Dis-soziation der Kirche?

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Dis-soziation der Kirche?
Schwindende Möglichkeiten der Identifikation mit dem Evangelium
Peter Hünermann
I. Einleitende begriffliche Klärungen
Bei seinem Englandbesuch im September 2010 hat Papst Benedikt XVI. in seinen Ansprachen immer wieder für eine stärkere Präsenz und ein intensiveres Gehör des Evangeliums in der säkularen Öffentlichkeit geworben. Eberhard von Gemmingen schrieb
bereits zu Beginn dieses Jahres: »Kardinal Joseph Ratzinger kritisierte wenige Tage vor
seiner Wahl auf den Stuhl Petri die ›Diktatur des Relativismus‹. Die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem modernen Relativismus scheint auch
der zentrale Konflikt im Pontifikat von Benedikt XVI. zu sein. Er könnte damit den
dogmatischen Kommunismus als Hauptgegner von Johannes Paul II. ablösen. Wenn
dies so wäre, dann würden die Konflikte bisher in der Öffentlichkeit auf Nebenkriegsschauplätzen ausgetragen: bei den Piusbrüdern, bei Liturgiefragen wie der tridentinischen Messe und der Karfreitagsfürbitte, bei Aids und Kondomen … Die christlichen
Kirchen stehen in unseren Jahren wohl vor einer der größten Herausforderungen ihrer
zweitausendjährigen Geschichte: Glaube und Respekt gegenüber einer transzendenten
Autorität weichen dem Pragmatismus; die hart erkämpfte Achtung vor der Würde jedes
Menschen wird relativiert; bei wachsendem Reichtum werden Millionen zu Bettlern
und der Globus geplündert. Das aber, was die breite (Kirchen-) Öffentlichkeit wahrnimmt, sind Randfragen.«1
Wie entsteht Präsenz, wie findet das Evangelium in der Öffentlichkeit Gehör? Wie
schwindet Präsenz in der Öffentlichkeit, wie verliert das Evangelium Gehör in der
Gesellschaft? Ist es berechtigt, in der heutigen Gesellschaft so etwas zu konstatieren?
Gehört, theologisch gesehen, das höchst unterschiedliche Ergebnis der Verkündigung
des Evangeliums nicht zur Charakteristik, und zwar zur epochenübergreifenden Charakteristik der Evangelisierungsbemühungen? Jesus spricht im Gleichnis vom Sämann,
der das Wort Gottes sät, von den ganz unterschiedlichen Weisen, wie das Wort Gottes
aufgenommen wird: Einiges fällt auf den Felsen, einiges unter die Dornen, einiges auf
den Weg, einiges schließlich auf gutes Erdreich (vgl. Mt 13, 3–9; 18–23). Wenn heute
zu Recht von einer Krise der Kirche aufgrund mangelnder Präsenz des Evangeliums in
der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gesprochen wird, dann können folglich nicht al1
Eberhard von Gemmingen, Streit um Randfragen, in: Herder Korrespondenz 64 (2010) 65.
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lein die grundsätzlichen Hemmnisse des Einzelnen im Blickfeld stehen, die für die
ganze Zeit der Kirche, den ganzen Weg des Glaubens durch die Geschichte gelten.
Wenn eine gravierende Krise herrscht, dann müssen spezifische, vielleicht strukturelle
Momente verschärfend hinzukommen. Gibt es solche verschärfenden Momente und
wie werden sie ausgelöst?
Die These, welche im Folgenden gleichsam erprobend einem Bewährungstest unterzogen werden soll, wird in der Überschrift angesprochen: Dis-soziation der Kirche?
Dissoziation meint nach dem Fremdwörterduden Trennung, Zerteilung; Zerfall einer
geordneten Einheit, eines Bewusstseinszusammenhangs. Diese Frage ist hier ernst gemeint: sie ist nicht um einer Effekthascherei willen gewählt. Sie bezieht sich auf die
katholische Kirche in Deutschland. Die Ernsthaftigkeit der Frage stützt sich auf die
Ereignisse im kirchlichen Leben in den Jahren 2009 und 2010, auf das jeweilige Echo
dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit sowie auf ausgewählte Erhebungen im Jahr
2009/2010 und kirchliche statistische Angaben.2
In dieser Fragestellung wird vorausgesetzt, dass ein strukturelles Moment eine entscheidende Rolle spielt. Deshalb zunächst einige Anmerkungen zum Phänomen von
gesellschaftlichen Dissoziationen. Am Ende des 20. Jahrhunderts ergeben sich eine
Reihe von politischen und zugleich sozialen Auflösungsprozessen, die gegenüber früheren Zeiten ein Novum darstellen: Es sind gewaltfrei sich vollziehende Zusammenbrüche von Staaten und Staatsgebilden durch die Dissoziation ihrer kulturell-gesellschaftlichen Grundlagen, näher hin des Marxismus, verstanden als Staats- und
Gesellschaftsdoktrin, und der damit verknüpften institutionellen, auch der staatlichpolitischen Strukturen. Dieser Typus von Dissoziationen – er hat eine gewisse Ausprägung bereits in der Auflösung der Militärdiktaturen in Lateinamerika in den 1980er
und zu Beginn der 1990er Jahre erfahren – beruht auf dem Faktum, dass jede große
körperschaftliche oder soziale Ordnung eines Grundkonsenses der Mitglieder bedarf.
Grundkonsens meint hier jene Übereinstimmung in Handlungszielen und Handlungsorientierung, die legitime, weil notwendige Felder der gesellschaftlichen Nicht-Übereinstimmung umschließt und so die Integration vieler Menschen an ihren jeweiligen
Orten in ihrer je eigenen Verantwortung mit ihren individuellen Erfahrungen in eine
Körperschaft allererst möglich macht. Das Gegenteil eines Grundkonsenses ist nicht
nur der Dissens, sondern ebenso die eng gefasste »Communio«, die den Grundkonsens
in Uniformität und Einlinigkeit umschlagen lässt. Sie widerspricht dem »weiträumigen« Charakter des Grundkonsenses.
