. Und dann
gibt es noch zwei Bildnisse aus dem 17. Jahrhundert, von
Das biographische Rätsel 11
Das »Sanders Portrait«
denen man annimmt, dass sie Shakespeare zeigen, die aber
ihrerseits auf jene Folio-Gravur zurückgehen. Hunderte
von angeblichen Shakespeare-Porträts sind seit Mitte des
18. Jahrhunderts immer wieder aufgetaucht, aber keines
überstand die kunsthistorischen Echtheitsuntersuchungen. Anfang des 21. Jahrhunderts tauchte in der kanadischen Provinz ein Gemälde auf, das als Sanders Portrait –
nach dem Schauspieler-Maler John Sanders, einem Mitglied von Shakespeares Truppe – benannt wurde und das
angeblich über Jahrhunderte im Familienbesitz der Sanders
12 Das biographische Rätsel
geblieben war, von Generation zu Generation weitergereicht wurde und schließlich in die Neue Welt kam. Das
Sanders-Porträt wäre das einzige zu Lebzeiten Shakespeares, 1603, entstandene Porträt: In Ölfarbe auf Holz
zeigt es einen gutaussehenden jungen Mann mit frechem
Lächeln und ironischem Blick.
Das biographische Rätsel 13
2. Die elisabethanische Theaterszene
oder: Unterhaltung für alle
Schon für damalige Zeiten war London eine pulsierende
Großstadt. Die relative politische Stabilität während der
Regierung von Elisabeth I. brachte einen wirtschaftlichen
Aufschwung, der seinerseits die Urbanisierung vorantrieb.
Der Hafen wurde zu einem bedeutenden Umschlagplatz,
die sogenannte City zu einem Finanz- und Handelszentrum. London wurde zur Metropole: enge Straßen, chaotischer Verkehr, ständige Baustellen, hoher Geräuschpegel,
übler Geruch. Shakespeare, der um 1590 aus der Provinz
nach London kam, muss von dem Stadtbild fasziniert gewesen sein – wohl ähnlich fasziniert wie alle anderen Zuwanderer: Landarbeiter und Provinzadlige, Händler und
Kaufleute, die auf der Suche nach dem besseren Leben nach
London strömten.
Auch die kulturelle Szene florierte. Immer mehr Bücher – historische Studien und Gedichtsammlungen – wurden gedruckt, und das Theater wurde zu einer Form der
Massenunterhaltung. Denn die Aufführungen fanden in
den Innenhöfen der Wirtshäuser statt, deren Hauptklientel
aus einfachen Kaufleuten, Arbeitern und Lehrlingen bestand. Da eine Theaterkarte nur 3 Pennies kostete, wenig
mehr als eine Pfeifenfüllung Tabak, konnte jeder es sich
leisten, sich den Wirtshausbesuch durch eine Theateraufführung zu verschönern. Die Wirtshäuser waren aber nicht
nur Orte der Geselligkeit, sondern auch Treffpunkte der
Halbwelt und somit Schauplätze von Raufereien, an denen
Schauspieler oft beteiligt waren. Der Schauspieler Gabriel
Spencer hatte im Streit seinen Kontrahenten umgebracht,
14 Die elisabethanische Theaterszene
bevor er seinerseits von dem Dramatiker Ben Jonson im
Duell getötet wurde, und Christopher Marlowe wurde in
einer Kneipe unter bis heute ungeklärten Umständen erstochen.
Auch deshalb verbot schließlich der Londoner Magistrat,
der der Schauspielerei als einer frivolen Unterhaltungsform ohnehin wenig wohlgesonnen war, Theateraufführungen in den Wirtshäusern und vertrieb die Schauspielertruppen aus der Innenstadt. Zuerst im Norden, dann am
südlichen Ufer der Themse entstand nun ein regelrechtes Vergnügungsviertel. Zwischen Kneipen, Bordellen und
Tierkampfarenen wurden Theater mit einfachen, suggestiven Namen wie The Rose, The Fortune, The Hope, The
Globe errichtet.
