9 Gedächtnis 9.1 Das Phänomen Gedächtnis – 380 9.1.1 Informationsverarbeitung – 382 9.2 Enkodieren: Informationen in den Speicher überführen – 385 9.2.1 Wie wir enkodieren – 385 9.2.2 Was wir enkodieren – 388 9.3 Speichern: Informationen aufbewahren – 394 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 Sensorisches Gedächtnis – 394 Arbeitsgedächtnis – 395 Langzeitgedächtnis – 396 Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn – 397 9.4 Abrufen: Informationen auffinden – 404 9.5 Vergessen – 409 9.5.1 Scheitern der Enkodierung – 410 9.5.2 Speicherzerfall – 411 9.5.3 Scheitern des Abrufs – 412 9.6 Konstruktion von Erinnerung – 416 9.6.1 9.6.2 9.6.3 9.6.4 9.6.5 Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination – 417 Quellenamnesie – 419 Echte und falsche Erinnerungen – 419 Kinder als Augenzeugen – 421 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch – 422 9.7 Gedächtnistraining – 426 Andere Kulturen, andere Perspektiven They eat beans mostly, this old yellow pair. Dinner is a casual affair. Plain chipware on a plain and crea­ king wood, Tin flatware. Two who are Mostly Good. Two who have lived their day, But keep on putting on their clothes And putting things away. And remembering . . . Gwendolyn Brooks (1917–2000), From »The Bean Eaters« Remembering, with twinklings and twinges, As they lean over the beans in their rented back room that is full of beads and receipts and dolls and cloths, to­ bacco crumbs, vases and fringes. 380 Kapitel 9 · Gedächtnis Gedächtnis An event is such a little piece of time and space, leaving only a mindglow behind like the tail of a shooting star. For lack of a better word, we call that scintillation memory. Diane Ackerman, »An Alchemy of Mind« (2004) >Seien Sie dankbar für Ihr Gedächtnis. Wir halten es für etwas Selbstverständliches, außer wenn es nicht richtig funktioniert. Doch es ist unser Gedächtnis, das es uns ermöglicht, Freunde, Nachbarn und Bekannte zu erkennen und sie beim Namen zu nennen, zu stricken, Schreibmaschine zu schreiben, Auto zu fahren und Klavier zu spielen, englisch, spanisch oder chinesisch zu sprechen, meint Rupp (1998). Es ist unser Gedächtnis, das über die Zeit Rechenschaft ablegt und unser Leben bestimmt. Es ist unser Gedächtnis, das es uns ermög­ licht, unsere Nationalhymne zu singen, den Weg nach Hause und die für unser Über­ leben notwendige Nahrung zu finden. Es sind unsere gemeinsamen Erinnerungen, die uns zu einer zusammengehörigen Gruppe von Iren oder Australiern, Serben oder Schotten ver­ binden. Und es sind unsere Erinnerungen, die gelegentlich dafür sorgen, dass wir eine feind­ selige Haltung gegenüber Menschen einnehmen, deren Beleidigungen wir nicht vergessen können. Wir sind zum größten Teil das, woran wir uns erinnern. Ohne Gedächtnis gäbe es kein Schwelgen in Erinnerungen an glückliche Momente in der Vergangenheit, keine Schuld- oder Wutgefühle, ausgelöst durch schmerzliche Erinnerungen. Stattdessen würden wir ständig in der Gegenwart leben. Jeder Moment wäre neu. Aber auch jeder Mensch wäre ein Fremder, alles Gesprochene eine unverständliche Fremdsprache, jede Aufgabe – sich anzuziehen, zu kochen, Fahrrad zu fahren – eine neue Herausforderung. Sogar Sie selbst wären sich fremd, da es Ihnen an dem durchgehenden Bewusstsein Ihrer selbst von der weit zurückliegenden Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Augenblick fehlen würde. Der Gedächtnisforscher McGaugh (2003) vertrat die Auffassung: »Wenn Sie die Fähigkeit verlieren, Ihre frühen Erinne­ rungen abzurufen, dann haben Sie kein Leben mehr. Dann könnten Sie auch eine Kohlrübe oder ein Kohlkopf sein.« 9 9.1 Das Phänomen Gedächtnis Ziel 1: Definieren Sie, was das Gedächtnis ist, und erklären Sie, wie sich Blitzlichterinnerungen von anderen Erinnerungen unterscheiden. ◼ Gedächtnis (memory): dauerhaftes Fortbeste­ hen von aufgenommenen Informationen über die Zeit; es ermöglicht die Speicherung und das Abrufen von Informationen. Ihr Gedächtnis ist der Speicher des Mentalen, das Reservoir all dessen, was Sie im Lauf Ihres Lebens lernen. Der römische Staatsmann Cicero drückte es so aus: »Aller Dinge Hort ist das Gedächtnis.« Für den Psychologen ist das Gedächtnis – die Erinnerung – ein Hinweis darauf, dass Erlerntes die Zeit überdauert. Das Gedächtnis ermöglicht es uns, Informationen zu speichern und wieder abzurufen. Untersuchungen der Extremfälle von Gedächtnisleistungen haben Forschern zum Verständnis der Funktionsweise des Gedächtnisses verholfen. Manche Untersuchungen haben sich auch mit den Ursachen und Auswirkungen von Gedächtnisverlust beschäftigt. Im Alter von 92 Jahren erlitt mein Vater einen kleinen Schlaganfall, der nur einen besonderen Effekt hatte. Seine geniale Persönlichkeit wurde nicht beeinträchtigt. Er war auch noch genauso beweglich wie zuvor. Er erkannte uns und konnte sich beim Durchsehen von Familienfotoalben über die kleinsten Einzelheiten aus seiner Vergangenheit stundenlang auslassen. Doch er hatte größtenteils seine Fähigkeit verloren, neue Erinnerungen über Gespräche und Alltagsereignisse zu speichern. Er konnte nicht sagen, welcher Wochentag gerade war. Obwohl ihm bereits mehrmals mitgeteilt wurde, dass sein Schwager gestorben war, überraschte ihn diese Nachricht jedes Mal wieder aufs Neue. Das andere Extrem sind Menschen, die bei einer Gedächtnisolympiade sichere Medaillengewinner wären. Ein Beispiel dafür war der russische Zeitungsreporter Schereschewski oder »S.«, wie ihn der Neuropsychologe Lurija in seiner Fallbeschreibung nannte. Dank seines Gedächtnisses konnte S. einfach zuhören, während andere Reporter sich Notizen machen mussten, sein Gedächt- 9.1 · Das Phänomen Gedächtnis 381 nis verhalf ihm auch zu einem Ehrenplatz in nahezu jedem modernen Buch über Gedächtnisforschung. Menschen wie Sie und ich können aus dem Gedächtnis eine Folge von etwa 7 Ziffern wiederholen, mit ziemlicher Sicherheit jedoch nicht mehr als 9. S. konnte bis zu 70 Ziffern oder Wörter wiederholen, wenn sie mit 3 Sekunden Abstand in einem Zimmer ohne andere Geräusche vorgelesen wurden. Er konnte die Kolonnen genauso leicht rückwärts wie vorwärts hersagen. Seine Genauigkeit war zielsicher, auch wenn er gebeten wurde, sich bis zu 15 Jahre später an eine bestimmte Liste zu erinnern, nachdem er sich in der Zwischenzeit Hunderte von anderen Listen eingeprägt hatte. Er sagte dann etwa: »Ja, ja, das war eine Reihe, die Sie mir einmal dargeboten haben, als wir in Ihrer Wohnung waren. … Sie saßen am Tisch und ich im Schaukelstuhl. … Sie trugen einen grauen Anzug, und Sie schauten mich so an. …« Kommt Ihnen im Vergleich zu diesen Glanzleistungen Ihr eigenes Gedächtnis unzulänglich vor? Wenn dem so ist, dann sollten Sie sich etwas ins Bewusstsein rufen: Ihre eigene erstaunliche Fähigkeit, sich an unzählige Stimmen, Klänge und Lieder, Geschmäcker, Gerüche und Oberflächenstrukturen, Gesichter, Orte und Ereignisse zu erinnern. Stellen Sie sich vor, Sie müssten mehr als 2500 Dias von Gesichtern und Orten anschauen. Für jedes Dia haben Sie jeweils nur 10 Sekunden Zeit. Später werden Ihnen nacheinander 280 von diesen Dias noch einmal vorgeführt, jeweils in Kombination mit einem zuvor nicht gezeigten Dia. Wenn es bei Ihnen ähnlich läuft wie bei den Teilnehmern an diesem von Haber (1970) durchgeführten Experiment, würden Sie in 90% der Fälle das zuvor bereits gesehene Dia wiedererkennen. Ihre Gedächtniskapazität offenbart sich möglicherweise am deutlichsten bei Erinnerungen an einzigartige und emotional bedeutsame Augenblicke aus der Vergangenheit. Eine meiner lebhaftesten Erinnerungen ist der einzige Schlag, der mir während einer ganzen Spielsaison der BaseballJugendliga gelungen ist. Vielleicht erinnern Sie sich am lebhaftesten an einen Autounfall, an Ihren ersten wirklichen Kuss, Ihren ersten Tag nach dem Umzug in eine neue Stadt oder an die Umgebung, in der Sie sich befanden, als Ihnen eine tragische Nachricht mitgeteilt wurde. Die meisten Amerikaner über 55 sind überzeugt davon, sich genau daran erinnern zu können, was sie gerade taten, als sie die Nachricht von Präsident Kennedys Ermordung hörten (Brown u. Kulik 1982). Sieben Monate nach dem Tod von Prinzessin Diana und sogar 4 Jahre danach konnten sich die meisten Menschen in Großbritannien noch daran erinnern, wo genau sie sich aufhielten, als sie die Nachricht hörten (Kvavilashvili et al. 2003; Wynn u. Gilhooly 1999). Sechs Jahrzehnte nach der deutschen Invasion in Dänemark hatten nur wenige jüngere dänische Erwachsene irgendein Wissen über die Einzelheiten des Tages der Invasion. Aber Dänen über 72 erinnerten sich daran. 70% erinnerten sich daran, welches Wetter an diesem Tag war (Berntsen u. Thomsen 2005). Und auch Sie werden sich vielleicht daran erinnern, wo Sie zum ersten Mal die Meldungen über den 11. September 2001 gehört haben – »einer jener Momente, in denen sich die Geschichte spaltet und wir anfangen, die Welt in ›vorher‹ und ›nachher‹ zu unterteilen«, stand am nächsten Morgen in der »New York Times« zu lesen. Diese wahrgenommene Klarheit der Erinnerungen an über­ Reuters/Corbis Falsche Blitzlichterinnerung Nachdem das zweite Flugzeug am 11. September 2002 gegen das World Trade Cen­ ter geprallt war, flüsterte der Stabschef des Weißen Hauses dem Präsidenten ­George W. Bush die Neuigkeiten ins Ohr, als er gerade zu Besuch bei Schülern einer Klasse in Florida war. Doch was war mit dem ersten Flugzeug und dessen Angriff auf das Hochhaus? Als er 3 Monate später gefragt wurde, wie er vom ersten Aufprall erfah­ ren habe, erinnerte sich der Präsident daran, »wie ich vor dem Klassenzimmer saß und darauf wartete, hineingehen zu können, und ich sah, wie ein Flugzeug gegen den Turm prallte. Der Fernseher war ja offensichtlich angeschaltet, und ich bin ja früher selbst geflogen. Da sagte ich mir: ›Was für ein schrecklicher Pilot.‹ Und dann: ›Es muss ein grauenhafter Unfall gewesen sein.‹« Doch niemand hat das live im Fernsehen gesehen; auch gab es damals kein Filmmaterial vom ersten Flugzeugauf­ prall (Paltrow 2004). Als einige Leute die Geschichte hörten, hielten sie sie für eine unverfrorene Lüge oder gar für eine Verschwörung. Doch der Psychologe Green­ berg (2004) merkte dazu später an: »Wir müssen nur die Labilität des menschlichen Gedächtnis bedenken … Präsident Bush scheint eine falsche Erinnerung gehabt zu haben, wie sie nicht besser in einem Lehrbuch der Gedächtnispsychologie beschrie­ ben werden könnte 9 Was ist wichtiger, Ihre Erfahrungen oder Ihre Erinnerungen an sie? 382 Kapitel 9 · Gedächtnis ◼ »Flashbulb memories« (Blitzlichterinne­ rungen): klare Erinnerung an emotional be­ deutsame Momente oder Ereignisse. raschende, einschneidende Ereignisse hat einige Psychologen dazu gebracht, in diesem Falle von »flashbulb memories« (Blitzlichterinnerungen) zu reden. Es ist, als gäbe das Gehirn den Befehl: »Halte das jetzt fest!« Doch wie andere Erinnerungen können sich unsere Blitzlichterinnerungen täuschen (Talarico et al. 2003). Wie kommt es, dass sich manchmal sogar unsere Blitzlichterinnerungen als völlig falsch herausstellen? Wie schaffen wir es, andere Gedächtnisleistungen zu vollbringen? Wie können wir uns an Dinge erinnern, über die wir jahrelang nicht nachgedacht haben, gleichzeitig aber den Namen eines Menschen vergessen, mit dem wir erst vor einer Minute gesprochen haben? Wie können die Erinnerungen zweier Menschen an das gleiche Ereignis so verschieden ausfallen? Wie werden Erinnerungen in unserem Gehirn gespeichert? Weshalb werden Sie sich wahrscheinlich weiter hinten in diesem Kapitel nicht richtig an den folgenden Satz erinnern: »Der wütende Randalierer warf den Stein gegen das Fenster«? Wie können wir unser Erinnerungsvermögen verbessern? Diesen Fragen wollen wir nachgehen, wenn wir uns im nächsten Abschnitt rückblickend mit 100 Jahren Gedächtnisforschung beschäftigen werden. 9.1.1 Informationsverarbeitung Ziel 2: Beschreiben Sie das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin, und erklären Sie, wie sich das aktuelle Modell des Arbeitsgedächtnisses davon unterscheidet. ◼ Speichern (storage): Dauerhaftes Behalten der enkodierten Informationen. ◼ Abrufen (retrieval): Wiederauffinden gespei­ cherter Informationen im Gedächtnisspeicher. C. Styrsky 9 ◼ Enkodieren (encoding): Verarbeitung von Infor­ mationen zur Eingabe in das Gedächtnissystem, z. B. durch Herstellen eines Bedeutungszusam­ menhangs. Wenn wir über das Gedächtnis nachdenken wollen, brauchen wir zunächst ein Modell für seine Funktionsweise. Eine Erinnerung entstehen zu lassen, ist in gewisser Hinsicht nicht anders als die Informationsverarbeitung, die ich für die Erstellung dieses Buches betrieben habe. Für jede neue Auflage werfe ich zunächst einen flüchtigen Blick auf unzählige gesammelte Infor­ mationen, zu denen auch etwa 100.000 Zeitungsartikel gehören. Das meiste davon ignoriere ich, doch manche Dinge sind es wert, zeitweilig in meiner Mappe gesammelt zu werden, um später einer eingehenderen Verarbeitung unterzogen zu werden. Nach und nach sortiere ich auch davon das meiste wieder aus. Der Rest, in der Regel etwa 3000 Artikel und Nachrichten­ berichte, wird geordnet und zur Langzeitspeicherung abgelegt. Später, wenn ich die Geschichte der modernen Psychologie erzähle, hole ich diese Informationen wieder hervor und benutze sie als Quelle. Sehr wichtige Ereignisse aus der letzten Zeit kommen plötzlich in meinen geistigen Langzeitspeicher; von denen wähle ich dann aktuelle Beispiele für die Psychologie im Alltag aus. Um Erinnerungen entstehen zu lassen, müssen Sie ebenfalls Informationen auswählen, verarbeiten, speichern und abrufen. Sie verarbeiten Informationen nicht nur beim »Pauken« für eine Prüfung während des Studiums, sondern auch bei den Fertigkeiten, die Sie lernen, und bei der Verarbeitung von zahllosen alltäglichen Begebenheiten. Unser Gedächtnis gleicht in gewisser Hinsicht dem Informationsverarbeitungssystem eines Computers. Um uns an ein Ereignis zu erinnern, müssen wir zunächst Informationen in unser Gehirn hineinbekommen (sie enkodieren), diese Informationen in unserem Gehirn behalten (sie speichern) und sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder auffinden (sie abrufen). Stellen wir uns nun vor, wie ein Computer Informationen enkodiert, speichert und abruft. Zunächst wird der Informationsinput (Tasteneingabe) in eine elektronische Sprache übersetzt, vergleichbar mit dem Gehirn, das sensorische Informationen so kodiert, dass sie zu einer neuronalen Sprache werden. Der Computer speichert ständig ungeheure Datenmengen auf einer Platte, von der sie später wieder abgerufen werden können. Wie alle Analogien hat auch das Computermodell seine Grenzen. Unsere Erinnerungen sind weniger genau und weitaus fragiler als die eines Computers. Darüber hinaus erfolgt beim Computer die Informationsverarbeitung schnell, aber nacheinander, auch wenn verschiedene Aufgaben abwechselnd ausgeführt werden. Das Gehirn ist zwar langsamer, macht aber viele Dinge gleichzeitig: Es verarbeitet parallel. Psychologen haben verschiedene Informationsverarbeitungsmodelle für das Gedächtnis vorgestellt. Im klassischen Gedächtnismodell der Verarbeitung in 3 Stufen von 383 Atkinson u. Shiffrin (1968) wird die These verfolgt, dass wir Erinnerungen in 3 Stufen bilden. Atkinson u. Shiffrin vertraten die Auffassung, dass wir zunächst die Informationen, an die wir uns erinnern sollten, im flüchtigen sensorischen Gedächtnis registrieren, anschließend im Kurz­ zeitgedächtnis verarbeiten, wo wir sie durch Wiederholung des Erinnerten für das Langzeit­ gedächtnis und einen späteren Abruf enkodieren. Obwohl dieser Dreistufenprozess historisch wichtig und hilfreich, weil einfach, war, hat er seine Grenzen und birgt Fehlermöglichkeiten. ­Einige Informationen lassen, wie wir sehen werden, die ersten beiden Stufen aus und werden ­automatisch im Langzeitgedächtnis gespeichert – ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Außerdem erkennen wir heute, dass wir uns unmöglich auf alles gleichzeitig konzentrieren können, weil wir ständig sensorischen Informationen ausgesetzt sind. Stattdessen werfen wir den Scheinwerferstrahl unserer Aufmerksamkeit auf bestimmte eingehende Reize – oft neuartige oder wichtige Reize. Diese eingehenden Reize werden, zusammen mit den Informationen, die wir aus unserem Langzeitgedächtnis abrufen, zu bewussten Kurzzeiterinnerungen, sozusagen auf einer zeitweiligen Baustelle. Dieser Bereich ist ein Arbeitsbereich, in dem wir Informationen wiederholen und ­manipulieren (Engle 2002). Aber im Unterschied zu Baustellen, auf denen mit Ziegelstein und Mörtel hantiert wird, geht der Inhalt des Arbeitsgedächtnisses schnell verloren, wenn wir ihn nicht weiter nutzen oder wiederholen. Genau hier assoziieren wir neue und alte Informationen und lösen Probleme. Die veränderte Version des Gedächtnismodells zur Verarbeitung in 3 Stufen, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wird, enthält dieses wichtige Konzept des Arbeitsgedächtnisses (. Abb. 9.1). Zum Arbeitsgedächtnis gehören sowohl die auditiven (phonologische Schleife) als auch die visuell-räumlichen (visuell-räumlicher Notizblock) Elemente, die durch einen zentralen Exekutivprozessor koordiniert werden (. Abb. 9.2; Baddeley 1992, 2001, 2002). Diese voneinander getrennten mentalen Untersysteme gestatten es uns, Bilder und Wörter gleichzeitig zu verarbeiten. Dies ist auch eine Erklärung dafür, warum wir reden können (verbale Verarbeitung), während wir Auto fahren (visuell-räumliche Verarbeitung). Und die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses erklärt, warum es so schwierig ist, sich an die Melodie eines Lieds zu erinnern, während man ein anderes hört. Diesen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses unterliegt Hirnaktivität (Jonides et al. 2005). Schichtaufnahmen des Gehirns zeigen, dass die Frontallappen aktiv sind, wenn sich die zentrale Exekutive auf komplexes Denken konzentriert, und dass die Areale in den Parietalund Temporallappen, die dazu beitragen, die auditiven und visuellen Informationen zu verarbeiten, auch aktiv sind, wenn sich solche Informationen in unserem Arbeitsgedächtnis befinden. 9 Bob Daemmrich/The Image Wores Bob Daemmrich/The Image Works Bob Daemmrich/The Image Works 9.1 · Das Phänomen Gedächtnis . Abb. 9.1. Ein geändertes Dreistufenverarbeitungsmodell des Gedächtnisses Die heutigen Gedächtnisforscher haben andere Wege gefunden, auf denen sich Langzeiterinne­ rungen bilden. Wie wir sehen werden, schlüpfen z. B. einige Informationen sozusagen »durch die Hintertür« ins Langzeitgedächtnis, ohne dass man bewusst seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hat. Und wir wissen, dass das Kurzzeitgedächtnis mehr ist als passives Wiederholen. Eine bessere Bezeich­ nung dafür ist Arbeitsgedächtnis; dadurch wird klar, dass dort eine aktive Verarbeitung stattfindet ◼ Sensorisches Gedächtnis (sensory memory): unmittelbare, sehr kurze Zwischenspeicherung sensorischer Informationen im Gedächtnissys­ tem. ◼ Kurzzeitgedächtnis (short-term memory): akti­ viertes Gedächtnis, das einige Informationsin­ halte für kurze Zeit festhält (wie z. B. die 7 Ziffern einer Handynummer ohne Vorwahl), um sie dann entweder abzuspeichern oder zu verges­ sen. ◼ Langzeitgedächtnis (long-term memory): relativ zeitüberdauernder und unbegrenzt auf­ nahmefähiger Speicher des Gedächtnissystems; dazu gehören Wissen, Fertigkeiten und Erfah­ rungen. ◼ Arbeitsgedächtnis (working memory): ein neueres Verständnis des Kurzzeitgedächtnisses, zu dem die bewusste, aktive Verarbeitung von eingehenden auditiven und visuell-räumlichen Informationen sowie von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gehört. 384 Kapitel 9 · Gedächtnis 9 . Abb. 9.2. Arbeitsgedächtnis Modell des Arbeitsgedächtnisses von Alan Baddeley (1998, 2001, 2002), hier vereinfacht dargestellt, enthält auditive und visuell-räumliche Verarbeitungseinheiten, die von einer zentralen Exekutive geleitet werden. Die Informationen gelangen aus dem Langzeitspeicher und aus der unmittelbaren Erfahrung in das Arbeitsgedächtnis. Der episodische Puffer trägt dazu bei, dass die zentrale Exekutive Input so integrie­ ren kann, dass wir ihn verstehen Lernziele Abschnitt 9.1 Das Phänomen Gedächtnis Ziel 1: Definieren Sie, was das Gedächtnis ist, und erklären Sie, wie sich Blitzlichterinnerungen von anderen Erinnerungen unterscheiden. Gedächtnis ist die Fähigkeit, Erlerntes durch die Speicherung und den Abruf von Informationen dauerhaft zu behalten. Blitzlichterinnerungen unterscheiden sich von anderen Erinnerungen durch ihre erstaunliche Klarheit. Ziel 2: Beschreiben Sie das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin, und erklären Sie, wie sich das aktuelle Modell des Arbeitsgedächtnisses davon unterscheidet. Das klassische Drei-Stufen-Modell des Gedächtnisses von Atkinson und Shiffrin geht davon aus, dass wir 1. flüchtige Eindrücke im sensorischen Gedächtnis aufzeichnen, von denen manche 2. im Kurzzeitgedächtnis sozusagen auf unserem geistigen Bildschirm verarbeitet werden. Ein winziger Teil davon wird dann 3. für die Abspeicherung im Langzeit­ gedächtnis und für den möglichen späteren Abruf enkodiert. Die heu­ tigen Gedächtnisforscher weisen auf die Grenzen dieses Modells hin und merken an, dass wir einige Informationen automatisch registrieren, indem wir die ersten beiden Stufen überspringen. Und sie ziehen den Begriff Arbeitsgedächtnis (statt Kurzzeitgedächtnis) vor, weil er eine aktivere Rolle in dieser zweiten Stufe der Verarbeitung hervorhebt, in der wir die Informationen wiederholen und dadurch manipulieren, dass wir neue Reize mit älteren gespeicherten Erinnerungen assoziieren. Das Modell des Arbeitsgedächtnisses enthält visuell-räumliche und auditive Untersysteme, die durch einen zentralen Exekutivprozessor koordiniert werden, der unsere Aufmerksamkeit, wenn erforderlich, auf etwas kon­ zentriert. >Denken Sie weiter: Welche Blitzlichterinnerung haben Sie an ein gefühlsbetontes Erlebnis in der Vergangenheit? 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen 9.2 385 Enkodieren: Information in den Speicher überführen Wie wird die registrierte sensorische Information enkodiert und anschließend in das Gedächtnissystem überführt? Welche Arten von Informationen nehmen wir unbewusst auf? Welche Arten von Informationen setzen eine bewusste Verarbeitung voraus? 9.2.1 Wie wir enkodieren Einige Informationen, so z. B. den Weg, den Sie das letzte Mal zum Seminarraum gegangen sind, verarbeiteten Sie mit großer Leichtigkeit, und dadurch geben Sie Ihrem Gedächtnissystem die Freiheit, sich auf weniger vertraute Ereignisse zu konzentrieren. Aber um neuartige Informationen zu behalten, wie etwa die neue Handynummer einer Freundin, müssen Sie aufmerksam sein und sich große Mühe geben. Automatische Informationsverarbeitung Ziel 3: Beschreiben Sie die Arten von Informationen, die wir automatisch enkodieren. Es kostet Sie oft nur wenig oder gar keine Anstrengung, eine ungeheure Menge von Informationen aufzunehmen. Beispielsweise verarbeiten wir ohne bewusste Anstrengung automatisch Informationen über: 4 Raum. Während Sie Ihr Lehrbuch lesen, enkodieren Sie oft die Stelle auf der Seite, auf der ein bestimmter Lernstoff erwähnt wird; später, wenn Sie damit ringen, die Informationen aus dem Gedächtnis abzurufen, können Sie möglicherweise seine Position auf der Seite visualisieren. 4 Zeit. Während Sie Ihren Tag durchgehen, merken Sie sich unabsichtlich die Abfolge der Ereignisse des Tages. Später, wenn Sie bemerken, dass Sie Ihren Mantel irgendwo vergessen haben, stellen Sie die Abfolge dessen, was Sie an diesem Tag gemacht haben, wieder her und verfolgen die einzelnen Schritte. 4 Häufigkeit. Mühelos verfolgen Sie, wie oft bestimmte Dinge geschehen; dadurch werden Sie in die Lage versetzt, Folgendes zu erkennen: »Das ist schon das dritte Mal, dass ich ihr heute begegne.« Aufgrund der Fähigkeit unseres Gehirns zur Parallelverarbeitung geht diese Verarbeitung vonstatten, ohne dass man ihr Aufmerksamkeit widmen muss. Automatische Verarbeitung funktioniert so mühelos, dass sie sich nur schwer abschalten lässt. Wenn Sie Wörter in Ihrer Muttersprache sehen, wie etwa eine Reklame seitlich auf einem Lastwagen, dann können Sie gar nicht anders, als ihre Bedeutung zu registrieren. Manche Formen der Verarbeitung erfordern Aufmerksamkeit und Anstrengung, wenn wir sie das erste Mal ausführen, mit Erfahrung und Übung erfolgen sie jedoch automatisch. Wenn man lesen lernt, erkundet man zunächst die einzelnen Buchstaben, um herauszubekommen, welche Wörter sie ergeben. Mit Mühe plackt man sich an nur 20 bis 50 Wörtern auf einer Seite ab. Heute jedoch nach Jahren der Übung kann man rasch und mühelos lesen. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie müssten die folgenden umgedrehten Sätze von rechts nach links lesen lernen: .nedrew hcsitamotua nnak gnutiebrareV etssuweB Zunächst ist dazu Anstrengung erforderlich. Aber mit einiger Übung können solche Aufgaben automatisch ausgeführt werden. Wir haben viele unserer Fertigkeiten auf diese Weise entwickelt: lernen, wie man Auto fährt, wie man sich auf Rollerblades bewegt oder wie man in der Stadt seinen Weg findet. ◼ Automatische Verarbeitung (automatic pro­ cessing): unbewusste Enkodierung zufällig an­ fallender Informationen, wie Raum, Zeit und Häufigkeit, sowie erlernter, aber inzwischen wohlbekannter Informationen (z. B. Wortbedeu­ tungen). 