Das politologische und soziologische Novum von zeitgenössischen Dissoziationen
erklärt sich daraus, dass Grundkonsens wie Dissoziation durch die in der Moderne
konstituierte Öffentlichkeit wesentlich medial vermittelte Größen sind. Diese Aussage
umschließt mehrere Momente: Im Gegensatz zu Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, in denen »Öffentlichkeit« noch gar keinen Begriff darstellte, wird Öffentlichkeit
2 Vgl. im Folgenden Anmerkung 6–9.
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im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem gesellschaftlichen und politischen Schlüsselbegriff. Er umschließt wesentlich die »gesetzliche Garantie der öffentlichen Kritik an
den Staatsorganen«.3 Die heutige Öffentlichkeit weist einen anderen Charakter auf: Sie
ist wesentlich die durch Massenmedien vermittelte Öffentlichkeit.
Die durch Massenmedien vermittelte Öffentlichkeit kennt selbstverständlich politische, kulturelle, religiöse Autoritäten. Sie kennt die öffentliche Kritik. Es gibt die gesetzliche Presse- und Medienfreiheit. Dies aber geschieht in einem hochkomplexen
Zusammenspiel mit der öffentlichen Meinung und ihren unterschiedlichen Trends und
Gruppen. An den Milieustudien, wie sie im »Milieuhandbuch« der MDG4 vorliegen, ist
diese moderne Öffentlichkeitsstruktur deutlich abzulesen: Diese Öffentlichkeit ist
konstituiert durch eine fortwährende Wechselwirkung zwischen den Mitgliedern einer
modernen Gesellschaft und der medialen Vermittlung. Dabei bilden sich unterschiedliche Lebenswelten aus, Gruppen mit ähnlicher Lebensauffassung und Lebensweise. Sie
unterscheiden sich durch ihre »Alltagseinstellungen – zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Medien, zu Geld und Konsum«.5 Entscheidend ist, dass diese grundlegenden,
keineswegs problemlosen Wertorientierungen medial repräsentiert, ständig an die
Menschen herangetragen und spezifisch entfaltet werden. Die verschiedenen Milieus
bevorzugen jeweils bestimmte Printmedien, nutzen das TV-Angebot oder Internet auf
ihre Weise, wählen bestimmte Freizeitmöglichkeiten etc. Bei der Erfassung des Milieus
bildet die eine, nämlich die quantitative Achse die Höhe des Einkommens. Die qualitative Achse wird durch unterschiedliche »Lifestyle«-Typen mit ihren jeweiligen ästhetischen Eigenheiten und den korrespondierenden Ethos-Formen gebildet. Den fließenden Prozess von Milieubildungen sieht man am deutlichsten an den jungen
Alterskohorten der Bevölkerung. Er manifestiert sich aber ebenso in den jeweiligen
Altersstrukturen der Milieus oder dem Verschwinden ganzer Milieus.
Das Verschwinden von Milieus geht relativ rasch vor sich, da die mediale Vermittlung, die weniger und weniger »rentiert«, sehr schnell schrumpft. Dies hängt zusammen mit der Ökonomisierung der Massenmedien und dem Kampf um die Einflussdichte in den Milieus.
Was bedeutet diese Form der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit ihren pluralen
Milieubildungen für den erforderlichen staatlichen oder körperschaftlichen Grundkonsens? Dieser institutionelle Grundkonsens ist stets neu hervorzubringen, er muss ja
von den Menschen in unterschiedlichen, beweglichen Milieus erbracht werden. Dazu
ist es erforderlich, die unterschiedlichen Akzentsetzungen in den Milieus in jeweiliger
Kompatibilität mit dem bisherigen Grundkonsens aufzugreifen und so zu integrieren,
was u. U. Veränderungen oder Ergänzungen des Grundkonsenses wie konkrete Neubestimmungen der ausgesparten Freiräume erfordert. Das heißt, es werden neben dem
3 Vgl. L. Hölscher, Öffentlichkeit, in: HWPH, Bd. VI, 1134–1140, hier: 1139.
4 Milieuhandbuch – Religiöse und kirchliche Orientierung in den Sinus-Milieus 2005, München 2006.
5 A. a. O., Anlage: »Was sind Sinus-Milieus?«
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Menschenwürde-Gebot geschichtliche »ununterschreitbare Gerechtigkeits- und Richtigkeitsstandards« vorgegeben.6
Ein solcher Vorgang kann aus unterschiedlichen Gründen misslingen. Dann schwindet der Grundkonsens. Das Schwinden des Grundkonsenses wird aufgrund der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit in einer Eindeutigkeit manifest, dass es in öffentliche Macht umschlägt. Die bisherigen politischen, kulturellen Autoritäten sind
gegenüber einem solchen Vorgang machtlos. Sie haben ihre Machtbasis eingebüßt.
Wenn Grundkonsens so verstanden wird, dann taucht im Bezug auf die Kirche die
weiter führende Frage auf: Gibt es überhaupt einen Grundkonsens der Kirche? Ist er
notwendig?