The Globe wurde zum erfolgreichsten Theater Londons –
nicht zuletzt dank jener Stücke, die Shakespeare für das
­Ensemble um Richard Burbage, die Lord Chamberlain’s
Men, also für die Schauspieler des Hofkämmerers, schrieb.
Als Gelegenheitsschauspieler, vor allem aber als Autor für
Burbages Ensemble war Shakespeare so erfolgreich, dass er
Teilhaber des Theaters wurde, das Burbage 1598 baute.
Das Globe war, soweit man aus Dokumenten rekonstruiert hat, ein fast runder, genaugenommen wohl achteckiger
Fachwerkbau, drei Stockwerke hoch und etwa 30 Meter im
Durchmesser, mit Platz für etwa 3000 Zuschauer – ein Riesentheater also! Die billigsten Plätze waren im Innenhof
vor der großen Bühne: Stehplätze unter freiem Himmel,
die einen Penny Eintritt kosteten. In den umlaufenden Galerien gab es überdachte Sitzplätze, je weiter oben, desto
teurer, je einen Penny mehr als der Grundpreis pro Stockwerk, und auch die Sitzkissen mussten gesondert bezahlt
Die elisabethanische Theaterszene 15
werden. Die Bühne war rechteckig, etwa 15 Meter breit und
9 Meter tief, und da sie in den Zuschauerraum hineinragte,
stellte sich eine besondere Nähe zwischen Zuschauern und
Schauspielern ein.
Anders als der Innenhof war die Bühne überdacht, und
dieses Dach war multifunktional. Es bot Schutz vor dem
Wetter, wurde für Inszenierungen genutzt, indem Schauspieler oder Requisiten an Seilen herabgelassen wurden,
und es diente auch als Magazin, in dem die Requisiten untergebracht wurden. Ähnlich wurde auch der Keller unter
der Bühne genutzt. Durch eine Falltür konnten Schauspieler oder Requisiten auf die Bühne gehoben oder von der
Bühne hinabgesenkt werden. An der Bühnenrückseite befanden sich mehrere Zugänge, der mittlere davon konnte
durch einen Vorhang abgetrennt und so inszenatorisch genutzt werden. Auch die Galerie im ersten Stock hinter der
Bühne konnte in die Inszenierungen einbezogen werden,
so zum Beispiel in der Balkonszene in Romeo und Julia.
Hinter der Bühne befanden sich die Umkleideräume der
Schauspieler.
(Nachdem das Globe 1613 abgebrannt war, wurde es ein
Jahr später mit veränderter Architektur an gleicher Stelle
wiederaufgebaut. 1642 aber schloss die puritanische Regierung alle Theater, und das Globe wurde, nachdem es zuerst
leergestanden hatte, 1644 abgerissen. Erst 1989 wurden bei
Bauarbeiten Reste des Theaterfundaments wiederentdeckt. Eine Kampagne für die Wiedererrichtung des Globe
begann, und 1997 wurde das neue Globe, 230 Meter vom
ursprünglichen Standort entfernt, nach historischem Muster, aber modernen Sicherheitsvorschriften entsprechend,
eröffnet.)
16 Die elisabethanische Theaterszene
Das ursprüngliche Globe verfügte über eine – für die damalige Zeit – besonders ausgefeilte Bühnenmaschinerie:
Seile und Falltür, Vorhänge und Trennwände, eine Apparatur für pyrotechnische Effekte und Geräusche. Während
die Bühnenbilder eher sparsam waren und hauptsächlich
aus emblematischen Kulissenelementen und Versatzstücken bestanden, waren die Kostüme prächtig. Oft aus abgelegten Kleidern der adligen Sponsoren angefertigt, sollten
diese Kostüme keine historische Authentizität suggerieren, sondern durch Farbigkeit und Materialpracht bezaubern. Musikalische Einlagen waren Teil der Aufführungen,
sei es als retardierendes Moment, um die Spannung zu erhöhen, sei es, um den Schauspielern Zeit zum Umziehen
oder zum Umdekorieren der Bühne zu geben.
