Metaphysik oder Seinsschau, Kritik oder Rückgang auf das

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Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Dietrich Böhler
Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Metaphysik oder Seinsschau,
Kritik oder Rückgang auf das Erkenntnissubjekt,
»Kommunikation« oder Rückgang auf die Sinnbasis des Denkens.
Diskursbezogene Einleitung in die Philosophie und ihre Entwicklung
(2 SWS) Do 14.00-16.00 – Rost-/Silberlaube Habelschwerdterallee 45, HS 2 (Hörsaal)
1
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
2
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,
Ich beginne mit einem Geständnis. Es gibt zwei kleine Schwierigkeiten am Anfang dieser
Vorlesung.
1)
Terminschwierigkeit: Wer kann absolut nicht Do 14-16 Uhr? Wir müssen uns auf 14
Uhr oder 16 Uhr verständigen, weil es eine Doppelankündigung gegeben hat, die ich
sehr bedauere.
2)
Hör-Schwierigkeit, weil ich 26. Oktober und 2. November aus gesundheitlichen
Gründen nicht werde lesen können. Doch ist diese Situation für Sie als Studenten sehr
nutzbringend, weil sie ein Stimulans zum Selbststudium und damit zur Annäherung an
Ihr vornehmstes Studienziel ist: Erwerb von Urteilsautonomie und der Kompetenz des
autonomen Philosophierens = des Selbstdenkens.
Ad 1) Nächste Vorlesung, die ich persönlich halten kann: Do, 9. November
vermutlich (siehe Aushang und im Internet: www.hans-jonas-zentrum.de)
um 14 Uhr
in Hörsaal 2.
Ad 2) Was nun Ihren Weg zur philosophischen Denk- und Urteilsautonomie anlangt, soweit
sie ihn gleich zu Anfang dieser Vorlesung – man darf sagen glücklicherweise –
beschreiten können, so ist folgendes nötig und sehr leicht möglich:
Erstens: Sie laden sich den Text für diese sowie für die nächste und übernächste VL
von der Website des Hans-Jonas-Zentrums herunter, lesen ihn sorgsam und – ganz
wesentlich – notieren grob Ihre Fragen dazu.
Zweitens: Sie kommen donnerstags hier in die Vorlesung und verfahren wie folgt:
1) A liest 4-5 Seiten Tilman Lücke.
2) Alle formulieren nach der Lektüre gemeinsam und mit Blick auf Ihre Grobnotizen
Fragen an mich.
3) B hält diese Fragen schriftlich als Aide-mémoire (an Böhler) fest.
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4) Dann liest A wieder 5 Seiten etc.
5) Nach der 1. Vorlesung dieses Ihres selbstorganisierten Studienteils
-
suchen A und B die wichtigsten Fragen (die sich nicht durch einfaches
Weiterlesen oder Nachschlagen von selbst beantworten) heraus,
-
bringen sie in eine sinnvolle Abfolge,
-
kopieren sie auf eine Overhead-Folie,
-
und senden sie mir per Fax (030-85961309) nicht vor dem 8. November.
6) Nun nur noch die Frage: Wer macht die/den vorlesenden A und wer die/den
protokollierenden B:
-
am 26. Oktober?
-
am 2. November?
3
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4
Vorlesungsbegleiter
Die Vorlesung gibt eine Einleitung, d. h. systematische Grundlegung und problem- bzw.
begriffserschließende Einführung, in Grundzüge der abendländischen und europäischen
Philosophie. Diese hat sich bis weit in die Neuzeit wesentlich als Metaphysik bzw. als
metaphysische, spekulative Ontologie verstanden - mit der Folge, daß sie auch dann, wenn
sie, wie bei (und z. T. im Gefolge des) Aristoteles, ein Eigenrecht der Ethik und Politik als
„Pragmatie“ der sich wandelnden Handlungswelt geltend machte, zumeist in dem Rahmen
eines spekulativen, (latent) theologischen Seinsdenkens geblieben ist.
Wie ist das von uns zu beurteilen, wenn wir berücksichtigen, daß (erstens) seit Sokrates auch
die Möglichkeit eines dialogischen Philosophierens unabhängig von Glaubensannahmen und
unüberprüfbaren Seinsspekulationen aufscheint, daß (zweitens) wir selbst als
philosophierende Argumentationspartner diesseits solcher Spekulationen im und aus dem
Dialog denken müssen, daß (drittens) die Philosophiegeschichte quasi eine Entwicklungslogik
zeigt: eine Tendenz zur dialektischen ‚Aufhebung’ der (traditionellen) Metaphysik.
So will Kants kopernikanische Wende zu einer Kritik der Vernunft die metaphysische
Seinsspekulation in eine „Transzendentalphilosophie“ aufheben. Seit der linguistischen,
sprachpragmatischen Wende soll nun diese Denkweise kritisiert und aufgehoben werden: Auf
der Agenda steht die 'Aufhebung' dieser und jeder Art der Bewußtseinsphilosophie in
Sprachanalyse und Sprachpragmatik, Hermeneutik und Kommunikationsreflexion.
Kann und sollte also die Sprach-, Kommunikations- und Dialogphilosophie eben das werden,
was die theoria des Seins, die ursprüngliche Metaphysik, hatte darstellen wollen, nämlich eine
erste oder fundamentale Philosophie? Und könnte dadurch das Philosophieren den
sokratischen Anspruch, aus dem und im Dialog zu denken, am Ende einlösen?
In unserem Zeitalter der Verwissenschaftlichung und zugleich der Selbstbesinnung oder
Selbstbehauptung sich pluralisierender Kulturen wäre das zudem eine Aufgabe von
weltpolitischer und weltethischer Bedeutung, die wir bedenken sollten.
Einführende und begleitende Literatur:
[●: Für die Themen der Vorlesung zentral]
-
-
● Jonas, Hans: Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Reclam 2004.
● Kamlah, Wilhelm, und Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik. B1
Hochschultaschenbücher 1967. §§ Einführung und IV. Kapitel.
● Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie, 2. Bde. Suhrkamp 1973 und 1984
(3. Aufl.). Einleitung (Bd. 1) und aus Bd. 2: S. 330f.
Ders., Böhler, Dietrich u. a. (Hrsg.): Funkkolleg Praktische Philosophie / Ethik:
Studientexte, 3 Bde. Beltz 1984. Aus Bd. 1: Studieneinheiten (STE) 2, 4, 10; aus Bd.
3: STE 22, 26, Lösung der Aufgaben und Glossar (!).
Schulz, Walter: Philosophie in der veränderten Welt. Klett-Cotta 1972.
Tugendhat, Ernst und Wolf, Erika: Logisch-semantische Propädeutik. Reclam 1983.
Böhler, Dietrich: Rekonstruktive Pragmatik. Suhrkamp 1985. Bes. S. 17-81 und
S. 335-374.
Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Suhrkamp 1999. Bes. S. 65-101.
● Lücke, Tilman: „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“. In:
Burckhart, Holger und Gronke, Horst (Hrsg.): Philosophieren aus dem Diskurs.
Beiträge zur Diskurspragmatik. Königshausen & Neumann 2002.
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Für Oktober/November/Anfang Dezember – insbesondere:
-
Basistext: T. Lücke, s. o.
Begleittexte:
E. Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie.
Suhrkamp 1976. Bes. S. 24-91.
K.-O. Apel: Transformation, s. o., Bd. 2, S. 330ff.
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Inhalt
I
Einleitung: Metaphysik als Schau des Ganzen.
Oder: Spekulation über Gott und die Welt.
1
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
1.1
Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Wende noch
möglich ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“.
1.2
Der verdinglichende, subjekt- und kommunikationsvergessene Weltbezug der
(traditionellen) Metaphysik, dessen partielle Fortwirkung in der Erkenntniskritik als
Subjekt-Objekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber
reflexionsvergessene Metakritik.
1.2.1
Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme:
Heidegger.
II
Instruktiver Vorblick auf den paradigmatischen Gang und
wichtige Inhalte der Vorlesung:
2.
Tilman Lücke, „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“, in: H.
Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur
Diskurspragmatik. Festschrift für D. Böhler. Würzburg (Königshausen u. Neumann)
2002, S. 45-68.
2.1
Nach der Lektüre: Fragen an D. Böhler und dessen Antworten.
2.1.2
Eine Nachschrift der Antworten.
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die drei
philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
3.2
Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse.
3.2.1 Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen
Strategiebildung.
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3.2.2 Das Paradigma der Kommunikationsphilosophie und Kohlbergs eigentliche
Prinzipienstufe 6.
3.3
Der argumentative Dialog – ein Diskurs unter vielen?
3.4
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik.
3.4.1
Der Logosgrundsatz oder: Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
3.4.2
Der Sokratische Elenchos und die Diskurs-Tugend. Wissen und Wollen der
Dialogverpflichtungen bei (möglichem) Nichtwissen der Sachen.
3.4.3
Gemeinschafts- und Geltungsbezug als Basis einer dialogischen Sinnkritik.
Die seit Platon verdrängten kommunikativen Dimensionen des EtwasDenkens.
IV
„Diskurs“ und Diskurse im geschichtlichen Spannungsfeld
von Seinsschau, Selbst-Bewußtsein und Kommunikationsreflexion.
4.1
4.2
Theoria-Metaphysik versus Diskurs.