Die Antwort umfasst zwei Momente:
1. Die Kirche ist nach »Lumen gentium« Mysterium und Institution zugleich. Am
Ende des ersten Kapitels über das Mysterium der Kirche heißt es in LG 28: »Diese Kirche,« – d. h. die von Gott gestiftete Kirche, beschrieben als Mysterium – »in dieser Welt
als Gesellschaft verfasst und geordnet (ut societas constituta et ordinata), existiert in
der katholischen Kirche, die vom Nachfolger des Petrus und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird«. Kirche ist Mysterium und societas constituta et
ordinata. Insofern ist Kirche angewiesen auf einen Grundkonsens. Ohne ihn kann sie
nicht societas constituta, ordinata sein. Zugleich aber gilt – und darin erweist sich der
Mysteriencharakter der Kirche – : Der Grund des Konsenses in der Kirche ist die Offenbarung Gottes selbst in Jesus Christus und der sich darauf gründende Glaube. Der
so begründete gemeinsame Glaube ist menschlichem Zugriff unverfüglich und menschlich nicht zu erstellen. Er ist nicht einfach die »Wiederholung« der Botschaft Jesu noch
das »Rezitieren des Glaubensbekenntnisses«. Er ist und bleibt ein unverdientes Geschenk Gottes. »Wenn du mit deinem Munde bekennst... und mit deinem Herzen
glaubst…« (Röm 10,9). Allerdings bedarf der Glaube der Bezeugung in der Öffentlichkeit, und dies durch die Hervorbringung eines Grundkonsenses, der in Wort und Praxis
eine jeweils geschichtliche Ausdrucksform besitzt. Diese Eigenart des Grundkonsenses
der Kirche als Bezeugungsgestalt schließt die unmittelbare theologische Inanspruchnahme der Konsenstheorie der Wahrheit aus. Die Wahrheit des Evangeliums ist von
Gott den Gläubigen im jeweiligen Glauben erschlossen; sie wird nicht durch den Konsens der Gemeinschaft der Glaubenden konstituiert. Allerdings kann die Wahrheit des
Evangeliums nicht ohne den oder unter Absehung vom Grundkonsens der Kirche öffentlich bezeugt werden. Dass Glauben als Ereignis der göttlichen Wahrheit, und zwar
als von Gott her geschenkte Gabe, mit der Bezeugung der Offenbarung und des Glaubens unlösbar verbunden ist, zeigt Paulus im Römerbrief 10,14 f. Mt 28,19 f dokumentiert diesen Zusammenhang ebenso wie die anderen Osterberichte und die frühesten
Bekenntnisformeln wie 1 Kor 15,3 ff.
6
Vgl. Alfred Rinken, Öffentlichkeit, in: Staatslexikon, 7.Aufl., Bd. IV, 138–142, hier:141.
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Dieser Fundierungs- und Verschränkungszusammenhang wird im Untertitel angesprochen: Wo kein Grundkonsens in der Kirche gegeben ist, da schwinden die Möglichkeiten der Menschen, sich mit dem Evangelium zu identifizieren. Daraus folgt: Es
muss – und zwar theologisch gesehen – einen Grundkonsens in der Kirche geben.
2. Der geforderte Grundkonsens der Kirche aber ist jeweils neu in der massenmedial
vermittelten Öffentlichkeit hervorzubringen. Er liegt nicht einfach fix und fertig formuliert in der Vergangenheit vor, wenngleich er die Selbigkeit des Glaubens in der
Geschichte zu bezeugen hat.
II. Wie steht es um den Grundkonsens der Kirche in Deutschland heute?
Seit dem Sommer liegen die wichtigsten jährlich erscheinenden Untersuchungen und
Umfrageergebnisse der führenden Institutionen vor: Die 16. Shell-Jugendstudie7, der
Religionsmonitor 2008 der Bertelsmann-Stiftung8, ferner der MDG-Trendmonitor:
»Religiöse Kommunikation 2010« der MDG Mediendienstleistung GmbH, München
20109, last not least die Untersuchung von Thomas von Mitschke-Collande: »Kirche –
Was nun? Zur Situation der katholischen Kirche in Deutschland und mögliche
Lösungsoptionen«10.
Obwohl es in den verschiedenen Untersuchungen aufgrund der Aufgabenstellung
und des gewählten Zugangs Unterschiede gibt, zeichnen sich doch zwei in allen Untersuchungen konstante Reihen von Aussagen ab:
1. Es besteht ein großer Einbruch im generellen Vertrauen der Katholiken in die
katholische Kirche. Das spricht sich ebenso in dem ganz dringenden Verbesserungsbedarf der Kirche aus, der von bis zu 60 % der Katholiken ausgedrückt wird, wie dem
Mangel jeglichen Vertrauens von einem Viertel der Katholiken. Besonders hoch ist der
Zweifel an den Führungskräften der katholischen Kirche in Deutschland. Er belief sich
bereits 2005/2006 auf knapp 60 %, und dieses Misstrauen dürfte inzwischen nochmals
gestiegen sein.
7 Shell Deutschland Holding (Hrsg.), Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Fischer
Taschenbuchverlag, Frankfurt a. M. 2010; vgl. insbesondere: Thomas Gensicke, Wertorientierungen, Befinden und Problembewältigung, a. a. O. 187–242.
8 Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009; vgl. darin insbesondere: Karl Gabriel, Die Kirchen in Westdeutschland: Ein
asymmetrischer religiöser Pluralismus, a. a. O. 99–124; Matthias Petzold, Zur religiösen Lage im Osten
Deutschlands: Sozialwissenschaftliche und theologische Interpretationen, a. a. O. 125–150; Monika Wohlrab-Sahr, Das stabile Drittel: Religionslosigkeit in Deutschland; u.a.
9 Dieser Trendmonitor wurde in Kooperation mit dem Institut in Allensbach und dem Sinus-Institut
erarbeitet.
10 McKinsey & Co., München 2010; vgl. Ders., Kirche – Was nun? Die Identitätskrise der katholischen
Kirche in Deutschland – Analyse und Lösungsansätze, a. a. O. September 2010.