Die Inszenierungen bereiteten die Schauspieler selbst
vor – Regisseure im modernen Verständnis gab es nicht. Es
wurde viel improvisiert und von einer Aufführung zur
nächsten verändert. Die Rollen wurden nach bestimmten
Typenmustern besetzt, und die boy actors, die Jungen, die
zu jedem Ensemble gehörten, spielten die weiblichen Rollen, denn Frauen war das Theaterspielen untersagt. Eine
zentrale Funktion kam dem sogenannten Buch-Halter,
dem book-keeper, zu. Er war der einzige, der das ganze Manuskript erhielt und es in einzelne parts, in Rollenbücher
für die jeweiligen Schauspieler, aufteilte und während der
Aufführung als Souffleur fungierte.
Plakate, die in der Stadt an Wände und Pfosten gekleistert wurden, machten bekannt, wann Aufführungen stattfanden, welche Stücke gespielt wurden – mit sensationalistischen Beschreibungen, die das Publikum anlocken sollten – und wer die Schauspieler waren. Trompetenstöße
Die elisabethanische Theaterszene 17
kündigten rechtzeitig die Aufführung an; dazu wurde auf
dem Theaterdach eine Fahne gehisst, die von weither sichtbar war, denn das Publikum musste vom anderen Themse­
ufer über die London Bridge oder mit der Fähre kommen.
Und es kamen viele – die Globe-Vorstellungen waren meistens ausverkauft! Aufführungen gab es jeden Tag: vormittags wurde geprobt, was nachmittags gespielt wurde. Weil
man auf natürliche Lichtverhältnisse angewiesen war, begannen die Aufführungen am frühen Nachmittag und dauerten zwei bis vier Stunden.
Aber auch im Blackfriars Theatre, das Shakespeares
Truppe 1609 übernahm, wurde am Nachmittag gespielt,
obwohl es ein geschlossener Bau war und die Aufführungen bei Kerzenlicht und verhängten Fenstern stattfanden.
Der geschlossene Zuschauer- und Bühnenraum bot neue
technische Möglichkeiten, so konnten erstmals Lichteffekte in die Inszenierungen integriert werden. Entsprechend
war der Eintritt viel teurer als im Globe, aber das Publikum
rekrutierte sich seinerseits aus einer höheren sozialen
Schicht. Denn das Blackfriars befand sich in einem noblen
Bezirk Londons, in dem die Straßen gepflastert waren und
in dem Adlige und hohe Hofbeamte wohnten. Zwar war
das Blackfriars mit nur 500 Plätzen viel kleiner als das
Globe. Aber da nun die Aufführungen unabhängig vom
Wetter waren und das ganze Jahr hindurch gespielt werden
konnte, blieben die Einnahmen hoch.
Im allgemeinen hatten die Theater, so auch das Globe
und das Blackfriars, eigene Autoren, die unter ständigem
Produktionsdruck die Stücke schrieben und umschrieben
und an die jeweiligen Bühnenverhältnisse anpassten, und
sie hatten feste Ensembles, die zwar aus fahrenden Schau18 Die elisabethanische Theaterszene
stellern und Vagabunden entstanden waren, sich aber in
dem Maße, in dem die Verdienstmöglichkeiten für Schauspieler besser wurden und das Theater sich als schichtenübergreifende Unterhaltungsform etablierte, professio­
nalisiert hatten. Die Gefährdung durch das Londoner Va­
gabundengesetz von 1572 blieb, deshalb stellten sich die
Ensembles unter den Schutz eines adligen Sponsors und
gaben sich dementsprechende Namen. Die Leicester’s Men
waren das erste derart entstandene Ensemble, dem andere
folgten, zum Beispiel die Lord Chamberlain’s Men, die sich
nicht nur große Publikumserfolge, sondern auch das Wohlwollen der Königin erspielten und oft bei Hofe auftraten.