4.1.1
Platon: Philosophie als theoria-Ontologie. Oder: Vom Diskurs zur einsamen
Ideenschau, vom argumentativen und reflexiven Dialog zum totalitären
Kosmos-Polis-Mythos.
4.1.2
Aristoteles und das Aufblitzen der Dialogreflexion inmitten der theoriaOntologie. Vorgriff auf die Verbindlichkeit aus dem argumentativen Dialog?
4.1.3
Die peripatetische Verbannung der Pragmatik aus der Philosophie –
Türöffnung für den methodischen Solipsismus.
Rhetorik versus Metaphysik oder Metaphysik in der Rhetorik?
4.2.1
Von Isokrates zu Cicero. Die unbefriedigte Kommunikation (I). Rhetorik als
konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer
Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel?
4.2.2 Rhetorik und Ideologie. Von Cicero bis Rorty – kulturrelativistische
Anfälligkeit der Rhetorik.
4.3
Diskurs im metaphysisch-theologischen Rahmen einer christianisierten theoria.
4.3.1
Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnisund instrumentellen Sprachauffassung.
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4.3.2
4.4
8
Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das
akommunikative Erkenntnisschema ‚diskursiver Verstand versus intuitive
Vernunft’.
Die unbefriedigte Kommunikation (II): Emanzipation von der christianisierten theoria
– zwischen italienischem Humanismus, Lutherscher Reformation, Montaignes
Lebenskunst und Vicos geistigem Wörterbuch der Menschheit.
4.4.1
Reformation versus Humanismus: Verdeutschung der Bibel, Behauptung und
Verlust der Gewissensfreiheit – Idee der Menschenwürde.
4.4.2
Südlich der Alpen: uomo universale im Spielfeld der discorsi.
4.4.3 Machiavelli und Galilei: Vom rhetorisch humanistischen zum
machtanalytischen und zum konstruktiv theoretischen discorso.
4.4.4
Diskurs zwischen moderner Didaktisierung und althergebrachtem „hohen
Geistergespräch“.
4.4.5
Montaignes Diskursessays: Schwebende Selbst- und Weltbetrachtung
zwischen Autonomie und stoischer Skepsis.
4.4.6
Vicos geschichtsphilosophisch hermeneutischer Diskursrahmen: sprachlichinstitutioneller Gemeinsinn der Völker.
V
Diskurs im subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophischen Paradigma des
Selbst-Bewußtseins und der Kritik
5.1
Descartes versus Pascal.
5.2
Zweckrationalität als Rahmen der Vertragstheorie. Hobbes und die Moderne.
5.3
Etablierung der Kritik durch Kants Revolution der Denkart. Solipsistische Vernunft
und verallgemeinerbare Gegenseitigkeit.
VI
Auf dem Wege zu einem dritten Paradigma. Oder: Die pragmatischhermeneutische Entdeckung der Kommunikation
als Sinnbasis des Etwas-Denkens.
6.1
Weichenstellungen zur Pragmatik: W. von Humboldt und Ch. S. Peirce.
6.2
Sprechakttheorie und empirische Diskursanalyse.
6.3
Diskurs zwischen konservativ pragmatischer Hermeneutik (Gadamer, Marquard),
relativistischem Neopragmatismus (Rorty) und antiuniversalistischem
Poststrukturalismus (Foucault, Lyotard, Derrida).
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6.4
Nouvelle Rhétorique (Perelman) und konstruktivistische Dialogik (Lorenzen).
6.5
Diskurstheorie (Habermas) versus Transzendentalpragmatik (Apel) versus sokratische
Diskurspragmatik.
VII
Zum Beschluß: Wo bist du? Was hast du, etwas als etwas denkend,
schon in Anspruch genommen?
Oder: Der Begleitdiskurs, meine Geltungsansprüche und Dialogversprechen.
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1
10
Zum Begriff und zur Kritik der Metaphysik.
‚Was heißt Metaphysik?’ Anders gefragt: Gibt es gemeinsame Leitthemen, Gegenstände und
Fragen dessen, was wir im Rückblick auf das Denken seit der vorsokratischen und
nachsokratischen Antike „Metaphysik“ nennen?
Zweifellos. Es gibt spekulative ‚Gegenstände’, die als solche weder empirisch durch
Theorien, Beobachtungen und Experimente i. S. kausaler Gesetzeserklärungen objektivierbar
sind, noch durch erkenntnis- und sinnkritische Reflexion auf interne und unvermeidbare, weil
erkenntnistragende und eine Erkenntnis oder sinnvolle Erörterung erst ermöglichende,
Voraussetzungen (Kant: „Bedingungen der Möglichkeit“ von Erkenntnis) aufweisbar sind,
aber doch von denkenden Menschen nach den mythischen Kulturepochen immer wieder
umrissen und thematisiert werden. Dazu gehören in erster Linie:
1) Das Ganze als Inbegriff dessen, vom dem sich – vermutlich –
Existenzaussagen (der Form: ‚p existiert’, ‚p existiert wirklich’) behaupten
lassen.
2) Das Ganze
a) als Inbegriff eines (vermeintlich) objektiven, unvordenklich
vorgegebenen und (vermeintlich nur) teleologisch1 verstehbaren, von
einem Schöpfer gegebenen Sinnzusammenhangs (→ objektiv
teleologisch angesetzte Seins- bzw. Schöpfungstheologie),
b) als Inbegriff eines möglichen Sinnzusammenhangs, d. h.: Wir
Menschen können unser Verhältnis zum All so verstehen, daß wir
ihm Sinn abgewinnen (→ Sinnentwurf einer hypothetischen
Metaphysik als „rationaler Mythos“ i. S. von Hans Jonas).
3) Der Begriff eines Zentrums und ursächlichen Grundes eines solchen Ganzen:
in zahlreichen (mythisch-)metaphysischen Traditionen – Sonderfall
Buddhismus? – ist das »Gott«, z. B. als ‚Demiurg’ oder ‚Schöpfer’, und in den
biblischen Traditionen (AT und rabbinische, NT und christliche Lehren) auch
als personales Gegenüber, als Inbegriff der Gerechtigkeit und barmherzigen
Liebe. Durchaus verwandt ist der Gottesbegriff der dritten abrahamitischen
Religion, des Islams.
1
Wenn man einen Zusammenhang, der einem selbst geordnet erscheint, objektiv teleologisch versteht, deutet
man ihn als zweckvoll angelegt. Dabei unterstellt man häufig ein Subjekt, welches diese zweckvolle Anlage
verursacht oder geschaffen hat – einen schöpferischen Geist.
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4) Zeitlich bzw. denkepochal erstreckt sich Metaphysik in verschiedensten
Ausprägungen vom mythischen Denken über die griechische theoria bis in die
gegenwärtige Philosophie – zum Teil auch innerhalb der, seit Kant, weithin
metaphysikkritisch gewordenen Philosophie.
Als Überblick bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts empfiehlt sich das
exemplarische Werk von Karl Jaspers: „Die großen Philosophen. Erster Band:
Die maßgebenden Menschen: Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus. Die
fortzeugenden Gründer des Philosophierens: Plato, Augustinus, Kant. Aus dem
Ursprung denkende Metaphysiker: Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin,
Anselm, Spinoza, Laotse, Nagarjuna“ (München: Piper 1957, Neuauflage
1981). Mit Ausnahme Kants thematisiert Jaspers in diesem bedeutenden Werk
ausnahmslos spekulative Metaphysiker, die also weder erkenntniskritisch im
Sinne der Kantischen transzendentalen Rückfrage nach Bedingungen der
Möglichkeit der Erkenntnis, noch gar sinnkritisch denken, also nicht gemäß
der Frage nach den Sinnbedingungen und Sinngrenzen metaphysischer
Theorien: ‚Wann wird eine metaphysische Position ein sinnloser
Argumentationsbeitrag?’
Nicht mit dem weiten, explizit nachkantischen Horizont von Jaspers, sondern
zumal metaphysik-immanent, ja eher dogmengeschichtlich, angelegt, ist das
2001 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene Buch Jörg
Disses, „Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis
Hegel“. Was den Geltungsstatus metaphysischer Theorien anbelangt, so
plädiert jedoch auch Disse dafür, diesen „nur einen grundsätzlich
hypothetischen Charakter“ zuzubilligen. Er schreibt aber der Metaphysik die
Kraft zu, das auf naturwissenschaftlichen Theorien gründende Wissen „zu
einem einheitlichen Verständnis von Welt zusammenzudenken bzw. von einem
spekulativen Einheitspunkt aus rückwärts schreitend“ dieses Wissen in seinen
wichtigsten Grundzügen einzuholen (!).
Befremdlicherweise referiert Disse die Positionen der traditionellen
Metaphysik von Platon bis Hegel bloß und hat überhaupt kein Verständnis für
die Notwendigkeit einer Sinnkritik der traditionellen Metaphysik. Den
Sinnlosigkeitsverdacht, der mit der linguistischen und der pragmatischhermeneutischen Wende des Philosophierens begründeterweise aufgekommen
ist, scheint er für eine abwegige Zumutung zu halten und unterstellt einfach,
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daß die Aussagen der traditionellen Metaphysiker sinnvoll sind und daher auch
aktuell sein können.