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Die Angaben hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit der Kirche, geäußert von der
Gesamtbevölkerung 11, die Zweifel am Führungspersonal etc. sind gegenüber den hier
angegebenen ungefähren Werten von Katholiken nochmals erheblich gesteigert.
Gleichzeitig herrscht sowohl bei Katholiken wie in wesentlich stärkerer Weise bei dem
Durchschnitt der Bevölkerung insgesamt eine Skepsis hinsichtlich der Reformfähigkeit
der Kirche überhaupt.
Dieser Reihe von Aussagen, die das Vertrauen in die Kirche, die Akzeptanz ihrer
Autorität und ihres Führungspersonals betreffen, steht eine andere Aussagenreihe gegenüber.
2. Diese andere Aussagenreihe bezieht sich auf die Akzeptanz der Botschaft der Kirche, aufgefächert nach dem Glauben an Gott (als Schöpfer und Erlöser; als personaler
Gott; als a-personale Größe), dem Glauben an Jesus Christus – wiederum entfaltet nach
unterschiedlichen Aspekten – und der Auferstehung Christi von den Toten. Dieser
zuletzt genannte zentrale Glaubensartikel der christlichen Kirche wird nur von einem
guten Drittel der Katholiken bejaht. Diesen Aussagen entsprechen die abschmelzenden
Zahlen der Gottesdienstbesucher an Sonn- und Festtagen, der Rückgang der allgemeinen Sakramentenpraxis, illustriert insbesondere an den Taufzahlen, sowie die Kirchenaustrittszahlen. Die katholische Kirche hat seit 1990 2, 4 Millionen Mitglieder verloren.
Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Frühjahr 2010 denkt ein Fünftel der sich selbst als
sehr gläubig oder weitgehend gläubig bezeichnenden Katholiken über einen Austritt
nach.
Diese Ergebnisse, die im Jahr 2009/2010 bisher unbekannte Spitzen erreichen, sind
Resultate langfristiger Trends.
Das auffälligste Phänomen, in dem sich diese Trends bereits in den 1950er Jahren
abzeichneten, war der Rückgang der Akzeptanz der Kirche in der sozialen Unterschicht
und in der unteren Mittelschicht. Die CAJ – und die korrespondierende Jugendarbeit
für Arbeiterinnen, die CAJF – suchte dem entgegenzuwirken. Ebenso sind hier KAB
und zum Teil Kolping zu nennen. Einen überzeugenden und öffentlich bekannten Vertreter im Episkopat hatten diese Gruppen und pastoralen Ansätze in Weihbischof Angerhausen vom Bistum Essen. Und danach? Der Trend hat sich inzwischen nochmals
entschieden verschärft. In der unteren Mittelschicht und in der Unterschicht – von der
Einkommenshöhe her gesehen – ist die katholische Kirche, abgesehen von der Alterskohorte der Siebzigjährigen, fast nicht mehr präsent.12 Bischof Kamphaus hatte als
einziger Bischof ein reales, öffentliches Verhältnis zu einem Teil dieses Milieus, und
zwar durch seinen Einsatz für die Schwangerenkonfliktberatung.
Ein zweites Phänomen, in dem sich diese Tendenzen bereits spiegelten, war der Rückgang geistlicher Berufe, und zwar sowohl der Berufe zum Priestertum wie zu den
11 64 % sprechen von einem dauerhaften Schaden für das Ansehen der Kirche durch die Missbrauchsfälle
nach einer Forsa Umfrage im April 2010.
12 Vgl. Milieuhandbuch – Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005, Kapitel 8;
11; 13.
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Orden. Bereits 1950/51 schrieb Bischof Keller von Münster Hirtenbriefe, die auf diesen
Trend aufmerksam machten. Seitdem hat sich dieser Schrumpfungsprozess in Deutschland – und weltweit13 – nahezu kontinuierlich fortgesetzt.14
Ein drittes Phänomen, das den oben genannten Trends mit zugrunde liegt und zugleich deren lange Entwicklungsgeschichte verdeutlicht, ist der soziale Wandlungsprozess in der Lebenswelt der Frauen, die Auflösung der traditionellen Rollenschemata der
Frauen und die damit erfolgende schrittweise Distanzierung gegenüber der Kirche. Die
Frauen hatten im Grunde nur einen repräsentativen Vertreter in der Bischofskonferenz, Weihbischof Gutting, der bezeichnenderweise aus der Arbeit der CAJF kam. Er
war Vorsitzender der Kommission, welche nach der Würzburger Synode eingesetzt
wurde, um über die Stellung der Frau in der Kirche zu beraten und entsprechende Vorschläge an die Bischofskonferenz zu machen. Es verwundert nicht, wenn bei einer repräsentativen Umfrage 1993 nur jede fünfte katholische Frau der katholischen Kirche
bescheinigt, dass sie ein Verständnis für die Probleme der Frauen heute entwickelt
habe.15
Der sich hier deutlich abzeichnende und verschärfende Entfremdungsprozess wurde
im Pontifikat Johannes Pauls II. durch die Politik der Bischofsernennungen verstärkt.