9 386 Kapitel 9 · Gedächtnis Bewusste Verarbeitung 9 . Abb. 9.3. Automatische vs. bewusste Verarbeitung Manche Informationen, wie den Ort, an dem Sie gestern Ihr Abendessen einnahmen, verarbeiten Sie automatisch. Für die Enkodierung und Erinne­ rung anderer Arten von Informationen, z. B. der Themen dieses Kapitels, ist bewusste Anstrengung erforderlich Große Mengen von Informationen enkodieren und behalten wir zwar automatisch, doch manche Arten von Informationen, wie etwa die Begriffe in diesem Kapitel, können wir uns nur durch bewusste Anstrengung und Aufmerksamkeit einprägen. Bewusste Verarbeitung (. Abb. 9.3) führt oft zu bleibenden und leicht zugänglichen Erinnerungen. Wenn wir neue Information, beispielsweise Namen, lernen, können wir unserem Gedächtnis durch Wiederholung (»rehearsal«), d. h. bewusste Wiederholung, auf die Beine helfen. Diese Tatsache wurde schon vor vielen Jahren von einem Pionier auf dem Gebiet der verbalen Gedächtnisforschung, dem deutschen Philosophen Hermann Ebbinghaus (1850–1909), nachgewiesen. Ebbinghaus war für die Gedächtnisforschung, was Iwan Pawlow für die Konditionierungsforschung war. Die philosophischen Spekulationen über das Gedächtnis ließen Ebbinghaus ungeduldig werden, und er beschloss daher, das Gedächtnis wissenschaftlich zu ergründen. Dazu beobachtete er an sich selbst die Prozesse, bei denen er neuartigen verbalen Stoff lernte und wieder vergaß. Ebbinghaus musste dazu Material finden, das ihm nicht bekannt war. Er löste das Problem durch die Zusammenstellung einer Liste aus allen möglichen sinnlosen Silben, die alle aus zwei Konsonanten und einem Vokal in der Mitte bestanden. Für ein bestimmtes Experiment wählte er dann nach dem Zufallsprinzip eine Gruppe dieser Silben aus. Lesen Sie sich nun laut und relativ schnell 8-mal hintereinander folgende Liste (aus Baddeley 1982) vor, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie Ebbinghaus sich selbst testete. Versuchen Sie anschließend, sich an diese Items zu erinnern: S. Wahl S. Wahl Ziel 4: Stellen Sie die bewusste Verarbeitung der automatischen Verarbeitung gegen­ über, und erörtern Sie den »Next-in-Line«-Effekt, den Spacing-Effekt und den seriellen Positionseffekt. JIH, BAZ, FUB, YOX, SUJ, XIR, LEQ, VUM, PID, KEL, WAV, TUV, YOF, GEK, HIW. ◼ Bewusste Verarbeitung (effortful processing): Form der Enkodierung, die Aufmerksamkeit und bewusste Anstrengung erfordert. ◼ Wiederholung (rehearsal): bewusste Wiederho­ lung von Informationen, um sie im Bewusstsein zu behalten oder für die Speicherung zu enko­ dieren. . Abb. 9.4. Behaltenskurve nach Ebbinghaus Ebbinghaus fand, dass er umso weniger Wiederhol­ durchgänge brauchte, um eine Liste von sinnlosen Silben am 2. Tag wieder zu erlernen, je häufiger er am 1. Tag geübt hatte. Oder einfach ausgedrückt: Je mehr Zeit wir mit dem Erlernen neuartiger Informa­ tionen verbringen, desto besser können wir sie behalten. (Aus Baddeley 1982) Einen Tag, nachdem Ebbinghaus eine derartige Liste gelernt hatte, konnte er sich nur an wenige dieser Silben erinnern. Aber hatte er sie völlig vergessen? Wie aus . Abb. 9.4 hervorgeht, brauchte er am 2. Tag zur erneuten fehlerfreien Wiedergabe der Liste umso weniger Durchgänge, je häufiger er sie am 1. Tag laut wiederholt hatte. Daraus ließ sich ein einfaches Grundprinzip ableiten: Die Informationsmenge, an die man sich erinnert, hängt von der Zeit ab, die dafür aufgewandt wurde, 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen sie zu lernen. Auch wenn wir etwas bereits gelernt haben, können wir durch zusätzliche Lerndurchgänge (»overlearning«, Überlernen) das Erinnerungsvermögen an diesen Lernstoff noch steigern. 387 9 »Er sollte sein Gedächtnis überprüfen, indem er die Verse rezitiert.« Abdur-Rahman Khaliq, »Memorizing the Quran« ! Im Hinblick auf die Speicherung neuer Informationen macht Übung, d. h. bewusste Verarbei­ tung, tatsächlich den Meister. Dies hilft uns auch, einige andere interessante Phänomene besser zu verstehen: 4 Der »Next-in-Line«-Effekt: Wenn Menschen, die in einem Kreis stehen, nacheinander Wörter oder ihren Namen sagen und sich daran zu erinnern versuchen, was die anderen gesagt haben, erinnern sie sich am schlechtesten an das, was die Person direkt vor ihnen gesagt hat (Bond et al. 1991; Brenner 1973). Wenn wir der Nächste sind, der an die Reihe kommt, konzentrieren wir uns auf unseren eigenen Auftritt und versäumen es häufig, die Äußerungen der letzten Person vor uns zu verarbeiten. 4 An Informationen, die uns in den letzten paar Sekunden vor dem Einschlafen dargeboten werden, erinnern wir uns nur selten (Wyatt u. Bootzin 1994). Wenn unser Bewusstsein dahinschwindet, bevor wir die Information verarbeitet haben, ist alles verloren. Hingegen erinnern wir uns gut an Informationen, die wir in der Stunde vor dem Einschlafen aufnehmen (auf diesen Punkt werden wir in 7 Abschn. 9.5.3 noch näher eingehen). 4 Informationen von Tonbandaufnahmen, die uns während des Schlafens vorgespielt werden, werden zwar von den Ohren registriert, doch erinnern wir uns nicht daran (Wood et al. 1992). Ohne Gelegenheit zum Wiederholen funktioniert das »Lernen im Schlaf« nicht. Außerdem behalten wir Information besser, wenn die Wiederholungen über die Zeit verteilt sind (wie beim Lernen der Namen unserer Klassenkameraden). Dieses Phänomen wird auch SpacingEffekt (Bjork 1999; Dempster 1988) genannt. In einem 9 Jahre dauernden Experiment lernten Bahrick et al. (1993) in Abständen, die von 14 Tagen bis zu 56 Tagen dauern konnten, eine vorher festgelegte Anzahl von Malen Wörter einer fremden Sprache und ihre Übersetzung. Das durchgängige Ergebnis: Je länger der Abstand zwischen den einzelnen Übungsdurchgängen war, desto besser wurden die Wörter behalten (bis zu 5 Jahre nach dem Experiment). Als Bahrick über diesen Lerneffekt durch Wiederholen in immer größer werdenden Abständen (Spacing-Effekt) nachdachte, erkannte er dessen praktische Bedeutung: Das wiederholte Lernen des Lernmaterials für umfassende Klausuren, die Schlussprüfungen von Repetitorkursen oder Studienabschlussprüfungen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir das Gelernte ein Leben lang nicht vergessen werden. Wenn man das Lernen über ein Semester oder ein Jahr hinweg verteilt, statt in kürzeren Abständen (Tage) zu lernen, kann dies dazu beitragen, das Gelernte besser zu behalten. ◼ Spacing-Effekt (spacing effect): Tendenz, dass durch zeitlich verteiltes Lernen oder Üben bes­ sere langfristige Behaltenserfolge erzielt werden als bei massiertem Lernen oder Üben. »Der Verstand vergisst nur langsam etwas, wenn er lange dafür gebraucht hat, es zu lernen.« Der römische Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) ! Verteiltes Lernen ist besser als massiertes Pauken. Oder, um mit Ebbinghaus (1885) zu ­ sprechen: Wer schnell lernt, vergisst auch schnell. Um sich solche Dinge wie Telefonnummern einzuprägen, funktioniert die verteilte Wiederholung in immer größeren Abständen gut. Thomas Landauer (2001) erklärt, wie es geht: »Wiederholen Sie den Namen oder die Nummer, die Sie sich merken wollen, warten Sie ein paar Sekunden, wiederholen Sie sie noch einmal, warten Sie etwas länger, wiederholen Sie sie noch einmal, warten Sie noch etwas länger, und wiederholen Sie sie noch einmal. Die Wartephasen sollten so lang sein wie irgend möglich, ohne dass die Information vergessen wird. Ein Phänomen, das Sie sicherlich von sich selbst kennen, ist eine weitere Veranschaulichung der positiven Effekte des Wiederholens: Forscher zeigten Teilnehmern an einem Experiment eine Liste mit Items (Wörter, Namen, Daten und sogar Gerüche) und baten sie anschließend, sich sofort in einer x-beliebigen Reihenfolge an diese Items zu erinnern (Reed 2000). Aus den Antworten der Teilnehmer, die versuchten, sich an die Items der Liste zu erinnern, ergab sich häufig der serielle Positionseffekt: Sie erinnerten sich besser an die ersten und letzten Items der Liste als an jene in der Mitte (. Abb. 9.5). Dieses bessere Erinnern der ersten und der letzten Information wird als Primacy- bzw. Recency-Effekt bezeichnet. Vielleicht erinnerten sich die Leute besonders schnell und gut an die letzten Items der Liste, weil diese noch im Arbeitsgedächtnis gespeichert waren. Aber nach einer Weile – nachdem ihre Aufmerksamkeit ◼ Serieller Positionseffekt (serial position effect): Tendenz, sich am besten an die ersten (PrimacyEffekt) und letzten (Recency-Effekt) Punkte einer Liste zu erinnern. 388 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.5. Der serielle Positionseffekt Wenn Menschen eine Liste von Namen und Wörtern vorgetragen wird, erinnern sie sich normalerweise sofort an die letzten Punkte der Aufzählung (viel­ leicht weil sie noch auf unserem geistigen »Monitor« eingeblendet sind) und fast ebenso gut an die aller­ ersten. Später jedoch erinnern sie sich am ­besten an die ersten Items der Liste. (Aus Craik u. Watkins 1973) 9 von den letzten Items abgelenkt wurde – erinnerten sie sich am besten an die ersten Punkte der Liste. Als Parallele aus dem Alltag stellen Sie sich vor, es sei der erste Tag auf einer neuen Arbeitsstelle, und Ihr Vorgesetzter stellt Sie Ihren Kollegen vor. Jedes Mal, wenn Sie einen Kollegen treffen, wiederholen Sie die Namen aller Kollegen, und zwar vom ersten bis zum bis dahin letzten. Wenn Sie dann auf den letzten treffen, haben Sie mehr Zeit damit verbracht, die ersten Namen zu wiederholen, als die letzten; daher werden Sie am nächsten Tag wahrscheinlich die ersten Namen leichter aus dem Gedächtnis abrufen. Zudem wird sich das Lernen der ersten Namen störend auf das Lernen der späteren auswirken. Aber manchmal reicht das reine Wiederholen von Informationen, wie etwa der neuen Telefonnummer, die wir im Begriff sind zu wählen, einfach nicht aus, um sie für den späteren Abruf zu speichern (Craik u. Watkins 1973; Greene 1987). Wie enkodieren wir also Informationen, die in unserem Langzeitgedächtnis abgespeichert werden sollen? Die Verarbeitung sensorischer Informationen gleicht in vieler Hinsicht dem Durchsehen der täglichen Post. Manche Sendungen sortieren wir sofort aus. Andere verarbeiten wir bedächtiger: Wir öffnen sie, lesen sie und behalten den Inhalt im Gedächtnis. Unser Gedächtnissystem verarbeitet Informationen durch die Kodierung ihrer wichtigsten Merkmale. 9.2.2 Was wir enkodieren Wir verarbeiten Informationen hauptsächlich auf 3 verschiedene Arten: durch Enkodierung ihrer Bedeutung, durch Enkodierung ihrer bildlichen Darstellung und durch mentales Einordnen der Informationen. Bis zu einem gewissen Grad sind das automatisch ablaufende Prozesse. Doch für jede dieser Vorgehensweisen gibt es bewusste Strategien zur Verbesserung unseres Erinnerungsvermögens. Enkodieren von Bedeutung Ziel 5: Vergleichen Sie die Vorteile der visuellen, auditiven und semantischen Enkodierung beim Erinnern verbaler Informationen, und beschreiben Sie eine Strategie zur Verbesserung des Gedächtnisses, die mit dem Selbstbezugseffekt in Zusammenhang steht. Wenn man verbale Informationen zur Abspeicherung verarbeitet, enkodiert man ihre Bedeutung, assoziiert sie mit dem, was man bereits weiß und sich vorstellt. Ob wir Barbara oder Rhabarber hören, wenn wir immer wieder Barbara sagen, hängt davon ab, in welche Richtung uns der Kontext und unsere Erfahrung uns bei der Interpretation und Enkodierung der Laute lenken. (Sie erinnern sich: Unser Arbeitsgedächtnis steht mit unserem Langzeitgedächtnis in Wechselwirkung.) 389 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen Können Sie den Satz vom Randalierer (kurz vor dem Anfang von 7 Abschn. 9.1.1) noch einmal wiederholen: »Der wütende Randalierer warf …«)? Vielleicht geht es Ihnen wie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Experiment von Brewer (1977). Sie erinnerten sich an den Randalierersatz aufgrund der Bedeutung, die sie beim Lesen des Satzes enkodiert hatten (z. B. »Der wütende Randalierer warf den Stein durch das Fenster«), und nicht aufgrund des tatsächlichen Wortlauts (»Der wütende Randalierer warf den Stein gegen das Fenster«). Wie an diesem Beispiel leicht erkennbar ist, neigen wir dazu, uns nicht genau zu erinnern, wie etwas war. Stattdessen erinnern wir uns an das, was wir enkodiert haben. Beim Lernen für eine Prüfung erinnern Sie sich möglicherweise besser an Ihre eigenen Mitschriften aus der Vorlesung als an die Vorlesung selbst. Bower u. Morrow (1990) vergleichen unser Denken und unser Gedächtnis mit einem Theaterintendanten, dem ein Manuskript in die Hand gedrückt wird und der vor seinem geistigen Auge sofort die fertige Bühnenproduktion sieht. Wenn wir später gefragt werden, was wir gehört oder gelesen haben, erinnern wir uns nicht an den wörtlichen Text, sondern an das geistige Modell, das wir uns davon gemacht haben. Mit welcher Art von Enkodierung lässt sich Ihrer Meinung nach die beste Erinnerung an verbale Informationen erzielen? Mit der visuellen Enkodierung von Bildern? Mit der akustischen Enkodierung von Lauten und Klängen? Mit der semantischen Enkodierung von Bedeutung? Jede Form verfügt über ein eigenes Untersystem im Gehirn, das dafür zuständig ist (Poldrack u. Wagner 2004). Und jedes kann hilfreich sein. Akustisches Enkodieren steigert beispielsweise die Einprägsamkeit und den scheinbaren Wahrheitsgehalt von sich reimenden Aphorismen. »Was du versäumst im Augenblick, bringt keine Ewigkeit zurück« erscheint uns daher richtiger als »Was du versäumst im Augenblick, bringt dir keine Ewigkeit wieder« (McGlone u. Tofighbakhsh 2000). Um visuelle, akustische und semantische Enkodierung miteinander zu vergleichen, ließen Craik u. Tulving (1975) vor den Augen von Versuchsteilnehmern Wörter kurz aufblitzen. Dann stellten sie den Personen eine Frage, für deren Beantwortung es nötig war, die Wörter zu verarbeiten, und zwar erstens visuell (das Aussehen der Buchstaben), zweitens akustisch (der Klang der Wörter) oder drittens semantisch (die Bedeutung der Wörter). Um selbst ein Gefühl von dieser Aufgabe zu bekommen, antworten Sie rasch auf folgende Fragen: Beispielfragen zur Auslösung von Ver­arbeitung Gezeigtes Wort 1. Ist das Wort in Großbuchstaben geschrieben stuhl 2. Reimt sich das Wort auf »Zug«? KLUG 3. Würde das Wort in den Satz passen: Das Mädchen legte das auf 00 den Tisch. Gewehr Ja Nein 0 0 0 0 0 0 Welche Art von Verarbeitung wäre wahrscheinlich am besten dazu geeignet, Sie darauf vorzubereiten, die Wörter zu einem späteren Zeitpunkt wiederzuerkennen? Bei dem Experiment von Craik und Tulving ergab die 3. Frage (das tiefe, semantische Enkodieren) deutlich bessere Gedächtnisleistungen als die »oberflächliche Verarbeitung«, die durch Frage 2 und vor allem durch Frage 1 angeregt wurde (. Abb. 9.6). Aber wenn man uns ein zu dürres Skript gibt, haben wir Schwierigkeiten, ein mentales Modell zu bilden. Versetzen Sie sich einmal in die Situation der Studierenden, die von Bradford u. Johnson (1972) gebeten wurden, sich folgende auf Band aufgenommene Textpassage einzuprägen: Die Prozedur ist in Wirklichkeit ganz einfach. Zunächst ordnen Sie die Dinge in verschiedene Gruppen. Natürlich kann, je nachdem, wie viel es zu tun gibt, ein Haufen genügen. … Nachdem die Prozedur abgeschlossen ist, ordnen Sie die Dinge wieder in verschiedene Gruppen. Anschließend können sie dann an dem für sie vorgesehenen Ort abgelegt werden. Nach einiger Zeit werden sie dann wieder verwendet, und der ganze Zyklus beginnt von vorne. Aber das ist ein Teil des Lebens. 9 Hier ein weiterer Satz, nach dem ich Sie später wieder fragen werde: »Der Fisch griff den Schwimmer an.« ◼ Visuelle Enkodierung (visual encoding): Enko­ dieren von optischen Bildern. ◼ Akustische Enkodierung (acoustic encoding): Enkodieren von Lauten und Klängen, insbeson­ dere von Wortklängen. ◼ Semantische Enkodierung (semantic enco­ ding): Enkodieren von Bedeutung, einschließlich Wortbedeutungen. ? Wie viele Vs befinden sich im folgenden Text: Vorwiegend auf dem Landweg vagabundierten diverse Vasen aus Hannover, bevor sie nach Varel wechselten. 7 Antwort 9.1 am Ende des Kapitels 390 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.6. Verarbeitungsniveaus Die tiefgehende Verarbeitung eines Wortes auf­ grund seiner Bedeutung (semantische Enkodie­ rung) sorgt zu einem späteren Zeitpunkt für eine bessere Wiedererkennung als die oberflächliche Verarbeitung durch Merken des äußeren Erschei­ nungsbildes oder des Klanges. (Aus Craik u. Tulving 1975) 9 »Zu den Dingen, die einem beim Vorgang des Ein­ prägens sehr helfen, gehört das Verstehen der Verse, die man sich eingeprägt hat, und das Wis­ sen über die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen ihnen.« Abdur-Rahman Khaliq, »Memorizing the Quran« Als die Studierenden den Textabschnitt, den Sie eben gelesen haben, ohne sinnvollen Kontext hörten, erinnerten sie sich später nur an wenig. Als ihnen mitgeteilt wurde, dass es bei diesem Text ums Wäschewaschen ging (etwas, was dem Text eine Bedeutung gab), erinnerten sie sich an sehr viel mehr – Ihnen ginge es wahrscheinlich nach nochmaligem Lesen ähnlich. Diese Forschungsergebnisse unterstreichen die Vorteile des nochmaligen Formulierens dessen, was wir lesen und hören, in sinnvollen Bedeutungszusammenhängen. Aufgrund seiner Selbsttests kam Ebbinghaus zu dem Schluss, dass im Vergleich zum Lernen von sinnlosem das Erlernen von sinnvollem Stoff ein Zehntel der Anstrengung erforderte. Oder wie es der Gedächtnisforscher Wickelgren (1977, S. 346) ausdrückte: »Die Zeit, die Sie mit Nachdenken über das, was Sie lesen, und damit zubringen, es mit dem früher gespeicherten Material in Beziehung zu setzen, ist praktisch das Nütz­lichste, was Sie für das Erlernen von neuen Themen tun können.« Die Menge des Erinnerten hängt daher sowohl von der Zeit ab, die man mit dem Lernen verbringt, als auch damit, was wir tun, während wir lernen. Wir können uns besonders gut an Dinge erinnern, die einen Bezug zu uns selbst haben. Wenn wir gefragt werden, wie gut bestimmte Adjektive einen anderen Menschen beschreiben, vergessen wir anschließend diese Adjektive oft wieder. Werden wir hingegen gefragt, wie gut diese Adjektive zu uns selbst passen, erinnern wir uns später gut an diese Wörter, ein Phänomen, das auch Selbstbezugseffekt genannt wird (Symons u. Johnson 1997). Sie profitieren also davon, wenn Sie sich Zeit nehmen, eine persönliche Bedeutung in dem zu finden, was Sie gerade lernen (beispielsweise, indem Sie sich die Zeit nehmen, sich mit dem Abschnitt »Lernziele« am Ende jedes größeren Abschnitts dieses Buchs zu beschäftigen). !Informationen, die wir als für uns persönlich wichtig einschätzen, werden tiefer verarbeitet und bleiben damit besser zugänglich. »Denken Sie daran: Wenn jemand etwas gehört hat, wirkt sich nichts stärker auf den Verstand eines Beobachters aus, als wenn er es auch gese­ hen hat.« Horaz, Ars poetica (8. v. Chr.) ◼ Bildliche Vorstellung (imagery, mental pic­ tures): äußerst wirksame Hilfe für die bewusste Verarbeitung, besonders in Kombination mit semantischer Enkodierung. Enkodieren von Bildern Ziel 6: Erklären Sie, wie die Enkodierung unserer Vorstellungswelt dazu beiträgt, etwas mühelos zu verarbeiten, und beschreiben Sie einige Strategien zur Verbesserung des Gedächtnisses, bei denen die visuelle Enkodierung genutzt wird. Woran liegt es, dass wir uns sehr anstrengen müssen, um uns an Formeln, Definitionen und Daten zu erinnern, aber leicht aus dem Gedächtnis abrufen können, wo wir gestern waren, wer bei uns war, wo wir saßen und was wir anhatten? Zu unseren frühesten Erinnerungen, wahrscheinlich an ein Ereignis im Alter von 3 oder 4 Jahren, gehören bildliche Vorstellungen. Forscher haben auch dokumentiert, dass wir uns besser an konkrete Wörter erinnern, die sich dafür eignen, dass wir 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen 391 9 uns visuelle mentale Bilder vorstellen, als an abstrakte, wenig bildhafte Wörter. (An welche 3 Wörter der folgenden Reihe – Schreibmaschine, Nichts, Zigarette, innewohnend, Feuer, Prozess – erinnern Sie sich wohl am ehesten, wenn ich Sie später danach fragen werde?). Möglicherweise erinnern Sie sich auch immer noch an den Satz von dem Steine werfenden Randalierer, nicht nur wegen der Bedeutung, die Sie enkodiert haben, sondern auch, weil sich der Satz zur Vorstellung eines Bildes eignet. Die Erinnerung an konkrete Substantive wird durch doppelte Enkodierung unterstützt: einerseits semantisch, andererseits visuell (Marschark et al. 1987; Palvio 1986). Zwei Codes sind besser als einer. Das Prinzip des bildlichen Vorstellung Der Schönheitschirurgieforscher Darrick Antell hat die Erfahrung gemacht, dass man über die Gesund­ heitsrisiken des Bräunens und Rauchens reden kann, bis man schwarz wird. Zeigt man den Leuten aber ein Foto von eineiigen Zwillingen, von denen nur eine unter dem Einfluss von Sonnenbaden und Rauchen gealtert ist, lernen sie tatsächlich und mer­ ken sich das. Die 60-jährige Gay Black (linkes Bild) war im Gegensatz zu ihrer jünger aussehenden Zwillingsschwester Gwen Sirota (rechtes Bild) eine begeisterte Sonnenanbeterin und Raucherin ◼ Mnemotechniken (mnemonics): Gedächtnishil­ fen, insbesondere jene Techniken, die eindring­ liche Bilder und Ordnungsstrukturen nutzen. © 1994 Sidney Harris. www.ScienceCartoonsPlus.com Deshalb prägen sich der schönste Moment eines angenehmen Erlebnisses oder einer glücklichen Begebenheit und der schlimmste Moment einer schmerzvollen oder frustrierenden Situation unseren Erinnerungen häufig gut ein (Fredrickson u. Kahneman 1993). Diese selektive Erinnerung an die Höhepunkte und das Vergessen der eher alltäglichen Momente erklären möglicherweise ein Phänomen, das Mitchell et al. (1997) als »rosigen Rückblick« bezeichnen: Die Menschen neigen dazu, sich positiver an Ereignisse (z. B. an einen Campingurlaub) zu erinnern, als sie sie zunächst tatsächlich bewerteten. Sie erinnern sich an ihren Besuch bei Disney World weniger wegen der schwülen Hitze und der langen Warteschlangen und eher wegen der ganzen Umgebung, des Essens und der Fahrten mit Achterbahnen etc. Und unsere künftigen Entscheidungen ließen sich eher aufgrund der Erfahrung vorhersagen, an die wir uns erinnern, als aufgrund der Erfahrung, die wir hatten (Wirtz et al. 2003). Bildliche Vorstellungen stellen das Herzstück vieler Gedächtnishilfen dar. Die sog. Mnemo­ techniken (griech. »mneme« = Gedächtnis, Erinnerung) wurden bereits im Altertum von den griechischen Gelehrten und Rednern als Erinnerungshilfen für lange Passagen und Reden entwickelt. Häufig verwendeten sie z. B. die »Loci-Methode« (Ortsmethode), d. h. sie stellten sich vor, wie sie sich durch vertraute Räume mit einer geordneten Folge von bekannten Plätzen bewegten, und assoziierten dabei bestimmte Stellen mit einer bildlichen Vorstellung des Themas, an das sie sich erinnern wollten. Beim Sprechen lief der Redner dann im Geist entlang der einzelnen Stationen eines bekannten Weges und rief so die damit assoziierten Bilder ab. In einer neueren Studie über die Kandidaten bei der World Memory Championship zeigte sich, dass nicht alle eine außergewöhnliche Intelligenz aufwiesen, sondern dass sie besonders gut darin waren, räumliche Mnemotechniken zu nutzen (Maguire et al. 2003). Bei anderen Mnemotechniken finden sowohl auditive als auch visuelle Codes Verwendung. Beispielsweise bei einer Technik, die auf Englisch Peg Word System heißt, also ein System, bei dem Wörter als Aufhänger dienen; da muss man sich zunächst Merkverse einprägen: »One is a bun; two is a shoe; three is a tree; four is a door; five is a hive; six is sticks; seven is heaven; eight is a gate; nine is swine; ten is a hen.« Ohne viel Mühe werden Sie bald in der Lage sein, mit diesen Aufhängern statt mit Zahlen zu zählen: bun, shoe, tree ... und dann bildlich die Aufhänger mit Items, an die Sie sich erinnern sollten, zu assoziieren. Sie haben jetzt das Zeug dazu, gegen jeden anzutreten, der Ihnen eine Einkaufsliste gibt, an die Sie sich erinnern sollen. Karotten? Stellen Sie sich vor, wie Sie sie in ein Brötchen (bun) stecken. Milch? Gießen Sie sie in einen Schuh. Papiertücher? Drapieren Sie sie um die Zweige eines Baums. Wenn Sie an »bun, shoe, tree« denken, sehen Sie die Bilder, die Sie damit assoziieren: Karotten, Milch, Papiertücher. Relativ fehlerfrei (Bugelski et al. 1968) werden Sie in der Lage sein, die Artikel auf der Liste in jeder Reihenfolge zu erinnern und jeden beliebigen Artikel zu nennen. Solche Mnemotechniken werden von Gedächtniskünstlern genutzt, die lange Listen mit Namen und Gegenständen wiederholen. Und diese Techniken können auch für Sie hilfreich sein. Ho/AP Photo !Dank der Langlebigkeit eindringlicher Bilder erinnern wir uns manchmal in Form »mentaler Schnappschüsse« der schönsten oder der schlimmsten Mo­ mente, die wir erlebt haben. »Assoziieren Sie einfach jede Zahl mit einem Wort, z. B. das Wort ›Tisch‹ mit der Zahl 3.476.029.« 392 Kapitel 9 · Gedächtnis Wie organisieren wir Informationen, die enkodiert werden sollen? Ziel 7: Erörtern Sie, wie man Chunking und Hierarchien bei der bewussten Verarbeitung nutzt. Bedeutung und bildliche Vorstellung verbessern unsere Erinnerungsleistung, weil sie uns helfen, die Informationen zu organisieren. Sobald der von Bransford und Johnson angeführte Text über das Wäschewaschen (7 oben) in einen Bedeutungszusammenhang gestellt wird, können wir die Sätze mental in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Mnemotechniken helfen uns, das Material für das spätere Wiederauffinden zu organisieren. Chunking ◼ Chunking (chunking): Organisieren einzelner Items in handhabbare und/oder vertraute Ein­ heiten; geschieht häufig automatisch. 