(Nach dem Tod Elisabeths, 1603, als der Hof das Ensemble
übernahm, wurden die Lord Chamberlain’s Men zu den
King’s Men, weil nun der König ihr Sponsor war.)
Für Autoren und Schauspieler bedeutete das Sponsorensystem nicht etwa, dass sie frei von finanziellen Sorgen
wirtschaften konnten, sondern nur, dass sie eine Arbeits­
erlaubnis in London hatten. Tatsächlich waren die Ensembles eine Art Aktiengesellschaft, deren Aktionäre die Schauspieler selbst waren. Shakespeare hielt 13,5 % am Globe und
10 % an den Lord Chamberlain’s Men und war später auch
Teilhaber des Blackfriars.
Vielleicht trug das Sponsorensystem dazu bei, dass sich
der soziale Status der Theatermacher, die nun im aristokratischen, gar königlichen Umfeld agierten, verbesserte, bestimmt aber tat das der finanzielle Erfolg und machte die
ehemaligen Vagabunden zu Stars.
Denn manche Schauspieler und manche Autoren des
elisabethanischen Theaterbetriebs wurden berühmt. Edward Alleyn, der das Rose-Theater führte und dort fast täg
Die elisabethanische Theaterszene 19
lich auftrat, wurde stadtbekannt, und auch der GlobeMitinhaber Richard Burbage wurde in den Titelrollen von
Shakespeares Tragödien – als Hamlet, König Lear und
Othello – zu einer regelrechten Berühmtheit und erhielt
Ehrenämter am Hof. Berühmt wurden auch die Autoren,
die die Theater und die Schauspieler belieferten. Marlowe
erlangte mit seiner derben Mischung aus philosophischer
Reflexion, vulgärer Rhetorik und gewalttätiger Handlung
wie in Doctor Faustus, The Massacre at Paris oder The Jew
of Malta immerhin so viel Renommee, dass er Hauslehrer
bei einer Verwandten der Königin, Arabella Stuart, wurde
und ihn der Geheimdienst anheuerte. Thomas Middleton,
der in satirischen Komödien der Stadtgesellschaft einen
Spiegel vorhielt, war so gefragt, dass er als freier Autor, also
ohne die Bindung an ein bestimmtes Ensemble, auskam.
Und Shakespeare, der als Schauspieler wohl nicht so erfolgreich war (seine beste schauspielerische Leistung soll der
Geist in Hamlet gewesen sein), wurde mit Liebes- und
­Verwechslungskomödien und mit historischen Dramen zu
einem Autor, der beim Volk, das sich stehend im Innenhof
des Globe drängte, ebenso populär war wie beim Adel, der
auf den Rängen auf Kissen saß. Zwar weiß man nicht,
wann genau Shakespeare nach London kam, aber seine
­Popularität und sein Erfolg müssen schon 1592 so groß
­gewesen sein, dass ihn der Dramatiker Robert Greene in
­einem Pamphlet als »the only Shake-scene in the country«
apostrophierte.
Die Konkurrenz unter den Theatern und den Ensembles
und also auch unter den Autoren war groß, denn die elisabethanische Theaterszene war, wie der Literaturhistoriker
Frank Kermode sie beschrieben hat, ein Geschäft – und
20 Die elisabethanische Theaterszene
auch eine frühe Form von Massenunterhaltung, denn das
Publikum rekrutierte sich aus allen sozialen Schichten.
Ähnlich wie in der grammar school, der Hauptinstitution
elisabethanischer Bildung, in der Jungen aller Schichten
unterrichtet wurden, war auch das Theater ein sozialer
Schmelztiegel – nicht, dass gesellschaftliche Unterschiede
abgebaut worden wären, aber der Theaterbesuch suggerierte die Möglichkeit einer schichtenübergreifenden Verständigung.