Karl Jaspers’ Darstellung ist in diesem Betracht durchaus differenzierter,
wiewohl er selbst die linguistische und pragmatisch-hermeneutische Wende
nicht nachvollzogen hat und nicht auf deren Niveau philosophiert. Aber er ist
konsequent durch Kant hindurchgegangen. Überdies hat er ein Gespür für das
Unzureichende der Subjekt-Objekt-Beziehung und des Subjekt-WeltDualismus, aus dem heraus die neuzeitliche Metaphysik denkt. Da er zudem
selbst die Kommunikation mehr und mehr in den Mittelpunkt seines Denkens
gerückt hat, ist er auch des methodischen Solipsismus unverdächtig, der die
metaphysische Tradition durchzieht. Freilich vermißt man eine sinnkritische
Aufarbeitung der metaphysischen Positionen unter der Frage, was von ihnen
noch gelten bzw. aufgehoben werden kann, wenn die drei Strukturfehler der
Metaphysik, jedenfalls der traditionellen – nicht durch Kants Vernunftkritik
noch durch eine (transzendental-)pragmatische Sinnkritik hindurchgegangenen
– Metaphysik, beseitigt würden, nämlich
ƒ
das Denken aus einem uneinholbar theoretischen Gesichtspunkt heraus,
gleichsam von einem Gottesstandpunkt außerhalb der Welt,
ƒ
die Unterstellung, daß einer alleine, jeder Metaphysiker für sich, Sinn
und Bedeutung sowie Wahrheit und Gewißheit der Wahrheit erlangen;
d. h. ohne Vermittlung seiner Thesen durch die reale
Kommunikationsgemeinschaft (z. B. Tradition) berücksichtigen zu
müssen, und ohne als letzten Geltungsmaßstab die sinnvolle
Vertretbarkeit und die argumentative Zustimmungswürdigkeit seiner
These im Rahmen einer (als regulative Idee vorauszusetzenden)
unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft zum Kriterium zu machen,
ƒ
die damit verwobene Erkenntnishaltung einer Subjekt-Objekt-Spaltung
bzw. eines Dualismus zwischen Erkenntnissubjekt und Welt als
Inbegriff möglicher Erkenntnisobjekte, welche nach dem Muster
dinglicher Gegenstände verstanden, also verdinglicht werden.
Diese drei Strukturprobleme sollten wir bei jeder Auseinandersetzung mit der
Metaphysik genau im Auge behalten. Ohne den Blick darauf läuft die
Beschäftigung mit Metaphysik ins Naive und Dogmatische. Das gilt aber auch
für die Diskussion aller anderen philosophischen Positionen, die sich nicht als
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Metaphysik verstehen. Auch sie genau können diese Strukturfehler haben,
schließlich liegen diese nicht offen zutage, sondern werden gleichsam ‚im
Rücken’ mitgeschleppt.
1.1 Wie Metaphysik nach Kant und nach der pragmatisch-hermeneutischen Ende möglich
ist: Hans Jonas’ „rationaler Mythos“.
Für die Gegenwart möchte ich Ihnen ein besonders reiches und reflektiertes Beispiel eines
eigenständigen metaphysischen Ansatzes vorstellen, nämlich den „rationalen Mythos“ von
Hans Jonas. Dazu sei zweierlei bemerkt. Einmal steht dieser Versuch nicht im Zentrum seines
Denkens, welches sich nämlich von einer kritischen, nämlich entmythologisierenden
Hermeneutik, ausgeübt vor allem an dem Gnostizismus und der Metaphysik von Augustinus,
über eine leibphänomenologisch orientierte Evolutionstheorie des Lebens bzw. einer
philosophischen Biologie hin zur Ethik der Zukunftsverantwortung in der technologischen
Gefahrenzivilisation erstreckt.
Zum anderen, und das geht uns jetzt vor allem an, stellt Jonas’ rationaler Mythos einen
bemerkenswert metaphysikkritischen metaphysischen Versuch dar. Denn er nimmt – erstens –
die erkenntniskritische Wende zum transzendentalphilosophischen Paradigma einer
Erkenntnistheorie auf, die nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis fragt und
von daher die Grenzen, innerhalb derer ein metaphysischer Versuch gelten kann, eng zieht:
Hier sei keine Gewißheit der Wahrheit möglich, so daß es sich nur um eine metaphysische
Vermutung handeln könne, welche keinen höheren Geltungsstatus als den der Plausibilität zu
erreichen vermöge. Jonas berücksichtigt Kants Kopernikanische Wende von der naiven
Seinsschau zur Rückbesinnung auf die Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts gleich in
seinem metaphysischen Versuch.
Zweitens gibt er eine logische Kohärenzkritik und eine Sinnkritik an Grundgehalten der
jüdischen und christlichen Theologie als dem spekulativen Zentrum europäischer Metaphysik.
Zunächst prüft er die Kohärenz der drei Gottesattribute der absoluten Güte, der absoluten
Macht oder Allmacht und der Verstehbarkeit. Von diesen Attributen sagt Jonas, sie stünden
„in einem solchen Verhältnis, daß jede Verbindung von zweien von ihnen das dritte
ausschließt“. Und er fährt fort: „Die Frage ist dann, welche von ihnen sind wahrhaft integral
für unseren Begriff von Gott und daher unveräußerlich, und welches dritte muß als weniger
kräftig dem überlegenen Anspruch der anderen weichen? Gewiß nun ist Güte, d. h. das
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Wollen des Guten, untrennbar von unserem Gottesbegriff und kann keiner Einschränkung
unterliegen. Verstehbarkeit oder Erkennbarkeit, die zweifach bedingt ist: vom Wesen Gottes
und von den Grenzen des Menschen, ist in letzterer Hinsicht allerdings der Einschränkung
unterworfen, aber unter keinen Umständen duldet sie totale Verneinung. Der deus
absconditus, der verborgene Gott (nicht zu reden vom absurden Gott), ist eine zutiefst
unjüdische Vorstellung.“
Schließlich beruhe die Thora darauf, daß wir Gott verstehen können, wir besäßen sein Gebot
und sein Gesetz, und Gott habe durch seine Propheten, wenn auch in dem beschränkenden
Medium der Sprache einer Zeit, mit den Menschen gesprochen. Daher sei die Annahme eines
gänzlich verborgenen, unverständlichen Gottes ein unannehmbarer Begriff. Unannehmbar
aber müßte der Gottesbegriff sein, wenn Gott zusammen mit der Allgüte auch Allmacht
zugeschrieben würde: „nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor
behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem
Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber
Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir
festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es
nur, wenn er nicht allmächtig ist. Nur dann können wir aufrechterhalten, daß er verstehbar
und gut ist und es dennoch Übel in der Welt gibt“.2
An diese immanente Kritik einer Kohärenzprüfung schließt Jonas die eigentliche Sinnkritik an
dem Begriff „Allmacht“ an: Die Rede von Allmacht sei sinnlos, weil wir bei jeder
Verwendung des Begriffs „Macht“ – als dessen Sinnbedingung – voraussetzen müssen und
umgangssprachlich bzw. lebensweltlich auch tatsächlich voraussetzen, daß sich eine Macht
auf die Existenz von etwas anderem bezieht, das als solches schon eine Begrenzung der
Macht ist. Macht sei kein einsames und von daher gänzlich autarkes, sondern ein sozial
bezogenes Phänomen, welches Andere als Gegenüber oder Gegenstand voraussetze, worauf
die Macht wirken könne. Eine absolute Alleinmacht wäre leere Macht.
Das aber wäre, so analysiert Jonas, eine „machtlose Macht, die sich selbst aufhebt. ‚All’ ist
hier gleich Null [...]. Kurz, Macht ist ein Verhältnisbegriff und erfordert ein mehrpoliges
Verhältnis [...]. Macht kommt zur Ausübung nur in Beziehung zu etwas, was selber Macht
hat. Macht, wenn sie nicht müßig sein soll, besteht in der Fähigkeit, etwas zu überwinden;
und Koexistenz ist als solche genug, diese Bedingung beizustellen. Denn Dasein heißt
2
Hans Jonas: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“. In: Ders.: Philosophische
Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Insel 1992, S. 203f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Widerstand und somit gegenwirkende Kraft.“ Daher könne es nicht sein, „daß alle Macht auf
Seiten eines Wirksubjekts allein sei. Macht muß geteilt sein, damit es überhaupt Macht gibt“.3
Allein aus diesem, wie Jonas sagt, zugleich logischen und ontologischen Grund, daß die Rede
von Allmacht sinnlos und das Phänomen einer Allmacht in der Wirklichkeit nicht denkbar sei,
müsse auf das Attribut der absoluten Macht Gottes verzichtet werden.
Wir bemerken also, daß Jonas’ rationaler Mythos eine metaphysikkritische Metaphysik
darstellt, weil sie sowohl Kants Beschränkung des Gültigkeitsstatus aller Spekulationen
hinsichtlich möglicher Erfahrung aufnimmt, übrigens gleich zu Anfang des Vortrags „Der
Gottesbegriff nach Auschwitz“, als auch den grundlegenden Geltungsanspruch der
Verstehbarkeit der Rede, also des Anspruchs auf sinnvolle Rede, ins Spiel bringt, in dem er
den metaphysisch-theologischen Begriff der Allmacht an diesem Anspruch mißt und daher
das Konzept verwirft.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“4 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rück. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
Gestatten Sie, daß ich nach dieser Pointierung des metapysikkritischen Charakters von Jonas’
„unverhüllt spekulativer Theologie“5 dieses Stück in den Kontext seines Denkens rücke. So
aber, daß der Referierte dabei selber miterscheint, indem ich Ihnen nämlich ein Stück der
Berliner Ehrenpromotion von Hans Jonas im Jahre 1992 vor Augen führe: Die Laudatio und
die Überreichung der Ehrendoktorurkunde.