Besonders krass waren diese Entwicklungen – soweit der deutschsprachige Bereich betroffen ist – in Österreich und in der Schweiz. Dass Erzbischof Groer unter dem dringenden Verdacht der Pädophilie stand, war in kirchlichen Kreisen Österreichs bekannt
und wurde Rom vor der Ernennung mitgeteilt. Er wurde gleichwohl ernannt und über
lange Jahre hin gegen alle Einsprüche im Amt gehalten. Eine Aufklärung des Falles
wurde nicht durchgeführt. Die Weihe von Kurt Krenn zum Weihbischof in Wien und
seine nachmalige Bestellung zum Bischof von St. Pölten führte zu öffentlichen Skandalen. Die katholische Kirche in Österreich ist im Verlauf dieser Jahrzehnte, bis hin zur
beabsichtigten Weihe von Dr. Wagner in Linz, um 25 % geschrumpft. Für die Schweiz
sei erinnert an die Bestellung von Weihbischof Haas zum Bischof in Chur, der von der
Mehrheit der katholischen Glaubenden in seinem Bistum wegen seiner traditionalistischen Haltung nicht akzeptiert wurde. Die Mehrheit der Gemeinden weigerte sich, die
Firmung durch den Bischof spenden zu lassen. Er erhielt keinen Zutritt zu den Gottes13 Das jüngste Statistische Jahrbuch des Vatikans beziffert die Zahl der ordinierten Geistlichen (Diözesan- und Ordensklerus) auf 409 166 , die Zahl der getauften Katholiken auf 1 165 714 000. Am Ende des
II. Vatikanischen Konzils lag die Zahl der ordinierten Geistlichen um knapp 50 000 höher, die Zahl der
Katholiken betrug damals etwa die Hälfte der jetzigen Katholiken. Vgl. Secretaria Status, Annuarium
Statisticum Ecclesiae, Libreria Vaticana 2010.
14 Wilhelm Damberg hat diesen und weiteren Phänomenen aus der Zeit unmittelbar nach dem Kriegsende bis 1980 in Bezug auf die Kirche im Bistum Münster und in den Niederlanden umfangreiche, höchst
aufschlussreiche Studien gewidmet. Vgl. u. a. Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im
Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980. Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte
Reihe B, Nr. 79, Paderborn – München – Wien 1997.
15 Vgl. Frauen und Kirche. Eine Repräsentativbefragung von Katholikinnen im Auftrag des Sekretariats
der Deutschen Bischofskonferenz, durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Arbeitshilfen 108), Bonn 1993.
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häusern. Der Zugriff auf die im Kanton Zürich gezahlten Kirchensteuern wurde ihm
nicht gestattet. Über lange Jahre hinweg wurde er gleichwohl von Rom nicht abberufen,
trotz entsprechender Anträge der Schweizer Bischofskonferenz. Schließlich wurde er
zum Erzbischof im Fürstentum Liechtenstein ernannt. Erinnert sei an die öffentlichen
Proteste bei der Ernennung von Erzbischof Meisner zum Erzbischof in Köln und die
Affäre um Bischof Mixa von Augsburg in der jüngsten Zeit.
Dass hier eine generelle römische Linie Ausdruck fand, zeigen die Umpolungen, die
– verbunden mit der Verurteilung der Befreiungstheologie – der lateinamerikanische
Episkopat durch Ernennung zahlreicher traditionalistisch eingestellter Bischöfe erfahren hat, bis hin zum jüngsten Streit um die Nachfolge von Bischof Casaldáliga in Brasilien. Papst Benedikt XVI. scheint durch seine Bevorzugung sehr konservativer Kandidaten – bei gewissen zu beobachtenden Akzentverschiebungen – diese Praxis seines
Vorgängers fortzuführen.
Anlässe zu diesem sich steigernden Entfremdungsprozess bildeten zweifellos auch
eine Reihe von römischen Erklärungen und Maßnahmen, die Irritationen unter Katholiken und Unverständnis in der öffentlichen Meinung hervorgerufen haben. Die Liste
ist lang. Sie reicht von der Enzyklika »Humanae vitae« und der sich daran anschließenden heftigen, immer wieder aufflammenden Diskussion über die offizielle katholische
Sexualethik, die Auseinandersetzungen um die Wiederzulassung von verheirateten
Geschiedenen zu den Sakramenten, die römische Entscheidung gegen die von der Deutschen Bischofskonferenz gebilligte Praxis der Schwangerschaftskonfliktberatung bis
hin zur Auseinandersetzungen im Bereich der Ökumene, wie sie durch die Erklärung
der Glaubenskongregation »Dominus Jesus« ausgelöst wurden. Klerus und in der Pastoral tätige Laien wie die Gemeinde- und Pastoralreferenten wurden erheblich betroffen durch das Urgieren des neuen Treueids, die scharfe Abgrenzung zwischen Priestern
und in der Pastoral arbeitenden Laien hinsichtlich ihrer Kooperationsmöglichkeiten
von 1997. Die Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Bruderschaft
Pius X., insbesondere von Bischof Richard Williamson, dem Leugner des Holocaust, hat
international hohe Wellen geschlagen. Der Umgang der Kirche mit den Missbrauchsfällen, deren Aufklärung sich zunächst »von außen« her ergab, sich in oft qualvoller
Weise über Jahre hinzog und im Unterschied zu den USA, Irland, Deutschland, Belgien
in manchen Ländern wie Italien oder Polen überhaupt noch nicht in Gang gekommen
ist, gehört in diese Reihe. Wie stark die Haltung der »Vertuschung« in kirchlichen
Kreisen immer noch ist, zeigte sich deutlich an Äußerungen wie denen von Kardinal
Sodano am Osterfest 2010 oder von Kardinal Castrillón Hoyos, dem jetzt abgelösten
Präfekten der Kleruskongregation.
Die hier in Erinnerung gerufenen Ereignisse, Konflikte etc. wurden nicht ausgewählt, um die gegenwärtige Kirchenkrise auf diese einzelnen Begebenheiten zurückzuführen, noch um Papst und Bischöfe anzuprangern. Ich gestehe gern allen ein Handeln »guten Glaubens« zu, ein Handeln aus Besorgnis um den Glauben und die
Weitergabe des Glaubens, um die Zukunft der Kirche. Es geht um die Sachproblematik.