9 . Abb. 9.7. Chunking und Gedächtnis Sobald Information in Form von Einheiten mit Be­ deutung wie Buchstaben, Wörter oder Sätze organi­ siert wird, wird sie leichter abrufbar. (Aus Hintzman 1978) . Abb. 9.8. Ein Beispiel für Chunking – für alle, die Chinesisch lesen können Können Sie diese Zeichen anschauen und dann reproduzieren? Wenn Sie das können, können Sie Chinesisch lesen Um eine Vorstellung von der Bedeutung des Organisierens von Informationen zu bekommen, schauen Sie sich einfach ein paar Sekunden lang die 1. Reihe von . Abb. 9.7 an. Schauen Sie dann wieder weg, und versuchen Sie, das Gesehene zu reproduzieren. Es geht nicht, sagen Sie? Aber die 2. Reihe können Sie (als jemand, der deutsch spricht) ganz leicht wiedergeben, obwohl sie nicht weniger komplex ist. Und ganz ähnlich geht es Ihnen wahrscheinlich auch mit Reihe 4, die Sie sich viel leichter merken können als Reihe 3, obwohl beide dieselben Buchstaben enthalten. Und auch die Wortreihen unter Punkt 6 können Sie sich viel leichter einprägen als die Sätze unter Punkt 5, obwohl sie aus denselben Wörtern bestehen. Wie hier also gezeigt wird, können wir uns viel leichter an Informationen erinnern, wenn wir sie zu bedeutungstragenden Einheiten oder »Chunks« organisieren können. Chunking ist etwas so Natürliches, dass wir es als selbstverständlich ansehen. Wenn Sie einigermaßen gut Deutsch verstehen, können Sie die ca. 140 Linien, aus denen die Wörter in Abschnitt 6 von . Abb. 9.7. bestehen, ohne Weiteres perfekt reproduzieren. Jeden, der des Deutschen nicht mächtig ist, würde dies erstaunen. Auf ganz ähnliche Weise verwundert es mich immer wieder, wenn ich Menschen treffe, die Chinesisch beherrschen, und nach einem kurzen Blick auf . Abb. 9.8 alle Striche der chinesischen Zeichen perfekt wiedergeben können. Dasselbe gilt für einen Experten im Schachspielen, der bei einem Spiel 5 Sekunden lang das Brett anschaut und sich dann an die genaue Position der meisten Schachfiguren erinnern kann (Chase u. Simon 1973). Oder denken Sie an einen Basketballspieler, der 4 Sekunden lang einem Spiel zuschaut und dann die genaue Position jedes einzelnen Spielers angeben kann (Allard u. Burnett 1985). ! Wir erinnern uns dann am besten an Informationen, wenn wir ihnen eine persönliche Bedeutung geben können bzw. sie in für uns sinnvolle Einheiten gliedern. Chunking ist auch hilfreich, wenn es neues Material zu behalten gilt. So besteht z. B. eine Mnemotechnik darin, neue Begriffe in eine vertraute Form zu bringen, indem man die ersten Buchstaben der Wörter, die man sich merken will, als Wörter oder Sätze enkodiert (das Ergebnis nennt man Akronym). Sollten Sie je den Wunsch verspüren, sich die Namen der Planeten unseres Sonnensystems zu merken, dann denken Sie einfach an den Satz »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten« (Merkur –Venus – Erde – Mars – Jupiter – Saturn – Uranus – Neptun – Pluto. Genau genommen stimmt das natürlich nicht mehr, da seit kurzem Pluto astronomisch nicht mehr zu den Planeten gezählt wird. Ein anderes Beispiel: Fällt es Ihnen schwer, die 4 fettlöslichen Vitamine zu behalten? Benutzen Sie als »Eselsbrücke« einfach EDEKA (E, D, K und A). Mit Hilfe von Chunking können Sie auch Ihre Gedächtnisleistung für Zahlenreihen verbessern. Eine schwer zu reproduzierende Reihe von 16 Zahlen ist beispielsweise die folgende: 1–4–9–2–1–7–7–6–1–8–1–2–1–9–4–1, doch lässt sich diese Reihe leicht merken, wenn man Amerikaner ist und sie folgendermaßen gruppiert: 1492–1776–1812–1941. Für die deutsche Geschichte könnte eine ähnliche Zahlenreihe lauten: 1517–1648–1933–1989 (sofern man die Daten der Reformation, des Westfälischen Friedens, der Machtergreifung der Nationalsozialisten und des Mauerfalls parat hat). Nach über 200 Übungsstunden im Labor von 9.2 · Enkodieren: Information in den Speicher überführen Ericsson u. Chase (1982) gelang es 2 Studenten, ihre Gedächtnisspanne von den normalen 7 Ziffern auf über 80 auszuweiten. In einer anderen Untersuchung hörte der Student Dario Donatelli, wie der Versuchsleiter mit monotoner Stimme und in einem gleichmäßigen Zeitabstand von jeweils 1 Ziffer pro Sekunde folgende Zahlenreihe las: 1518593765502157841665850612094885686 772731418186105462974801294974965928. Donatelli bewegte sich nicht, solange er die Zahlen lernte, doch dann wurde er quicklebendig. Er flüsterte Zahlen, rieb sich das Kinn, klopfte mit den Füßen auf den Boden, rechnete mit den Fingern und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Okay«, kündete er etwa 2 Minuten später an. »Die erste Gruppe ist 1518. Dann 5937 …« Er wiederholte alle 73 Ziffern und zwar jeweils in Dreier- oder Vierergruppen. Wie konnte er das schaffen? Durch erhöhte Kapazität seines Kurzzeitgedächtnisses? Nein. Als man ihn bat, Buchstaben zu erinnern, fiel Donatelli auf die normale Kapazität von 7 Items zurück. Doch für das Ziffernchunking hatte er eine raffinierte Strategie entwickelt. »Die erste Gruppe war eine 3-Meilen-Zeit«, sagte der Langstreckenläufer Donatelli, der schon durch die gesamten USA gelaufen war. »Die zweite Gruppe war eine 10-Meilen-Zeit, dann eine Meile, dann eine halbe Meile. Eine 2-Meilen-Zeit. Eine Altersangabe … 2-Meilen-Zeit. Alter. Alter. Alter. 2-Meilen-Zeit …« (Wells 1983). 393 9 Gedächtnisforscher sind übereinstimmend der Meinung, dass die kanadischen Postleitzahlen mit ihrem Wechsel von Zahlen und Buchstaben ganz besonders schwer zu behalten sind (Hebert 2001). A1C 5S7 ließe sich leichter behalten, wenn man es in Buchstaben- und Zahlengruppen organisieren könnte, beispielsweise ACS 157. Hierarchien Um seine Spitzenleistung – 106 Ziffern – zu erreichen, rief Donatelli die Zahlengruppen ab, indem er sie als Hierarchie gruppierte (Waldrop 1987). Zuerst kamen »3 Gruppen mit 4«, könnte er sich vorstellen, und so weiter. Wenn jemand es auf einem bestimmten Gebiet zur Meisterschaft bringt, dann verarbeitet er Informationen nicht nur in Form von Chunks, sondern auch in Hierarchien, die aus einigen umfassenden Konzepten bestehen, die dann unterteilt und nochmals unterteilt werden, bis die Ebene der Fakten erreicht wird. Wir rufen unser Wissen effizienter ab, wenn wir es in eine hierarchische Ordnungsstruktur bringen. Es ist deshalb das Ziel dieses Kapitels, Ihnen nicht nur ein paar grundlegende Fakten über das Gedächtnis beizubringen, sondern auch Strategien aufzuzeigen, wie Sie diese Fakten um allgemeine Prinzipien herum organisieren können (z. B. das Prinzip des Enkodierens) oder um untergeordnete Prinzipien (z. B. automatisches und bewusstes Verarbeiten) oder um noch spezifischere Konzepte (z. B. Bedeutung, bildliche Vorstellung und Ordnungsstruktur) (. Abb. 9.9). Bower et al. (1969) demonstrierten den Nutzen einer hierarchischen Ordnungsstruktur. Sie boten einer Versuchsgruppe Wörter dar, und zwar entweder in zufälliger Reihenfolge oder nach Kategorien gruppiert. Bei den gruppierten Wörtern war die Erinnerungsleistung 2- bis 3-mal besser. Solche Ergebnisse zeigen Ihnen, wie sinnvoll es ist, Ordnung in Ihren Lernstoff zu bringen, indem Sie dem Kapitelvorspann, den Überschriften, den Lernzielen, und Kontrollfragen besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn Sie die Konzepte eines Kapitels beherrschen und sie in den Aufbau des Kapitels einordnen können, sollten Sie sich bei den Tests an all das gut erinnern können. Vorlesungsmitschriften und Notizen mit Überschriften zu versehen, ist gleichfalls eine Art hierarchischer Organisation und könnte sich als hilfreich erweisen. Bei der Behandlung des Themas Enkodierung bildlicher Vorstellungen hatte ich Ihnen 6 Wörter vorgelegt und Ihnen angekündigt, dass ich Sie später danach fragen würde. An wie viele der 6 Testwörter erinnern Sie sich jetzt noch? Welche dieser erinnerten Wörter sind sehr bildlich? Welche sind weniger bildlich? . Abb. 9.9. Ordnungsstrukturen nützen dem Gedächtnis Wenn wir Wörter oder Konzepte in hierarchischen Gruppen organisieren, wie wir es mit den Kon­ zepten in diesem Kapitel gezeigt haben, dann erin­ nern wir uns besser an sie, als wenn sie uns in rein zufälliger Reihenfolge vorgeführt werden 394 Kapitel 9 · Gedächtnis Lernziele Abschnit 9.2 Enkodieren: Informationen in den Speicher überführen Ziel 3: Beschreiben Sie die Arten von Informationen, die wir automatisch enkodieren. Wir enkodieren unbewusst und automatisch zufällig anfallende Infor­ mationen, wie etwa Raum, Zeit und Häufigkeit. Mit Hilfe dieser Form der Verarbeitung registrieren wir auch gut gelernte Informationen, wie etwa Wörter in unserer Muttersprache. 9 Ziel 4: Stellen Sie die bewusste Verarbeitung der automatischen Verarbeitung gegenüber, und erörtern Sie den »Next-in-Line«-Effekt, den SpacingEffekt und den seriellen Positionseffekt. Wenn wir Informationen aus unserer Umwelt (Raum, Zeit, Häufigkeit, gut gelerntes Material) aufnehmen, erfolgt die automatische Verarbei­ tung unbewusst. Bewusste Verarbeitung (Bedeutung, bildliche Vorstel­ lung, Organisation) erfordert die bewusste Aufmerksamkeit und gezielte Anstrengungen (Wiederholen). Der »Next-in-Line«-Effekt besteht darin, dass wir gewöhnlich vergessen (aufgrund einer misslungenen Enkodie­ rung), was die Person vor uns in der Schlange gesagt hat, weil wir uns auf das konzentrieren, was wir sagen werden, wenn wir dran sind. Der Spacing-Effekt besteht darin, dass man Informationen in der Regel leich­ ter behält, wenn man sie im Laufe der Zeit mehrmals übt (eingeteiltes Lernen), als wenn man es in einer langen Sitzung übt (Pauken). Der seri­ elle Positionseffekt ist unsere Tendenz, dass man sich bei einer langen Liste (wie etwa einer Einkaufsliste) an das erste und das letzte Element leichter erinnert als an die dazwischen liegenden Elemente. Ziel 5: Vergleichen Sie die Vorteile der visuellen, auditiven und semantischen Enkodierung beim Erinnern verbaler Informationen, und beschreiben Sie eine Strategie zur Verbesserung des Gedächtnisses, die mit dem Selbstbezugseffekt in Zusammenhang steht. Die visuelle Enkodierung (bildlicher Darstellungen) und die auditive En­ kodierung (von Lauten, vor allem Wörtern) sind oberflächlichere Formen der Verarbeitung als die semantische Enkodierung (der Bedeutung). Wir 9.3 verarbeiten verbale Informationen am besten, wenn wir sie semantisch enkodieren, vor allem wenn wir uns des Selbstbezugseffekts bedienen, indem wir die Informationen für uns persönlich relevant machen. Ziel 6: Erklären Sie, wie die Enkodierung unserer Vorstellungswelt dazu beiträgt, etwas mühelos zu verarbeiten, und beschreiben Sie einige Strategien zur Verbesserung des Gedächtnisses, bei denen die visuelle Enkodierung genutzt wird. Die Enkodierung bildlicher Vorstellungen ist hilfreich bei der bewussten Verarbeitung, weil eindringliche Bilder sehr einprägsam sind. Wir erin­ nern uns gewöhnlich an konkrete Substantive besser als an abstrakte, weil wir z. B. mit »Gorilla« sowohl ein Bild als auch eine Bedeutung ­assoziieren können, mit »Prozess« jedoch nur die Bedeutung. Viele ­Mnemotechniken (Gedächtnisstrategien oder -hilfen) beruhen auf der bildlichen Vorstellung. Bei anderen hält man Items im Gedächtnis fest, indem man die visuelle Enkodierung (die Vorstellung einer Reihe ein­ dringlicher Bilder) mit der auditiven Enkodierung (einem einprägsamen Reim) verbindet. Ziel 7: Erörtern Sie, wie man Chunking und Hierarchien bei der bewussten Verarbeitung nutzt. An geordnete Informationen erinnern wir uns besser als an Zufallsdaten; Chunking und Hierarchienbildung sind 2 Methoden, um Informationen zu ordnen. Beim Chunking gruppieren wir Informationen in vertraute, leicht handhabbare Einheiten, wie etwa Wörter in Sätze. Bei Hierarchien verarbeiten wir Informationen, indem wir sie in logische Ebenen eintei­ len; dabei beginnen wir mit der allgemeinsten Ebene und schreiten zur spezifischsten fort. >Denken Sie weiter: Können Sie sich 3 Möglichkeiten vorstellen, die in diesem Abschnitt angeführten Prinzipien auf Ihre eigenen Lern- und Behaltensprozesse anzuwenden? Speichern: Information aufbewahren Im Zentrum des Gedächtnisses steht die Speicherung. Wenn Sie sich an etwas erinnern, was Sie erlebt haben, müssen Sie das Erlebte irgendwie gespeichert und dann abgerufen haben. Alles im Langzeitgedächtnis Gespeicherte liegt im Dornröschenschlaf, bis es aufgrund eines Schlüsselreizes rekonstruiert wird. Wie groß ist die Speicherkapazität unseres temporären und die unseres Langzeitgedächtnisses? Lassen Sie uns mit dem Gedächtnisspeicher beginnen, der im Dreistufenmodell der Informationsverarbeitung als Erster erwähnt wird (. Abb. 9.1): das flüchtige sensorische Gedächtnis. 9.3.1 Sensorisches Gedächtnis Ziel 8: Stellen Sie die beiden Formen des sensorischen Gedächtnisses einander gegenüber. Im Rahmen der Forschungsarbeiten für seine Promotion zeigte Sperling (1960) seinen Versuchspersonen 3 Reihen mit 3 Buchstaben, jede Reihe nur für 1/20 Sekunde (. Abb. 9.10). Unter diesen 9.3 · Speichern: Information aufbewahren Bedingungen war es schwieriger, die Buchstaben zu lesen, als bei Blitzlicht, und die Versuchspersonen konnten sich kaum an die Hälfte der Buchstaben erinnern. Hatten die Versuchsteilnehmer nicht genug Zeit, einen Blick auf die Buchstaben zu werfen? Nein, denn Sperling demonstrierte sehr eindrucksvoll, dass die Teilnehmer auch bei einer Darbietungsgeschwindigkeit, die kürzer war als ein Blitzlicht, die Buchstaben sehen und sich an sie erinnern konnten, allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Statt seine Teilnehmer zu bitten, sich an alle 9 Buchstaben auf einmal zu erinnern, ließ er unmittelbar nach dem Aufscheinen der Buchstaben einen hohen, mittleren oder tiefen Ton erklingen. Dieser Schlüsselreiz brachte die Teilnehmer dazu, jeweils nur die Buchstaben der oberen, mittleren oder unteren Reihe zu reproduzieren. Nun entging ihnen kaum einmal ein Buchstabe. So konnte nachgewiesen werden, dass alle 9 Buchstaben einen Augenblick lang erinnert werden. Sperlings Experiment zeigte, dass wir über ein flüchtiges fotografisches Gedächtnis verfügen, ikonisches Gedächtnis oder visuelles Ultrakurzzeitgedächtnis genannt. Einen Augenblick lang registrieren unsere Augen das genaue Abbild einer Szene, und wir können uns an jede Einzelheit mit erstaunlicher Genauigkeit erinnern – aber nur für einige wenige Zehntelsekunden. Verzögerte Sperling das Tonsignal um mehr als eine halbe Sekunde, dann war die ikonische Erinnerung verschwunden, und die Versuchsteilnehmer konnten sich wieder nur an höchstens die Hälfte der Buchstaben erinnern. Ihr visueller Bildschirm wird sehr schnell wieder grau, damit neue Bilder die alten überlagern können. Wir haben auch ein einwandfreies, wenn auch flüchtiges sensorisches Gedächtnis für auditive Reize, das Echogedächtnis oder auditive Ultrakurzzeitgedächtnis (Cowan 1988; Lu et al. 1992). Ein auditives Echo scheint 3 oder 4 Sekunden lang in der Luft zu hängen. Stellen Sie sich vor, Sie sind mitten in einer Unterhaltung, und Ihre Aufmerksamkeit schweift zum Fernseher ab. Wenn Ihr leicht verärgerter Gesprächspartner dann Ihre Aufmerksamkeit testet und fragt: »Was habe ich gerade gesagt?«, können Sie die letzten paar Wörter aus der Echokammer Ihres Gedächtnisses wieder hervorholen. 9.3.2 Arbeitsgedächtnis Ziel 9: Beschreiben Sie die Dauerhaftigkeit und die Arbeitskapazität des Kurzzeitgedächtnisses. Von der riesigen Datenmenge, die das sensorische Gedächtnis registriert, beleuchten wir ein paar Informationen mit dem Blitzlicht unserer Aufmerksamkeit. Wir rufen auch Informationen aus dem Langzeitspeicher ab und lassen sie direkt auf dem inneren »Bildschirm« erscheinen. Wenn wir aber diese Informationen nicht mit Bedeutung anreichern und enkodieren oder sie wiederholen, dann verschwinden sie schnell wieder. Während Ihre Finger den Weg vom Telefonbuch zum Telefon zurücklegen, kann die Erinnerung an die Nummer wieder verloren gehen. Peterson u. Peterson (1959) wollten wissen, wie schnell eine Kurzzeiterinnerung verschwindet, und baten deshalb Versuchspersonen, sich Buchstabengruppen aus 3 Konsonanten (z. B. CHJ) zu merken. Um Übungseffekte auszuschließen, forderten sie die Teilnehmer auf, in Dreiergruppen von 100 an rückwärts zu zählen. Nach 3 Sekunden erinnerten sich die Teilnehmer nur noch an die Hälfte der Buchstaben, nach 12 Sekunden gab es kaum noch eine Erinnerung (. Abb. 9.11). Ohne aktive Verarbeitung haben Kurzzeiterinnerungen nur eine begrenzte Lebensdauer. Nicht nur die Behaltenszeit des Kurzzeitgedächtnisses ist begrenzt, sondern auch seine Aufnahmekapazität. Wie bereits vorher angeführt, speichert das Kurzzeitgedächtnis üblicherweise nur 7 Informationseinheiten (2 mehr oder weniger können vorkommen). Miller (1956) erhob diese Speicherkapazität zur »magischen Zahl 7« (plus/minus 2). Als in den USA einige Telefongesellschaften verlangten, 395 9 . Abb. 9.10. Ikonisches Gedächtnis Als George Sperling eine Buchstabengruppe (ähn­ lich der hier abgebildeten) 1/20 Sekunde lang auf­ blitzen ließ, konnten die Versuchsteilnehmer nur etwa die Hälfte der Buchstaben reproduzieren. Wurden sie jedoch mit einem Signal aufgefordert, sich an eine bestimmte Zeile zu erinnern, sofort nachdem die Buchstaben verschwunden waren, schafften sie die Aufgabe mit fast perfekter Präzi­ sion ◼ Ikonisches Gedächtnis (iconic memory): kurz­ zeitiges sensorisches Gedächtnis für visuelle Eindrücke, ähnlich wie ein Schnappschuss oder ein Bild, das nur wenige Zehntelsekunden lang erinnert werden kann. ◼ Echogedächtnis (echoic memory): kurzzeitiges sensorisches Gedächtnis für akustische Reize; wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, können Wörter oder Geräusche noch in einem Zeitfens­ ter von 3 oder 4 Sekunden erinnert werden. 396 Kapitel 9 · Gedächtnis dass zusätzlich zur (7-stelligen) Telefonnummer des Teilnehmers eine 3-stellige Vorwahlziffer für den Bereich gewählt werden müsse, durfte es deshalb nicht verwundern, dass viele Menschen berichteten, sie hätten Probleme damit, sich die eben aus dem Telefonbuch herausgesuchte Nummer zu merken. Bei Zahlen (wie bei Telefonnummern) ist unser Kurzzeitgedächtnis ein kleines bisschen besser als bei Buchstaben, die manchmal ähnlich klingen. Es ist auch ein wenig leistungsfähiger bei dem, was wir hören, als bei dem, was wir sehen. Sowohl Kinder als auch Erwachsene haben eine Kurzzeitgedächtniskapazität für etwa so viele Wörter, wie sie in 2 Sekunden aussprechen können (Cowan 1994; Hulme u. Tordoff 1989). Dabei spielt das Rehearsal, die Wiederholung des Gehörten oder Gesehenen eine Rolle: Mit Informations-Chunks (also in bedeutungsvolle Gruppen organisierte Buchstaben wie ABC, BBC, FBI, BVG, ARD, SPD) und ohne Wiederholung behält der Durchschnittserwachsene nur etwa 4 Chunks im Kurzzeitgedächtnis (Cowan 2001). Auch wenn man eine Zufallsfolge von Ziffern hört und das Wiederholen dadurch verhindert wird, dass man zugleich die ganze Zeit »der der der« sagen muss, sinkt die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf etwa 4 Items ab. . Abb. 9.11. Zerfall der Kurzzeiterinnerung Verbale Information kann schnell vergessen wer­ den, wenn sie nicht wiederholt oder geübt wird. (Aus Peterson u. Peterson 1959) ! Grundsätzlich gilt: Wir können zu jedem Zeitpunkt nur eine sehr begrenzte Informationsmen­ ge bewusst verarbeiten. 9.3.3 Langzeitgedächtnis Ziel 10: Beschreiben Sie die Kapazität und die Dauerhaftigkeit des Langzeitgedächtnisses. 9 In Arthur Conan Doyles Erzählung »Eine Studie in Scharlachrot« vertritt Sherlock Holmes eine beliebte Theorie über die Kapazität des Gedächtnisses: Nordamerikanischer Tannenhäher Bei den Tieren wäre der Anwärter auf das beste Erinnerungsvermögen ein simples Vogelhirn: der nordamerikanische Tannenhäher, der im Winter und im zeitigen Frühjahr bis zu 6000 Verstecke mit ver­ grabenen Pinienkernen lokalisieren kann (Shettle­ worth 1993) photos.com Ich schätze, das menschliche Gehirn ist ursprünglich so etwas Ähnliches wie eine kleine leere Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln einrichten muss. … Man sollte nicht den Irrtum begehen, zu glauben, dieser kleine Raum habe Gummiwände und ließe sich beliebig ausdehnen. Glauben Sie mir: Der Zeitpunkt kommt, wo Sie für jeden weiteren Wissensbrocken, den Sie erwerben, etwas vergessen, was Sie vorher wussten. Aber im Gegensatz zu Holmes’ Vermutung ist die Speicherkapazität für Langzeiterinnerungen quasi unbegrenzt. Nach einer vorsichtigen Schätzung enthält das Gedächtnis eines durchschnittlichen Erwach­ senen etwa 1 Mrd. Informationseinheiten, und in seiner Speicherkapazität lässt sich wahrscheinlich das Tausend- oder Millionenfache oder mehr ­unterbringen (Landauer 1986). Bei der gegebenen Anzahl von Synapsen im Gehirn schätzt eine Gruppe von Computerentwicklern, dass »die ­Speicherkapazität aller Computer auf der Erde weitaus geringer ist als die eines einzelnen Gehirns« (Wang et al. 2003). Obwohl selbst ein einziger Laptop in seiner Kapazität unser Gehirn beim wörtlichen Erinnern eines Texts übertrifft (wie war das mit der Definition der negativen Verstärkung?), so ist doch eines sicher: Unser Gehirn ist nicht, wie Sherlock Holmes annahm, eine Dachkammer, auf der man nur noch etwas Neues unterbringen kann, wenn man vorher etwas Altes wegwirft. 397 9.3 · Speichern: Information aufbewahren . Tabelle 9.1. Rekorde bei der World Memory Championship (Weltmeisterschaft der Gedächtniskünstler) Wettbewerb Beschreibung Rekord Geschwindigkeit bei Spielkarten Kürzeste Zeit beim Einprägen eines gemischten Stapels von 52 Spielkarten 33 Sek. Spielkarten inner­ halb einer Stunde Die meisten Spielkarten, die man sich innerhalb einer Stunde ein­ prägt (52 Punkte für jeden korrekten Stapel, 26 Punkte, wenn ein Fehler gemacht wurde) 1170 Spielkarten Geschwindigkeit bei Zahlen Die meisten Zufallsziffern, die man sich innerhalb von 5 Minuten einprägt 324 Ziffern Namen und Gesichter Die meisten Vor- und Nachnamen, die man sich innerhalb von 15 Minuten einprägen kann, nachdem sie zusammen mit den Ge­ sichtern dargeboten wurden (1 Punkt für jeden korrekt geschriebe­ nen Vor- oder Nachnamen; 1/2 Punkt für jeden phonetisch korrek­ ten, aber falsch geschriebenen Namen) 167,5 Namen Binärziffern Die meisten Binärziffern (101101 etc.), die man sich in 20 Minuten einprägen kann, wenn sie in Zeilen mit 30 Ziffern präsentiert werden 3705 Aus: usamemoriad.com und worldmemorychampionship.com Diese Ansicht lässt sich anhand von Menschen, die phänomenale Gedächtnisleistungen vollbrachten, lebhaft illustrieren. Denken Sie etwa an die Tests, mit denen man in den 90er Jahren das Gedächtnis von Rajan Mahadevan überprüfte: Wenn man ihm einen Block von 10 Ziffern der ersten 30.000 Ziffern der Zahl π gab, konnte er nach ein paar Augenblicken, in denen er innerlich nach dem Ausschnitt aus der Ziffernfolge suchte, weitere Ziffern an eben dieser Stelle nennen, und die Zahlen sprudelten nur so heraus (Delaney et al. 1999; Thompson et al. 1993). Er konnte auch 50 zufällig ausgewählte Zahlen wiederholen – sogar rückwärts. Nein, das sei keine genetische Gabe, sagte er, jeder könne das lernen. Doch so viele Merkmale des Menschen sind genetisch bedingt, und da bekannt war, dass Rajans Vater Shakespeares gesammelte Werke auswendig konnte, stellt man sich die Frage, ob er denn damit Recht hat. Wie macht er es also? Wie bei anderen psychologischen Phänomenen untersuchen Wissenschaftler das Gedächtnis, indem sie unterschiedliche Analyseniveaus einsetzen; und dazu gehört auch das biologische Analyseniveau. 9.3.4 Die Speicherung von Erinnerungen im Gehirn Über meine alternde Schwiegermutter konnte ich nur staunen. Sie war Pianistin und Organistin, aber im Alter von 88 Jahren wurde sie blind und konnte keine Noten mehr lesen. Doch kaum saß sie vor einem Tasteninstrument, spielte sie fehlerlos Hunderte von Kirchenliedern, darunter auch solche, an die sie 20 Jahre lang nicht gedacht hatte. Wo hatte ihr Gehirn diese Tausende von Notensequenzen gespeichert? Gedächtnisforscher glaubten eine Zeit lang, durch die Stimulierung des Gehirns während eines chirurgischen Eingriffs könne man den Nachweis liefern, dass unsere gesamte Vergangenheit – nicht nur gut eingeübte Musik – mit allen Einzelheiten »da drin« stecke und nur darauf warte, freigelassen zu werden. Um unerwünschte Effekte bei chirurgischen Eingriffen im Gehirn vorhersagen zu können, stimulierte Penfield (1969) verschiedene Bereiche im Kortex seiner Patienten, während sie hellwach waren. Wenn seine Patienten berichteten, dass sie etwas hörten, etwa »eine Mutter, die ihren kleinen Jungen ruft«, schloss Penfield daraus, dass er lange vergessene Erinnerungen aktiviert hatte, die unauslöschlich ins Gedächtnis eingraviert sind. Die Gedächtnisforscher Loftus u. Loftus (1980) werteten diese berühmten Berichte noch einmal aus und entdeckten, dass solche »Flashbacks« äußerst selten vorkommen und nur bei einer Hand voll von Penfields 1100 Patienten auftraten. Außerdem schienen die Flashbacks erfunden und nicht wiedererlebt worden zu sein. (Die Betreffenden hätten sich an Orte erinnert, die sie nie besucht hatten.) Nach Berichten der International Herald Tribune soll der Japaner Akira Haraguchi die ersten 100.000 Ziffern der Zahl π korrekt wiedergeben können. Haraguchi soll mit dem Aufsagen der Ziffern am 3. Oktober 2006 um 9 Uhr morgens begonnen haben und war um 1.28 Uhr des nächsten Tages damit fertig. 9 398 Kapitel 9 · Gedächtnis »Unser Gedächtnis ist flexibel, Erinnerungen las­ sen sich überschreiben. Unser Gedächtnis ist wie eine Panoramatafel mit unerschöpflichen Vorrä­ ten an Kreide und Wischlappen.« Elizabeth Loftus und Katherine Ketcham (»The Myth of Repressed Memory«, 1994) Die Elektrokrampftherapie, die man zur Behandlung von Depressionen eingesetzt hat, zerstört die Erinnerung an die jüngsten Erlebnisse, lässt jedoch den größten Teil des Gedächtnisses intakt 7 Kap. 17). Der Psychologe Lashley (1950) lieferte weitere Belege dafür, dass das Gedächtnis nicht an einer einzelnen Stelle lokalisiert ist. Er trainierte Ratten darauf, den Weg durch ein Labyrinth zu finden. Dann schnitt er Teile ihres Kortex heraus und prüfte die Erinnerung der Ratten. Doch ganz gleich, welche feinen Ausschnitte er aus dem Kortex machte, die Ratten hatten immer noch zumindest teilweise eine Erinnerung daran, wie sie durch das Labyrinth laufen mussten. Könnte die physische Erinnerungsspur ihren Ursprung in der beständigen elektrischen Aktivität des Gehirns haben? Wenn das so wäre, müsste ein temporärer Zusammenbruch dieser Aktivität dazu führen, dass die Erinnerung gelöscht wird, so wie bei einer leeren Batterie die Einstellungen im Autoradio gelöscht werden. Gerard (1953) trainierte als Erster Hamster darauf, nach rechts oder nach links zu laufen, um gefüttert zu werden; dann senkte er die Körpertemperatur der Tiere so weit ab, dass die elektrische Aktivität des Gehirns aussetzte. Die Hamster wurden wiederbelebt, ihr Gehirn nahm seine Aktivität wieder auf. Würden sie sich noch daran erinnern, wohin sie laufen mussten? Ja, ihr Langzeitgedächtnis überstand den »Stromausfall«. In einem Kommentar über die Flüchtigkeit von Gedächtnisspuren sagte ein Gedächtnisforscher ironisch: »Ich muss eingestehen, dass Erinnerungen mehr zur spirituellen als zur physischen Realität gehören. Sobald man versucht, sie dingfest zu machen, verwandeln sie sich in Dunst und verschwinden« (Loftus u. Ketcham 1994). Zu wissen, wie unser Gehirn eine ganze Flut von Einzelheiten speichert, die sich mühelos wieder abrufen lassen, »geht über unser Vorstellungsvermögen hinaus«, sagte ein von Ehrfurcht ergriffener Neurowissenschaftler (Doty 1998), In letzter Zeit hat sich die Suche nach der physischen Basis des Gedächtnisses – nach der Art, wie Informationen in Materie verwandelt werden – auf die Synapsen konzentriert. Synaptische Veränderungen Ziel 11: Erörtern Sie die Veränderungen an den Synapsen, die mit der Herausbildung des Gedächtnisses und der Speicherung dort einhergehen. Jeff Rotman 9 Aplysia Diese kalifornische Meeresschnecke ist ein beliebtes Versuchstier. Wir verdanken ihr wichtige Erkennt­ nisse über die neuronale Basis von Lernprozessen »In diesem (neuen) Jahrhundert wird die Biologie des Geistes für die Wissenschaft die gleiche Be­ deutung bekommen wie die Biologie der Gene im 20. Jahrhundert.