3
Ebd., S. 201f.
Ebd., S. 190.
5
Ebd., S. 190.
4
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Hans Jonas – von der Hermeneutik der Entmythologisierung zur Ethik der
Zukunftsverantwortung6
Laudatio des Dekans, Professor Dr. Dietrich Böhler
Verehrter Herr Professor Jonas, meine Laudatio spielt sich nach einem hermeneutischen
Auftakt in zwei Teilen ab: »Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus« zunächst,
»Metaphysisch ontologische Wertlehre und 'Prinzip Verantwortung'« sodann.
I. Entmythologisierende Hermeneutik
Aus ihrer frühen Forschung kann ich nur auf ein wertvolles Instrument hinweisen: auf Ihre, in
Rudolf Bullmanns theologischem Seminar entwickelte Methode, Dogmen und Mythen
rational zu erschließen, Ihre Hermeneutik der Entmythologisierung. Von Heidegger und auch
von Hegel belehrt, zeigen Sie in Ihrer Frühschrift "Augustin und das paulinische
Freiheitsproblem", Göttingen 1930, daß der Geist nur über den Umweg des Symbols "zu sich
kommen könne"; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner
wesentlichen Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem
Verhältnis zu sich selbst. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase,
neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie
projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich.
So erklärt Augustinus - wirkungsträchtig am Anfang des abendländischen Verständnisses von
Freiheit und Moralität - das Dilemma des menschlichen Willens, einerseits moralisch sein zu
wollen, andererseits aber unmoralischen Willensrichtungen zu folgen, etwa der Selbstliebe,
dem Hochmut und dem bösen Begehren bzw. Haben-Wollen, mit dem (m.E. unbiblischen)
Mythos der Erbsünde: Augustinus führt also ein Dilemma des Willens zurück auf die
vermeintlich schicksalhafte Kausalität von Adams Sündenfall.
Indem Sie, Professor Jonas, diesen Mythos als veranschaulichende Objektivierung eines
inneren, existentialen Dilemmas enthüllen, wird exemplarisch zweierlei geleistet: rationale
Kritik an einem Mythos, die diesen als Verzerrung eines Existentialphänomens bestimmt, und
Rettung des zugrunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens unseres moralischen
Selbstverhältnisses. Auf diese Weise bewahrt Ihre Methode den Gehalt von Dogmen und
6
Aus: Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren, hrsg. von D. Böhler und R. Neuberth,
Münster: LIT, 2. Aufl. 1993, S. 27-36.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Mythen vor einem rationalistischen Verdikt und macht sie uns als Beiträge menschlicher
Selbstverständigung zugänglich.
II. Rationaler Mythos und Aufhebung des Dualismus
Ihre Methode einer nicht-mythologischen Rekonstruktion von Mythen war also nicht
dekonstruktiv sondern sinnerschließend: Rekonstruktion von Erfahrungen und Problemen des
Daseins. Daher schuf sie einen Spielraum, den der Geist braucht, um die letzten Fragen, die
spekulativen Fragen, stellen und gehaltvoll erörtern zu können; jene Fragen, die uns
existentiell und gleichsam gattungsexistentiell angehen, als Personen und als menschliche
Wesen in einem materiellen All. Da ist zunächst das Ur-Rätsel: Wie können wir uns
verständlich machen, daß aus "den stummen Wirbeln" von Materie Subjektivität
hervorgegangen ist? Das ist wohl die erste jener Fragen, deren Antworten stets hinausgehen
über die Grenzen unserer möglichen Erfahrung.
Für solche Antworten können wir nicht mehr legitim den Anspruch des Wissens und einer
rationalen Gewißheit erheben. Immanuel Kant hat uns gezeigt, daß es hier kein Wissen der
Wahrheit, keinen Nachweis intersubjektiver Gültigkeit geben kann, obwohl uns diese Fragen
umtreiben. Die Vernunft, sagt Kant, wird "durch ihr eigenes Bedürfnis getrieben" zu
metaphysischen Fragen, "die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher
entlehnte Prinzipien beantwortet werden können" (KdrV, B 21). Sofern der Mensch homo
metaphysicus ist, muß es möglich sein, metaphysische Fragen zu erörtern und sinnvolle
Antworten darauf zu versuchen. Erst, wenn wir das tun, verhalten wir homines metaphysici
uns dialogisch verantwortlich, weil wir unseren Dialogpartnern nur dann in
Orientierungsfragen Rede und Antwort stehen können, wenn wir uns auch metaphysisch oder
theologisch befragen lassen: Woher kommen wir? Wie können wir Menschen uns im Ganzen
des Seins und dieses im Blick auf uns verstehen? Was hat es mit Gott auf sich? Und wenn es
damit etwas auf sich haben mag, was kann es für unser Leben bedeuten?
Wer bei solchen Fragen von vornherein auf das Ziel rationaler Gewißheit verzichtet, der darf,
so Hans Jonas, im Blick auf "Sinn und Bedeutung sehr wohl über solche Dinge nachdenken".7
Der kann sich im Dialog auch metaphysisch verantworten, indem er sinnvolle Antworten
sucht:
7
Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1987. S. 9
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
-
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Reflektierte Antworten, die auf den Anspruch ausweisbarer Wahrheit, erweisbarer
Gültigkeit, von vornherein verzichten,
-
sinnvoll diskutierbare Antworten, die uns eine Orientierung anbieten, welche logisch
stimmig ist und zu unserem Erfahrungswissen nicht etwa in ausschließendem
Widerspruch steht, sondern sich daran anschließen läßt.
Eine solche hypothetische Antwort nennt Hans Jonas 'rationalen Mythos'. Dreimal, wenn ich
richtig sehe, Herr Jonas, haben Sie einen rationalen Mythos entworfen bzw. modifiziert und
entfaltet: 1961 in dem Harvard-Vortrag "Unsterblichkeit und heutige Existenz", deutsch in
dem 1963 erschienenen Band "Zwischen Nichts und Ewigkeit", 1984 in dem Vortrag bei
Entgegennahme des Rabbi Leopold Lucas-Preises, "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", und
1988 in der Schrift "Materie, Geist und Schöpfung".
Ihr erster Entwurf wie auch die späteren gehen von Grundlagen moderner Welterfahrung aus:
von deren bedingungsloser Immanenz und von dem methodischen Atheismus der
Wissenschaften. Der moderne Geist bestehe darauf, "unser In-der-Welt-Sein ernst zu nehmen:
die Welt als sich selbst überlassen zu sehen".8 Dasselbe fordert Ihr Mythos für "Gottes In-derWelt-Sein": Ein sinnvoller Gottesbegriff könne Gott zwar als den schöpferischen Grund des
Seins charakterisieren, aber doch nur als den absolut machtlosen, dem Abenteuer der
Evolution und damit der Menschheit ausgeliefert:
"Im Anfang ... entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der
endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging
in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück ... Vielmehr,
damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; cr entkleidete sich
seiner Gottheit... Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr
zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den
Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es ... nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß
es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der
'sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Welt niemals mangeln
sollen."9
In dem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz", der ausdrücklich die Brücke zur
kabbalistischen Lehre vom Zimzum schlägt und in Analogie zu Schellings Spekulation von
der Zusammenziehung, der Kontraktion Gottes auf einen bloßen Punkt, gelesen werden kann,
geben Sie mit diesem Mythos eine Antwort auf die, durch Auschwitz wahrhaft abgründig
8
Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen: Vandenoeck & Ruprecht 1963. S. 56
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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gewordene, Hiobsfrage, die der Antwort des Buches Hiob entgegengesetzt ist: Diese, sagen
Sie, "beruft die Machtfülle des Schöpfergottes; meine seine Machtentsagung. Und doch seltsam zu sagen - sind beide zum Lobe: Denn der Verzicht geschah, daß wir sein könnten.
Auch das, so scheint mir, ist eine Antwort an Hiob: daß in ihm Gott selbst leidet. Oh sie wahr
ist, können wir von keiner Antwort wissen."10
Ihre Schrift "Materie, Geist und Schöpfung" stellt den Mythos in den Rahmen einer
"Teleologie, einer aristotelischen Theorie vom zweckvollen und zweckgerichteten Sein, mit
der Sie auf die Kehrseite der großen Errungenschaft des abendländischen Denkens im Sinne
eines "Einerseits ... andererseits" reagieren. Einerseits rühmen Sie z.B. an Platon und Paulus,
Augustinus, Descartes und Kant, Pascal und Kierkegaard, die Entdeckung der Seele, die
Herausarbeitung der Subjektivität und Reflexivität des Menschen als Hiatus zur Natur. Es
gehe darum, "genug von der dualistischen Einsicht" zu bewahren, "damit die Menschlichkeit
des Menschen (...) erhalten"11 werde. Daraus folgt eine Zurückweisung jeder Einheits- oder
Ganzheitsanschauung; sei es ein materialistischer Monismus, der selbstwidersprüchlich das
Geistes- und Seelenleben auf materielle Determinanten zurückführen will, sei es auch ein
ökologischer Holismus, der den Menschen als bloßen Teil der Natur ansieht, als bloßes
Moment einer kosmischen Lebensgemeinschaft oder eines Superökosystems. Eine solche
Ganzheits- und Einheitsanschauung wäre nicht minder selbstwidersprüchlich, weil jede
Theorie, auch eine holistische, sich der Freiheit des Geistes verdankt, die alles bloß Natürliche
gerade überschreitet und distanziert; überdies, weil die praktisch normativen Sätze, die
Verhaltensforderungen ökologischer Einheitsdenker nur Sinn machen, wenn eben das
unterschieden wird, was sie zusammenwerfen: Sein und Sollen, beschreibende Sätze über das
Seiende und vorschreibende Sätze über richtiges Verhalten.