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Die genannten Begebenheiten wurden ausgewählt, weil sich an ihnen in prägnanter
Weise zeigt, was es bedeutet, dass Kirche ihren Grundkonsens in einer massenmedial
vermittelten Öffentlichkeit jeweils hervorbringen und bewähren muss. Von den massenmedial gegebenen Zuspitzungen und Simplifikationen und von der Effekthascherei
kann man ebenso wenig absehen wie von den relativ grob geschnittenen öffentlichen
Meinungsbildern von Katholiken und Nichtkatholiken. Die angesprochene Vertrauensund Autoritätskrise, der Zweifel an der Führungsqualität der Verantwortlichen wie die
schrumpfende Akzeptanz der Inhalte christlichen Glaubens verbinden sich – dies zeigen die Fakten – deutlich mit einer Vermittlungskrise.
Was ist das Ergebnis der bisherigen Überlegungen? Es handelt sich bei dieser Krise
in der Tat um eine Dissoziation der Kirche. Eine Krise also, die die geschichtliche Gestalt ihres Grundkonsenses betrifft. Thomas von Mitschke-Collande spricht von einer
Identitätskrise der Kirche. Er sieht darin das Ende der Volkskirche.16 Ende der Volkskirche meint: »Auslaufen der von gesellschaftlichen Normen getragenen, mit starken
Alleinstellungsmerkmalen ausgestatteten Volkskirche mit striktem Gehorsamsglauben«.17
Suchen wir diesen in soziologischer Sprache formulierten Befund zurückzuübersetzen in die Sprache und Sichtweise des II. Vatikanischen Konzils. Nach dessen Sprache
und Sicht muss die These lauten:
Die katholische Kirche ist nicht und kann nicht mehr sein: Staatskirche, monokulturelle Kirche, Konfessionskirche; sie ist Kirche in der Welt von heute.18
Zur Erläuterung dieses Satzes:
1. Das II. Vatikanische Konzil hat in dem Dekret »Dignitatis humanae« unter Rückgriff auf theologische und philosophische Gründe jeden Typus von Staatskirchentum
verabschiedet. Sie hat damit von einer Kirchengestalt Abschied genommen, die sie – in
unterschiedlichen Formen – von der konstantinischen Zeit ab bis in die Moderne hinein
geprägt hat. Staatskirchentum aber trägt immer den Charakter einer Feudalordnung
im zivilen und im geistlichen Bereich. Das Volk Gottes rückt damit in eine Position der
reinen Empfängerschaft und Unterordnung unter die geistlichen und zugleich weltlichen Autoritäten. Die sich im Mittelalter ausbildende hierarchische Gesellschaftsstruktur und die damit verknüpfte Sakramentenpraxis wie die Sakramententheologie sind
davon stark gefärbt. Das II. Vatikanische Konzil gibt in allen seinen Dokumenten Linien vor, die diese Gestalt von Kirche als Staatskirche ablösen.
2. Kirche ist nicht und kann nicht mehr sein eine monokulturelle Kirche. Seit dem
frühen Mittelalter hat sich – mit der Entfremdung von Ost und West wie dem schließlichen Schisma und den wechselseitigen Verwerfungen – die lateinische Kirche als
monokulturelle Kirche nicht nur faktisch entwickelt, sondern zugleich für ihre einli16 Vgl. die in Anm. 10 zitierte Analyse: Kirche, was nun? 12.
17 Vgl. Kirche, was nun? 34.
18 Der Verf. hofft, in den nächsten Wochen eine umfangreichere Studie zu dieser These veröffentlichen
zu können. Die These wird im Folgenden nur in äußerster Verkürzung dargestellt.
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nige Ausprägung ihrer Lehr- und Lebensformen Anerkennung und Übernahme durch
die Ostkirchen gefordert. Das zeigt sich in den mittelalterlichen Auseinandersetzungen
um das Filioque, um die Eschatologie auf dem 2. Lyoner Konzil, um die Sakramentenlehre auf dem Konzil in Florenz und in den anschließenden Verhandlungen ebenso wie
in Eingriffen in die Liturgie der Uniaten und in der grundlegenden Einbeziehung dieser
Gruppen in die römische Kirchenrechtsordnung. Demgegenüber konstatiert das II. Vatikanische Konzil in »Orientalium Ecclesiarum« wie in »Unitatis redintegratio« den
apostolischen Ursprung der östlichen Kirchen, die Legitimität ihrer eigenständigen
Auslegung der christlichen Botschaft, die Würde ihrer Liturgie, die Fruchtbarkeit ihrer
Spiritualität, die eigentümliche Anpassung an die östlichen Lebensformen wie die
rechtliche Stellung ihrer Patriarchen. Die so heimgeholte Vielfalt wird als Reichtum
charakterisiert. Zugleich wird die Absicht bekundet, diesem Reichtum und dieser Vielfalt auch im lateinischen Bereich Raum zu geben.
3. Die Kirche ist und kann nicht als Konfessionskirche verstanden werden. Wir bezeichnen mit Konfessionskirche die Verfassung und Lebensgestalt sowohl der römischkatholischen Kirche wie der Kirchen der Reformation, die dadurch entstanden ist, dass
ausgehend von den strittigen Kontroverspunkten die jeweilige Strukturierung und
Ausbildung des kirchlichen Selbstverständnisses und Lebensstils vorgenommen wurde.
Es wird in Unitatis redintegratio ausdrücklich anerkannt, dass der Heilige Geist auch
die evangelischen Kirchen bzw. die ekklesialen Gemeinschaften beseelt und in ihnen
wirkt, der Glaube an Jesus Christus und die Taufe alle verbindet und von dorther die
katholische Kirche zu einem ökumenischen Aufbruch und zu Initiativen aufgerufen
und verpflichtet ist, die auf die Herstellung der vollen Gemeinschaft zielen. Der exklusiven und ausschließenden Negation wird – wie im Bezug auf die Ostkirchen – die
differenzierte Bejahung und grundsätzliche Anerkennung entgegengesetzt, auch wenn
es noch Hindernisse für die volle Gemeinschaft und Einheit gibt.