« Eric Kandel (Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Medizin 2000) ◼ Langzeitpotenzierung (long-term potentia­ tion): eine Zunahme des Potenzials einer ­Synapse, nach einer kurzen, schnellen Stimu­ lierung feuern zu können. Man nimmt an, dass dies die neuronale Grundlage für Lernen und Gedächtnis ist. Die Neurowissenschaftler haben die Suche nach dem Ort des Gedächtnisses auf die Erforschung von Veränderungen innerhalb einzelner Neuronen sowie zwischen Neuronen ausgeweitet. Der Anfang einer Erinnerung ist ein Impuls, der die Stromkreise des Gehirns durchläuft und dabei auf eine geheimnisvolle Weise dauerhafte neuronale Spuren hinterlässt. An welcher Stelle findet die neuronale Veränderung statt? Was wir bisher wissen, weist auf die Synapsen hin, die Stellen, an denen Nervenzellen mit Hilfe von Neurotransmittern miteinander kommunizieren. Erinnern Sie sich an 7 Kap. 3, in dem ausgeführt wird, wie ein Erlebnis Veränderungen im Netzwerk des Gehirns bewirkt. Kommt es auf einer bestimmten Nervenbahn zu verstärkter Aktivität, bilden sich neue neuronale Verbindungsstellen oder die bisher vorhandenen werden stärker. Kandel u. Schwartz (1982) beobachteten Veränderungen an den Neuronen der kalifornischen Meeresschnecke Aplysia, einem sehr unkomplizierten Geschöpf. Sie verfügt nur über etwa 20.000 Nervenzellen, doch diese sind ungewöhnlich groß und leicht zugänglich. Das macht es möglich, synaptische Veränderungen im Verlauf eines Lernprozesses zu beobachten. In 7 Kap. 8 wurde erwähnt, wie die Meeresschnecke durch Elektroschocks klassisch darauf konditioniert werden kann, ihre Kiemen zurückzuziehen, wenn sie mit Wasser bespritzt wird, so wie ein Soldat, der einen Schock durch Granateneinschlag erlitten hat, schon beim Knacken eines Astes hochspringt. Kandel u. Schwartz beschäftigten sich eingehender mit den neuronalen Verbindungen vor und nach dem Konditionierungsprozess und entdeckten Veränderungen. Im Verlauf des Lernvorgangs schüttet die Schnecke an manchen Synapsen mehr von dem Neurotransmitter Serotonin aus. Dadurch werden diese Synapsen bei der Weiterleitung der Signale effizienter. Die stärkere synaptische Aktivität bewirkt, dass die neuronalen Schaltkreise effizienter werden. Bei Experimenten zeigte sich, dass die rasche Stimulierung gewisser Verbindungen in Gedächtnisschaltkreisen zu einer erhöhten Empfindlichkeit führt, die Stunden oder sogar Wochen anhalten kann. Das präsynaptische Neuron braucht nun weniger Anreiz für die Ausschüttung seines Neurotransmitters, und die Rezeptoren an der präsynaptischen Nervenzelle können sich sogar vermehren (. Abb. 9.12). Die ständige Stärkung des Aktionspotenzials eines Neurons, Langzeitpotenzierung (LTP, »long-term potentiation«) – ein von Lynch (2002) und Kollegen geprägter b . Abb. 9.12a,b. Verdoppelter Rezeptor Das Bild eines Elektronenmikroskops zeigt, wie sich vor der Langzeitpotenzierung nur ein Rezeptor (grau) zum aussendenden Neuron hin streckt (a), während es nach der Langzeitpotenzierung (b) zwei Rezeptoren sind. Eine Verdopplung der Rezeptoren bedeutet, dass das postsynaptische Neuron eine stärker ausgeprägte Sensibilität ent­wickelt hat, um das Vorhandensein der Neurotransmittermoleküle zu entdecken, die vom präsynaptischen Neuron freigesetzt werden können (Aus Toni et al. 1999) Orban/Segretain/Forestier/Sygma/Corbis Begriff – genannt, stellt die neuronale Grundlage des Lernens und Behaltens von Assoziationen dar. Wir wissen heute, dass gewisse Medikamente, die eine blockierende Wirkung auf die LTP haben, Lernvorgänge stören (Lynch u. Stäubli 1991). Genveränderte Mäuse, denen ein bestimmtes, für die LTP unabdingbares Enzym abgezüchtet wurde, lernen nicht, den Weg aus dem Labyrinth zu finden (Silva et al. 1992). Und wenn man a Ratten ein Medikament verabreicht, das die LTP verstärkt, dann lernen sie den Weg durch das Labyrinth mit nur halb so vielen Fehlern wie sonst üblich (Service 1994). Kandel, Lynch und mehrere andere, die die Biologie des Gedächtnisses erforschten, haben dazu beigetragen, pharmazeutische Firmen zu gründen, die in Konkurrenz miteinander treten, Medikamente zu einer bedeutsamen Verbesserung des Gedächtnisses zu entwickeln und zu testen (Economist 2004; Marshall 2004). Mindestens 40 »kognitive Verbesserer« sind gegenwärtig in einer Entwicklungsphase oder werden klinisch überprüft. Ihre Zielgruppe sind Millionen von Menschen mit der Alzheimer-Krankheit und weitere Millionen, die gerne in Bezug auf den altersbedingten Gedächtnisabbau die Uhr zurückdrehen würden. Hier entsteht ein Markt, aus dem sich riesige Gewinne ergeben werden. Ein Ansatz besteht darin, Medikamente zu entwickeln, die die Produktion des Proteins CREB ansteigen lassen, mit dem man bestimmte Gene an- oder abschalten kann. Rufen Sie sich Folgendes in Erinnerung: Gene kodieren die Produktion von Proteinmolekülen. Bei wiederholtem ­Feuern der Neuronen produzieren die Gene einer Nervenzelle Proteine, die die Synapse stärken; dies ermöglicht es, Langzeiterinnerungen zu bilden (Fields 2005). Wenn die CREB-Produktion ansteigt, könnte dies zu einer verstärkten Produktion von Proteinen führen, die dazu beitragen, dass die Synapsen eine neue Form annehmen und eine Kurzzeiterinnerung in eine Langzeiterinnerung umwandeln. Hinterkiemerschnecken, Mäuse und Fruchtfliegen mit verstärkter CREB-Produktion wiesen ein besseres Gedächtnis auf als andere Tiere. Ein weiterer Ansatz besteht darin, Medikamente zu entwickeln, die die Glutamat-Konzentration ansteigen lassen; Glutamat ist ein Neurotransmitter des Gehirns, der die Kommunikation unter den Synapsen fördert (LTP). Ob derartige Medikamente das Gedächtnis verbessern, ohne schlimme Nebenwirkungen zu haben und ohne unser Denken mit trivialen Dingen zu überladen, die wir besser vergessen hätten, bleibt abzuwarten. In der Zwischenzeit gibt es für Studierende bereits ein wirksames, sicheres und preiswertes Mittel zur Verbesserung des Gedächtnisses: studieren und ausreichend schlafen (7 Kap. 7). Ist es erst einmal zur LTP gekommen, kann auch ein Stromstoß, der durch das Gehirn geleitet wird, alte Erinnerungen nicht auslöschen, wohl aber die vor ganz kurzer Zeit gemachten Erinnerungen. Dies sind jedenfalls die Ergebnisse, die man bei Versuchen mit Labortieren und bei Pa­ tienten mit Depression fand, die mit Elektrokrampftherapie behandelt wurden. Ein Schlag auf den Kopf kann die gleiche Wirkung haben. Wie Schlafende, die sich nicht erinnern können, was sie gehört haben, bevor sie das Bewusstsein für ihre Umgebung verloren, haben Boxer und FootballSpieler, die vorübergehend k.o. waren, im typischen Fall keine Erinnerung an Ereignisse direkt vor dem K.o. (Yarnell u. Lynch 1970). Den Informationen im Kurzzeitgedächtnis blieb vor dem Schlag nicht genug Zeit, um im Langzeitgedächtnis gefestigt zu werden. Stresshormone und Gedächtnis Ziel 12: Erörtern Sie, wie Stresshormone das Gedächtnis beeinflussen. Die Stresshormone, die Menschen und Tiere produzieren, wenn sie erregt oder gestresst sind, führen dazu, dass mehr Glukose verfügbar ist, um die Hirnaktivität zu beschleunigen; dies signalisiert dem Gehirn, dass etwas Wichtiges geschehen ist. Gleichzeitig verstärken die Amygdalae (zwei Verarbeitungscluster im limbischen System) die Aktivität der Hirnareale, die das Gedächtnis bilden (Dolcos et al. 2004; Hamann et al. 2002). Und was ist das Ergebnis? Solche Ereignisse werden möglicherweise dem Gehirn eingebrannt, während gleichzeitig die Erinnerung an neutrale Ereignisse unterbrochen wird (Birnbaum et al. 2004; Strange u. Dolan 2004). Der entscheidende Punkt besteht nach McGaugh (1994, 2003) darin, dass »stärkere emotionale Erfahrungen zu stärkeren, zuverlässigeren Erinnerungen führen«. Nach traumatischen Er- 9 N. Toni et al., Nature, 402, Nov. 25, 1999. Eigentum von Dominique Muller 399 9.3 · Speichern: Information aufbewahren Unterbrochene Festigung der Erinnerung Nachdem er bei dem Unfall, bei dem Prinzessin Diana getötet wurde, eine Gehirnerschütterung erlitten hatte, hatte ihr Leibwächter Trevor ReesJones keine Erinnerung mehr an den Unfall und die Minuten davor (Rico et al. 2003) 400 Kapitel 9 · Gedächtnis Mast Irham/epa/Corbis lebnissen – ein Angriff aus dem Hinterhalt im Krieg, ein Feuer im Haus, eine Vergewaltigung – können sich lebendige Erinnerungen an das grauenhafte Ereignis immer wieder aufdrängen. Es ist so, als hätten sie sich eingebrannt. Umgekehrt gehen schwächere Emotionen auch mit schwächeren Erinnerungen einher. Verabreicht man einem Menschen ein Medikament, das die Wirkung der Stresshormone ausschaltet, hat er anschließend Schwierigkeiten, sich an die Einzelheiten einer aufregenden Geschichte zu erinnern (Cahill et al. 1994). Dieser Zusammenhang wird von denjenigen positiv bewertet, die daran arbeiten, ein optimales Medikament zu entwickeln, das immer wieder ins Bewusstsein dringende Erinnerungen abschwächen könnte, wenn man den Betreffenden das Medikament nach einem traumatischen Erlebnis gibt. ! Die hormonellen Veränderungen, die durch Emotionen hervorge- rufen werden, sind eine Erklärung dafür, dass wir uns lange an auf- regende oder schockierende Ereignisse erinnern. Starker Stress prägt sich im Gedächtnis ein Ausgesprochen stressreiche Ereignisse wie der tragische Tsunami, der Ende 2004 über Südostasien hinwegfegte, kann für diejenigen, die ihn erlebten, zu einem unauslöschlichen Bestandteil der Erinne­ rungen werden 9 Noch 1 1/2 Jahre nach dem Erdbeben von San Francisco 1989 erinnerten sich die Menschen, die das Erdbeben erlebt hatten, deutlich, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten und was sie gerade gemacht hatten (so wie sie es 1–2 Tage nach dem Beben auf Band gesprochen hatten). Die Erinnerung von Menschen, die das Erdbeben nicht direkt miterlebt haben, an die Umstände, unter denen sie von dem Beben gehört hatten, enthielten dagegen durchaus Irrtümer (Neisser et al. 1991; Palmer et al. 1991). (Ein zweiter wichtiger Grund für die Unauslöschlichkeit der Erinnerung an dramatische Ereignisse ist die Tatsache, dass wir sie immer wieder neu durchleben und wiederholen, so wie die meisten Menschen, die das Erdbeben miterlebten, ihre Geschichte tausendmal erzählt haben.) Es gibt jedoch auch Grenzen für die durch Stress verbesserte Erinnerung. Wie in 7 Kap. 16 ausgeführt, kann länger anhaltender Stress – Kampfhandlungen oder Missbrauch über einen ­längeren Zeitraum hinweg – manchmal wie Säure wirken: Neuronale Verbindungen werden zerstört, und eine bestimmte Hirnregion, der für die Speicherung von Erinnerungen unentbehrliche Hippocampus, schrumpft. Es kann auch Folgendes geschehen: Eine plötzliche Überflutung mit Stresshormonen kann ältere Erinnerungen blockieren. Das gilt für Ratten, die versuchen, den Weg zu einem verborgenen Ziel zu finden (de Quervain et al. 1998). Und es gilt für die unter uns, die plötzlich meinen, ihr Gehirn sei ganz leer, wenn sie vor einem größeren Publikum sprechen sollen. Die Speicherung impliziter und expliziter Erinnerungen Ziel 13: Unterscheiden Sie zwischen dem impliziten und dem expliziten Gedächtnis, und geben Sie die Gehirnstruktur an, die damit hauptsächlich in Verbindung gebracht wird. ◼ Amnesie (amnesia): Gedächtnisverlust. Etwas, was künftig erinnert werden soll, gelangt durch die Sinne in den Kortex und wandert dann auf verschlungenen Pfaden in die Tiefe des Gehirns. Wo es dann genau landet, hängt von der Art der Information ab; dies wird vor allem an Menschen deutlich, die an einer Form von Amnesie leiden, die die Entstehung neuer Erinnerungen verhindert. Der Neurologe Sacks (1985, S. 26–27) beschreibt einen solchen Patienten: Jimmy, der eine Hirnverletzung erlitten hatte. Jimmy hatte keine Erinnerung an die Zeit nach seiner Verletzung, also auch kein Gefühl dafür, dass die Zeit vergeht. Als man ihn 1975 nach dem Namen des Prä­sidenten der USA fragte, antwortete er: »FDR (Franklin D. Roosevelt) ist tot, Truman ist am Steuer.« Sacks zeigte Jimmy Fotos aus dem National Geographic. »Was ist das?«, fragte er. »Der Mond«, antwortete Jimmy. »Nein«, erwiderte Sacks, »Es ist ein Foto von der Erde, das vom Mond aus aufgenommen wurde.« »Sie machen Witze! Dann müsste man doch einen Fotoapparat da raufgebracht haben.« »Klar.« »Zum Teufel, was für ein blöder Witz! Wie sollte das denn gehen!« Jimmys Staunen war das Staunen eines intelligenten jungen Mannes, der jetzt 60 Jahre alt war und voll Verwunderung auf seine Reise zurück in die Zukunft blickte. Testet man Menschen mit dieser seltenen Störung eingehend, zeigen sich noch merkwürdigere Dinge: Obgleich sie sich an Fakten aus der letzten Zeit oder an etwas, was sie vor Kurzem getan haben, nicht erinnern können, sind sie doch imstande zu lernen. Zeigt man ihnen Figuren in Bildern, die 9.3 · Speichern: Information aufbewahren 401 . Abb. 9.13. Subsysteme des Gedächtnisses Wir verarbeiten und speichern unsere expliziten und impliziten Erinnerungen getrennt. Wir können das explizite Gedächtnis einbüßen (und unter Am­ nesie leiden) und trotzdem implizite Erinnerungen an Dinge haben, die man nicht bewusst abrufen kann schwer zu entdecken sind (aus der Serie »Wo ist Waldo?«), dann können sie sie später schnell wieder finden. Sie können lernen, Spiegelschrift zu lesen oder ein Puzzle zusammenzusetzen, sogar komplizierte Handgriffe im Rahmen einer Arbeit (Schacter 1992, 1996; Xu u. Corkin 2001). Sie können klassisch konditioniert werden. Doch all das tun sie ohne ein Bewusstsein dafür, etwas gelernt zu haben. In mancher Hinsicht lassen sich die Opfer dieser Amnesie mit Menschen vergleichen, die nach einer Hirnverletzung nicht mehr bewusst Gesichter erkennen können, deren physiologische Reaktionen jedoch auf ein implizites (unbewusstes) Wiedererkennen hindeuten. Ihr Verhalten stellt die Vorstellung in Frage, das Gedächtnis sei ein einzelnes, einheitliches, bewusstes System. Stattdessen scheinen wir über mehrere Gedächtnissysteme zu verfügen, die hintereinander geschaltet sind (. Abb. 9.13). Was immer bei diesen Amnestikern die bewusste Erinnerung zerstört hat, es hat ihre unbewusste Lernfähigkeit intakt gelassen. Sie können lernen, wie man etwas macht; hier handelt es sich um das impli­ zite Gedächtnis (prozedurale Gedächtnis). Aber sie wissen vielleicht nicht und können es auch nicht erklären, dass sie wissen. Sie haben also kein explizites Gedächtnis (deklaratives Gedächtnis). Haben Amnestiker beispielsweise eine Geschichte einmal gelesen, dann lesen sie sie beim zweiten Mal schneller: ein Beleg für implizite Erinnerung. Doch eine explizite Erinnerung mag es in diesem Fall nicht geben; denn die Patienten können sich nicht daran erinnern, die Ge­schichte schon einmal vor Augen gehabt zu haben. Zeigt man ihnen wiederholt das Wort Parfüm, werden sie sich nicht daran erinnern, es gesehen zu haben, Wenn sie jedoch nach dem ersten Wort gefragt werden, das ihnen als Reaktion auf die Buchstaben par in den Sinn kommt, sagen sie Parfüm und zeigen so freudig, dass sie etwas gelernt haben. Mit Hilfe derartiger Auf­gaben zeigen auch Alzheimer-Patienten, deren explizite Erinnerungen für Menschen und Er­eignisse verloren gegangen sind, eine Fähigkeit, neue implizite Erinnerungen zu bilden (Lustig u. Buckner 2004). Sie behalten, was sie neu gelernt haben, aber sie können es nicht explizit ab­rufen. ◼ Implizites Gedächtnis (implicit memory): Be­ halten unabhängig von bewusster Erinnerung (auch als prozedurales Gedächtnis bezeichnet). ◼ Explizites Gedächtnis (explicit memory): Ge­ dächtnis für Fakten und Erfahrungen, die man bewusst wissen und »deklarieren« kann (auch als deklaratives Gedächtnis bezeichnet). ◼ Hippocampus (hippocampus): neuronales Zen­ trum im limbischen System, das an der Verarbei­ tung expliziter Erinnerungen für die endgültige Speicherung beteiligt ist.] Hippocampus Eine Möglichkeit herauszufinden, wie das Gedächtnis arbeitet, besteht darin, Fehlfunktionen zu untersuchen. So regen uns diese bemerkenswerten Geschichten zu Fragen an: Sind an den expliziten und impliziten Gedächtnissystemen getrennte Hirnregionen beteiligt? Untersuchungen des aktiven Gehirns mit Hilfe bildgebender Verfahren (Schichtaufnahmen) und die Autopsie von Amnestikern zeigen, dass neue explizite Erinnerungen wie Namen, Bilder oder Ereignisse zur Speicherung durch den Hippocampus, ein neuronales Zentrum im limbischen System, geleitet werden (. Abb. 9.14). Wenn man anhand von Schichtaufnahmen das Gehirn dabei beobachten kann, wie es eine Erinnerung bildet, dann zeigt sich Aktivität im Hippocampus und ebenso auch in gewissen Bereichen der Frontallappen (Wagner et al. 1998). Bei einer PET-Schichtaufnahme leuchtet der Hippocampus auch auf, wenn Wörter reproduziert werden (wenn also das explizite Gedächtnis genutzt wird) (Squire 1992). Eine Schädigung des Hippocampus zerstört einige Arten von Erinnerungen. Meisen und andere Vogelarten legen Hunderte von Vorratsplätzen an und kehren Monate später zu diesen nicht markierten Verstecken zurück, allerdings tun sie das nicht, wenn ihnen der Hippocampus entfernt wurde (Sherry u. Vaccarino 1989). Wie der Kortex insgesamt, ist auch der Hippocampus laterali- . Abb. 9.14. Hippocampus Explizite Erinnerungen an Fakten und Ereignisse werden im Hippocampus verarbeitet und zur Spei­ cherung an andere Hirnareale weitergeleitet 9 402 Kapitel 9 · Gedächtnis »Die Technologien [zur Anfertigung von Schicht­ aufnahmen des Gehirns] sind in gleicher Weise ­eine Revolution für die Erforschung des Gehirns und des Mentalen, wie es das Fernrohr für die ­Erforschung des Himmels war.« Endel Tulving (1996) 9 siert (d. h. es gibt 2 Hippocampi, die jeweils direkt über dem Ohr etwa 4 cm tief im Gehirn liegen). Eine Verletzung des linken oder des rechten Hippocampus scheint unterschiedliche Folgen zu haben. Patienten mit einer Verletzung des linken Hippocampus können sich schlecht an verbale Information erinnern, doch haben sie keine Probleme mit der Erinnerung an visuelle Informa­ tionen oder an Orte. Patienten mit einer Verletzung des rechten Hippocampus haben genau die umgekehrten Probleme (Schacter 1996). Die neuere Forschung beschäftigt sich auch im Einzelnen mit den Funktionen der verschiedenen Unterbereiche des Hippocampus. Ein Teil ist aktiv, wenn Menschen lernen, Namen mit Gesichtern zu assoziieren (Zeineh et al. 2003). Ein anderer Teil ist aktiv, wenn Gedächtniskünstler räumliche Mnemotechniken verwenden (Maguire et al. 2003b). Bei einem Londoner Taxifahrer wird das hintere Areal, das räumliche Erinnerungen verarbeitet, größer, je länger er durch das Labyrinth der Straßen in der Stadt gefahren ist (Maguire et al. 2003a). Affen und Menschen, die aufgrund einer Operation oder einer Krankheit keinen Hippocampus mehr haben, verlieren meist auch die Erinnerung an das, was sie in den vorangegangenen Monaten gelernt haben; doch ihre älteren Erinnerungen bleiben intakt (Bayley et al. 2005; McGaugh 2000). Je länger der Hippocampus und seine Nervenbahnen zum Kortex nach dem Lernen unversehrt blieben, desto geringer ist der Gedächtnisausfall (Remondes u. Schuman 2004). Offenbar dient der Hippocampus als eine Art Ladestation, in der das Gehirn die Elemente einer erinnerten Episode registriert und zeitweise speichert: die damit verbundenen Gerüche, Gefühle, Geräusche und den Ort. Doch später kommen die Erinnerungen – so ähnlich wie ich ältere Ordner in den Keller bringe – zur Speicherung an eine andere Stelle. Der Hippocampus ist aktiv während des »slow-wave«Schlafs, wenn die Erinnerungen verarbeitet und zum späteren Abruf abgelegt werden. Je größer die Aktivität des Hippocampus während des Schlafs nach einer Trainingserfahrung ist, desto besser ist am nächsten Tag die Erinnerung daran (Peigneux et al. 2004). Der »Bibliothekar« unserer »Erinnerungsbibliothek« weist verschiedene Informationen verschiedenen Bereichen zu. Bei Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren zeigt sich, dass die mentalen Bilder unserer früheren Erlebnisse, sobald sie gespeichert sind, verschiedene Bereiche der Frontal- und Temporallappen aktivieren (Fink et al. 1996; Gabrieli et al. 1996; Markowitsch 1995). Wenn man eine Telefonnummer heraussucht und im Arbeitsgedächtnis behält, aktiviert dies einen Bereich im linken frontalen Kortex. Doch wenn man sich einen Vorfall auf einer Party ins Gedächtnis zurückrufen würde, würde dies wahrscheinlich eher einen Bereich in der rechten Hemisphäre aktivieren. ! Unser Gedächtnis ist nicht auf eine einzige Stelle im Gehirn beschränkt. Viele Hirnregionen sind beteiligt, wenn wir verschiedene Arten von Information enkodieren, speichern oder abrufen. Um sich noch einmal an der Erinnerung an die erste erfolgreiche Aufführung zu erfreuen, braucht man den Dirigenten einer mentalen Symphonie, der Erinnerungsschnipsel aus verschiedenen kortikalen Speichern abruft und sie mit den emotionalen Assoziationen verbindet, die von der Amygdala geliefert werden. Amnestiker können fragmentierte Teile einer Erinnerung behalten – den Anblick, Ton, Geruch, Objekte, Menschen, Handlungen und Emotionen. Aber die Verbindungen, die es den Patienten ermöglichen würden, die Fragmente wieder zu einer expliziten Erinnerung an ein Ereignis zusammenzusetzen, sind möglicherweise verloren gegangen. Zerebellum (Kleinhirn) Obwohl der Hippocampus an der temporären Verarbeitung expliziter Erinnerungen beteiligt ist, könnten Sie auch ohne ihn noch Erinnerungen an Fertigkeiten und konditionierte Assoziationen speichern. Implizite Erinnerungen erfordern weniger Verbindungen zwischen den kortikalen Speicherregionen; deshalb können Menschen mit einer Schädigung des Hippocampus diese Erinnerungen behalten (Paller 2004). Le Doux (1996) erzählt eine Geschichte über eine Patientin mit einer Hirnverletzung, deren Amnesie bewirkte, dass sie ihren Arzt nicht erkannte, der ihr tagtäglich die Hand schüttelte und sich vorstellte. Eines Tages griff sie nach seiner Hand, zog aber ihre eigene Hand hastig zurück, denn der Arzt hatte sie mit einer Reißzwecke gepiekst, die in seiner Handfläche verborgen war. Als er sich beim nächsten Besuch wieder vorstellen wollte, weigerte sie sich, seine Hand zu ergreifen, konnte allerdings nicht erklären, warum. Nach dieser klassischen Konditionierung konnte sie seine Hand einfach nicht mehr schütteln. 403 9.3 · Speichern: Information aufbewahren Das Kleinhirn oder Zerebellum, die Hirnregion, die sich vom hinteren Teil des Hirnstamms aus ausdehnt, spielt eine Schlüsselrolle bei der Bildung und Speicherung impliziter Erinnerungen, die durch klassische Konditionierung geschaffen wurden. Menschen mit einer Verletzung des Zerebellums sind außerstande, bestimmte konditionierte Reflexe zu entwickeln, wie etwa einen Ton mit einem bevorstehenden Luftstoß zu assoziieren, und somit in Vorwegnahme des Luftstoßes zu blinzeln (Daum u. Schugens 1996; Green u. Woodruff-Pak 2000). Indem Thompson, Krupa u. Thompson die Funktionsfähigkeit der unterschiedlichen Nervenbahnen im Kortex und im Zerebellum von Kaninchen systematisch unterbrachen, konnten sie zeigen, dass auch Kaninchen eine konditionierte Blinzelreaktion nicht lernen können, wenn das Zerebellum zeitweilig während des Trainings deaktiviert ist (Krupa et al. 1993; Steinmetz 1999). Zur Bildung einer impliziten Erinnerung braucht man das Zerebellum. Unser duales System aus expliziten und impliziten Erinnerungen liefert eine Erklärung für die kindliche Amnesie: Reaktionen und Fertigkeiten, die wir in der Kindheit erlernt haben, reichen weit in die Zukunft hinein, doch als Erwachsene erinnern wir uns (explizit) an nichts aus den ersten 3 Lebensjahren. Wir haben keine bewusste Erinnerung an diesen Zeitraum, weil wir viele Informationen in Wörtern speichern, die ein Kind in der vorsprachlichen Phase noch nicht gelernt hat, und weil zudem der Hippocampus erst als eine der letzten Hirnstrukturen voll ausgereift ist. Lernziele Abschnitt 9.3 Speichern: Information aufbewahren Ziel 8: Stellen Sie die beiden Formen des sensorischen Gedächtnisses einander gegenüber. Wenn Informationen durch die Sinne ins Gedächtnissystem gelan­ gen, registrieren wir visuelle Bilder mit dem ikonischen Gedächtnis, in dem bildliche Vorstellungen nicht länger als wenige Zehntelsekunden Bestand haben und speichern diese Information für eine kurze Zeit. Wir registrieren und speichern Geräusche mit dem Echogedächtnis, in dem Echos auditiver Reize nicht länger als 3 oder 4 Sekunden fortbe­ stehen. Ziel 9: Beschreiben Sie die Dauerhaftigkeit und die Arbeitskapazität des Kurzzeitgedächtnisses. Zu jedem Zeitpunkt können wir uns auf nur etwa 7 Items der Informati­ onen (entweder neue Informationen oder solche, die aus dem Gedächt­ nis abgerufen wurden) konzentrieren. Ohne Wiederholung verschwin­ den die Informationen innerhalb von Sekunden aus dem Kurzzeitge­ dächtnis und werden vergessen. Ziel 10: Beschreiben Sie die Kapazität und die Dauerhaftigkeit des Langzeitgedächtnisses. Die Kapazität zur dauerhaften Speicherung von Informationen im Lang­ zeitgedächtnis ist im Wesentlichen unbegrenzt. Ziel 11: Erörtern Sie die Veränderungen an den Synapsen, die mit der Herausbildung des Gedächtnisses und der Speicherung dort einhergehen. Die aktuelle Forschung konzentriert sich auf die gedächtnisbezogenen Veränderungen innerhalb eines einzelnen Neurons und zwischen den Neuronen. In dem Maße, wie durch die Erfahrung die Bahnen zwischen den Neuronen gefestigt werden, übertragen die Synapsen die Signale auf effizientere Weise. Bei einem Vorgang, den man Langzeitpotenzie­ rung (LTP) nennt, setzen die präsynaptischen Neuronen in diesen Bah­ nen schneller Neurotransmitter frei, und die postsynaptischen Neuronen bilden möglicherweise zusätzliche Rezeptoren; dadurch nimmt ihre Fä­ higkeit zu, die eingehenden Neurotransmitter zu bemerken. LTP scheint die neuronale Grundlage für Lernen und Gedächtnis zu sein. Ziel 12: Erörtern Sie, wie Stresshormone das Gedächtnis beeinflussen. Dadurch, dass Stresshormone die Produktion zusätzlicher Glukose (die die Gehirnaktivität vorantreibt) ermöglichen, signalisieren sie dem Ge­ hirn wichtige Ereignisse. Die Amygdala, eine Struktur im limbischen Sys­ tem, in der Emotionen verarbeitet werden, regt Hirnareale an, die Emo­ tionen verarbeiten. Diese hormonalen Veränderungen, die durch Emo­ tionen ausgelöst werden, können zu unauslöschlichen Erinnerungen führen. Ziel 13: Unterscheiden Sie zwischen dem impliziten und dem expliziten Gedächtnis, und geben Sie die Gehirnstruktur an, die hauptsächlich damit in Verbindung gebracht wird. Wir sind uns unserer impliziten (prozeduralen) Erinnerungen oft nicht bewusst – unserer Erinnerung an unsere eigenen Fertigkeiten und an operant und klassisch konditionierte Reaktionen. Diese Erinnerungen werden teilweise vom Zerebellum in der Nähe des Hirnstamms verarbei­ tet. Wir rufen unsere expliziten (deklarativen) Erinnerungen – unser All­ gemeinwissen, spezielle Fakten und persönlich erlebte Ereignisse – be­ wusst aus dem Gedächtnis ab. Explizite Erinnerungen werden in diversen Unterregionen des Hippocampus (einem neuronalen Zentrum im Ge­ hirn) verarbeitet und zur Abspeicherung in andere Areale des Gehirns weitergeleitet. Das implizite und das explizite Gedächtnissystem sind voneinander unabhängig. Eine Schädigung des Hippocampus kann die Fähigkeit zerstören, bewusst Erinnerungen abzurufen, ohne dass Fertig­ keiten oder klassisch konditionierte Reaktionen zerstört werden. >Denken Sie weiter: Können Sie ein Beispiel dafür nennen, dass Stress Ihnen geholfen hat, sich an etwas zu erinnern? Und ein wei­ teres Beispiel dafür, dass es Ihnen aufgrund von Stress misslang, eine Erinnerung dauerhaft abzuspeichern? 