Die Stücke – Masken- und Mysterienspiele, Komödien
und Tragödien – bedienten sowohl die Abenteuerlust und
die romantische Sehnsucht als auch den Verdruss über die
königliche Verwaltung und die Regierung. Das verlangte
von den Autoren ein geschicktes Lavieren zwischen Deutlichkeit und Verfremdung, also zwischen Anspielungen auf
aktuelle politische Verhältnisse und ihrer kodierten dramaturgischen Umsetzung, und von den Schauspielern einen
stetigen Wechsel zwischen klischeehaftem Chargieren und
freiem subtilen Suggerieren. Denn die Theater waren unter
ständiger Beobachtung des städtischen Magistrats und
der höfischen Geheimpolizei. Das Globe und sein Ensem­
ble waren insofern privilegiert, als ihr Sponsor, der Lord
Chamberlain, als Hofkämmerer, nicht nur ein leitender Beamter, sondern auch der oberste Zensor war.
Das Reglement sah vor, dass alle Stücke der Zensur vorgelegt werden mussten, bevor sie einstudiert und inszeniert wurden. Den Lord Chamberlain’s Men soll die Zensur
wohlwollend gesonnen gewesen sein, auch weil das Ensemble am Hof besonders beliebt war und dort oft auftrat.
Auch sonst soll die Zensur eher milde entschieden haben,
aber sie war eine ständige Bedrohung, und immer wieder
Die elisabethanische Theaterszene 21
wurden Stücke verboten. Ein Stück von Ben Jonson wurde
abgelehnt, weil darin eine zu hofkritische Szene vorkam,
und ein Stück über Thomas Morus, an dem auch Shakespeare mitgearbeitet hatte, wurde abgelehnt, weil eine Szene als Aufruf zu öffentlichem Aufruhr ausgelegt wurde.
(Erst 1968 wurde die Theaterzensur in England durch Parlamentsbeschluss abgeschafft.)
Vielleicht auch wegen der Zensur hielten sich die elisabethanischen Theaterdichter an die traditionellen dramatischen Gattungen und schufen zugleich Mischformen, in
denen sowohl komödiantische wie tragische Elemente vorkamen. Und keinem gelang die Gestaltung neuer drama­
tischer Formen so gut wie Shakespeare. Er vollzog die Abkehr von der aristotelischen Poetik, die die Einheit der
Handlung, des Ortes und der Zeit postulierte, und indem
er aus dem mittelalterlichen Volkstheater, den Romanzen
und der commedia dell’arte schöpfte, entwickelte er ein
narratives Theater, das spektakuläre Handlungselemente
ebenso wie Spannungsmomente einschloss und das Idyllische mit dem Tragischen und dem Komischen verband.
Shakespeare griff auf antike, historische und mythologische Motive zurück und verlieh vielen Stücken dadurch
­eine exotische Aura, dass er die Handlungen nach Italien
verlegte, wo Antike, Geschichte und Mythologie besonders dicht verwoben waren. Wie kein Dichter vor ihm hat
Shakespeare europäische Quellen zur Befruchtung des
­eigenen Werks genutzt – er war, schrieb der Literaturhistoriker Hermann Sinsheimer, der Begründer des englischen
»literarischen Imperialismus«.
Das nach Stand, Herkunft und Bildung heterogene Pu­
blikum musste sich in seiner Gesamtheit in die Figuren
22 Die elisabethanische Theaterszene
und Handlungen auf der Bühne hineinversetzen können,
den sprachlichen Witz und die aktuellen Bezüge in den
­Dialogen erkennen. Auch deshalb steckt in Shakespeares
Stücken eine ganz besondere Vieldeutigkeit, die ebenso
poetischer wie inhaltlicher Art ist. Die Spannweite dieser
Stücke reflektiert die verschiedenen Ansprüche und Einstellungen eines breiten Publikums, das noch nicht an die
schriftliche Diktion, sondern vor allem an die mündliche
Rede, an Predigten und andere formalisierte Sprechweisen,
gewohnt war. Dementsprechend wechselt die Sprache zwischen dem allgemeinen, dem volkstümlichen und dem gebildeten Register. Shakespeare sei es gelungen, schrieb der
Philologe George Steiner, »die Gesamtheit menschlicher
Empfindung und Handlung, eine summa mundi, in poetische Sprache zu gießen«.