4. Gegenüber den angeführten Negationen lehrt das II. Vaticanum: Kirche ist vielmehr wesentlich Kirche »in der Welt von heute« – so in »Gaudium et spes«. Dazu gehört, dass die Aussagen des I. Vaticanums über Primat und Magisterium wesentlich
vertieft werden, indem die Zusammengehörigkeit von Primat und Kollegialität in »Lumen gentium« betont und die Anbindung des päpstlichen Magisteriums an die unterschiedlichen Bezeugungsinstanzen des Glaubens sowohl in »Lumen gentium« wie in
»Dei Verbum« herausgestellt werden. Diese Kirche ist eine Kirche, die im Dialog mit
den Religionen (»Nostra aetate«), insbesondere mit dem Judentum und in einem wechselseitigen Lernprozess mit der säkularen Welt steht. »Gaudium et spes« 40–45 bringen
die theologische »Wesentlichkeit« dieser Position auf den Punkt.
Diese grundlegenden und programmatischen Aussagen des II. Vatikanischen Konzils stimmen in auffälliger Weise mit dem zitierten Ergebnis der soziologischen Untersuchungen überein. Sie bezeichnen das Ende einer tausendfünfhundert Jahre alten
Gestaltung der Kirche und des Glaubenslebens. Sie weisen zugleich darauf hin, dass die
epochale Herausforderung für die Kirche darin besteht, eine neue Gestalt von Kirche
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auszubilden, die »Gaudium et spes« »Kirche in der Welt von heute« nennt. In der genannten Ausarbeitung von McKinsey & Co. heißt dies: Es ginge um die Bewältigung
des Übergangs zu einer »offenen Dialog-bereiten missionarischen Kirche im Volk, die
in einem säkularisierten Umfeld mit anderen sinnstiftenden Organisationen im Wettbewerb steht.«19 Würde man hier noch das Wort »diakonisch« einfügen, so dass es
hieße: »eine offene, Dialog-bereite, missionarische und diakonische Kirche…«, so
könnte man dies gerade im Blick auf das II. Vatikanische Konzil als eine adäquate soziologische Umschreibung der dort mit anderen Mitteln und in theologischen wie kirchengeschichtlichen Perspektiven ausgesprochenen Kirchenkonzeption und der entsprechenden Lebensformen des Glaubens ansehen.
Wird diese Herausforderung nicht aufgenommen, dann wird sich der Dissoziationsprozess der Kirche mit erheblicher Beschleunigung fortsetzen. Die katholische Kirche
wird zur traditionalistischen Sekte verkümmern, die sich weiter auf Nebenschauplätzen verheddert.
Was sind die Ansätze, um dieser Herausforderung zu genügen? Dieser Frage soll der
letzte Abschnitt gewidmet sein.
III. Ansätze und Perspektiven
1. Die Trenduntersuchungen, die Entwicklung der Austrittszahlen, die gegenwärtige
Krise zeigen deutlich, dass 45 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil die Entfremdungserscheinungen zwischen Kirche und moderner Welt, die Abstände zwischen den
Eckpunkten der Programmatik des II. Vaticanums und dem faktischen kirchlichen Leben immer noch zunehmen. Die gegenwärtige Krise offenbart dies überdeutlich. Da es
sich beim Weg aus der Krise sowohl um einen Umkehrprozess im Bereich des Glaubens
und der kirchlichen Praxis wie um eine Revision entsprechender institutioneller Regelungen handelt, ist der Erneuerungsprozess, zu dem die Deutsche Bischofskonferenz
auf ihrer Herbsttagung 2010 – Gott sei Dank! – ein Signal gegeben hat, nicht nur höchst
gefährdet. Es ist ja ein Prozess, in dem sehr viele mitspielen müssen, wenn er gelingen
soll: der Papst und die römischen Behörden, die Gesamtheit oder zumindest die übergroße Mehrheit der Bischofskonferenzen, der Klerus und die in der Pastoral Tätigen,
die Gemeinden. Der Prozess ist darüber hinaus – im Fall des Gelingens – angesichts der
grundlegenden erforderlichen Wandlungen ein langfristiger Prozess. Die reale Rezeption der Programmatik des II. Vatikanischen Konzils und seiner Orientierungspunkte
wird im günstigsten Szenario sicherlich nicht weniger als zwei Generationen, das heißt
nochmals etwa 50 Jahre, in Anspruch nehmen. Dabei stützt sich die so geäußerte Hoffnung nicht auf menschliche Cleverness, sondern auf das Wirken des Geistes Gottes, der
allein Umkehrbewegungen schenken kann. Aber auch ein solches Wirken des Geistes
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Peter Hünermann
Gottes bedarf der Zeit und des Raums, weil es sich in Menschen ereignen muss. Wie
lang der Weg ist, bis sich hinreichend reformwillige, engagierte Menschen finden und
den noch einmal langen und beschwerlichen Weg einer institutionellen Veränderung
in Gang bringen, kann man an der unendlich mühsamen Geschichte ablesen, die
schließlich zur Durchführung und zum Abschluss des Trienter Konzils führte. Reformen in der Kirche stellen höchste Anforderungen und sind außergewöhnlich schwierige Prozesse. Sie bedürfen einer sehr entschiedenen Glaubenshaltung und einer »Hoffnung wider alle Hoffnung«, um nicht in Resignationen großen Stils umzuschlagen.