9 404 Kapitel 9 · Gedächtnis 9.4 Abrufen: Informationen auffinden Ziel 14: Stellen Sie den Abruf, das Wiedererkennen und Maßnahmen zum erneuten Lernen von Erinnerungen einander gegenüber. ◼ Abruf oder aktive, freie Reproduktion (recall): Maß für die Erinnerungsfähigkeit, bei dem die Versuchsperson vorher gelernte Informationen aktiv abrufen muss, etwa beim Ausfüllen eines Lückentexts. 9 Spanky’s Yearbook Archive Seth Poppel/Yearbook archives ◼ Wiedererkennen (recognition): Maß für die Er­ innerungsfähigkeit. Wie bei einem MultipleChoice-Test muss die Versuchsperson lediglich Items identifizieren, die sie vorher erlernt hat. Sich an Vergangenes erinnern Auch wenn Madonna und Brad Pitt nicht berühmt geworden wären, hätten ihre Klassenkameraden aus der High School sie doch mit großer Wahr­ scheinlichkeit auf den Fotos des Jahrbuchs wieder­ erkannt ◼ Erneutes Lernen (relearning): Maß für die Erin­ nerungsfähigkeit, mit dem erfasst wird, wie viel schneller bereits erlerntes Material beim zwei­ ten Mal gelernt wird. Beim Erinnern geht es nicht nur darum, etwas ins Gedächtnis hineinzubringen (enkodieren) und zu behalten (speichern), sondern auch darum, es wieder abzurufen. Für die meisten Menschen bedeutet Erinnern das Gleiche wie Abruf, nämlich die Fähigkeit, eine Information wiederzufinden, die nicht im aktuellen Bewusstsein vorhanden ist. Für den Psychologen bedeutet Erinnern, dass etwas Gelerntes behalten wurde. Wird also etwas wieder­ erkannt oder beim zweiten Lerndurchgang schneller gelernt, dann gilt das als Hinweis auf Erin­ nerung. Die Namen der meisten Ihrer Klassenkameraden aus der Abschlussklasse werden Sie nicht frei reproduzieren können, doch Sie könnten die Fotos im Jahrbuch wiedererkennen und die Namen aus einer Liste den Bildern zuordnen. Bahrick et al. (1975) berichteten, dass Leute, die 25 Jahre zuvor das College abgeschlossen hatten, sich nur an wenige ihrer damaligen Kameraden erinnern (d. h. sie ohne Hinweise nennen) konnten; doch konnten sie 90% der Fotos und der Namen wiedererkennen. Wenn es sich bei Ihnen so verhält wie bei den meisten Studierenden, dann könnte es sein, dass Sie von den 7 Zwergen mehr Namen wiedererkennen, als dass Sie sich durch freie Reproduktion an sie erinnern könnten (Miserandino 1991). Das Tempo, in dem etwas wieder gelernt wird, ist ein Hinweis auf Gedächtnis und Erinnerung. Unsere Geschwindigkeit beim erneuten Lernen kann auch etwas über das Gedächtnis aussagen. Wenn Sie einmal etwas gelernt und es dann vergessen haben, werden Sie es wahrscheinlich in kürzerer Zeit wieder lernen, als Sie ursprünglich zum Lernen benötigt haben. Beim Lernen auf eine Abschlussprüfung oder bei der Wiederbelebung einer Sprache, die Sie in Ihrer Kindheit gesprochen haben, geht das erneute Erlernen müheloser vonstatten. Tests, die das Wiedererkennen oder die für erneutes Lernen benötigte Zeit erfassen, zeigen, dass wir mehr »gespeichert« haben, als wir direkt abrufen können. Beim Wiedererkennen ist unser Gedächtnis erstaunlich flink und umfassend. »Trägt Ihr Freund alte oder neue Sachen?« »Alte.« »Stammt dieser 5-Sekunden-Clip aus einem Film, den Sie gesehen haben?« »Ja.« »Haben Sie diesen Menschen – diese einzigartige Anordnung der Gesichtszüge – schon einmal gesehen?« »Nein.« Ehe der Mund die Antwort auf diese und Tausende ähnlicher Fragen formulieren kann, weiß das Gehirn bereits Bescheid und weiß, dass es etwas weiß. Unter der Lupe Abrufen von Passwörtern aus dem Gedächtnis Es gibt etwas, womit Sie häufig zu tun haben und womit Ihre Großeltern nichts zu tun hatten: Passwörter. Um sich in Ihre E-Mail einzuloggen, um Ihre Mailbox abzuhören, um Bargeld aus einem Geldautomaten zu zie­ hen, um Zugang zu Ihrem Online-Konto zu bekommen, um den Kopierer zu benutzen oder um die kleine Tastatur am Hauseingang davon zu über­ zeugen, dass sich die Haustür öffnen soll, müssen Sie sich an Ihr Passwort erinnern. Ein typischer Erstsemester in Psychologie ist mit 8 Anforde­ rungen für Passwörter konfrontiert, berichten Brown et al. (2004). Wenn man so viele Passwörter braucht, wie soll man damit umge­ hen? Der Gedächtnisforscher Roediger verfolgt einen einfachen Ansatz, um alle wichtigen Telefonnummern, PIN-Nummern und Code-Num­ mern seines Lebens zu speichern: »Ich habe einen Zettel in meiner Hemdtasche mit allen Nummern, die ich benötige«, sagt Roediger (2001). Er fügt hinzu, dass er sich nicht alle merken kann, warum soll er sich da groß abmühen? Mit anderen Strategien könnte man denjenigen helfen, die ihre PIN-Nummern nicht im Wäschekorb verlieren wollen. Erstens: Nutzen Sie Passwörter mehrfach. Der Durchschnittsstudent ver­ wendet 4 unterschiedliche Passwörter für diese 8 Bedürfnisse. Zweitens: Nutzen Sie Abrufhilfen. Umfragen in Großbritannien und in den USA haben gezeigt, dass etwa die Hälfte unserer Passwörter mit Hilfe eines vertrauten Namens oder eines bekannten Datums gebildet werden. Bei anderen handelt es sich um geläufige Telefon- oder Identifikations­ nummern. Beim Online-Banking oder anderen Situationen, in denen Sicherheit ein wesentlicher Faktor ist, sollten Sie eine Mischung aus Buchstaben und Ziffern verwenden, raten Brown et al. Wenn Sie ein solches Passwort zu­ sammenstellen, wiederholen Sie es, dann wiederholen Sie es einen Tag später und immer wieder mit zunehmenden Zeitintervallen dazwischen. Auf diese Weise werden sich langfristige Erinnerungen herausbilden, und sie werden am Geldautomaten und am Kopierer abrufbar sein. 9.4 · Abrufen: Informationen auffinden 405 9 Abrufhilfen (»retrieval cues«) Ziel 15: Erklären Sie, wie Abrufhilfen dazu beitragen, dass wir Zugang zu gespeicherten Erinnerungen bekommen, und beschreiben Sie den Vorgang des Priming. Stellen Sie sich eine Spinne vor, die in der Mitte ihres Netzes sitzt; es wird gehalten von den vielen Fäden, die nach außen in alle Richtungen zu unterschiedlichen Punkten gespannt sind (vielleicht zu einer Fensterbank, dem Zweig eines Baums, einem Blatt an einem Busch). Wenn Sie einen Pfad zur Spinne verfolgen müssten, wäre es zunächst notwendig, dass Sie einen Pfad von einem dieser Ankerpunkte erzeugen und dann dem Faden folgen, der von diesem Punkt nach unten in das Netz führt. Der Vorgang, bei dem wir eine Erinnerung aus dem Gedächtnis abrufen, folgt einem ähnlichen Prinzip. Denn Erinnerungen werden durch ein Spinnennetz von Assoziationen im Speicher gehalten, jedes Stückchen Information ist über Zwischenverbindungen mit vielen anderen verbunden. Wenn Sie ein Stückchen Zielinformation im Gedächtnis enkodieren, wie etwa den Namen der Person, die im Seminarraum neben Ihnen sitzt, assoziieren Sie damit andere Stückchen Informationen über die Umgebung, die Stimmung, die Sitzposition usw. Diese anderen Stückchen Information sind wie Etiketten, Hinweise, Kennzeichen zur Identifizierung einer Zielinformation. Sie wirken wie Abrufhilfen, Ankerpunkte, die man, wenn man sie später abrufen will, nutzen kann, um Zugang zur Zielinformation zu bekommen. Je mehr Abrufhilfen man hat, desto besser sind die Chancen, dass man eine Route zu der Erinnerung findet, die da im Netz aufgehängt ist (7 Unter der Lupe: Abrufen von Passwörtern aus dem Gedächtnis). Erinnern Sie sich an das Wesentliche im zweiten Satz, den ich Sie bat, sich zu merken (7 Abschn. 9.2.2)? Falls nicht: Hilft Ihnen das Wort »Hai« weiter? Experimente haben gezeigt, dass durch das Wort »Hai« leichter das von Ihnen gespeicherte Bild abgerufen wird als durch das Wort »Fisch«, das tatsächlich im Satz vorkam (Anderson et al. 1976). Mnemotechniken können uns solche Erinnerungshilfen liefern: »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag …« oder EDEKA etc. Doch die besten Abrufhilfen sind die Assoziationen, die wir zu dem Zeitpunkt bilden, wenn wir eine Erinnerung enkodieren. Bei solchen Assoziationen kann es sich um Wörter oder um eine Erfahrung handeln. Ein Geschmack, ein Geruch oder ein Anblick sind häufig der Auslöser dafür, dass wir eine damit assoziierte Episode abrufen können. Um einen visuellen Abrufreiz beim Versuch der Reproduktion einer Erinnerung einzusetzen, können wir uns innerlich in den ursprünglichen Kontext versetzen. Für den britischen Theologen Hull (1990) wurde das schwierig, als er sein Augenlicht verlor. Einmal fragte ihn seine Frau, was er den Tag über getan habe, und es fiel ihm schwer, sich den Tag ins Gedächtnis zurückzurufen. »Ich weiß, ich war irgendwo und habe irgendwas mit irgendwelchen Leuten gemacht, aber wo war das? Ich konnte die Gespräche, die ich geführt hatte, nicht in einen Kontext stellen. Es gab keinen Hintergrund, keine besonderen Merkmale, nichts, wodurch ich den Ort hätte identifizieren können.« Normalerweise wird die Erinnerung an die Menschen, mit denen man im Lauf des Tages gesprochen hat, in Rahmenvorstellungen gespeichert, zu denen auch der Hintergrund gehört. Um eine bestimmte Information aus dem Netz von Assoziationen abzurufen, muss man zunächst einen der Fäden aktivieren, die dorthin führen, ein Vorgang, den man als Priming bezeichnet. Der Philosoph und Psychologe William James nannte Priming das »Wecken von Assoziationen«. Oft werden unsere Assoziationen aktiviert oder einem Prime ausgesetzt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wie . Abb. 9.15 zeigt, werden Assoziationen mit einem Hasen aktiviert, wenn wir das Wort Kaninchen sehen oder hören, auch wenn wir uns gar nicht daran erinnern können, Kaninchen gesehen oder gehört zu haben. Priming ist oft »eine erinnerungslose Erinnerung« – eine Erinnerung, ohne sich explizit zu erinnern, eine unsichtbare Erinnerung. Wenn Sie einen Gang entlang gehen und sehen ein Poster mit einem Kind, das vermisst wird, werden Sie unbewusst dem Prime ausgesetzt, eine mehrdeutige Interaktion zwischen einem Erwachsenen und einem Kind als mögliche Entführung zu interpretieren (James 1986). Obwohl Sie sich nicht bewusst an das Poster erinnern, prädisponiert es Ihre Interpretation. (Wie wir in 7 Kap. 5 gesehen haben, können subliminale Reize kurzzeitig die Reaktionen auf spätere Reize primen.) ? Multiple-Choice-Tests prüfen unsere a Fähigkeit zur Reproduktion b Fähigkeit zum Wiedererkennen c Fähigkeit zum erneuten Erlernen Lückentexte testen unser ____. (→ beide Antworten unter 9.2 am Ende des Kapitels) »Das Gedächtnis ist nicht so etwas wie ein Behäl­ ter, der sich allmählich auffüllt; es ist eher so et­ was wie ein Baum, an dem Haken wachsen, an denen wiederum die Erinnerungen aufgehängt werden.« Peter Russell, »The Brain Book« (1979) Stellen Sie einem Freund ein paar Kreuzfeuerfragen: a) Wie nennt man die Verbindung zwischen Stecker und Radio? b) Wer in der Bibel wurde von seinem Bruder Kain erschlagen? c) Womit isst man Suppe? Wenn Ihr Freund dann auf die 3. Frage antwortet: Gabel!, dann haben Sie den Priming-Effekt demonstriert. ◼ Priming (priming): häufig unbewusst erfol­ gende Aktivierung spezieller Assoziationen im Gedächtnis aufgrund von Vorerfahrungen mit den betreffenden Informationen. . Abb. 9.15. Priming: Assoziationen wecken Wenn Sie das Wort »rabbit« (Kaninchen) hören oder lesen, werden Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit ein gesprochenes Wort als »hare« (Hase) und nicht als »hair« (Haar) buchstabieren. Die unbewusste Aus­ breitung der Assoziationen aktiviert andere, damit zusammenhängende Assoziationen. Dieses Phäno­ men wird Priming genannt (Nach Bower 1986) 406 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.16. Gedächtnis und Kontexteffekte Wörter, die unter Wasser vorgelesen wurden, wur­ den auch unter Wasser am besten reproduziert; Wörter, die am Strand vorgelesen wurden, wurden am Strand am besten reproduziert. (Nach Godden u. Baddeley 1975) Kontexteffekte Ziel 16: Geben Sie an, wie der Kontext den Abruf beeinflussen kann. M. Barton 9 . Abb. 9.17. Vertrauter Kontext aktiviert das Gedächtnis Kleinkinder, die gelernt haben, ein Mobile mit einem Tritt in Bewegung zu setzen, aktivieren die Erinnerung daran am schnellsten, wenn ein noch­ maliger Test im gleichen Kontext erfolgt. In einem anderen Kontext dauert die Aktivierung länger. (Aus Butler u. Rovee-Collier 1989) Wenn Sie sich in den Kontext zurückzuversetzen, in dem Sie etwas erlebt haben, kann dies den Abruf aus dem Gedächtnis als Prime beeinflussen. Godden u. Baddely (1975) entdeckten diesen Effekt der sog. Enkodierspezifität, als sie Tauchern an 2 verschiedenen Orten jeweils eine Liste mit Wörtern vorlasen: entweder in 8 m Tiefe oder am Strand. Wie . Abb. 9.16 zeigt, erinnerten sich die Taucher an mehr Wörter, wenn ihnen an einem Ort etwas vorgelesen und sie dort auch getestet wurden. Stellen Sie sich einmal das folgende Szenario vor: Während Sie sich zu diesem Buch Notizen machen, bemerken Sie, dass Sie Ihren Bleistift spitzen müssen. Sie stehen auf und laufen ins un­tere Stockwerk. Aber als Sie unten ankommen, können Sie sich nicht mehr erinnern, warum Sie dorthin gegangen sind. Nachdem Sie versucht hatten, sich daran zu erinnern, was sie überhaupt wollten, geben Sie auf und kehren zu Ihrem Schreibtisch zurück. Sobald Sie sich hingesetzt haben, um weiterzuarbeiten, fällt es Ihnen ein: »Ich wollte doch den Bleistift spitzen!« Was war geschehen, dass es zu dieser frustrierenden Situation kam? In einem Kontext (am Schreibtisch, bei der ­Lektüre eines Psychologiebuchs) kommt es dazu, dass Sie den Bleistift spitzen wollen. Wenn Sie aufstehen und eine Treppe tiefer gehen, bewegen Sie sich in einen anderen Kontext, in dem Ihnen nur wenige Hinweisreize zur Verfügung stehen, um Sie auf den Gedanken zu bringen, der Sie dorthin geführt hat. Wenn Sie aufgeben und zu Ihrem Schreibtisch zurückgehen, sind Sie wieder in dem Kontext, in dem Sie den Gedanken enkodiert haben (»Mit diesem Bleistift kann man nicht mehr schreiben«). Wahrscheinlich haben Sie selbst auch schon ähnliche Kontexteffekte erlebt. Sie kehren an einen Ort zurück, an dem Sie früher einmal gewohnt haben, oder Sie sehen die Schule, in die Sie einmal gegangen sind, und schon werden Sie von Erinnerungen und Hinweisreizen förmlich überflutet. Es kann auch hilfreich sein, wenn eine Prüfung in dem Raum abgehalten wird, in dem Sie unterrichtet wurden. Rovee-Collier (1993) machte mehrere Versuche und fand dabei heraus, dass ein vertrauter Kontext sogar bei 3 Monate alten Kindern Erinnerung aktivieren kann. Die Kinder hatten gelernt, dass sie ein Mobile mit einem Fußtritt in Bewegung versetzen konnten (mit Hilfe einer Verbindungsschnur zwischen dem Mobile und ihrem Knöchel). Die Kinder traten häufiger zu, wenn sie im selben Kinderbett lagen und dasselbe Mobile vor sich hatten. In einem fremden Kontext und mit einem unbekannten Mobile kickten sie weniger oft (. Abb. 9.17). 9.4 · Abrufen: Informationen auffinden Manchmal befindet man sich in einer Umgebung, die einem so vertraut vorkommt, als sei man dort schon gewesen. Das kann eine Déjà-vu-Erfahrung (franz. » déjà vu « = schon einmal gesehen) auslösen, die eigenartige Vorstellung, man sei schon einmal genau in dieser Situation gewesen. Diese flüchtige Erfahrung machen am ehesten gebildete, fantasievolle junge Erwachsene, besonders wenn sie müde oder gestresst sind (Brown 2003, 2004). Zwei Drittel der Befragten, die in der Studie von McAneny (1996) angaben, eine Déjà-vu-Erfahrung gemacht zu haben, fragen sich oft: »Wie kann ich eine Situation wiedererkennen, die ich zum ersten Mal erlebe?« Die, die eine paranormale Erklärung akzeptieren, denken an Reinkarnation (»Das ist sicher eine Erfahrung aus einem früheren Leben«), oder sie glauben an Präkognition (»Ich habe diese Szene vor meinem inneren Auge gesehen, ehe ich sie tatsächlich erlebte«). Man kann die Frage auch anders stellen (»Warum habe ich den Eindruck, diese Situation wiederzuerkennen?«), und dann können wir herausfinden, wie unser Gedächtnissystem möglicherweise solche Déjà-vu-Erfahrungen produziert (Alcock 1981). Wenn wir schon einmal in einer vergleichbaren Situation waren, dann mag die aktuelle Situation mit Hinweisreizen, die unbewusst die frühere Erfahrung aktivieren, förmlich gespickt sein. (Wir nehmen riesige Mengen an Informationen auf und behalten sie, wobei wir gleichzeitig kaum bemerken und oft vergessen, woher sie gekommen sind.) Wenn Sie also in einem ähnlichen Kontext einen Fremden bemerken, der so aussieht und läuft wie einer Ihrer Freunde, dann kann diese Ähnlichkeit den unheimlichen Eindruck des Wiedererkennens hervorrufen. Nachdem Sie einen Schatten dieser früheren Erinnerung geweckt haben, könnten Sie vielleicht denken: »Ich habe diesen Menschen schon einmal in ebendieser Situation gesehen.« Oder vielleicht kommt Ihnen die Situation vertraut vor, wenn sie mehreren anderen Ereignissen leicht ähnelt, merkt Lampinen (2002) an. Stellen Sie sich vor, Sie begegnen kurz meinem Vater, meinen Brüdern, meiner Schwester und meinen Kindern; und ein paar Wochen danach treffen Sie mich. Sie könnten vielleicht der Meinung sein: »Ich war schon einmal mit diesem Typen zusammen.« Obwohl keiner in meiner Familie so aussieht oder sich so verhält wie ich (das ist auch gut für sie), ist ihr Aussehen und sind ihre Gesten ein wenig so wie bei mir. Und »in einem globalen Sinne« könnte ich dem entsprechen, was Sie zuvor erlebt haben. 407 ◼ Déjà-vu-Erfahrung (déjà vu): der unheimliche Eindruck, etwas schon mal genau so erlebt zu haben. Hinweisreize aus der aktuellen Situation mögen unbewusst die Erinnerung an eine frü­ here Situation auslösen. »Haben Sie je dieses seltsame Gefühl des vujà dé gehabt? Nicht déjà vu; vujà dé. Es handelt sich um das eindeutige Gefühl, dass in bestimmter Weise etwas, was gerade geschehen ist, nie zuvor ge­ schehen ist. Nichts kommt einem vertraut vor. Und dann verschwindet dieses Gefühl plötzlich. Vujà dé.« George Carlin, »Funny Times« (2001) Stimmung und Gedächtnis Ziel 17: Beschreiben Sie die Auswirkungen innerer Zustände auf den Abruf aus dem Gedächtnis. Assoziationen mit Wörtern, Ereignissen oder Situationen sind nicht die einzigen Abrufhilfen. Etwas, was in der Vergangenheit geschehen ist, ging vielleicht mit einer bestimmten Emotion einher, die zum Zeitpunkt der Reproduktion als Vorbereitung bzw. Prägung, als Priming auf die damit assoziierten Ereignisse dienen kann. Der Kognitionspsychologe Bower (1983) erklärt das folgendermaßen: »Eine Emotion ist wie der Raum einer Bibliothek, in dem wir Erinnerungen ablegen. Am leichtesten finden wir die abgelegten Erinnerungen, wenn wir in den Raum mit der entsprechenden Emotion zurückkehren.« Was wir in einem bestimmten Zustand innerer Befindlichkeit – fröhlich oder traurig, betrunken oder nüchtern – lernen, wird manchmal leichter erinnert, wenn wir wieder in diesem Zustand sind. Dieses subtile Phänomen wird zustandsabhängiges Gedächtnis genannt. Allerdings wird das, was eine Person im Zustand der Depression oder der Trunkenheit lernt, in keinem Zustand gut reproduziert werden (Depression wirkt sich störend auf die Enkodierung aus, und Trunkenheit auf die Speicherung). Es wird jedoch ein kleines bisschen besser erinnert, wenn man bei der Reproduktion wieder im Zustand der Depression oder der Trunkenheit ist. Jemand, der betrunken Geld versteckt, findet es vielleicht erst wieder, wenn er wieder betrunken ist. In ähnlicher Weise verfälschen Stimmungen unsere Erinnerungen. Offenbar assoziieren wir positive und negative Ereignisse mit der Stimmung, die mit ihnen einhergeht und die dann zur Abrufhilfe wird (Fiedler et al. 2001). Demnach sind unsere Erinnerungen in gewisser Weise stim­ mungskongruent. Wenn man niedergeschlagen ist, wirken die Erinnerungen als Prime auf negative Assoziationen, die wir dann wiederum als Erklärung für unsere momentane – niedergeschlagene – Stimmung heranziehen. Bringt man Menschen in eine überschwängliche Stimmung, sei es durch Hypnose oder durch die Ereignisse des Tages (in einer Studie mit deutschen Teilnehmern war das der Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft), dann erinnern sie die Welt in rosaroten Farben (DeSteno et al. 2000; Forgas et al. 1984; Schwarz et al. 1987). Sie halten sich für kompetent ◼ Stimmungskongruente Erinnerung (moodcongruent memory): Tendenz, sich an Erfah­ rungen zu erinnern, die mit der aktuellen guten oder schlechten Stimmung übereinstimmen. »Wenn ein Gefühl da war, glaubten sie, es würde nie vergehen; war es dann vergangen, meinten sie, es sei nie da gewesen, und wenn es zurück­ kehrte, glaubten sie, es sei ihnen nie abhanden gekommen.« George MacDonald (»What’s Mine’s Mine«, 1886) 9 Kapitel 9 · Gedächtnis S. Kröning 408 Stimmung und Gedächtnis Wenn wir in Hochstimmung sind, erinnern wir uns an andere glückliche Zeiten und erwarten noch weitere Zeiten des Glücks. Stimmungen sind ein Abrufreiz, denn sie aktivieren andere Erinnerungen, die mit demselben Gefühl assoziiert sind. Mit Hilfe dieser Erinnerungen lässt sich die aktuelle Stim­ mung aufrechterhalten 9 und tüchtig, stehen anderen Menschen wohlwollend gegenüber und erwarten mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass schöne Ereignisse eintreten. Angesichts dieses Zusammenhangs sollte es uns nicht verwundern, dass in manchen Studien akut depressive Menschen ihre Eltern als Personen in Erinnerung haben, die ablehnend und strafend sind und Schuldgefühle provozieren, während Menschen, die ihre Depression überwunden haben, ihre Eltern mehr oder weniger so beschreiben wie Menschen, die nie unter einer Depression gelitten haben (Lewinsohn u. Rosenbaum 1987; Lewis 1992). Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht erstaunlich, wenn Bornstein et al. (1991) berichten, dass in der Art und Weise, wie Jugendliche die von ihren Eltern gezeigte Zuneigung bewerten, kaum Hinweise darauf zu finden sind, wie ihre Bewertungen 6 Wochen später ausfallen werden. Wenn Teenager niedergeschlagen sind, kommen ihnen die Eltern unmenschlich vor. Sobald sie wieder etwas aufleben, findet die große Metamorphose statt: Die Eltern verwandeln sich von Teufeln in Engel. Vielleicht veranlasst Sie das zu einem wissenden Nicken. Und doch, ob gut oder schlecht gelaunt, wir nehmen in jeder Stimmung an, dass unsere sich tatsächlich verändernden Urteile und Erinnerungen exakt den Tatsachen entsprechen. Unsere jeweilige Stimmung hat auch Einfluss darauf, wie wir das Verhalten anderer Menschen interpretieren. Wenn man aufmerksam auf seine Gefühle achtet, kann das dazu beitragen, dass man die Verfälschung durch die Stimmung rückgängig machen kann (McFarland et al. 2003). Doch es ist auf jeden Fall schwer, sich dagegen zu wehren. Sind wir schlecht gelaunt, bewerten wir einen Blick, den man uns zuwirft, als wütendes Anstarren. Wenn wir jedoch gut gelaunt sind, interpretieren wir den gleichen Blick als Interesse. Wie wir die Welt wahrnehmen, hängt von unserer jeweiligen Stimmung ab. Leidenschaftliche Begeisterung macht z. B. jede Empfindung noch intensiver. Die Art, wie sich die Stimmung auf den Abruf von Erinnerungen auswirkt, erklärt auch, warum unsere jeweilige Stimmung andauert. Wenn Sie glücklich sind, erinnern Sie sich an glückliche Augenblicke und nehmen deshalb die Welt als einen glücklichen Ort wahr, was wiederum die gute Stimmung intensiviert. Sind Sie niedergeschlagen, dann erinnern Sie sich an traurige Vorfälle, was wiederum Ihre Interpretation aktueller Ereignisse überschattet. In 7 Kap. 17 werden wir sehen, wie dieser Prozess den Teufelskreis der Depression aufrechterhält. Lernziele Abschnitt 9.4 Abrufen: Informationen auffinden Ziel 14: Stellen Sie den Abruf, das Wiedererkennen und Maßnahmen zum erneuten Lernen von Erinnerungen einander gegenüber. Abruf ist die Fähigkeit, Informationen aus dem Gedächtnis abzufragen, ohne sich dessen vollständig bewusst zu sein; es handelt sich um eine Abfrage wie bei einem Lückentext. Wiedererkennen ist die Fähigkeit, Items zu identifizieren, die man zuvor gelernt hat; wie ein Wiedererkennen bei einem Test mit Multiple-Choice-Fragen. Erneutes Lernen ist die Fähigkeit, die früher abgespeicherten Informationen schneller zu beherrschen, als man sie ursprünglich gelernt hat. Ziel 15: Erklären Sie, wie Abrufhilfen dazu beitragen, dass wir Zugang zu gespeicherten Erinnerungen bekommen, und beschreiben Sie den Vorgang des Priming. Abrufhilfen sind kleine Stücke zusammenhängender Informationen, die wir enkodieren, während wir einen Teil einer Zielinformation verarbeiten. In gewisser Weise sind diese Stückchen mit dem Kontext des Ziels ver­ bunden; und sie werden zum Teil eines Netzes abgespeicherter Assozia­ tionen. Wenn eines dieser miteinander assoziierten Stückchen unsere Aufmerksamkeit weckt, ist es so, als zögen wir an einem Faden im Spin­ nennetz der Assoziationen und riefen die Zielinformation in unser Be­ wusstsein. Dieser Vorgang, bei dem (oft unbewusst) Assoziationen akti­ viert werden, heißt Priming. Ziel 16: Geben Sie an, wie der Kontext den Abruf beeinflussen kann. Der Kontext, in dem wir ursprünglich ein Ereignis erlebt oder einen Ge­ danken enkodiert haben, kann unsere Erinnerungen mit Abrufhilfen überfluten, die uns zur Zielerinnerung führen. Wenn wir uns in einem anderen Kontext befinden, der dem ursprünglichen sehr ähnlich ist, kön­ nen wir in dem Maße ein Déjà vu erleben, in dem viele dieser Hinweisreize zurückkommen und uns dazu verleiten, unbewusst die Zielerinnerung abzurufen. Ziel 17: Beschreiben Sie die Auswirkungen innerer Zustände auf den Abruf aus dem Gedächtnis. Bestimmte Zustände oder Emotionen können sich bei uns insofern als Prime auswirken, als wir Ereignisse abrufen, die mit diesen Zuständen oder Emotionen assoziiert werden. Sind wir in guter Stimmung, rufen wir gewöhnlich Erinnerungen ab, die konsistent – oder kongruent – mit dem glücklichen Zustand sind. Sind wir deprimiert, rufen wir eher negative Erinnerungen ab. Stimmungen wirken bei uns auch insofern als Prime, als wir das Verhalten anderer in einer mit unseren Emotionen konsistenten Weise interpretieren. >Denken Sie weiter: In welcher Stimmung waren Sie in letzter Zeit? Auf welche Weise hat Ihre Stimmung Ihre Erinnerungen, Wahrneh­ mungen und Erwartungen gefärbt? 