So entschieden Hans Jonas mit dem abendländischen Denken die "transzendierende Freiheit
des Geistes"12 und damit die Sonderstellung des intelligenten und moralisch freien Menschen
im Kosmos betont, so scharf kritisiert er andererseits die dualistische Metaphysik, die vielfach
der Preis für deren Herausarbeitung gewesen ist. Von der Gnosis bis zum Existentialismus,
von Augustin bis Heidegger findet Jonas einen, in dieser Form nicht haltbaren, Dualismus
von Mensch und Natur, Seele und Leib, Geist und Materie oder dessen direktes Fortwirken.
Auch bei Heidegger hörte man "nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens:
9
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 55, 56 u. 60.
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, S. 48f.
11
Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit, S. 25.
12
Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1988. S. 25ff.
10
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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unserer Leiblichkeit, durch die wir ... bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind,
zuunterst durch den Stoffwechsel".13
Ihre Dualismus-Kritik - genährt vom hebräisch biblischen Denken, bestärkt von dem
griechischen Arztsohn Aristoteles - und Ihre Kriegserfahrung der verletzlichen Leiblichkeit
brachte Sie in Opposition zu dem Hauptstrom der Metaphysik, wie auch zum szientistischen
Naturverständnis. In der Seinsweise, die wir mit allem Lebendigen teilen, dem Organismus,
sahen Sie den metaphysischen Dualismus widerlegt; daher erschien "das Ziel einer
Philosophie des Organischen oder einer philosophischen Biologie" vor Ihren Augen. "Dafür
bedurfte es aber einer Kenntnis der wissenschaftlichen Biologie in ihrem Ertrag und ihrer
Methode. Daran wurde ich noch einmal zum Schüler"14 - so beschreiben Sie die Vorbereitung
Ihrer philosophischen Biologie "Organismus und Freiheit", die ohne Ihr Studium bei
amerikanischen Biologen und Ihren Dialog mit ihnen nicht möglich gewesen wäre.
III. Metaphysisch ontologische Wertlehre und "Prinzip Verantwortung"
Das Resultat Ihrer philosophischen Biologie ist eine ontologische Wertlehre, die besagt: "Die
Materie ist schlafender Geist", alles organische Leben ist wertvoll und daher prinzipiell
schutzwürdig, weil sich in ihm Freiheit aufstufe und weil derart sich entwickele, was höchsten
Wert habe: das "wirkliche Menschentum“15. In dessen moralischer Freiheit liegt die Fähigkeit
zur Verpflichtung und Verantwortung, also das Überschreitenkönnen alles Gegebenen zum
Idealen, alles Endlichen zum Unendlichen16, und damit das Überschreitenkönnen vom bloß
Faktischen zum Normativen, vom Gegebenen zum Gerechtfertigten und Richtigen, wie ich
hinzufügen möchte.
Nun haben Sie nie verhehlt, daß Ihre metaphysisch ontologische Wertlehre auf Kriegsfuß oder
gar auf Siegesfuß steht zur metaethischen Trennung von Sein und Sollen, Fakten und
Normen, beschreibenden Sätzen und vorschreibenden Sätzen. Gleichwohl hege ich hier
Konsenshoffnung. Zeichnet sich nicht Konsens ab, wenn man in Rechnung stellt, daß eine
Ontologie des Organischen und eine Teleologie der Freiheit notwendigerweise geleitet ist von
Ideen, die, wie Sie sagen, "über alles je Gehbare und seine Dimension als solche hinaus“17
sind? Dazu gehören: die Idee der moralischen Freiheit und die Idee einer "Selbstunterstellung
13
Hans Jonas: Wissenschaft als persönliches Erlebnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. S. 19.
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 21.
15
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 89.
16
Hans Jonas, Materie, Geist und Schöpfung, S. 25f.
17
Ibid., S. 25.
14
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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unter die transzendenten Maßstäbe" des Gewissens und der Verantwortung für das
schutzbedürftige Wertvolle.18
Wenn dieser ideale Vorgriff auf moralische Freiheit und auf moralisches Sollen notwendige
Bedingung dafür ist, daß wir die Evolution als Entwicklung der Freiheit verstehen können,
wie auch dafür, daß wir das organische Leben als prinzipiell wertvoll und schützenswert
auszeichnen können, dann ist die Begründung von Ideen, von Maßstäben des Sollens, logisch
das Erste. Dann aber wäre - ich weiß nicht, ob Sie mir darin zustimmen - methodisch gesehen,
das "Sollen" vom "Sein" zu unterscheiden.19 Darin sehe ich die Bedingung für eine
Rechenschaftslegung der Philosophie; zumal einer ontologischen Wertlehre und einer
spekulativen Philosophie, die auch zum rationalen Mythos übergehen kann, ohne
überschwenglich oder objektivistisch zu werden. Aber wie dem auch sei. Es ist ein
leuchtendes Zeichen für die Größe Ihres Denkens, daß es, in mindestens viererlei Hinsicht,
über den Dissens innerhalb der Philosophie hinaus hochbedeutsam und fruchtbar,
stimulierend und konsensfähig bleiben dürfte:
Erstens bedarf es offenbar einer genau zu umreißenden Verhältnisbestimmung und
Kooperation von naturästhetischer und naturethischer Heuristik als methodischem Sensus für
Wert in der außermenschlichen Natur einerseits und einer Ethik der verbindlichen
Normenbegründung, der rationalen Maßstabe für intersubjektive Verbindlichkeit und Pflicht
andererseits. Daß eine teleologische Deutung des Seins, eine ontologische Wertlehre keine
letztgültigen Aussagen machen kann, sondern eher den Stellenwert einer Wertheuristik behält,
haben Sie selbst zu verstehen gegeben: "Letztlich kann mein (metaphysisch teleologisches)
Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren
Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt.20
Gerade als Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel
mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung
empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher
Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe
anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen,
um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von
vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der
ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivations- Prius zu, während die
18
Ibid., S. 28, 29.
Vgl. dazu die Erwiderung von Hans Jonas, in diesem Band, S. 123-125.
20
Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt a. M.: Leipzig: Insel
Verlag 1992. S. 140.
19
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen
könnten.
Zweitens: Sinn und Geltung der Ethik hat Hans Jonas durch das "Prinzip Verantwortung"
tiefgreifend revidiert, indem er die moralischen Fragen nicht auf die personale Moralität
beschränkt, sondern die persönliche Moralität erweitert um die zugleich kollektive und
personale Verantwortung für die Zukunftsfolgen unserer hochtechnischen Lebensform und
Gesellschaft. Sein kategorischer Imperativ, "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung
verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“21, überschreitet
nicht nur die traditionelle Begrenzung der Ethik auf den zwischenmenschlichen Nahbereich
sondern hebt auch die Ethik als Gesinnungsethik auf.
Das Moralprinzip von Jonas läßt jede Ethik hinter sich, die entweder die Moral auf Pflichten
gegen die Mitmenschen einschränkt, statt Pflichten gegen die Menschheit einzubeziehen, oder
die Moral tendenziell auf die Reinheit und Prinzipienrichtigkeit des Willens beschränkt - so,
als ginge es darum, im Einklang mit moralischen Prinzipien "recht zu handeln", als dürfe man
aber die ungewollten Nebenfolgen seines Handelns de facto "Gott anheimstellen"22 Durch das
"Prinzip Verantwortung" wird die normative Ethik schwerpunktmäßig eine Ethik der
einsehbaren Pflicht zur Zukunftsverantwortung.
Drittens, verehrter Herr Jonas, haben Sie auch den Übergang zur Anwendung der normativen
Ethik erheblich verändert und neu bestimmt. Dazu mögen zwei Hinweise genügen.
Gegenüber den traditionellen Ethiken, sei es der aristotelischen, sei es der kantischen
Tradition, betonen Sie, daß keineswegs ethischer Gemeinsinn, moralisches Gefühl und
gesunder Menschenverstand ausreichen, um das moralisch Richtige zu treffen. Denn dieses
bemesse sich heute und künftig an der Verantwortbarkeit von Handlungsfolgen,
Lebensfolgen, Forschungsfolgen. Diese Folgen aber, und das heißt diesen ganz neuartigen
Gegenstandsbereich moralischer Beurteilung, können wir uns weder mit unserem gesunden
Menschenverstand noch mit unserem moralischen Gefühl vorstellen; haben wir es hier doch
zu tun mit sehr komplizierten Kumulativwirkungen und äußersten Fernwirkungen unserer
hochtechnischen Lebensgewohnheiten und Lebensformen, Produktionen und
Produktionsweisen, unseres Konsumverhaltens aber auch unserer Risikoforschungen und
riskanten Technologien.
Daraus ergibt sich eine neue Rolle des Wissens in der Moral und die Pflicht, sich Wissen zu
beschaffen. Freilich stößt diese Wissensbeschaffung an schmerzliche Grenzen. Denn die
21
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36.
Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte politische Schriften, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl.
Tübingen 1971, S. 551.
22
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
23
Kumulativwirkungen, die ökologischen Fernwirkungen etwa, entziehen sich der exakten
bedingten Prognose, wie sie in einem geschlossenen System möglich ist. Die Kluft zwischen
unserem Prognosewissen und der Wirkungsmacht unserer hochtechnologischen Projekte,
Praktiken aber auch Lebensgewohnheiten erzeugt "ein neues ethisches Problem. Anerkennung
der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der
Ethik".23 Aus diesem Grunde plädieren Sie für eine "Heuristik der Furcht", für "eine Furcht
geistiger Art", die uns fähig machen solle, das nichterfahrbare "Unheil kommender
Geschlechter" vorauszudenken und uns davon betreffen zu lassen.24
Daraus haben Sie für unsere öffentlichen Dialoge über das, was zu tun sei, und damit für
unsere Forschungsplanung, für wirtschaftliche Produktions- und Marktstrategien wie für
politische Entscheidungen die Vorschrift abgeleitet, "der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu
geben ... als der Heilsprophezeiung"25, also der schlechten Prognose einen Vorrang vor der
guten einzuräumen. Sie legen damit eine Dialogregel nahe, die den Befürwortern eines
Projekts und den Anwendern einer Technik die Beweislast für die Unschädlichkeit und die
Verantwortbarkeit auferlegt. In dubio pro humanitate, und damit: in dubio contra projectum,
in dubio contra quaestum würde das regulative Prinzip für unsere öffentlichen Diskurse
lauten müssen.26
Viertens: Das "Prinzip Verantwortung" enthält also ein zukunftsethisches Prinzip Vorsicht.
Mit diesem gehen das Werk und die politisch-ethischen Stellungnahmen des
Verantwortungsethikers vorsichtig um: Sie lassen keinen Zweifel daran, daß ein solches
Prinzip jeweils in interdisziplinären öffentlichen Diskursen zu prüfen und nur nach Maßgabe
einer solchen Prüfung anzuwenden ist.
Gegenüber einer globalen Technikkritik, gegenüber einer modischen Totalkritik an der
technologischen Zivilisation, die er als alternativenlos aber entwicklungsfähig ansieht, sagt
uns der Weise: "Nur im Bunde mit Wissenschaft und Technik, die zur Menschheitssache
gehören, kann die sittliche Vernunft dieser Sache dienen. Dafür gibt es kein einmaliges
Rezept, nur viele Wege des Vergleichs, die von Fall zu Fall, jetzt und künftig, in steter
Wachsamkeit immer neu zu suchen sind. Bestenfalls kann sich, immer wiederholt, eine
Übung dafür einstellen. Darauf ist zu hoffen. Doch zu jener Wachsamkeit anzuhalten ist des
Denkens Pflicht.“27
23
Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 28.
Ibid., S. 64, 65.
25
Ibid., S. 70.
26
Dietrich Böhler, Mensch und Natur: Verstehen, Konstruieren, Verantworten - in dubio contra projectum. In
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 39, Heft 9, S. 999-1019, hier bes. S. 1013 ff.
27
Hans Jonas, Wissenschaft als persönliches Erlebnis, S. 30.
24
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
24
Abschließend zitiere ich aus der Ehrendoktorurkunde:
"... In dem hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen ehrt der Fachbereich zugleich
den Menschen Hans Jonas, dessen Gründlichkeit und Güte, dessen moralische
Unbeugsamkeit und Würde ihn zu einem Vorbild künftiger Wissenschaftler und Weltbürger
macht.
Qui Berolini, qua in urbe Mose Mendelssohn auctore cultura et ludaica et Germano-Iudaica
effloruerat, universitatem et per biennium academiam scientiae rerum ludaicarum
promovendae adiit, opuscula prima publicavit;
Berolini, qua ex urbe dignitatis et legum destructio, civium Iudaicorum numero carentium
expulsio atque excisio initium sumpserunt;
Berolini, quae urbs libertate, iure, hominis dignitate donata est ex occidente cuiusque libera
universitas libertatem, iura, dignitatem hominis colit coletque studiose. Quibus de causis hac
in urbe viro doctissimo totiusque orbis terrarum civi honoris quam maximi debentur.
Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Hermeneutiker, der mit seiner Methode einer
entmythologisierenden existentialen Interpretation die Aporien der christlich abendländischen
Freiheits- und Erbsündenlehre aufwies und uns den spätantiken Geist der Gnosis als
Verfremdung der Moderne erschloß. Aktualisierendes Nachdenken schulden wir dem Sucher
eines Gottesbegriffs nach Auschwitz und dem eindringlichen Denker der
Zukunftsverantwortung.
Hans Jonas verdanken wir die Ausweisung und Konkretion des Prinzips einer Ethik für die
technologische Zivilisation, von der er zeigt, daß ihr in dem Maße Verantwortung für das
Ganze zuwächst, als ihre Fernwirkungen die Zukunft der Menschengattung gefährden.
Maxima cum reverentia Hans Jonas homo ludaeus colendus est nobis, qui cum universitates
Germaniae adulescenti doctissimo intercluderent aditum pro libertate et iure, pro Iudaeorum
incolumitate atque dignitate contendere constituit.
Qui miles legionis Iudaicae bello pugnavit, ut in Germania res tandem publica foret, in qua et
tertii quod dicitur imperii et inhumanitatis et interfectorum memores, ut condiciones vitae
vere humanae in mundo permanerent, curare possemus sequentes iussum illud categoricum,
quo homines continuo ad officiorum conscientiam vocat Hans Jonas philosophus.
Als Soldat der jüdischen Brigade kämpfte er mit für die Gewinnung eines politischen Raumes
in Deutschland, der uns die Erinnerung an die nationalistische Unmenschlichkeit und ihre
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Opfer ebenso möglich macht wie eine Verantwortungsübernahme für 'die Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden' - im Sinne des kategorischen Imperativs von Hans Jonas."
Sehr verehrter Herr Professor Jonas, ich überreiche Ihnen nun die Ehrenurkunde. Uno actu
verleihe ich Ihnen den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Ich
beglückwünsche Sie zu Ihrem großen Werk.
v. l.: H. Jonas, D. Böhler
1.2 Der verdinglichende, voraussetzungs- und kommunikationsvergessene Weltbezug der
Metaphysik, dessen Fortwirkung im subjektphilosophischen Paradigma der Kritik als
Subjekt-Objekt-Struktur und Heideggers hermeneutisch-pragmatische, aber
reflexionsvergessene Metakritik.
Die antike Metaphysik begreift die Erkenntnis der Welt, genauer: die des Ganzen, was da
ist, nach dem Muster des Etwas Sehens im Sinne der theoria. Darunter versteht sie ein
geistiges Sehen, eine begreifende Schau – was immer das sein mag. Nach Parmenides ist
Platon der Urheber und Klassiker dieser Auffassung. Lesen Sie etwa im
naturphilosophischen Dialog Timaios den kosmologisch-theoretischen Passus 47a bis c
(in der Stephanus-Numerierung); Tilman Lücke zitiert ihn einleitend in seinem Essay.
Oder lesen Sie, wie Platon in der Politeia, nämlich im Liniengleichnis (511c), von der
„dialektischen Wissenschaft“ sagen kann, sie „schaue“ das Seiende und Denkbare. Schaut
aber eine Wissenschaft, oder erkennt sie etwas durch Analyse, durch Begreifen etc.?
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
26
Lesen Sie auch, wie Platon das Erkenntnisziel darstellt, auf das hin er das Höhlengleichnis
entwirft: „Was ich sehe [...], das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur
mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich
anerkannt wird als die Ursache alles Richtigen und Schönen – im Bereich des Sichtbaren
erzeugt sie gleichsam die Sonne und damit das Licht (welches Erkenntnis ermöglicht); in
der Sphäre des Erkennbaren bringt sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft
hervor. Daher muß, wer vernünftig handeln will, diese [Idee des Guten] sehen.“
Die metaphysische Tendenz, ‚das Ganze’ nach dem Muster des Sehens von Dingen,
mithin unreflektiert direkt, anzugehen, war der Grund für einen erkenntniskritischen
Rückgang auf die Rolle des Erkenntnissubjekts in der Philosophie der Neuzeit (z. B.
Descartes, Kant). Indirekt war sie – in der Moderne – auch der Grund für einen
pragmatisch hermeneutischen Neuansatz bei dem verstehenden „In der Welt sein“ des
Menschen (Heidegger).
Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der Behauptungsakte als
Sprachhandlungen mit Geltungsansprüchen zu thematisieren, betrachten die meisten
Metaphysiker seit Platon und Aristoteles (im Wortsinne der theoretischen bzw.
kontemplativen Einstellung des Etwas Vernehmenden – phänomenologisch und
verstehend – oder des Etwas Beobachtenden – empirisch analytisch und objektivierend)
das Thema ihrer Behauptungen, als sei es ein dinglicher Gegenstand: „das Seiende“ und
dessen Ganzheit, „das Sein“.
Das ist eine folgenschwere Vorentscheidung: die Frage nach dem Ganzen wird nämlich
sogleich von dem Vorverständnis, dieses sei nach dem Muster eines dinglichen
Gegenstandes zu verstehen, bestimmt, d. h. aber in einer sprach- und
kommunikationsverzerrenden Verdinglichung.