2. Die Linien und Perspektiven für die Ausbildung eines neugestaltigen Grundkonsenses der Kirche sind im II. Vatikanischen Konzil vorgegeben. Sie wurden oben äußerst knapp skizziert, und der Erneuerungsprozess der Kirche kann nicht gelingen
ohne eine ernsthafte und tiefgreifende Aneignung und ein entsprechendes Durchdenken dieser wesentlichen Orientierungsvorgaben. Dies ist ein Prozess, der die Bischöfe
ebenso angeht wie die römischen Behörden, den Klerus und die zahlreichen pastoralen
Mitarbeiter, Ehrenamtlichen und die sogenannten Laien, kurz: das gesamte Volk Gottes.
Dabei erfordert der Rezeptionsprozess gebieterisch, dass die Veränderungen der gesellschaftlichen Lage, die seit dem II. Vatikanischen Konzil eingetreten sind, berücksichtigt werden. Dies betrifft insbesondere »Gaudium et spes«. Diese wichtige Pastoralkonstitution ist geschrieben aus der Perspektive der einsetzenden Globalisierung.
Das bedeutet, dass die damals voll einsetzende soziale, technische, wirtschaftliche, wissenschaftliche Revolution, aber auch das voraufleuchtende Ideal von demokratischer
Partizipation noch nicht mit der gleichen Deutlichkeit wie heute ihre inhärenten Grenzen, Gefährdungen und Missbrauchsmöglichkeiten, kurz die dunklen Seiten dieser
Entwicklung enthüllt hatten.
Diese dunklen, belastenden Seiten zeigen sich nicht zuletzt in dem ungeheuren
Druck, den die Moderne mit ihren gesteigerten Effizienz– und Konkurrenzzwängen
und den das öffentliche Leben weithin beherrschenden, völlig abstrakt gehandhabten
Gleichheitsgrundsätzen ausübt. In der modernen Gesellschaft werden – trotz demokratischer Kontrollmechanismen – Schwächere, Benachteiligte, Ärmere auf nationaler wie
internationaler Ebene marginalisiert, oft genug ausgebeutet, versklavt oder überhaupt
zu einer Quantité négligeable gemacht. Afrika bildet auf kontinentaler Ebene das erschreckendste Beispiel dafür. Auf der nationalen Ebene bezeugt dies das jeweilige moderne »Prekariat«.20 Zugleich bilden sich vor allem in der Mittel- und Oberschicht – in
der deutschen wie der Weltgesellschaft – Milieus heraus, Lebenswelten von Menschen,
die relativ abgeschottet voneinander leben und in sich höchst reale, neue Machtfaktoren
bilden.
20 Der Ausdruck wurde in der jüngeren soziologischen Diskussion zur Bezeichnung der gesellschaftlichen Unterschicht in einer an sich reichen modernen Konsumgesellschaft gebildet. Ein wichtiges Merkmal
ist die generationenübergreifende Zukunftslosigkeit und das Leben an der Grenze der gesellschaftlichen
Lebensmöglichkeiten. Aufschlußreich ist die 16. Shell Jugendstudie, Jugend 2010, 187–207.
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Dis-soziation der Kirche?
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3. Am Anfang eines solchen Prozesses, der so umfassender Art ist, können im Grunde
nur Zeichen stehen: Zeichen, dass es wirklich um eine Kultur des Miteinanders, des
offenen, geduldigen Dialogs geht, der keine Tabus und Sprechverbote duldet. Es geht
nicht an, dass sich kirchliche Gremien – egal ob Bischofskonferenz oder Gemeinderat –
womöglich hinter verschlossenen Türen mit Regularien, aber nicht mit den Grundproblemen der Kirche und der Gemeinden beschäftigen, auch wenn es dabei zu Konflikten
kommt. Es steht nirgendwo geschrieben, dass sich Situationen, wie sie Paulus Gal 3,11 ff
beschreibt, in der Kirche nicht wiederholen können oder dürfen.
Es geht um Zeichen, die den Aufbruch eines wagenden Erneuerungsprozesses im
kirchlichen Verhalten und in der kirchlichen Praxis signalisieren, der sich einlässt auf
die fremd gewordenen und fern gerückten Menschen, welche kein Zutrauen mehr zur
Kirche und ihrer Botschaft haben. Solche Signale einer sich zu ihrer Sendung bekennenden, evangelisierenden und diakonisch dienenden Kirche aber sind ebenso auf der
Ebene der deutschen Kirche wie auf den Ebenen der Diözesen, der Seelsorgseinheiten,
der Gemeinden, der einzelnen kirchlichen Gruppen unabdingbar. Es geschieht zweifellos viel und im Verborgenen. Aber wo wird dies als »Licht auf dem Leuchter« wahrgenommen? Es gilt ja nicht nur, dass beim Tun des Guten die Rechte nicht wissen soll,
was die Linke tut. Es gilt auch, dass die Gemeinschaft der Gläubigen »Stadt auf dem
Berg und Salz der Erde« zu sein hat.
Ist es zu verwegen, hier als ein solches Zeichen an die Zulassung von Frauen zum
Diakonat zu denken? Es wäre ein Zeichen, das unmittelbar alle entscheidenden Ebenen
der Kirche involvierte, das ganze Volk Gottes anginge, die Sendung der Kirche als einer
dienenden Kirche erneut unterstriche, die Zuwendung der Kirche gerade zu den Armen
und Schwachen verdeutlichte und zugleich einen ganz wesentlichen Beitrag zur Evangelisierung kirchenferner Milieus darstellte. Ein solches Signal machte ernst damit,
dass der »Weg der Kirche der Weg des Menschen« (Johannes Paul II.), das heißt aber
der Frauen und Männer ist. Der Weg zu einer offenen, Dialog-bereiten, glaubensstarken und hoffnungsvollen Kirche wäre damit beschritten.
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