9.5 · Vergessen 9.5 409 Vergessen Ziel 18: Erklären Sie, warum wir unsere Fähigkeit zu vergessen positiv bewerten sollten, und unterscheiden Sie 3 allgemeine Arten, wie unser Gedächtnis scheitern kann. Bei all dem Beifall für das Gedächtnis, all den Versuchen, es zu verstehen, all den Büchern mit Methoden zur Gedächtnisverbesserung: Wer hätte je das Vergessen gepriesen? James (1890) hat es einmal getan: »Wenn wir uns an alles erinnerten, wären wir meistens genauso übel dran, wie wenn wir uns an gar nichts erinnerten.« Den Haufen unnötiger oder überholter Informationen – wo wir gestern geparkt haben, die alte Telefonnummer eines Freundes, ein im Restaurant bestelltes Essen, das schon lange serviert und verzehrt wurde – entsorgen zu können, ist zweifellos ein wahrer Segen. Der russische Gedächtniskünstler S., dem wir am Anfang dieses Kapitels begegnet sind, fühlte sich regelrecht verfolgt von dem Haufen sinnloser Erinnerungen in seinem Gedächtnis. Sie beherrschten sein Bewusstsein. Er konnte nur mit Schwierigkeiten abstrakt denken, also Inhalte generalisieren, ordnen und evaluieren. Ein gutes Gedächtnis ist ein wertvoller Helfer, doch das gilt auch für die Fähigkeit zu vergessen. Wenn eine Pille auf den Markt kommen sollte, mit der wir unser Gedächtnis verbessern können, sollte sie am besten nicht allzu wirksam sein. Häufiger ist allerdings der Fall, dass uns das Gedächtnis erschreckt und frustriert. Erinnerungen sind launisch. Mein eigenes Gedächtnis liefert mir problemlos Erinnerungen an so schöne Episoden wie jenen wunderbaren ersten Kuss mit der Frau, die ich liebe, oder so banale Fakten wie die Entfernung von London nach Detroit mit dem Flugzeug. Aber es lässt mich glatt im Stich, wenn ich versuche, den Namen des neuen Kollegen zu reproduzieren oder mich zu erinnern, wo ich meine Sonnenbrille hingelegt habe, und entdecke, dass ich es nicht geschafft habe, die Informa­tionen zu enkodieren, zu speichern oder abzurufen. Der Gedächtnisforscher Schacter (1999) zählt 7 Gründe auf, warum uns unser Gedächtnis manchmal im Stich lässt; er nennt sie die 7 Sünden des Gedächtnisses: »Glück ist nichts weiter als Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis.« Der Arzt Albert Schweitzer (1875–1965) Yo-Yo Ma vergaß sein 266 Jahre altes Cello mit einem Wert von 2,5 Mio. Dollar in einem New Yorker Taxi. (Später bekam er es wieder.) Die 3 Sünden des Vergessens 1. Geistesabwesenheit: Mangelnde Aufmerksamkeit für Einzelheiten führt zu fehlerhafter Enkodierung. (Wenn wir den Autoschlüssel aus der Hand legen, ist unser Denken gerade mit etwas anderem beschäftigt.) 2. Vergänglichkeit: Im Laufe der Zeit zerfällt der Speicher. (Wenn sich die Wege der früheren Klassenkameraden getrennt haben, verblassen oder verflüchtigen sich nicht benutzte Infor­ mationen.) 3. Abblocken: Die gespeicherte Information ist nicht zugänglich. (Das erinnerte Wort liegt uns auf der Zunge, aber da gibt es einen Abruffehler: Wir bringen es nicht heraus.) Die 3 Sünden der Verzerrung 4. Fehlattribution: Informationsquellen werden verwechselt. (Jemandem werden die Worte eines anderen in den Mund gelegt oder eine Filmszene als etwas tatsächlich Geschehenes erinnert.) 5. Beeinflussbarkeit: Fehlinformationen bleiben im Gedächtnis. (Die Suggestivfrage – »Hat der Angeklagte 50 Euro aus der Kasse genommen?« – wird möglicherweise später zur falschen Erinnerung eines Zeugen.) 6. Systematischer Fehler: Erinnerungen sind durch aktuelle Überzeugungen und Annahmen gefärbt. (Die derzeitigen Gefühle einer Freundin gegenüber ihrem Partner können mög­ licherweise die Erinnerung an ihre ursprünglichen Gefühle beeinflussen.) Die Sünde des Sich-Aufdrängens 7. Persistenz: Unangenehme Erinnerungen lassen sich nicht ausschalten. (Es ist möglich, dass Betroffene von den Erinnerungsbildern an einen sexuellen Übergriff regelrecht ver­ folgt werden.) Schauen wir uns zunächst die Sünden des Vergessens an und wenden uns dann den Sünden der Verzerrung und des Sich-Aufdrängens zu. »Amnesie sickert in die Ritzen unseres Gehirns, und Amnesie heilt.« Joyce Carol Oates, »Words Fail, Memory Blurs, Life Wins« (2001) 9 410 Kapitel 9 · Gedächtnis 9.5.1 Scheitern der Enkodierung Ziel 19: Erörtern Sie, welche Rolle das Scheitern der Enkodierung beim Vergessen spielt. Wir können uns nicht daran erinnern, was wir nicht enkodieren konnten, weil die Informationen nie ins Langzeitgedächtnis gelangen (. Abb. 9.18). Und wie das Beispiel der »Veränderungsblindheit« anschaulich zeigt, bemerken wir vieles von dem nicht, was auf unsere Sinne trifft (7 Abschn. 6.1.1). Die Effizienz der Enkodierung kann auch vom Alter beeinflusst werden. Die Hirnareale, die sofort anspringen, wenn junge Erwachsene eine neue Information enkodieren, arbeiten bei älteren Erwachsenen deutlich langsamer. Dieses langsamere Enkodieren erklärt das mit zunehmendem Alter nachlassende Gedächtnis (Grady et al. 1995). (In 7 Kap. 4 haben wir gesehen, dass ältere Menschen tendenziell weniger reproduzieren können als jüngere, dass sie jedoch bei einem Wiedererkennungstest genau so gut abschneiden wie junge Erwachsene.) Doch ganz unabhängig vom Alter richten wir unsere Aufmerksamkeit selektiv auf die überwältigende Fülle dessen, was es in unserer Umwelt ununterbrochen zu sehen und zu hören gibt. Denken Sie nur an irgendetwas, was Sie schon unendlich oft nachgeschaut haben: Welche Buchstaben auf den Tasten Ihres Handys gehören zu der Zahl 5? Für die meisten Menschen ist eine solche Frage überraschend schwierig. Noch ein Beispiel für fehlerhafte Enkodierung: Wenn Sie in Europa leben, haben Sie im Laufe der letzten Jahre wohl schon Hunderte von europäischen Centmünzen in der Hand gehabt, und Sie können sich sicher an ihre Größe und Farbe erinnern. Aber können Sie sich erinnern, wie die Seite aussieht, auf der die Zahl abgebildet ist? Wenn nicht, dann machen wir den Test leichter: Können Sie in . Abb. 9.19 die richtige Münze herausfinden? In demselben Test mit amerikanischen Pennystücken stellten Nickerson u. Adams (1979) fest, dass die wenigsten Menschen dazu in der Lage sind. Von den 8 entscheidenden Merkmalen (Lincolns Kopf, Datum, »In God we trust« etc.) kann sich der Durchschnittsbürger spontan nur an 3 erinnern. Auch bei den Briten können nur wenige die 1-Pence-Münze aus dem Gedächtnis zeichnen (Richardson 1993). Die Details einzelner Münzen haben nicht viel Bedeutung, und man braucht sie auch nicht, um sie von anderen Münzen zu unterscheiden – und nur wenige von uns machen sich die Mühe, diese Details zu enkodieren. 9 . Abb. 9.19. Testen Sie Ihr Erinnerungsver­ mögen ? Welche dieser europäischen Centmünzen ist die richtige? (7 Antwort 9.3 am Ende des Kapitels) K. Niebank . Abb. 9.18. Vergessen als Scheitern der Enkodierung Was nicht enkodiert wurde, kann nicht erinnert werden 9.5 · Vergessen 411 ! Manche Informationen – wo wir gestern zu Abend gegessen haben – enkodieren wir zwar automatisch, doch andere Arten von Informationen – wie die Begriffe in diesem Kapitel – er­ fordern eine bewusste Verarbeitung. Ohne diese bewusste Anstrengung werden viele Erinne­ rungen gar nicht erst gebildet. 9.5.2 Speicherzerfall Ziel 20: Erörtern Sie den Begriff des Speicherzerfalls, und beschreiben Sie die Vergessenskurve von E­ bbinghaus. Selbst wenn eine Information gut enkodiert wurde, wird sie manchmal später vergessen. Ebbinghaus (1885) wollte die Beständigkeit der gespeicherten Erinnerungen untersuchen und lernte deshalb noch weitere Listen mit sinnlosen Silben auswendig. Beginnend mit 20 Minuten bis hin zu 30 Tagen nach dem Erlernen erfasste er, wie viel er behalten hatte, wenn er jede Liste noch einmal lernte. Seine berühmte Vergessenskurve (. Abb. 9.20) weist darauf hin, dass wir tatsächlich vieles von dem, was wir lernen, schnell wieder vergessen. Durch spätere Versuche erhielt die Vergessenskurve den Rang eines psychologischen Gesetzes. Vergessen erfolgt zu Beginn schnell und pendelt sich dann auf einem bestimmten Niveau ein, das mit der Zeit immer weiter absinkt (Wixted u. Ebbesen 1991). Bahrick (1984) erweiterte die Befunde von Ebbinghaus. Er prüfte die Vergessenskurve für spanische Vokabeln, die in der Schule gelernt worden waren. Bei einem Vergleich zwischen den Schülern, die gerade einen High-School- oder Collegekurs für Spanisch abgeschlossen hatten, mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die die Schule bereits 3 Jahre zuvor verlassen hatten, hatten letztere vieles von dem vergessen, was sie einmal gelernt hatten (. Abb. 9.21). Doch nach ungefähr 3 Jahren pendelte sich ein bestimmtes Vergessensniveau ein: Was die Befragten zu diesem Zeitpunkt noch behalten hatten, daran konnten sie sich auch noch 25 oder mehr Jahre später erinnern, selbst wenn sie ihre Spanischkenntnisse nie angewendet hatten. Eine Erklärung für diese Vergessenskurven ist das graduelle Verblassen der physischen Erinnerungsspur. Wenn wir mehr über die physische Speicherung der Gedächtnisinhalte wissen, verstehen wir sicher besser, wie es kommt, dass ein Gedächtnisspeicher zerfallen kann. Doch Erinnerungen verblassen auch aufgrund der Anhäufung anderer Lerninhalte, die sich störend auf den Abruf auswirken. . Abb. 9.20. Vergessenskurve nach Ebbinghaus Ebbinghaus lernte Listen mit sinnlosen Silben aus­ wendig und untersuchte dann, wie viele er bis zu 30 Tage später davon noch behalten hatte. Er fand heraus, dass die Erinnerung an neuartige, bisher unbekannte Informationen schnell verblasst und dann verschwindet. (Nach Ebbinghaus 1885) 9 412 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.21. Vergessenskurve für in der Schule erlerntes Spanisch Studenten, die vor 3 Jahren an einem Spanischkurs teilgenommen haben, erinnern sich an viel weniger als die, die ihren Kurs gerade beendet haben. Die Studenten, deren Spanischkurs noch länger zurück­ liegt, haben nicht sehr viel mehr vergessen als die, die vor 3 Jahren Spanisch gelernt haben. (Nach Bahrick 1984) 9.5.3 Scheitern des Abrufs 9 Gehörlose, die Gebärdensprache gut beherrschen, erleben ein ähnliches Phänomen: Es liegt ihnen nicht auf der Zunge, sondern »auf den ­Fingerspitzen« (Thompson et al. 2005) Sie haben bereits gelernt, dass vergessene Ereignisse wie Bücher sind, die Sie nicht in der Bibliothek finden können, sei es, weil sie nie angeschafft (nicht enkodiert) wurden oder weil sie ausgemustert wurden (Zerfall der gespeicherten Erinnerungen). Es gibt allerdings auch eine dritte Möglichkeit: Selbst wenn das Buch vorhanden und ausleihbar ist, ist es möglicherweise nicht zugänglich. Vielleicht verfügen Sie nicht über die Informationen, die Sie brauchen, um es zu finden und abzurufen. Manchmal kommen Informationen in unser Gehirn, und wir wissen, dass sie da sind, wir können sie aber nicht herausholen ( . Abb. 9.22). Der Titel des Buches oder der Name des Verfassers liegt Ihnen vielleicht auf der Zunge und wartet nur darauf, abgerufen zu werden. Wenn man uns eine Abrufhilfe gibt (der Autorenname fängt mit M an), können wir leicht eine schwer fassbare Erinnerung abrufen. Abrufprobleme können die Ur­sache für die gelegentlichen Gedächtnisausfälle älterer Menschen sein. ! Oft genug bedeutet Vergessen weniger, dass Erinnerungen gelöscht wurden, sondern eher, dass sie nicht abgerufen werden können. Interferenz Ziel 21: Stellen Sie die proaktive und die retroaktive Interferenz einander gegenüber, und erklären Sie, auf welche Weise sie ein Scheitern des Abrufs verursachen können. Das Lernen mancher Items kann den Abruf anderer stören, insbesondere wenn es sich um ähnliche Items handelt. Wenn Ihnen jemand seine Telefonnummer sagt, sind Sie wahrscheinlich imstande, . Abb. 9.22. Scheitern des Abrufens Was für uns von Bedeutung ist oder was wir mit Wieder­ holungen gelernt haben, wird im Langzeitgedächtnis gespeichert. Doch manchmal gibt es keinen Zugang zu der gespeicherten Information, dann wird sie vergessen 9.5 · Vergessen sie später zu erinnern. Doch wenn Ihnen noch 2 weitere Menschen ihre Telefonnummern geben, wird jede weitere Nummer schwieriger zu reproduzieren sein. Wenn Sie ein neues Kombinationsschloss für Ihr Fahrrad kaufen oder eine neue Telefonnummer bekommen, kann Ihre Erinnerung an das Alte damit interferieren. Zu dieser proaktiven (vorwärts gerichteten) Interferenz kommt es, wenn etwas, was Sie früher gelernt haben, die Reproduktion von etwas unterbricht, was Sie später erleben. In dem Maße, wie Sie immer mehr Informationen sammeln, füllt sich Ihr mentaler Dachboden immer weiter auf. Er wird zwar nie ganz vollgestellt sein, doch es wird zweifellos etwas eng. Underwood (1957) fand, dass diejenigen, die verschiedene Wörterlisten an aufeinander folgenden Tagen lernten, sich am folgenden Tag schlechter an jede der neuen Listen erinnern konnten. Mit dem Konzept der proaktiven Interferenz lässt sich auch erklären, warum sich Ebbinghaus, nachdem er in seiner beruflichen Laufbahn unzählige Listen mit sinnlosen Silben auswendig gelernt hatte, am folgenden Tag nur noch an etwa ein Viertel der Silben erinnern konnte, die er am Vortag auswendig gelernt hatte – das ist weit weniger, als Sie als Anfänger erinnern könnten, wenn Sie nur eine einzige Liste auswendig gelernt hätten. Von retroaktiver (nach rückwärts gerichteter) Interferenz sprechen wir, wenn neue Informationen die Reproduktion von früher Gelerntem erschweren (. Abb. 9.23). Ein typisches Beispiel dafür sind die Probleme eines Lehrers, der sich die Namen seiner neuen Schüler einprägt und dann aufgrund von retroaktiver Interferenz Probleme bei der Reproduktion der Namen seiner früheren Schüler hat. Es ist so, als würde man einen zweiten Stein in einen Teich werfen; er bringt die kreisförmigen Wellen durcheinander, die der erste hervorgerufen hat. 413 9 ◼ Proaktive Interferenz oder proaktive Hem­ mung (proactive interference): Störeffekt von früher Gelerntem auf die Reproduktion neuer Informationen. ◼ Retroaktive Interferenz oder retroaktive Hem­ mung (retroactive interference): Störeffekt neu gelernter Informationen auf die Reproduktion alter Informationen. . Abb. 9.23. Proaktive und retroaktive Interferenz 414 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.24. Retroaktive Interferenz Versuchspersonen vergaßen mehr, wenn sie wach blieben und neues Material aufnahmen. (Aus Jenkins u. Dallenbach 1924) Man kann die retroaktive Interferenz dadurch vermindern, dass man die Zahl der interferierenden Ereignisse verringert, indem man beispielsweise einen kurzen Spaziergang macht oder eine kleine Schlafpause einlegt, sobald man neue Informationen aufgenommen hat. In einem heute klassischen Experiment entdeckten die Forscher Jenkins u. Dallenbach (1924), welchen Nutzen der Schlaf hat. Tag für Tag lernten 2 Teilnehmer an einem Experiment einige sinnlose Silben auswendig und versuchten, sie zu reproduzieren. Der eine Teilnehmer schlief eine Nacht lang (8 Stunden), während der andere wach blieb. . Abb. 9.24 zeigt, dass das Vergessen schneller einsetzte, wenn man wach blieb und mit anderen Aktivitäten beschäftigt war. Das führte die Forscher zu der Vermutung, dass es sich beim »Vergessen weniger um den Zerfall alter Eindrücke und Assoziationen handelt, sondern vielmehr um Interferenz, Hemmung oder Überlagerung des Alten durch Neues« (1924, S. 612). Spätere Experimente haben den Nutzen des Schlafs bestätigt und zeigten, dass die Stunde vor Beginn des Nachtschlafs (aber nicht die Minuten vor dem Einschlafen) ein guter Zeitpunkt sind, um dem Gedächtnis Informationen anzuvertrauen (Benson u. Feinberg 1977; Fowler et al. 1973; Nesca u. Koulack 1994). Interferenz ist eine wichtige Ursache für das Vergessen. Doch sollten wir die Interferenz auch nicht überbewerten. Manchmal können alte Informationen das Erlernen neuer Informationen sogar leichter machen. Wer Latein kann, lernt vielleicht leichter Französisch – ein Phänomen, das positiver Transfer genannt wird. 9 ! Zur Interferenz kommt es nur, wenn alte und neue Information miteinander im Wettstreit liegen. Absichtsvolles Vergessen C. Styrsky Ziel 22: Fassen Sie Freuds Begriff der Verdrängung zusammen, und machen Sie eine Aussage darüber, ob diese Auffassung durch die aktuelle Gedächtnisforschung bestätigt wird. „Schatz, ich unterstelle dir ja keine Absicht – aber dass du unseren Hochzeitstag wieder vergessen hast, nehme ich langsam persönlich!“ Der große Topf mit Plätzchen in unserer Küche war randvoll mit Schokoladenplätzchen, und eine weitere Ladung kühlte auf dem Küchentisch ab. 24 Stunden später war kein Krümel mehr davon zu finden. Wer hatte die Schokoladenplätzchen geklaut? Nur meine Frau, unsere 3 Kinder und ich waren im Haus gewesen. Deshalb führte ich, solange die Erinnerungen noch frisch waren, einen kleinen Gedächtnistest durch. Andy gab zu, 20 Plätzchen verschlungen zu haben, Peter gestand 15, und die 6-jährige Laura glaubte, sie habe sich so ungefähr mit 15 Plätzchen vollgestopft. Meine Frau Carol erinnerte sich, 6 Plätzchen gegessen zu haben, und ich selbst ­erinnerte mich an den Verzehr von 15 Plätzchen, wobei ich noch weitere 18 mit ins Büro ge­nommen hatte. Für 89 Plätzchen mussten wir demnach gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Aber so ganz war das Rätsel damit noch nicht gelöst, denn es waren ursprünglich 160 gewesen. 9.5 · Vergessen In Experimenten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Phänomen der erinnerten Plätzchen hatten, wiesen Ross et al. (1981) nach, dass Menschen unwissentlich ihre eigene Geschichte überarbeiten. Ross überzeugte seine Versuchsteilnehmer davon, dass häufiges Zähneputzen wünschenswert ist. Da­ raufhin erinnerten sie sich, sich in den letzten beiden Wochen häufig die Zähne geputzt zu haben, und zwar häufiger als andere Menschen. Studierende, die an einem Seminar über Methoden zum erfolgreichen Lernen teilgenommen hatten, das in der Werbung stark an­gepriesen wurde, kamen anschließend zu einer übertriebenen Einschätzung dessen, wie viel besser ihre Lernfähigkeit tat­ sächlich geworden war. Weil sie ihre Lerngewohnheiten aus der Zeit vor dem Seminar geringer einschätzten, kamen sie selbst zu der Überzeugung, dass sie wirklich von dem Seminar profitiert hatten (Conway u. Ross 1984). Sich an die eigene Vergangenheit erinnern bedeutet häufig, sie gleichzeitig zu überar­ beiten. Warum lässt unser Gedächtnis uns im Stich? Warum haben wir, meine Familie und ich, nicht enkodiert, gespeichert und abgerufen, wie viele Plätzchen jeder von uns tatsächlich gegessen hatte? . Abb. 9.25 zeigt, dass wir sensorische Informationen automatisch und mit erstaunlicher Genauigkeit enkodieren. Wäre es möglich, dass unsere Erinnerung an die Plätzchen – so ähnlich wie Ebbinghaus’ Erinnerung an seine sinnlosen Silben – genau so schnell dahinschwand wie die Plätzchen selbst? Oder ist die Information vielleicht noch vorhanden, aber nicht abrufbar, weil es uns so peinlich wäre, uns zu erinnern? Sigmund Freud wies mit seinem Konzept der Verdrängung darauf hin, dass unser Gedächtnissystem tatsächlich schmerzliche Erinnerungen einer Zensur unterzieht. Vermutlich verdrängen wir schmerzliche Erinnerungen, um unser Selbstkonzept zu schützen und unsere Angst zu vermindern. Doch die unterdrückte Erinnerung bleibt erhalten, sagte Freud, und kann vielleicht mit Geduld und Anstrengung bzw. im Rahmen einer Therapie in späterer Zeit durch einen bestimmten Hinweisreiz wieder abgerufen werden. Es gab den Fall einer Frau, die eine heftige und unerklärliche Angst vor fließendem Wasser hatte. Das Rätsel löste sich eines Tages durch eine Tante, die flüsterte: »Ich habe das nie erzählt.« Es war, als hätten diese Worte eine erloschene Kerze wieder angezündet: Sie lösten bei der Frau die Erinnerung an eine bestimmte Situation aus. Als kleines Kind war sie ungehorsam gewesen, war bei einem Picknick mit der Familie weggelaufen und unter einen Wasserfall geraten, und sie konnte sich nicht aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Die Tante hatte sie gerettet und hatte versprochen, den Eltern nichts davon zu sagen (Kihlstrom 1990). Derartige Geschichten sind der Nährboden für die heute weit verbreitete Ansicht (9 von 10 Studierenden glauben daran), dass »die Erinnerung an schmerzliche Erfahrungen manchmal ins Unbewusste verschoben wird« (Brown et al. 1996). Für Freuds Psychologie war Verdrängung ein zentrales Thema und wurde Bestandteil der Legenden, die sich um die Psychoanalyse ranken. Fast jeder Mensch glaubt daran. Therapeuten arbeiten häufig mit dieser Annahme. Doch eine steigende Zahl von Gedächtnisforschern glaubt, dass Verdrängung selten oder gar nicht stattfindet. Weiter oben haben wir angemerkt, dass Emotionen und die damit verbundenen Stresshormone Erinnerungen festigen. Aber wie ist es mit schrecklichen Geschehnissen? Ist es normal, dass sich Menschen nur schlecht an traumatische Erfahrungen erinnern können oder sie nur mit Mühe vergessen können? Wir werden darauf zurückkommen. 415 . Abb. 9.25. Wann wird vergessen? Zum Vergessen kann es in jeder Phase des Erinne­ rungsprozesses kommen. Bei der Verarbeitung werden die Informationen gefiltert und verändert, und manchmal geht ein Teil davon verloren »Man muss sich an die Ereignisse so erinnern, wie es gewünscht wird. Und wenn zu diesem Zweck die eigenen Erinnerungen geändert werden müs­ sen . . ., dann muss man vergessen, dass man sie geändert hat. Das ist ein Trick, den man lernen kann, genau wie andere Denktechniken. . . . Wir nennen es Doppeldenk.« George Orwell (»Neunzehnhundertvierundachtzig«, 1948) ◼ Verdrängung (repression): In der psychoanaly­ tischen Theorie gilt Verdrängung als wichtigster Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedan­ ken, Gefühle und Erinnerungen, die Angst aus­ lösen, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. 9 416 Kapitel 9 · Gedächtnis Lernziele Abschnitt 9.5 Vergessen Ziel 18: Erklären Sie, warum wir unsere Fähigkeit zu vergessen positiv bewerten sollten, und unterscheiden Sie 3 allgemeine Arten, wie unser Gedächtnis scheitern kann. Ohne die Fähigkeit, vergessen zu können, würden wir von nicht mehr aktuellen und irrelevanten Informationen überwältigt. Unser Gedächt­ nis kann uns scheitern lassen durch Vergessen (geistige Abwesenheit, Vergänglichkeit und Abblocken), durch Verzerrung (Fehlattribution, Be­ einflussbarkeit und systematische Fehler) und durch Sich-Aufdrängen (Persistenz ungewollter Erinnerungen). Ziel 19: Erörtern Sie, welche Rolle das Scheitern der Enkodierung beim Vergessen spielt. Was wir (durch bewusste oder durch automatische Verarbeitung) enko­ dieren, ist nur ein sehr begrenzter Teil der sensorischen Reize aus unserer Umgebung. Und in dem Maße, in dem wir altern, wird unsere Enkodie­ rung langsamer und weniger effizient. Ohne Enkodierung gelangen die Informationen nicht in unseren Langzeitspeicher und können nicht ab­ gerufen werden. 9 Ziel 20: Erörtern Sie den Begriff des Speicherzerfalls, und beschreiben Sie die Vergessenskurve von Ebbinghaus. Enkodierte Erinnerungen können nach der Speicherung verblassen. Aufgrund seiner Forschungsarbeiten zum Lernen und Behalten konnte Ebbinghaus feststellen, dass das Vergessen im zeitlichen Verlauf zu Be­ ginn rasch erfolgt und dann mit der Zeit langsamer wird; dieses Prinzip ist als Vergessenskurve bekannt. 9.6 Ziel 21: Stellen Sie die proaktive und die retroaktive Interferenz einander gegenüber, und erklären Sie, wie sie ein Scheitern des Abrufs verursachen können. Ein Grund, warum es zum Scheitern des Abrufs kommt, ist, dass alte und neue Informationen beim Abruf miteinander konkurrieren. Bei der pro­ aktiven Interferenz behindert etwas, was wir in der Vergangenheit ge­ lernt haben (die alte Telefonnummer eines Freundes), unsere Fähigkeit, etwas abzurufen, was wir kürzlich gelernt haben (die neue Nummer eines Freundes). Bei der retroaktiven Interferenz behindert etwas, was wir kürzlich gelernt haben (der Wortschatz für den Spanischkurs in die­ sem Semester), etwas, was wir in der Vergangenheit gelernt haben (den Wortschatz aus dem Französischkurs im letzten Jahr). Ziel 22: Fassen Sie Freuds Begriff der Verdrängung zusammen, und machen Sie eine Aussage darüber, ob diese Auffassung durch die aktuelle Gedächtnisforschung bestätigt wird. Freud war der Meinung, dass wir Angst auslösende peinliche Gedanken, Gefühle und Erinnerungen aus unseren bewussten Gedanken verban­ nen – das ist etwas, was er als Verdrängung bezeichnete. Nach seiner Auffassung unterdrückt dieses motivierte Vergessen Erinnerungen, lässt sie jedoch unter den richtigen Bedingungen für den späteren Abruf ­wieder verfügbar werden. Die Gedächtnisforscher neigen zu der Auf­ fassung, dass es nur selten zur Verdrängung kommt. >Denken Sie weiter: Die meisten Menschen wünschen sich ein bes­ seres Gedächtnis, vor allem, wenn sie älter werden. Trifft das auch auf Sie zu? Oder wünschen Sie sich eher, Sie könnten alte Erinne­ rungen aus Ihrem Gedächtnis entfernen? Konstruktion von Erinnerung Stellen Sie sich vor, dass Sie an folgendem Experiment teilnehmen: Sie gehen zum Abendessen in ein wirklich schönes Restaurant. Man gibt Ihnen einen Platz an einem Tisch mit einer weißen Tischdecke. Sie lesen die Speisekarte. Sie sagen dem Kellner, dass Sie gern ein halb durchgebratenes Rippenstück hätten, dazu eine gebackene Kartoffel mit saurer Sahne und Salat mit einem Dressing aus Blauschimmelkäse. Sie bestellen auch Rotwein von der Weinkarte. ­Einige Minuten danach bringt der Kellner Ihren Salat, etwas später kommt dann das übrige Essen. Alles schmeckt Ihnen, außer dass das Rippenstück etwas zu sehr durchgebraten ist. Sollte ich Ihnen just in diesem Moment die folgenden Fragen stellen (nach Hyde 1983), könnten Sie sicher mit vielen Einzelheiten aufwarten. Beantworten Sie mir doch bitte folgende Fragen, ohne den obigen Absatz noch einmal anzuschauen: 4 Welches Dressing sollte Ihr Salat haben? 4 War das Tischtuch rotkariert? 4 Was haben Sie zum Trinken bestellt? 4 Hat Ihnen der Kellner die Speisekarte gegeben? 9.6 · Konstruktion von Erinnerung 417 9 Vermutlich konnten Sie genau wiederholen, was Sie bestellt haben, vielleicht konnten Sie sich sogar an die Farbe des Tischtuchs erinnern. Wir haben tatsächlich eine riesige Kapazität zum Speichern und Abrufen selbst kleinster Details unseres täglichen Lebens. Doch hat Ihnen der Kellner die Speisekarte gegeben? In dem Absatz oben steht nichts davon. Trotzdem beantworten viele Menschen diese Frage mit ja. Wir konstruieren unsere Erinnerungen häufig, während wir sie enkodieren, und wir verändern unsere Erinnerungen auch, wenn wir sie aus dem Gedächtnis hervorholen. Wie ein Wissenschaftler, der aus den Überresten eines Dinosauriers auf sein äußeres Erscheinungsbild schließt, schließen wir aus unseren gespeicherten Informationen und aus dem, was wir heute dazu annehmen, auf unsere Vergangenheit. Sie haben ein Schema für Restaurantbesuche entwickelt, und dieses Schema sorgt dafür, dass Sie Information filtern und fehlende Teile ergänzen und auf diese Weise Ihre Erinnerung konstruieren (zum Schemabegriff 7 Abschn. 