Noch das folgende Paradigma, das der subjektphilosophischen Kritik, behält diese
Perspektive bei: die Erkenntnistheorie fragt nach dem Verhältnis von Erkenntnissubjekt
und Erkenntnisgegenstand: Ernst Cassirer, „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie
und Wissenschaft der neueren Zeit“, IV Bände. Ebenfalls der Subjekt-Objekt-Beziehung
verpflichtet ist Heinrich Rickerts neukantianischer Klassiker „Der Gegenstand der
Erkenntnis“, 1892, wiewohl Rickert darin den Primat der praktischen Vernunft begründen
will, indem er eine „andere Welt“, die Welt der nichtseienden, aber absoluten „Werte“
nachzuweisen sucht. Doch bezieht er sich darauf als ein Objekt. So setzt auch die
neukantianische „Erkenntnistheorie“ nach dem Vorbild Descartes’ und Kants voraus, daß
das Ganze der realen Erkenntnisgegenstände dem Erkenntnissubjekt wie ein Gegenstand
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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im Großen, abgetrennt vom Erkenntnissubjekt, gegenüberstehe: als „Außenwelt“. In dem
modernen, insonderheit neukantianischen Erkenntnisproblem steckt eine sprachwidrige
Verdinglichung der Weltbeziehung des – nach seinen Erkenntnismöglichkeiten fragenden
– Menschen. Seit Kant führt sie in Probleme, die zu einem Gutteil Scheinprobleme sind:
Wie ist die Außenwelt, wenn doch ihr Wesen – Kant: das „Ding an sich“ unerkannt ist, für
das Erkenntnissubjekt erkennbar? Ist sie erkennbar? Ontologisch gewendet: Ist sie etwas
Reales? Oder können ‚wir’ Erkenntnissubjekte nur – oder gar allenfalls – die Realität
unserer selbst annehmen?
1.2.1 Vorgriff auf die pragmatisch-hermeneutische Wende und ihre Probleme:
Heidegger
Von Kant geprägt, entsubstanzialisiert die moderne Erkenntnistheorie zwar die
Metaphysik als Weltanschauung, indem sie die Geltung ihrer Aussagen zu
Vermutungen herabsetzt; aber ihre Erkenntnisschemata perpetuieren, ja radikalisieren
die metaphysische Verdinglichung des erkennbaren Ganzen durch zwei
Grundannahmen und zwei Ausblendungen:
(1) Verabsolutierung der Subjekt-Objekt- oder Innen-Außenbzw. Ich – Nicht-Ich-Differenz in Folge von Descartes’
dualistischer Erkenntnismetaphysik
res cogitans – res extensa.28
(2) Die Unterstellung einer Weltlosigkeit des
Erkenntnissubjekts.29
(3) Das Überspringen der Leiblichkeit des
Erkenntnissubjekts und seiner Situiertheit
in einem organismischen Austauschzusammenhang
30
lebendiger und anorganischer Umwelt.
(4) Das von (3) mitgesetzte Überspringen der
Leib- und
Kommunikati
onsapriori der
Erkenntnis
Sprachlichkeit des Menschen und der Dialogizität
28
Heidegger, Sein und Zeit (SuZ), S. 60-62.
Diese kritisiert eigentlich schon Husserl, insofern er bei der Intentionalität des Bewußtseins ansetzt: E.
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, §§ 40, 42f., 62 und 64.
Vgl. H. Gronke, Das Denken der Anderen, Würzburg 1999, S. 62f., S. 78-82, vgl. 174ff.
30
Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Göttingen 1973.
29
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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bzw. der Geltungsansprüche des menschlichen
Denkens als Miteinander-Sprechens.31
Die Wende zum dritten Paradigma der Philosophie wurde m. E. zunächst von den
ersten beiden Problemen ausgelöst. Zumal von der subjektphilosophischen
Suggestion, als befinde sich der etwas als etwas Bestimmtes erkennende Mensch,
subjektphilosophisch genauer: der es allererst erkennen wollende Mensch,
gegenüber einem Ensemble stummer Gegenstände bzw. unverständlicher Objekte,
draußen in einer strikt von ihm abgetrennten Außenwelt ‚vorhanden’ seien –
fremd und allererst zu entdecken, d. h. durch eine Erkenntnisprozedur mit der
Innenwelt des Erkenntnissubjekts zu vermitteln.
Einige dieser Vorannahmen der nachcartesischen Kritik und Erkenntnistheorie seit
Kant deckte Heidegger metakritisch 1937 in „Sein und Zeit“ auf, jedenfalls die
Annahmen (a) und (b). Dort lesen wir:
„Je eindeutiger man nun festhält, daß das Erkennen zunächst und eigentlich
‚drinnen’ ist, ja aber überhaupt nichts von der Seinsart eines physischen und
psychischen Seienden hat [ergänzt: sondern die Seinsart eines puren Betrachtens],
umso voraussetzungsloser glaubt man in der Frage nach dem Wesen der
Erkenntnis und der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt
vorzugehen.“ In Wahrheit entstünde aber erst durch diese Vorannahmen das
sogenannte Erkenntnisproblem, „die Frage nämlich: Wie kommt dieses
erkennende Subjekt aus seiner inneren ‚Sphäre’ hinaus in eine ‚andere und
äußere’, wie kann das Erkennen überhaupt einen Gegenstand haben, wie muß der
Gegenstand selbst gedacht werden, damit am Ende das Subjekt ihn erkennt [...]?“
Heideggers Kritik als Sinnkritik erläuternd, könnten wir sagen:
Der neuzeitliche Ansatz bei der Subjekt-Objekt-Spaltung, in gewisser Weise aber
schon die antik-griechische Auffassung des Erkennens als eines geistigen Sehens
im Sinne von theoria und noein mache sich blind gegenüber der Sinnbedingung
jeder Rede von Etwas Erkennen und über Erkenntnis. Denn es ignoriere, daß
Erkennen „ein Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-sein“ ist. Jedes Erkennen
31
W. v. Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie, in: Werke in fünf Bänden, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, Band 3.
K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. Main 1973, Bd. 1: Einleitung und Teil II, Bd. 2: Teil II
„Transformation der Transzendentalphilosophie“.
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gründe „vorgängig in einem Schon-sein-bei-der-Welt“, weil es auf
Lebensinteressen, „auf dem Besorgen“ des Leibes und der ganzen „Existenz“ des
Menschen aufruhe.32 Insofern sei in der Lebenswelt immer schon eine Vermittlung
des Menschen mit seiner Welt geleistet, der Mensch existiere verstehend, Welt
verstehend.
In diesem Sinne stellt Heidegger gegen den dualistischen Ansatz von Subjekt und
Objekt oder Ich und Welt einen Ansatz in der Vermittlung beider Seiten – einen
Ansatz beim pragmatischen, handlungsbezogenen In-der-Welt-Sein. Damit
radikalisiert er den Ansatz seines Lehrers Edmund Husserl bei der Intentionalität
des Bewußtseins von den Dingen im Rahmen seiner Lebenswelt. Er geht von dem
alltäglichen bzw. lebensweltlichen Erkennen aus, welches der Mensch immer
schon im Sinne eines „apriorischen Perfekts“ besitze: Der alltägliche Mensch habe
immer schon den Kontext seiner Lebenswelt erkannt. Denn er befinde sich „immer
schon“ in einer Lebenswelt aus sinnhaften Dingen und Einrichtungen, wie
„Zeug“33, Kultur, Institutionen, welche nicht etwa bloß „vorhanden“, sondern dem
Alltagsmenschen mehr oder weniger schon „zuhanden“ sind – und daher apriori
verstanden34 als Gebrauchsdinge seiner Alltags- und Lebenswelt. Eben deshalb
lasse sich die menschliche Lebensform als „verstehendes“ und „besorgendes Inder-Welt-sein“ und der Mensch selbst als „Dasein“ bestimmen und nicht als
betrachtendes „Subjekt“ gegenüber stummen, fremden Objekten.35
Das ist eine grundlegende Einsicht der pragmatisch-hermeneutischen Wende hin
zu einem dritten Paradigma der Philosophie. Das Pragmatische daran ist die
Aufdeckung des interessierten Lebens- und Handlungsbezugs, der auch das
Welterkennen des Menschen trägt. Heidegger drückt das plastisch mit den
Begriffen der Sorge und des Besorgens aus. Das Hermeneutische an dieser Wende
ist der Ansatz bei dem alltäglichen Verstehen bzw. Schon-Verstanden-haben als
elementarer Form des Interpretierens von etwas Sinnhaftem – das griechische
„hermeneuein“ bedeutet „auslegen“ und „verdolmetschen“ – daher auch der Name
„Hermes“ als Götterbote, der den Willen der Götter den Menschen übermittelt und
insofern auslegt.
32
Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 60 und 61.
SuZ, § 23, §§ 15-18.
34
SuZ, S. 85ff, S. 109f.s
35
§§ 12-14.