Die elisabethanische Theaterszene 23
3. Das Werk
oder: Die Erfindung des Menschlichen
Im elisabethanischen London und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts war es unüblich, Theaterstücke zu
veröffentlichen, denn sie galten als niedere Gattung: als
Material, mit dem Schauspieler und Autoren arbeiteten,
weniger als fertige Texte mit fester Gestalt, die den Druck
rechtfertigen würde. Besonders erfolgreiche Stücke der elisabethanischen Theaterautoren erschienen in einfachen
Einzeldrucken, die nicht als eigenständige Buchveröffentlichungen verstanden wurden, sondern zum Besuch der entsprechenden Aufführung anreizen sollten.
Freischaffende Autoren mussten den Schauspielerensembles saubere Manuskripte, Reinschriften der zu sprechenden Texte, einreichen, aber als Mitinhaber und Hauptautor der Chamberlain’s Men scheint Shakespeare seiner
Truppe nur Entwürfe als Arbeitsgrundlage ausgehändigt
zu haben. Daraus entstanden während der Proben oder
­bereits nach ersten Aufführungen überarbeitete Rollenund Regiebücher. Diese am praktischen Bedarf orientierten Handschriften – Entwurfshandschriften, Zwischenabschriften, Regiebücher – bildeten die Druckvorlagen.
Zwanzig Stücke Shakespeares sind zu seinen Lebzeiten
in Quartoausgaben erschienen: einfachen Buchformaten
(der Druckbogen wurde viermal gefaltet, so dass ein Format von etwa 20 × 23 cm herauskam). Da das Verlags- und
Druckgewerbe noch nicht wie heute organisiert war und es
noch keine klaren Regeln für die Vergütung von Autorenrechten gab, gingen den Veröffentlichungen der Quartoausgaben Auseinandersetzungen der Schauspielertruppen
24 Das Werk
mit den Autoren einerseits und mit den Verlegern andererseits voraus.
Ausgaben, gar Gesamtausgaben von Stücken, gab es
nicht. Insofern bedeutete das Erscheinen der gesammelten
dramatischen Werke von Ben Jonson 1616, in Shakespeares
Todesjahr, eine Wende im Literaturbetrieb und nicht zuletzt im Verlagswesen. Denn mit dieser sorgfältig edierten
und aufwendig gedruckten Ausgabe beanspruchte Jonson
für die dramatische Gattung dieselbe Anerkennung, die bis
dahin dem Epos oder der Lyrik zuteil wurde.
Indem Jonsons Ausgabe eine Aufwertung des Dramas
als literarischer Gattung darstellte, gab sie den Impuls für
ähnliche verlegerische Unternehmungen. Dem Beispiel
von Jonson folgend beschlossen zwei frühere Schauspielerkollegen von Shakespeare, eine Gesamtausgabe seiner Stücke zu veröffentlichen. Diese Ausgabe erschien in London
1623, also sieben Jahre nach Shakespeares Tod, in einer Auflage von etwa 1200 Exemplaren unter dem Titel Mr. William Shakes­peare’s Comedies, Histories and Tragedies. Es
war ein Buch von 908 Seiten in dem damals üblichen Folioformat (mit einer Buchrückenhöhe von etwa 40 cm). Weil
gleichzeitig gedruckt und Korrektur gelesen wurde, ist jede
Ausgabe eine Mischung aus korrigierten und unkorrigierten Seiten – es entstanden etwa 40 verschiedene Varianten
dieser ersten Folioausgabe.
Diese Ausgabe beinhaltete 36 Stücke: 14 Komödien,
10 Historien, 12 Tragödien, die innerhalb dieser drei Kategorien willkürlich geordnet wurden; nur die Königsdramen waren chronologisch nach den Titelhelden angeordnet. Das historische Drama Heinrich VIII. gilt als Gemeinschaftswerk von Shakespeare und John Fletcher – ebenso
Das Werk 25
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