4.2.2). 9.6.1 Auswirkungen von Fehlinformationen und Imagination Elizabeth Loftus hat in über 200 Experimenten mit mehr als 20.000 Teilnehmern nachgewiesen, wie Augenzeugen in ähnlicher Weise ihre Erinnerungen rekonstruieren, sobald sie befragt werden. In einem heute als klassisch geltenden Experiment (Loftus u. Palmer 1974) sahen die Teilnehmer einen Film, in dem ein Verkehrsunfall gezeigt wurde, anschließend wurden sie danach gefragt, was sie gesehen hatten. Die Teilnehmer, deren Fragestellung lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie aufeinander krachten?« schätzten die Geschwindigkeit höher ein als die, deren Frage lautete: »Wie schnell fuhren die Autos, als sie zusammenstießen?« (im Orig.: »smashed into each other« versus »hit each other«). Eine Woche später fragten die Interviewer, ob die Teilnehmer sich erinnerten, Glassplitter gesehen zu haben. Die Teilnehmer, die die Worte »aufeinander krachten« gehört hatten, bejahten die Frage mit mehr als doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit als die Teilnehmer, die das Wort »zusammenstießen« gehört hatten (. Abb. 9.26). Tatsächlich waren im Film keine Glassplitter zu sehen gewesen. In vielen Folgeexperimenten überall auf der Welt wurde den Teilnehmern ein Vorfall gezeigt, sie erhielten dazu irreführende Informationen bzw. erhielten sie nicht und wurden dann einem Gedächtnistest unterzogen. Das Ergebnis dieser Experimente war immer gleich: Es gibt einen Fehlinformationseffekt. Wird den Versuchspersonen eine subtile Fehlinformation geliefert, dann erinnern sie sich falsch. Sie erinnerten sich an ein Stoppschild, obwohl es sich um das Schild »Vorfahrt gewähren« handelte, sie sahen einen Hammer an Stelle eines Schraubenziehers, Coladosen gingen als Erdnussdosen durch, aus der Zeitschrift »Vogue« wurde ­»Mademoiselle«, »Dr. Henderson« wurde als »Dr. Davidson« Sipress, 1988 Ziel 23: Erklären Sie, wie Fehlinformationen und Imagination unsere Erinnerung an ein Ereignis ver­ zerren können. ◼ Fehlinformationseffekt (misinformation effect): irreführende Informationen, die in die Erinnerung an ein Ereignis eingebaut werden. . Abb. 9.26. Konstruktion von Erinnerung Versuchspersonen sahen einen Film über einen Autounfall, dann stellte man ihnen eine Frage, die ihre Erinnerung in eine bestimmte Richtung lenkte. Daraufhin sah der Unfall in ihrer Erinnerung ernster aus als der, den sie gesehen hatten. (Aus Loftus 1979) 418 Kapitel 9 · Gedächtnis erinnert, Frühstücksflocken als Eier, und ein glatt rasierter Mann hatte in der Erinnerung ein Lippenbärtchen (Loftus et al. 1992). ! In dem Maße, wie die Erinnerung in der Zeit nach dem Vorfall verblasst, wird es leichter, eine Fehlinformation einfließen zu lassen (Loftus 1992). »Eine Erinnerung hat keine Substanz. Sie kann überlagert werden. Ihre Fotosammlung kann ­Ihrem Gedächtnis nachhelfen, kann aber auch die Erinnerungen zerstören. . . . Die einzige Erinne­ rung, die Ihnen von Ihrer Reise bleibt, ist diese verflixte Ansammlung von Schnappschüssen.« Annie Dillard (»To Fashion a Text«, 1988) 9 Der Fehlinformationseffekt ist dem Betroffenen so wenig bewusst, dass es schwer fällt, später zwischen der Erinnerung an ein tatsächliches Ereignis und einem suggerierten Ereignis zu unterscheiden (Schooler et al. 1986). Wenn wir von etwas berichten, was wir erlebt haben, dann füllen wir die Lücken in der Erinnerung mit plausiblen Vermutungen und Annahmen. Und wenn wir den Bericht ein paar Mal wiederholen, dann erinnern wir uns an die vermuteten Einzelheiten in einer Weise, als hätten wir sie tatsächlich so erlebt; denn diese Einzelheiten wurden in der Zwischenzeit vom Gedächtnis aufgenommen (Roediger et al. 1993). Auch wenn wir den lebhaften Bericht eines anderen Menschen hören, kann dies falsche Erinnerungen in unserem Gedächtnis verankern. Eine falsche Erinnerung kann auch dadurch entstehen, dass man sich immer wieder Handlungen und Ereignisse vorstellt, die es gar nicht gibt. In einem Versuch sollten sich Studierende immer wieder einfache Handlungen vorstellen, beispielsweise dass man einen Zahnstocher zerbricht oder einen Tacker hochhebt. Diese Studierenden erlebten danach eine »Vorstellungsinflation«, denn sie glaubten mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass sie in der ersten Phase des Experiments diese Dinge tatsächlich getan hatten (Goff u. Roediger 1998). Bei 2 weiteren Experimenten wurden amerikanische und britische Studierende gebeten, sich bestimmte Erfahrungen aus der Kindheit vorzustellen, etwa dass sie ein Fenster mit der Hand zerbrochen hätten oder dass eine Krankenschwester eine Probe von der Haut ihres kleinen Fingers genommen hätte. In beiden Fällen war es so: Ein Viertel erinnerte sich später daran, dass das vorgestellte Ereignis wirklich passiert sei (Garry et al. 1996; Mazzoni u. Memon 2003). Zur Vorstellungsinflation kommt es teilweise, weil ähnliche Hirnbereiche aktiviert werden, wenn man etwas visualisiert und wenn man tatsächlich etwas wahrnimmt (Gonsalves et al. 2004). ! Etwas, was man sich einbildet, kommt einem nach einiger Zeit vertraut vor, und Vertrautes kommt einem realer vor. Je lebhafter sich also ein Mensch etwas vorstellen kann, desto wahr­ scheinlicher ist es, dass er seine Vorstellung in eine Erinnerung verwandelt (Loftus 2001; Porter et al. 2000). »Nicht die Anzahl der Dinge, an die ich mich erin­ nere, ist erstaunlich, sondern die Anzahl der Din­ ge, die gar nicht so waren, wie ich sie erinnere.« Mark Twain (1835–1910) Leute, die glauben, sie seien von Außerirdischen entführt und in einem Raumschiff medizinisch untersucht worden, haben tendenziell eine lebhaftere Phantasie und sind bei Gedächtnistests anfälliger für falsche Erinnerungen (Clancy et al. 2002). Diejenigen, die glauben, sie hätten Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit aufgedeckt, neigen ebenfalls dazu, eine lebendige Vorstellungswelt und hohe Werte in Tests für falsche Erinnerungen zu haben (Clancy et al. 2000; McNally 2003). Um herauszufinden, wie weit das menschliche Denken geht, wenn es auf der Suche nach Fakten Fiktionen erschafft, hielten Wiseman et al. (1999) 8 Séancen ab, an denen jeweils 25 neugierige Menschen teilnahmen. Geleitet wurden diese »Séancen« von einem »Medium«, das in Wirklichkeit ein Schauspieler und Magier war. Während der Sitzung bat das Medium die Teilnehmer, sich darauf zu konzentrieren, den Tisch in Bewegung zu setzen. Zwar bewegte sich der Tisch nicht, doch das Medium behauptete, er bewege sich. »Gut so. Hebt ihn hoch. Das ist sehr gut. Weiter konzentrieren! Haltet den Tisch in der Luft!« Bei einer Befragung 2 Wochen nach der Séance erinnerten sich 34% der Teilnehmer daran, dass sie den Tisch tatsächlich frei schweben gesehen hätten. Auch Psychologen sind nicht gegen die Konstruktion von Erinnerungen gefeit: Zu seiner großen Verblüffung erfuhr der Psychologe Jean Piaget als Erwachsener, dass seine lebhafte und detailreiche Erinnerung daran, wie sein Kindermädchen verhindert hatte, dass er entführt wurde, völlig falsch war. Offensichtlich hatte er die Erinnerung konstruiert, weil die Geschichte immer wieder erzählt wurde (sein Kindermädchen gestand später, nachdem es einen anderen Glauben angenommen hatte, dass die ganze Geschichte frei erfunden sei). 9.6 · Konstruktion von Erinnerung 419 9.6.2 Quellenamnesie Ziel 24: Stellen Sie dar, welche Rolle die Quellenamnesie bei falschen Erinnerungen spielt. Piaget erinnerte sich, doch schrieb er seine Erinnerung einer falschen Quelle zu (und zwar mehr seiner eigenen Erfahrung als den Geschichten seines Kindermädchens). Beim Enkodieren von Erinnerungen verteilen wir verschiedene Aspekte einer Erinnerung auf verschiedene Bereiche des Gehirns. Die Quelle gehört zu den empfindlichsten Teilen einer Erinnerung. So kann es passieren, dass wir einen Menschen wiedererkennen, jedoch keine Ahnung haben, wo wir ihm schon einmal begegnet sind. Es kommt auch vor, dass wir uns etwas vorstellen oder von etwas träumen und später nicht sicher sind, ob das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Manchmal hören wir etwas, und unsere Erinnerung sagt uns, wir hätten etwas gesehen (Henkel et al. 2000). In all diesen Fällen behalten wir das Bild, allerdings ohne den Kontext, in dem wir die Erinnerung enkodiert haben. Poole u. Lindsay (1995, 2001, 2002) wiederholten Piagets Erfahrung mit der Quellenamnesie (auch Quellen-Fehlattribution genannt). Sie inszenierten eine Begegnung von Vorschulkindern mit »Mr. Science«, der den Kindern allerlei Dinge demonstrierte, beispielsweise, wie man einen Luftballon mit Hilfe von Backpulver und Essig aufbläst. Drei Monate später lasen die Eltern den Kindern an 3 aufeinander folgenden Tagen eine Geschichte vor, in der sie selbst und Mr. Science vorkamen. In den Geschichten wurden manche der Dinge beschrieben, die sie selbst erlebt hatten, aber auch Dinge, die sie nicht erlebt hatten. Dann kam ein anderer Interviewer und fragte sie, was Mr. Science ihnen vorgeführt hatte. »Hatte Mr. Science eine Maschine, die an Seilen gezogen wurde?« Vier von 10 Kindern erinnerten sich spontan, dass Mr. Science Sachen gemacht hatte, die nur in der Geschichte vorgekommen waren. 9.6.3 Echte und falsche Erinnerungen Ziel 25: Listen Sie einige Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen echten und falschen Erinnerungen auf. Erinnerung kann also ebenso gut eine Reproduktion wie eine Rekonstruktion sein, und wir können nicht sicher sein, ob eine Erinnerung wirklich eine Erinnerung ist, nur weil wir den Eindruck haben, es könne eine echte Erinnerung sein. So wie uns eine Wahrnehmungstäuschung sehr real vorkommen kann, erscheint uns vielleicht auch eine nicht reale Erinnerung als sehr real. Die heutigen Wissenschaftler sind sich darin einig, dass es eine Verwandtschaft zwischen Erinnerung und Wahrnehmung gibt: Erinnerungen sind Wahrnehmungen aus der Vergangenheit (Koriat et al. 2000). Und Halberstadt u. Niedenthal (2001) konnten zeigen, auf welche Weise die ursprüngliche Interpretation Einfluss auf die Erinnerung an die Wahrnehmung hat. Sie forderten Studierende auf, gemorphte Gesichter zu betrachten, die so gestaltet waren, dass sie Gefühlsmischungen wie Glück und Wut gleichzeitig ausdrückten (. Abb. 9.27a). Die Studierenden sollten sich vorstellen und erklären, warum diese Frau wütend (oder glücklich) aussieht. Eine halbe Stunde später baten die Forscher die Studierenden, sich ein Videoband anzusehen, auf dem ein künstlich erzeugter Übergang vom glücklichen zum wütenden Gesicht zu erkennen war. Die Studierenden sollten dann einen Schieberegler, der den Gesichtsausdruck veränderte, so lange bedienen, bis der Eindruck, den sie als ersten gesehen hatten, wiederhergestellt war (. Abb. 9.27b). Die Studierenden, die zuerst die Wut bemerkt hatten (»Diese Frau ist wütend, weil ihre beste Freundin sie mit ihrem Freund betrogen hat«) schufen ein Gesicht, das wütender war als das Gesicht, das von jenen Teilnehmern erzeugt wurde, die den Gesichtsausdruck zunächst glücklich gefunden hatten (»Diese Frau ist sehr glücklich, weil jeder an ihren Geburtstag gedacht hat«). Auch die Beständigkeit einer Erinnerung sagt nichts darüber aus, ob sie real ist oder nicht. Die Gedächtnisforscher Brainerd u. Reyna (1998, 2002; Brainerd et al. 1995) verweisen darauf, dass Erinnerungen, die aus unserer eigenen Erfahrung stammen, mehr Einzelheiten aufweisen als Erinnerungen, die ihren Ursprung in unserer Fantasie haben. Erinnerungen an etwas, was wir nur ◼ Quellenamnesie oder Quellen-Fehlattribution (source amnesia): Man ordnet ein Ereignis oder etwas, was man erlebt, gehört, gelesen oder sich vorgestellt hat, nicht der richtigen Quelle zu. Zusammen mit dem Fehlinformationseffekt ist die Quellenamnesie der Ursprung vieler falscher Erinnerungen. Manchmal werden auch Schriftsteller und Liedermacher Opfer einer Quellenamnesie. Sie glauben, ein Gedanke käme aus ihrem eigenen kreativen Gehirn, während sie sich in Wirklichkeit eines unbeabsichtigten Plagiats schuldig machen – denn sie reproduzieren etwas, was sie früher einmal gehört oder gelesen haben. 9 Kapitel 9 · Gedächtnis . Abb. 9.27a,b. Unsere Annahmen ändern unsere Erinnerungen an die eigene Wahrnehmung Wissenschaftler zeigten Versuchspersonen vom Computer veränderte Gesichter, die zwei einander widersprechende Gefühle ausdrücken, z. B. wütend/ glücklich (a). Die Versuchspersonen wurden gebe­ ten, zu erklären, warum die Frau wütend bzw. glücklich aussieht. Diejenigen, die später gebeten worden waren, einen »wütenden« Gesichtsaus­ druck zu erklären (dabei mussten sie auf dem Bild­ schirm einen Schalter so lange verschieben, bis das dort gezeigte und simultan veränderte Bild dem entsprach, was sie zuvor gesehen hatte) erinnerten sich an ein wütenderes Gesicht, wie z. B. das in b ab­gebildete 9 »Sich an etwas erinnern ist etwas anderes, als das Lesen eines Buches, es ist eher so etwas wie das Schreiben eines Buches mit Hilfe einzelner bruch­ stückhafter Notizen.« Der Psychologe John F. Kihlstrom (1994) © Simon Niedenthal 420 a b in der Fantasie erlebt haben, beschränken sich mehr auf den eigentlichen Inhalt des Ereignisses bzw. die Bedeutung und die Gefühle, die wir damit assoziieren. Weil solche auf den reinen Inhalt beschränkten Erinnerungen stabil sind, bleiben die falschen Erinnerungen von Kindern manchmal länger bestehen als ihre echten Erinnerungen, vor allem wenn Kinder heranreifen und eher in der Lage sind, das Wesentliche zu verarbeiten (Brainerd u. Poole 1997). Und wenn Therapeuten oder Ermittlungsbeamte mehr nach dem allgemeinen Geschehen als nach Einzelheiten fragen, ist die Gefahr größer, falsche Erinnerungen zutage zu fördern. Falsche Erinnerungen, die durch die Suggestion von Fehlinformation oder durch die Fehlattribution der Quelle entstehen, mögen dem Betreffenden genau so real erscheinen wie echte Erinnerungen und auch sehr hartnäckig sein. Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Ich lese Ihnen eine Liste mit Wörtern wie »Bonbon«, »Zucker«, »Honig« und »Geschmack« vor. Etwas später fordere ich Sie auf, die dargebotenen Wörter auf einer längeren Liste wiederzuerkennen. Wenn Sie so reagieren wie die Versuchsteilnehmer von Roediger u. McDermott (1995), dann unterlaufen Ihnen 3–4 Irrtümer: Sie erinnern sich fälschlicherweise an ein ähnliches Wort, das nicht vorgelesen wurde, vielleicht das Wort »süß«. Wir erinnern uns leichter an das Wesentliche als an die Wörter selbst. Bei Experimenten mit den Aussagen von Augenzeugen fanden die Forscher des öfteren, dass jene Augenzeugen am überzeugendsten wirkten, die sich ihrer Aussage am sichersten waren und deren Antworten in sich konsistent waren; häufig sind gerade diese Zeugen jedoch nicht die präzisesten. Augenzeugen, ganz gleich, ob sie Recht oder Unrecht haben, weisen mehr oder weniger den gleichen Grad an Selbstsicherheit auf (Bothwell et al. 1987; Cutler u. Penrod 1989; Wells u. Murray 1984). Die Konstruktion von Erinnerung erklärt auch, weshalb »hypnotisch aufgefrischte« Erinnerungen an Verbrechen so häufig Fehler enthalten, von denen einige durchaus ihren Ursprung in den Fragen haben, mit denen der Hypnotiseur arbeitet (»Haben Sie laute Geräusche gehört?«). Das Phänomen der Konstruktion von Erinnerung ist auch eine Erklärung dafür, warum zwei Menschen, die sich ineinander verlieben, ihren ersten Eindruck vom anderen überschätzen (»Es war Liebe auf den ersten Blick«), während Paare, deren Beziehung zerbricht, ihre frühere Liebe eher unterschätzen (»Wir haben eigentlich nie richtig zusammengepasst«) (McFarland u. Ross 1987). Die konstruierte Erinnerung erklärt auch, warum sich Menschen auf die Frage, welche Haltung sie vor 10 Jahren gegenüber Marihuana oder bei der Diskussion über Geschlechterrollen einnahmen, an Einstellungen erinnern, die mehr Ähnlichkeit mit ihrer aktuellen Meinung aufweisen als mit der Meinung, die sie ein Jahrzehnt früher vertreten haben (Markus 1986). Ein Forscherteam befragte 73 Jungen im Alter von etwa 15 Jahren und wiederholte die Befragung 35 Jahre später. Die Teilnehmer wurden gebeten, sich daran zu erinnern, was sie damals über ihre Einstellungen, Aktivitäten und Erfahrungen berichtet hatten. Die meisten reproduzierten Aussagen, deren Übereinstimmung mit ihren früheren Aussagen sich bestenfalls im Zufallsbereich bewegte. Nur ein Drittel der Männer erinnerte sich als Erwachsene an körperliche Bestrafung in Kindheit und Jugend; bei der Befragung der Jugendlichen hatten 82% von körperlicher Bestrafung gesprochen (Offer et al. 2000). Vaillant (1977, S. 197) verfolgte das Leben von Erwachsenen über einen gewissen Zeitraum hinweg und merkte dann an: »Aus jeder Raupe wird einmal ein Schmetterling, der dann behauptet, schon in der Kindheit ein kleiner Schmetterling gewesen zu sein. Der Reifungsprozess macht uns alle zu Lügnern.« Der australische Psychologe Donald Thompson wurde auf höchst seltsame Weise mit seiner eigenen Forschung über verzerrte Erinnerungen konfrontiert: Er wurde als potenzieller Vergewaltiger verhört. Zwar entsprach sein Aussehen fast hundertprozentig der Erinnerung des Opfers an den Vergewaltiger, doch Thompson hatte ein fast wasserdichtes Alibi für die Zeit unmittelbar vor der Vergewaltigung: Er wurde im Fernsehen live interviewt. Es wäre ihm kaum möglich gewesen, rechtzeitig an den Schauplatz des Verbrechens zu gelangen. Es stellte sich dann heraus, dass die vergewaltigte Frau das Interview – Gipfel der Ironie: über das Wiedererkennen von Gesichtern – im Fernsehen gesehen hatte und Opfer einer Quellenamnesie geworden war: Sie hatte ihre Erinnerung an Thompson mit der Erinnerung an den Vergewaltiger vermischt (Schacter 1996). Fisher et al. (1987; Fisher u. Geiselman 1992) erkannten, dass es bei der Befragung von Zeugen durch Polizeibeamte und Staatsanwälte zu Fehlinformationseffekten kommt, wenn die Fragen so gestellt werden, dass sie Hinweise auf die Meinung der Polizei zu dem Vorfall enthalten. Fisher und seine Kollegen trainierten Polizeibeamte in einer Technik, die sie »kognitives Interview« nannten: weniger Suggestivfragen, dafür mehr echte Fragen. Um Abrufreize zu aktivieren, sollte der Ermittlungsbeamte den Zeugen bitten, sich die Szene noch einmal vorzustellen: Zunächst wird nach dem Wetter, der Uhrzeit, den Lichtverhältnissen, Geräuschen, Gerüchen, der Anordnung von Gegenständen und nach der Stimmung des Zeugen gefragt. Danach erzählt der Zeuge alles, woran er sich erinnert, auch scheinbar triviale Details, dabei sollte er nicht unterbrochen werden. Erst dann stellt der Ermittlungsbeamte Fragen, die in eine bestimmte Richtung gehen: »Gab es etwas Ungewöhnliches im Aussehen oder an der Bekleidung der Person?« Fisher u. Geiselman berichten, dass die Präzision der Erinnerung um etwa 50% höher ist, wenn man die Technik der kognitiven Befragung einsetzt. 9.6.4 Kinder als Augenzeugen Ziel 26: Nennen Sie Argumente für und gegen die Position, dass die Berichte sehr junger Kinder über einen Missbrauch zuverlässig sind. Wir wissen, dass Erinnerungen, auch wenn sie ganz ehrlich berichtet werden, manchmal dennoch zutiefst falsch sein können. Wäre es auch denkbar, dass die Erinnerung von Kindern an sexuellen Missbrauch gleichfalls ein Irrtum sein könnte? Vielleicht müssen wir uns fragen, wer häufiger in die Rolle des Opfers gerät: missbrauchte Kinder, denen nicht geglaubt wird, oder fälschlich beschuldigte Erwachsene, deren Ruf ruiniert wird? Wie zuverlässig sind Berichte, die von Kindern abgegeben werden? Wie wir bereits gesehen haben, können Fragen, die in eine bestimmte Richtung weisen, bewirken, dass man sich falsche Erinnerungen einprägt. Wir wissen, dass Kinder, obwohl sie bei Kriminalfällen präzise Augen­ zeugen sein können, tendenziell leicht zu beeinflussen sind. Viele kleine Kinder haben fälschlich berichtet, dass eine Betreuerin ihr Knie abgeleckt hat, dass ein Mann ihnen »etwas Ekliges« in den Mund gesteckt hat, dass der Arzt ihnen einen Stock in die Genitalien geschoben hat und dass jemand ihre Geschlechtsteile berührt hat. Mit suggestiven Befragungstechniken können die meisten Vorschulkinder und viele ältere Kinder dazu gebracht werden, Vorfälle zu berichten, die nicht den Tatsachen entsprechen, etwa dass ein Dieb in ihrem Kindergarten Nahrungsmittel gestohlen hat (Bruck u. Ceci 1999, 2004). Befragt man jedoch Kinder in neutralen Worten, die sie verstehen, dann können sie genau berichten, was geschehen ist und wer es getan hat (Goodman et al. 1990; Howe 1997; Pipe 1996). Wenn das zuvor beschriebene kognitive Interview verwendet wird, geben selbst 4- bis 5-Jährige genauere Erinnerungen an (Holliday u. Albon 2004; Pipe et al. 2004). ! Kinder sind dann besonders präzise, wenn vor dem Interview kein Erwachsener mit ihnen spricht, der in die Sache involviert ist, und wenn sie ihre Aussage in einem ersten Interview mit einem neutralen Erwachsenen machen können, dessen Fragen nicht in eine bestimmte Rich­ tung weisen. 9 421 Reuters/Rick Wilking/Archive Photos/Corbis 9.6 · Konstruktion von Erinnerung Erinnerungen eines Augenzeugen Erinnerungen an Vorfälle, die wir selbst miterlebt haben, sind fehleranfällig, vor allem dann, wenn die Erinnerungen durch die Art der Fragestellung in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Auch unser relativ gutes Gedächtnis für Gesichter funkti­ oniert nicht wie ein Fotoapparat. Das zeigt sich deutlich beim Vergleich des Fotos mit der Skizze, die die Polizei nach Zeugenaussagen von dem Mör­ der Theodore Kaczynski, dem »Unabomber«, anfer­ tigte. 422 Kapitel 9 · Gedächtnis Studien über die Erinnerungen von Kindern an körperliche Untersuchungen belegen sowohl ihre Genauigkeit als auch ihre gelegentlichen Ausrutscher. Baker-Ward et al. (1993) überprüfte die Erinnerungen von Kindern mit allgemeinen Fragen (»Sag mir, was der Arzt bei der Untersuchung gemacht hat«) und spezifischen Fragen (»Hat der Arzt mit einem Licht in dein Auge geleuchtet?«). Drei bis 6 Wochen nach der Untersuchung erinnerten sich etwa 60% der 3-Jährigen und 90% der 7-Jährigen daran, was der Arzt gemacht hatte. Wenn man sie nach Dingen fragte, die nicht geschehen waren (»Hat dir der Arzt die Haare geschnitten?« und »Saß die Krankenschwester auf dir drauf?«), gaben fast 30% der 3-Jährigen und 15% der 7-Jährigen falsche Antworten. Ceci (1993) stellt fest, »dass es verheerend wäre, wenn wir die ungeheure Verbreitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus den Augen verlieren würden«. Doch die Studien, die Ceci u. Bruck (1993a, 1995) durchführten, sensibilisierten sie auch dafür, wie leicht es ist, die Erinnerungen von Kindern zu beeinflussen. In einer ihrer Studien forderten sie 3-jährige Kinder auf, an einer anatomisch korrekten Puppe zu zeigen, wo der Kinderarzt sie angefasst hatte. 55% der Kinder, deren Genitalien nicht untersucht worden waren, zeigten entweder auf den Genital- oder den Analbereich. In einer anderen Studie ließen Ceci et al. (1994) ein Kind aus einem Kartenspiel, auf dessen Karten bestimmte Ereignisse beschrieben waren, eine Karte auswählen, die dem Kind dann von einem Erwachsenen vorgelesen wurde. Die Einleitung lautete: »Denk mal gut nach und sag mir, ob dir das schon mal passiert ist. Kannst du dich daran erinnern, dass du mit einer Mausefalle am Finger ins Krankenhaus gegangen bist?« Nach 10 im Wochenrythmus stattfindenden Befragungen, bei denen immer der gleiche Erwachsene die Kinder aufforderte, über verschiedene tatsächliche und fiktive Ereignisse nachzudenken, kam ein neuer Erwachsener und stellte den Kindern dieselben Fragen. Das verblüffende Ergebnis: 58% der Vorschulkinder produzierten falsch (oft lebhafte) Geschichten von einem oder mehreren Ereignissen, die sie nie erlebt hatten, wie z. B. bei diesen kleinen Jungen (Ceci et al. 1994): 9 Mein Bruder Colin wollte mir Blowtorch (eine Spielzeugfigur) wegnehmen. Ich wollte Blowtorch aber nicht loslassen, deshalb schubste er mich in den Holzstapel, in dem die Mausefalle war. Und da kam mein Finger in die Falle. Und dann fuhren wir zum Krankenhaus, meine Mama, mein Papa, Colin und ich, wir fuhren mit unserem Kleinbus zum Krankenhaus, denn das war weit. Und der Doktor hat dann den Finger verbunden. »Die Forschung bereitet mir Sorgen wegen der Möglichkeiten falscher Anschuldigungen. Man er­ weist der wissenschaftlichen Integrität keine Ehre, wenn man keine eindeutige Aussage trifft, ­obwohl die Befunde in eine Richtung deuten.« Stephen Ceci (1993) Von Geschichten, die so viele Einzelheiten enthalten, ließen sich auch professionelle Psychologen, die sich auf die Befragung von Kindern spezialisiert haben, häufig täuschen. Sie konnten echte Erinnerungen nicht mit Sicherheit von falschen Erinnerungen unterscheiden. Die Kinder konnten das auch nicht. Als man das Kind aus dem oben angeführten Bericht darauf hinwies, dass seine Eltern ihm mehrfach gesagt hatten, diese Mausefallengeschichte sei doch gar nie passiert, sondern er hätte sie sich ausgedacht, protestierte er: »Aber es ist wirklich passiert. Ich kann mich daran erinnern.« 9.6.5 Verdrängte oder konstruierte Erinnerungen an Missbrauch Ziel 27: Skizzieren Sie die Kontroverse, die durch Berichte über verdrängte und wieder aufgedeckte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit ausgelöst wurde. In der heftigen Kontroverse um das Gedächtnis unter den Psychologen in den 90er Jahren ging es um die Behauptung, dass Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit verdrängt würden, später aber wieder aufgedeckt werden könnten. Im Jahre 2002 kamen solche Behauptungen bei anscheinend glaubwürdigeren Beschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs durch einige Priester erneut auf. Wenn ein klinischer Psychologe einen Menschen dazu verleitet, Erinnerungen an eine Missbrauchserfahrung in der Kindheit »aufzudecken«, arbeitet er dann im Dienste der Wahrheit, oder ist es möglich, dass er eine falsche Erinnerung auslöst, die einem schuldlosen Erwachsenen erheblichen Schaden zufügt? 9.6 · Konstruktion von Erinnerung Einige Therapeuten haben bei ihren Patienten folgendes Argument vorgebracht: »Menschen, die missbraucht worden sind, haben häufig die Symptome, die Sie haben. Deshalb sind Sie wahrscheinlich missbraucht worden. Wir wollen sehen, ob Sie das mit Hilfe von Hypnose oder von Medikamenten, durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit und durch die Visualisierung Ihres Traumas aufdecken können.« In einer landesweiten Umfrage in den USA schätzte der durchschnittliche Therapeut, dass etwa 11% der Bevölkerung – also etwa 34 Mio. Menschen – verdrängte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in sich tragen (Kamena 1998). Poole et al. (1995) berichten über britische und amerikanische Therapeuten, von denen 70% sagten, sie hätten Techniken wie Hypnose oder Drogen eingesetzt, um ihre Klienten dabei zu unterstützen, verdrängte Erinnerungen an einen möglichen sexuellen Missbrauch in der Kindheit ans Licht zu bringen. Dank der Forschung über Quellenamnesie und Fehlinformationseffekte wissen wir, dass solche Techniken bei vielen Patienten bewirken, dass sie tatsächlich das Bild einer Person sehen, von der sie bedroht werden. Bei fortgesetzter Visualisierung wird dieses Bild immer deutlicher und versetzt den Patienten in einen Zustand der Betäubung und der Wut, in dem er bereit ist, die betreffende Person, häufig ein Elternteil, ein Verwandter oder ein Mitglied des Klerus, damit zu konfrontieren oder vor Gericht zu bringen. Dort weist dann der angebliche Missetäter, wie der Therapeut vorhergesagt hat, die Beschuldigung aufs Heftigste zurück. Eine Frau erinnerte sich in ihrer 32. Therapiesitzung daran, dass ihr Vater sie im Alter von 15 Monaten missbraucht hätte. Nach einem solchen von außen gestützten Abruf aus dem Gedächtnis behauptete die Schauspielerin Roseanne Barr (1991), sie habe Erinnerungen an sexuellen Missbrauch zu Beginn der Säuglingszeit aufgedeckt. Ohne die professionelle Vorgehensweise der meisten Therapeuten in Frage zu stellen, vergleichen Skeptiker die nicht bestätigten Beschuldigungen, die von einigen Therapeuten in den 90er Jahren vorgebracht wurden, mit einem Neuaufleben der Hexenprozesse. Klinische Psychologen, die Techniken zur »Gedächtnisarbeit« wie »geführte Imagination«, Hypnose oder Traumdeutung einsetzen, um Erinnerungen aufzudecken, fügen nach Loftus et al. (1995) dem gesamten Bereich der Psychologie großen Schaden zu. Aufgebrachte klinische Psychologen entgegnen darauf, dass die, die wiedergefundene Erinnerungen an Missbrauch in Frage stellen, ihrerseits das Trauma der Missbrauchten verstärken und das Spiel der Täter mitmachen. In dem Bemühen, einen gemeinsamen Nenner zu finden, von dem aus diese ideologische Schlacht zu einem Ende gebracht werden könnte, wurden Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Und eine Reihe psychologischer und psychiatrischer Berufsverbände, darunter auch die American Psychological Association, veröffentlichten eine gemeinsame Verlautbarung. Die, die mit dem Schutz der missbrauchten Kinder betraut sind, und die, die mit der Verteidigung der fälschlich angeklagten Erwachsenen betraut sind, stimmen in folgenden Punkten überein: 4 Ungerechtigkeit ist eine Realität. Schuldlose Menschen wurden zu Unrecht verurteilt. Schuldige entzogen sich der Verantwortung, indem sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ankläger säten. 4 Inzest und andere Fälle sexuellen Missbrauchs sind eine Realität. Inzest kommt häufiger vor, als wir früher angenommen haben. Es gibt kein typisches Syndrom bei dem, der so etwas durchgemacht hat (Kendall-Tacket et al. 1993). Sexueller Missbrauch kann jedoch bei den Opfern eine Prädisposition für Probleme schaffen, die von sexueller Dysfunktion bis zur Depression reichen. 4 Vergessen ist eine Realität. Viele der Missbrauchten waren entweder sehr jung, als sie missbraucht wurden, oder sie haben vielleicht die Bedeutung dessen, was sie erlebt haben, nicht verstanden: Unter solchen Umständen ist Vergessen »sehr verbreitet«. Es gehört zur Normalität unseres Alltags, ein einmaliges Ereignis zu vergessen, ganz gleich, ob es negativ oder positiv war. 4 Wieder aufgedeckte Erinnerungen sind nicht ungewöhnlich. Mit einer Bemerkung oder einem Ereignis, die als Auslöser dienen, wecken wir Erinnerungen an längst vergessene Ereignisse, ganz gleich, ob diese angenehm oder unangenehm waren. Worüber man streiten kann, ist die Frage, ob das Unbewusste manchmal schmerzhafte Erfahrungen gewaltsam verdrängt, und falls das stimmt, ob solche Erfahrungen dann durch bestimmte therapeutische Techniken der Erinnerung wieder zugänglich gemacht werden können. 423 9 424 Kapitel 9 · Gedächtnis »Wenn Erinnerungen nach einer langen Zeit der Amnesie ›aufgedeckt‹ werden, vor allem wenn ­außergewöhnliche Mittel eingesetzt werden, um die Aufdeckung der Erinnerung sicherzustellen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die ­Erinnerungen falsch sind.« Royal College of Psychiatrists Working Group on Reported Recovery of Child Sexual Abuse (Brandon et al. 1998) 9 Obwohl sich einige Traumatherapeuten über Elizabeth Loftus lustig gemacht hatten, wurde sie zur Präsidentin der American Psychological Society gewählt, bekam den höchst dotierten Preis in der Psychologie (200.000 Dollar) und wurde Mitglied der U.S. National Academy of Sciences und der Royal Society of Edinburgh. 4 Erinnerungen, die unter Hypnose oder unter Drogeneinfluss »wieder aufgedeckt« werden, sind besonders wenig verlässlich. Versuchsteilnehmer, die in eine Altersregression hypnotisiert werden, nehmen Suggestionen in ihre Erinnerungen auf, sogar Erinnerungen an »frühere Leben.« 4 Erinnerungen aus den ersten 3 Lebensjahren sind ebenfalls nicht verlässlich. Die Menschen erinnern sich eigentlich nicht an Geschehnisse aus den ersten 3 Lebensjahren. Es handelt sich hier um ein Phänomen, das infantile Amnesie genannt wird. Deshalb sind die meisten Psychologen skeptisch gegenüber »wieder aufgedeckten« Erinnerungen an einen Missbrauch in der frühen Kindheit (Gore-Felton et al. 2000; Knapp u. Vande Creek 2000). Je älter ein Kind ist, wenn es Opfer von sexuellem Missbrauch wird, und je schwerwiegender der Missbrauch war, desto wahrscheinlicher ist es, dass er erinnert wird (Goldman et al. 2003). 4 Erinnerungen, ob richtig oder falsch, können emotional aufwühlen. Wird eine falsche Erinnerung an einen Missbrauch zu einem realen Bestandteil der persönlichen Geschichte eines Menschen, dann leiden beide, der Ankläger und der Angeklagte. Was sich ursprünglich aus einer reinen Suggestion entwickelte, kann wie ein echtes Trauma zu einer schmerzenden Erinnerung werden, die zu körperlichem Stress führen kann (McNally 2003). Menschen, die bei einem Unfall, an dessen Hergang sie sich nicht erinnern können, bewusstlos werden, entwi­ ckeln manchmal später eine Posttraumatische Belastungsstörung, wenn sie von Erinnerungen verfolgt werden, die aus Fotos, Zeitungsberichten und den Aussagen von Freunden konstruiert werden (Bryant 2001). Um dem Phänomen der mit therapeutischer Hilfe geweckten Erinnerungen näher zu kommen, führten Loftus et al. (1996) Experimente durch, bei denen dem Gedächtnis falsche Erinnerungen an Kindheitstraumata »eingepflanzt« wurden. In einer dieser Studien ließen sie ein Familienmitglied, das sie ins Vertrauen gezogen hatten, einem Teenager Erinnerungen an drei echte und einen erfundenen Vorfall erzählen, nämlich einen sehr lebendigen Bericht darüber, wie das Kind im Alter von 5 Jahren relativ lange in einem Einkaufszentrum verloren gegangen und von einer älteren Person gerettet worden war. Einige Tage später konnten sich einige Teilnehmer sehr lebhaft und mit zahlreichen Einzelheiten an das »Erlebnis« erinnern und konnten es kaum glauben, als man sie darüber aufklärte, dass der Vorfall nie stattgefunden hatte. In anderen Experimenten kam ein Drittel der Versuchsteilnehmer fälschlicherweise zu der Überzeugung, dass sie als Kind fast ertrunken wären; und die Hälfte war zu der falschen Erinnerung an eine schreckliche Erfahrung verleitet worden, wie etwa an einen brutalen Angriff durch ein Tier (Heaps u. Nash, 2001; Porter et al. 1999). Und so verhält es sich mit dem Prozess der Gedächtniskonstruktion, durch den Menschen sich daran erinnern können, von einem UFO entführt worden zu sein, Opfer eines satanischen Kults gewesen zu sein, in der Wiege belästigt worden zu sein oder in einem vergangenen Leben gelebt zu haben. Tausende von ganz normalen Menschen, merkt Loftus an, »reden in einer von Schrecken ergriffenen Stimme über ihre Erfahrung an Bord von fliegenden Untertassen. Sie erinnern sich klar und deutlich daran, von Aliens entführt worden zu sein.« (Loftus u. Ketcham 1994, S. 66). Elizabeth Loftus kennt das Phänomen, das sie untersucht, aus persönlicher Erfahrung. Bei einem Familientreffen erzählte ihr ein Onkel, sie hätte mit 14 Jahren die Leiche ihrer ertrunkenen Mutter gefunden. Schockiert wies sie diese Vorstellung zurück. Doch der Onkel blieb bei seiner Behauptung, und in den folgenden 3 Tagen begann sie, sich zu fragen, ob sie vielleicht die Erinnerung verdrängt hätte: »Vielleicht bin ich deshalb so besessen von diesem Thema.« Als die nun sehr verstörte Elizabeth über das nachdachte, was ihr Onkel da gesagt hatte, »entdeckte« sie in ihrem Gedächtnis ein Bild, auf dem ihre Mutter mit dem Gesicht nach unten im Swimmingpool lag, und sie sah, wie sie selbst die Leiche fand. »Ich begann, jedes Teilchen an die richtige Stelle zu rücken. Vielleicht, dachte ich, bin ich deshalb so ein Workaholic. Vielleicht reagiere ich deshalb immer so emotional, wenn ich an meine Mutter denke, obwohl sie 1959 starb.« Dann rief ihr Bruder an und sagte, das sei alles falsch. Ihr Onkel erinnerte sich nun – und andere Verwandte bestätigten es –, dass nicht sie, sondern ihre Tante die Leiche gefunden hatte (Loftus u. Ketcham 1994; Monaghan 1992). Aber Elizabeth Loftus kennt auch die Realität von sexuellem Missbrauch aus eigener Erfahrung: Als 6-Jährige wurde sie von einem männlichen Babysitter belästigt, und sie hat dies nicht 425 9.6 · Konstruktion von Erinnerung vergessen. Und das macht sie argwöhnisch gegenüber denjenigen, bei denen sie sieht, wie echter Missbrauch dadurch trivialisiert wird, dass nach unbestätigten traumatischen Erfahrungen gesucht wird, die dann kritiklos als Tatsache akzeptiert werden. Loftus ist deshalb der Meinung, dass die eigentlichen Feinde der echten Opfer nicht nur die sind, die das Opfer sexuell ausbeuten und das dann leugnen, sondern die, deren Veröffentlichungen und unbewiesene Beschuldigungen »zwangsläufig dazu führen, dass die Gesellschaft mit immer größerer Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit Unglauben begegnet, obwohl diese Opfer doch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verdient haben« (Loftus 1993). Finden Verdrängung oder bedrohliche Erinnerungen also tatsächlich statt, oder ist dieses Konzept, das den Eckstein von Freuds Theorie darstellt und in der Populärpsychologie so beliebt ist, ein Weg, der in die Irre führt? In 7 Kap. 18 werden wir uns noch einmal mit diesem stark umstrittenen Thema beschäftigen und werden Folgendes erkennen: Die meistverbreitete Reaktion auf eine traumatische Erfahrung (Zeuge für den Mord an den Eltern zu sein, die Schrecken eines KZs zu erleben, von einem Flugzeugentführer oder von einem Vergewaltiger terrorisiert zu werden, einem der in sich zusammenfallenden Türme des World Trade Center zu entkommen, einen Tsunami in Asien zu überleben) ist nicht die Verbannung der Erfahrung ins Unbewusste. Vielmehr werden die Erfahrungen typischerweise ins Bewusstsein geätzt als lebendige, dauerhafte, ergreifende Erinnerungen. Der Dramatiker Eugene O’Neill verstand dies. Einer seiner Charaktere in seinem »Seltsamen Zwischenspiel« (1928) rief aus: »Der Teufel! ... Was sind das für bestialische Vorfälle, bei denen unsere Erinnerungen darauf bestehen, dass wir sie festhalten!« »Der Schrecken durchzuckt das Gedächtnis und hinterlässt zehrende Erinnerungen an Gräuel­ taten.« Robert Kraft, »Memory Perceived: Recalling the Holocaust« (2002) Lernziele Abschnitt 9.6 Konstruktion von Erinnerung Ziel 23: Erklären Sie, wie Fehlinformationen und Imagination unsere Er­ innerung an ein Ereignis verzerren können. Erinnerungen werden nicht als exakte Kopien unserer Erfahrungen ge­ speichert und abgerufen. Es ist eher so, dass wir unsere Erinnerungen konstruieren und dabei sowohl die gespeicherten Informationen als auch neue Informationen verwenden. Liefert man Kinder oder Erwach­ sene subtilen Fehlinformationen aus, stellen sie sich wiederholt ein Er­ eignis vor, das nie stattgefunden hat. Sie können dann diese irreführen­ den Einzelheiten in ihre Erinnerung dessen, was tatsächlich vorgefallen ist, aufnehmen. Die Erinnerung lässt sich am besten verstehen, wenn man sie nicht nur als kognitives und biologisches Phänomen begreift, sondern auch als soziokulturelles (. Abb. 9.28). Ziel 24: Stellen Sie dar, welche Rolle die Quellenamnesie bei falschen Erinnerungen spielt. Wenn wir Erinnerungen verarbeiten, enkodieren und speichern wir di­ verse ihrer Aspekte an unterschiedlichen Orten im Gehirn. Während wir eine Erinnerung beim Abruf wieder zusammensetzen, können wir mit Erfolg etwas abrufen, was wir gehört, gelesen oder uns vorgestellt ha­ ben, es aber der falschen Quelle zuordnen. Quellenamnesie ist eine der beiden Hauptkomponenten falscher Erinnerungen (der andere ist der Fehlinformationseffekt). Ziel 25: Listen Sie einige Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen echten und falschen Erinnerungen auf. Subjektiv ähneln falsche Erinnerungen wahren Erinnerungen und sind ebenso dauerhaft; deswegen sind weder Aufrichtigkeit noch Langlebig­ keit einer Erinnerung ein Hinweis darauf, ob sie der Wirklichkeit ent­ 6 . Abb. 9.28. Analyseniveaus bei der Untersuchung des Gedächtnisses Wie andere psychologische Phänomene lässt sich das Gedächtnis am besten auf einem biologischen, einem psychologischen und auf einem soziokultu­ rellen Niveau untersuchen 9 426 Kapitel 9 · Gedächtnis spricht. Echte Erinnerungen enthalten mehr Einzelheiten als die, die le­ diglich in unserer Vorstellung existieren. Letztere beschränken sich in der Regel nur auf den Kern eines Ereignisses – die Bedeutung und die Gefühle, die damit assoziiert werden. Ziel 26: Nennen Sie Argumente für und gegen die Position, dass die Berichte sehr junger Kinder über einen Missbrauch zuverlässig sind. Ein Argument dafür: Selbst sehr junge Kinder können sich genau an Er­ eignisse (und die Menschen, die damit zu tun hatten) erinnern, wenn eine neutrale Person mit ihnen in Worten redet, die sie verstehen kön­ nen, keine Suggestivfragen stellt und die kognitive Interviewmethode einsetzt. Ein Argument dagegen: Vorschulkinder sind anfälliger für Sug­ gestionen als ältere Kinder und Erwachsene; und man kann bei ihnen durch Suggestivfragen Einfluss darauf nehmen, dass sie über Ereignisse berichten, die gar nicht stattgefunden haben. Ziel 27: Skizzieren Sie die Kontroverse, die durch Berichte über verdrängte und wieder aufgedeckte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit ausgelöst wurde. Psychologen, die missbrauchte Kinder und falsch beschuldigte Erwach­ sene schützen wollen, stimmen gewöhnlich in 7 Punkten überein: 1. Unschuldige Menschen sind fälschlicherweise für einen Missbrauch, der nie stattgefunden hat, verurteilt worden, und Personen, die wirklich 9 9.7 einen Missbrauch begangen haben, haben die Kontroverse über auf­ gedeckte Erinnerungen dazu genutzt, einer Bestrafung zu entgehen. 2. Inzest und Missbrauch kommen vor, und sie können bleibende Ver­ letzungen hinterlassen. 3. Es kommt im Alltag bei uns allen vor, dass wir isolierte Ereignisse aus der Vergangenheit vergessen, ob sie nun gut oder schlecht sind. 4. Wir alle decken gute und schlechte Erinnerungen auf, die durch irgendeinen Hinweisreiz aus dem Gedächtnis ausgelöst werden, aber die Gedächtnisforscher zweifeln daran, ob wir in Freuds Sinn gewaltsam Erinnerungen verdrängen, um Angst oder Schmerzen zu vermeiden. 5. Erinnerungen, die unter dem Einfluss von Hypnose oder Medikamenten hochkommen, sind unzuverlässig. 6. Die infantile Amnesie – die Unfähigkeit, Erinnerungen an die ersten 3 Lebensjahre abzurufen – lässt die Aufdeckung von Erinnerungen an die sehr frühe Kindheit unwahrscheinlich werden. 7. Sowohl wirklichkeitsgetreue als auch falsche Erinnerungen verursachen Leiden und können zu Belas­ tungsstörungen führen. >Denken Sie weiter: Könnten Sie als unparteiischer Geschworener an einer Gerichtsverhandlung in einem Fall teilnehmen, bei dem ein Elternteil wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt ist, wenn sich die Anklage auf eine aufgedeckte Erinnerung stützt oder wenn gegen einen Therapeuten verhandelt wird, der vor Gericht steht, weil er falsche Erinnerungen erzeugt hat? Gedächtnistraining Ziel 28: Erklären Sie, wie Sie zu einer effektiveren Lerntechnik kommen können, wenn Sie das Gedächtnis besser verstehen. Wir wollen dieses Kapitel rekapitulieren und dabei darauf achten, wie wir die Gedächtnisprinzipien anwenden könnten. Was können wir tun, damit wir uns in alltäglichen Situationen besser an Namen erinnern? Wie könnten wir uns die Lerninhalte dieses Kapitels besser merken? Immer wieder einmal erschrecken wir über unsere Vergesslichkeit, die peinliche Situation, wenn wir uns nicht an den Namen unseres Gesprächspartners erinnern können, wenn wir ver­ gessen, was wir in einem Gespräch sagen wollten, wenn wir uns in einem Raum wiederfinden und nicht mehr wissen, was wir da wollten (Herrmann 1982). Können wir etwas tun, um der­ artige Gedächtnisausfälle seltener werden zu lassen? Wie die Biologie der Medizin nützt und die Botanik der Landwirtschaft, so kann auch die Gedächtnispsychologie bei Bildung und Lernen von Nutzen sein. Über das ganze Kapitel verstreut – und hier zur leichteren Verwendung zusammengefasst – finden Sie Vorschläge, wie Sie Ihre Gedächtnisleistung verbessern können. Die im Abschnitt ­»Erfolgreich lernen« (7 S. XIII) vorgestellte Lerntechnik mit dem Kürzel SQ3R (Survey, Question, Read, Rehearse) – Überblick verschaffen, Fragen stellen, lesen, wiederholen – beinhaltet mehrere dieser Strategien. 4 Wiederholtes Lernen verankert den Lernstoff besser. Neuen Stoff sollten Sie mehrmals lernen. Um sich einen Namen zu merken, sprechen Sie ihn innerlich nach, nachdem Sie vorgestellt wurden. Warten Sie ein paar Sekunden und wiederholen Sie ihn für sich selbst; warten Sie etwas länger, und wiederholen Sie ihn noch einmal. Um einen Begriff zu lernen, sollten Sie sich viele einzelne Lernsitzungen gönnen: Nutzen Sie dazu die kleinen Intervalle, die das Leben Ihnen bietet, eine Fahrt mit dem Bus, ein Gang über das Universitätsgelände oder die Wartezeit bis zur nächsten Vorlesung. 4 Wenden Sie mehr Zeit für die Wiederholung des Gelernten auf oder denken Sie darüber nach. Neue Erinnerungen sind schwach: Wenn Sie sie einüben, werden Sie sie festigen. Rasches Durchlesen (Überfliegen) von komplexem Material führt zu geringer Behaltens­ leistung. Wiederholen und kritisches Nachdenken sind eher hilfreich. Es zahlt sich aus, aktiv zu lernen! 4 Stellen Sie einen persönlichen Bezug zum Gelernten her. Um ein Assoziationsnetz aufzubauen, sollten Sie mit eigenen Worten eine Rohfassung des Textes und Ihrer Vorlesungsnotizen erstellen. Beantworten Sie die Fragen im Abschnitt »Denken Sie weiter«. Automatisches Wiederholen der Wörter eines anderen ist relativ wirkungslos. Besser ist es, ein Bild zu entwickeln, eine Information zu verstehen und einzuordnen, sie in Bezug zu bereits Gelerntem oder zu einer eigenen Erfahrung zu setzen und sie dann in eigene Worte zu fassen. 4 Benutzen Sie Mnemotechniken, um sich an Listen mit unbekannten Begriffen zu erinnern. Assoziieren Sie die Begriffe mit »Aufhängern«. Machen Sie aus den Wörtern eine Geschichte, in der sie lebendig werden. Verwenden Sie Chunks aus Akronymen. 4 Frischen Sie Ihr Gedächtnis auf, indem Sie Abrufhilfen aktivieren. Stellen Sie sich vor, wie die Situation und Ihre Stimmung waren, als Sie den Lernstoff durchgearbeitet haben. Gehen Sie wieder in den gleichen Raum. Betreiben Sie Gehirnjogging, indem Sie jeden Gedanken zum Auslöser für einen weiteren werden lassen. 4 Reproduzieren Sie die Erinnerung an ein Ereignis, ehe Sie möglicherweise in Kontakt mit Fehlinformationen kommen. Sollten Sie Zeuge eines wichtigen Ereignisses oder Vorfalls werden, dann speichern Sie Ihre Erinnerung, bevor andere Menschen Ihnen etwa erklären, was da passiert ist. 4 Achten Sie darauf, Interferenzen nach Möglichkeit zu vermeiden. Lernen Sie vor dem ins Bettgehen. Lernen Sie nicht direkt nacheinander zwei Dinge, die miteinander interferieren könnten, etwa spanische und französische Vokabeln. 4 Testen Sie Ihr Wissen. Erstens ist ein Test eine gute Wiederholung dessen, was Sie gelernt haben, zweitens zeigt er Ihnen, was Sie noch nicht wissen. Wenn Sie zu einem späteren Zeitpunkt Informationen reproduzieren müssen, sollten Sie sich nicht von übergroßem Vertrauen in Ihre Fähigkeit, die Information wiederzuerkennen, beruhigen lassen. Testen Sie lieber mit Hilfe der Lernziele, woran Sie sich erinnern. Definieren Sie Fachbegriffe und Konzepte auf einem leeren Blatt Papier. Denken Sie über die Konzepte nach, die in den einzelnen Kapiteln dieses Buches eingeführt werden, und geben Sie eine kurze Definition, ehe Sie zum Text zurückgehen und die Definition nachlesen. Machen Sie auch die Tests auf der Website, die begleitend zu diesem Lehrbuch unter www.lehrbuch-psychologie.de angeboten wird. Ohne Selbsttest könnten Sie leicht in die Gefahr geraten, zu sehr auf Ihre Fähigkeiten zu setzen. Shaughnessy u. Zechmeister (1992) stellten das in einem Experiment mit 2 Gruppen von Studierenden fest. Die Mitglieder der »Mehrfachleser-Gruppe« lasen mehrmals Dutzende von faktischen Aussagen, sollten dann die Wahrscheinlichkeit beurteilen, mit der sie jede Aussage erinnern würden und mussten am Ende in einem Test nachweisen, woran sie sich tatsächlich erinnerten. Die Studierenden dieser Gruppe waren sich ihres Wissens ziemlich sicher, sogar bei den Fragen, die sie dann nicht beantworten konnten. Die Mitglieder der »Praxistest-Gruppe« lasen gleichfalls die Aussagen, doch verbrachten sie die restliche Zeit damit, Tests zu beantworten, bei denen sie die Fakten aus dem Gedächtnis abrufen mussten. Beim Abschlusstest schnitt die »Praxistest-Gruppe« genauso gut ab wie die »Mehrfachleser-Gruppe«, doch konnten die Studierenden der »Praxistest-Gruppe« deutlicher unterscheiden, was sie wussten und was nicht. Es ist offensichtlich, dass ein Selbsttest das Erinnerungsvermögen fördert und aufzeigt, was man weiß und wo die Wissenslücken liegen. Das kann Ihnen helfen, sich während Ihrer Lern­sitzungen auf diese Lücken zu konzentrieren. Der frühere britische Premierminister Benjamin Disraeli sagte einmal: »Die Erkenntnis, dass man nichts weiß, ist ein großer Schritt auf dem Weg zum Wissen.« 427 9 »Ich habe herausgefunden, dass es einigen Nut­ zen bringt, nachts im Bett zu liegen und in die Dunkelheit zu blicken und dabei im Geist das zu wiederholen, womit man sich beschäftigt hat. Dann versteht man die Dinge nicht nur besser, sondern erinnert sich auch leichter daran.« Leonardo da Vinci (1452–1519) »Verwebe alles Neue mit bereits Erworbenem.« William James (»Principles of Psychology«, 1890) M. Barton 9.7 · Gedächtnistraining Denken und Gedächtnis Das meiste, was wir wissen, ist nicht das Ergebnis der Mühen, sich etwas einzuprägen. Wir lernen, weil wir neugierig sind und weil wir Zeit damit verbrin­ gen, über unsere Erfahrungen nachzudenken. Die besten Behaltenseffekte erzielt man, wenn man aktiv beim Lesen nachdenkt, wenn man wiederholt und die Gedanken zueinander in Bezug setzt Kapitel 9 · Gedächtnis 428 Lernziel Abschnitt 9.7 Gedächtnistraining Ziel 28: Erklären Sie, wie Sie zu einer effektiveren Lerntechnik kommen können, wenn Sie das Gedächtnis besser verstehen. Die Gedächtnispsychologie bietet konkrete Strategien zur Verbesse­ rung des Gedächtnisses an. Dazu gehören die Einplanung zeitlicher Abstände zwischen den einzelnen Arbeitssitzungen, aktives Wiederho­ len des Lernstoffs, Hilfe beim Enkodieren von geordneten, bildlichen Assoziationen mit persönlicher Bedeutung, Verwendung von Mnemo­ techniken, Einbeziehen des ursprünglichen Lernkontexts und der Stim­ mung – beides reich an Assoziationen –, Speicherung von Erinnerungen, ehe sie durch Fehlinformationen verändert werden können, nach Mög­ lichkeit Ausschalten von Interferenzen, Durchführung von Selbsttests zur Wiederholung der Informationen und Auffinden von Gedächtnis­ lücken. >Denken Sie weiter: Welche der hier vorgeschlagenen Lern- und Gedächtnisstrategien wäre bei Ihnen am effektivsten? Antworten zu den Fragen im Text 9.1 Vielleicht haben Sie ein paar von den 7 Vs nicht gefunden. Das lag möglicherweise daran, dass Sie den Satz zunächst eher akustisch als visuell verarbeitet und dabei einige Vs übersehen haben, die eher wie ein F klingen. 9.2 Ein Multiple-Choice-Test erfasst die Fähigkeit zum Wiedererkennen, Lückentexte testen die Fähigkeit zur Reproduktion. 9.3 Die letzte Centmünze in der zweiten Zeile ist die richtige. Prüfen Sie Ihr Wissen 9 1. Zum Gedächtnis gehören in alphabetischer Reihenfolge Arbeits-/Kurzzeitgedächtnis, Langzeitgedächtnis und sensorisches Gedächtnis. Welches ist die korrekte Reihenfolge dieser 3 Gedächtnisspeicher? 2. Was wäre die effektivste Strategie, um eine Liste von Namen mit den wichtigsten historischen Personen innerhalb einer Woche zu lernen? Und innerhalb eines Jahres? 3. Ihre Freundin erzählt Ihnen, dass ihr Vater bei einem Unfall eine Hirnschädigung erlitten hat. Sie fragt sich, ob die Psychologie eine Erklärung dafür hat, dass er sehr gut Dame spielen kann, es ihm aber schwer fällt, eine vernünftige Unterhaltung zu führen. 4. Was ist Priming? 5. Können Sie ein Beispiel für proaktive Interferenz anführen? 6. Wie könnte das Leben aussehen, wenn wir all unsere Erlebnisse im Wachzustand und all unsere Träume erinnerten (Denken Sie dabei auch an das häufige Auftreten der Quellenamnesie)? 7. Welche der Gedächtnisstrategie, über die Sie gerade gelesen haben, könnten Sie anderen empfehlen? (Eine be­ stand in dem Rat, die Lerninhalte, an die man sich erinnern soll, zu wiederholen. Wie lauteten die anderen?) L Deutsche Literatur zum Thema Markowitsch, H. J. (1999). Gedächtnisstörungen. Stuttgart: Kohlhammer. Roth, G. (1996). Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 2. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp. Sacks, O. (1990). Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek: Rowohlt. Schacter, D. L. (2002). Wir sind Erinnerung, Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek: Rowohlt. Schermer, F. J. (2002). Lernen und Gedächtnis. Stuttgart: Kohlhammer. Solso, R. L. (2005). Kognitive Psychologie. Heidelberg: Springer.