33
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30
Traditionskritisch pointiert Heidegger am Schluß des polemischen Paragraphen 13
von Sein und Zeit das verstehende Welterkennen folgendermaßen: „Im Sichrichten-auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre
hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart
nach immer schon ‚draußen’ bei einem begegnenden Seienden der je schon
entdeckten Welt.“36
Diese Einsicht ist in der Tat ein notwendiges Element des dritten Paradigmas, der
Philosophie als Kommunikationsreflexion. Aber es ist keine zureichende Einsicht,
weil sie die pragmatische Geltungsdimension des Etwas-als-etwas-Verstehens
links liegen läßt. Das Etwas-als-etwas-Bestimmtes-Verstehen ist nämlich ein
impliziter Sprach- und Kommunikationsvorgang. Dieser enthält
Geltungsansprüche von Verstehern/Sprechern als Subjekten dieser Ansprüche und
als Teilnehmern einer Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft. Ja, er setzt
solche Geltungsansprüche, logisch gesehen, geradezu voraus –so wie jemand,
der/die etwas versteht, bereits in Anspruch nimmt, daß er/sie das Gehörte oder
Erfahrene – normalerweise – richtig verstanden hat, oder daß er/sie es doch – in
Zweifelsfällen – richtig verstehen kann. In diesem vorausgesetzten Bezug auf
Richtigkeit, diesem Geltungsanspruch, kommt bereits etwas von dem zum
Vorschein, was seit Descartes und zumal von Kant unter den Begriffen Subjekt,
Urteilsautonomie und Kritik gedacht worden ist: das Verhältnis von
Geltungsanspruch und kritischer Prüfung desselben vor dem Forum der Vernunft.
Den Rückbezug auf das, was im zweiten Paradigma als „Subjekt“ gedacht worden
ist, und damit eine ‚Aufhebung’ seines Kernbestandes überspringt Heidegger. Er
denkt subjektvergessen und sprachgeltungsvergessen, insofern logosvergessen und
diskursvergessen. Radikal, besser: abstrakt negiert er den Kern des zweiten
Paradigmas. Er sucht keine Aufhebungsperspektive, so daß er dessen wertvolle
Errungenschaften ernst nähme und sich mit ihm als Argumentationspartner in das
Wahrheitsgespräch eines philosophischen Diskurses begäbe. Über seiner
hermeneutisch pragmatischen Entdeckung des Elementarphänomens, daß
Menschen, auch die Welt distanzierenden Philosophen, von vornherein in der Welt
sind und diese apriori als ihre Lebenswelt verstanden haben, vergißt er, daß er
selbst diese Entdeckung als Argumentationssubjekt behauptet, indem er dafür
Wahrheit beansprucht.
36
Ebd., S. 62.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Die Selbstvergessenheit Heideggers als Diskursteilnehmer, d. h. als eines Subjekts
mit Geltungsansprüchen, das sich gegenüber anderen Diskurs-Subjekten für seine
Behauptungen zu rechtfertigen hat, führt letztlich zur Selbstimmunisierung seines
Denkens und zur Preisgabe des Zentralbegriffs der Philosophie überhaupt, des
Begriffs der Vernunft. Darauf müssen wir zurückkommen, weil Heideggers
Preisgabe der Vernunft zugunsten eines ‚Andenkens an das Sein’, das sich selbst
als das Ohr und die Stimme des Seins wähnt, seine Philosophie um die Distanz
und die Verantwortung der Kritik gebracht hat. So sehr, daß er die Philosophie
nicht nur blamiert sondern geradezu in den „Bankrott“ getrieben hat, wie Hans
Jonas pointiert, indem er sie zur Magd des Nationalsozialismus erniedrigte. Denn
er erhob den Hitler, den „Führer“, zur Manifestierung des Seinsgeschicks, statt
dessen Ansprüche vor dem „Gerichtshof der Vernunft“ (Kant) zu prüfen, indem er
ihnen als autonomes Diskurssubjekt gegenübergetreten wäre – die Nazimythen
entlarvt und sich von deren Menschenverachtung zumindest distanziert hätte.
Mit dieser kritischen Bemerkung lasse ich es jetzt bewenden. Für den weiteren
Fortgang dieser Vorlesung und Ihres Selbststudiums empfehle ich Ihnen:
Studieren Sie den Essay, den mein früherer Tutor Tilman Lücke im Nachgang zu
meinem kühnen, für alle Beteiligten so anstrengenden wie erkenntnisreichen
Proseminar „Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation“ im Wintersemester
2000/2001 verfaßt hat. Vor allem, was die Inhalte anbetrifft, bietet dieser Text eine
vorzügliche Einleitung in die Sache dieser Vorlesung.
2
Grundzüge der Vorlesung zum Selbststudium
Text aus: H. Burckhart, H. Gronke (Hg.): Philosophieren aus dem
Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik. Würzburg: Königshausen &
Neumann, 2002, S. 45 ff.
2. Tilman Lücke: Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte
Bei einer Tischgesellschaft saß neben Kant ein Mann, der ununterbrochen gleichermaßen dumme
wie hochmütige Reden führte und dabei auch noch herauskehrte, welch großer Skeptiker er sei.
Schließlich sagte Kant zu ihm: „Sind sie so skeptisch, daß Sie an nichts mehr glauben können?“ –
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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„Das nicht, ich glaube nur an das, was ich mit meinem Verstand begreifen kann.“ – „Das“, sagte
Kant, „bedeutet im Ergebnis dann ja wohl dasselbe.“37
Einleitung
„Sein, Selbst-Bewußtsein, Kommunikation. Grundkurs klassische Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“38 – unter diesem Titel kündigte Dietrich Böhler im Wintersemester
2000/2001 am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin ein Seminar an, welches
sich auch und besonders an Studienanfänger richtete. Schon im Titel ist auf jene „drei großen
Konzeptionen von Philosophie, die sich in unserer Tradition unterscheiden lassen“,
verwiesen, nämlich – wie sie Herbert Schnädelbach in seinem ‚Grundkurs Philosophie‘
benennt – „ein ontologisches, ein mentalistisches (...) und ein linguistisches Paradigma“39, die
man auch auf die Begriffe „Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie“ bringen
kann.40
Wenn zugleich ein „Grundkurs klassische[r] Texte und Probleme der
Philosophiegeschichte“ angekündigt wird, dann könnte man meinen, hier gehe es um eine
bloße historische Rekonstruktion. Doch eine solche Rekonstruktion wäre noch nicht
Philosophie. Philosophisch wird das Denken frühestens, wenn es sich auch des
(philosophischen) Standpunktes klar wird, von dem aus diese Rekonstruktion unternommen
wird. Denn man kann „unabhängig von bestimmten Philosophiekonzeptionen nicht definieren
(...) was Philosophie sei. Man kann deswegen auch nicht in ‚die‘ Philosophie einführen, ohne
zumindest implizit das Philosophieverständnis ins Spiel zu bringen, das man als Einführender
selbst besitzt. Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das‘ Philosophieren einführen; denn
auch das Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“41
Wenn keine kontextfreie Einführung in die Philosophie denkbar ist, so stellt sich nicht nur die
Frage, aus welchen Kontexten heraus sie vermittelt wird, sondern auch, anhand welcher
Argumentationsmodelle die in Philosophie Eingeführten sich ihrer eigenen Kontexte
klarzuwerden vermögen. Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art
besonders geeignet zu sein, sind sie doch Ausdrucksmittel der „Neigung zum Zweifel am
allgemein Anerkannten, ungeprüft Übernommenen oder neu Auftretenden“ – so formuliert es
jedenfalls ein angesehenes philosophisches Wörterbuch.42
So gelten die ersten Fragen nicht nur dem Kontext, aus dem heraus heute immer noch
Studierende mit Philosophie beginnen43, sondern auch dem Zusammenhang, in dem uns
Philosophiegeschichte entgegentritt. Begegnet sie uns in Gestalt „einer kontingenten Folge
inkommensurabler Paradigmen“44, wie Richard Rorty45 behauptet? Oder handelt es sich eher
um einen dialektischen Zusammenhang, in dem das jeweils „folgende Paradigma (...) die
37 Abgedruckt (im Kapitel der vermutlich erfundenen Anekdoten) bei Peter Kauder (2000): Hegel beim Billard.
München, S. 140; mit Verweis auf Information Philosophie 24 (1996), Heft 5, S. 93.
38 Böhler 2001 c, S. 1. Hervorhebungen in Zitaten sind vom Verf. durchgängig getilgt.
39 Schnädelbach 1986, S. 39. Die an Thomas Kuhn [1962/1967] anknüpfende Rede vom „Paradigma“ beinhaltet
Schnädelbach zufolge „immer Vorstellungen vom Gegenstandsgebiet, von einschlägigen Problemstellungen und
vorbildlichen Problemlösungen einer Disziplin, d.h. sowohl eine Ontologie (griech. ,tó òn‘ – das Seiende) wie
eine Methodologie der Wissenschaft insgesamt“.
40 So z.B. Richard Rorty, zit. n. Habermas 1999, S. 240; ähnlich Karl-Otto Apel und Tugendhat.
41 Schnädelbach 1986, S. 38.
42 Johannes Hoffmeister (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg2, S. 562.
43 Der Frage „Wozu Philosophie (studieren)?“ soll und kann hier nicht nachgegangen werden. Vgl. hierzu das
Unterkapitel ‚Wozu brauchen wir heute noch den philosophischen Diskurs?‘ in Gronke 2001.
44 Habermas 1999, S. 242.
45 Polemisch und anregend (wenn auch mit – im Vergleich zum hiesigen Verfahren – quasi umgekehrter Intention)
beispielsweise Rortys Versuch, auf wenigen Seiten die „Geschichte (...) wie die Philosophie qua
Erkenntnistheorie sich in der modernen Periode ihrer selbst versichert“ zu erzählen (Rorty 1981, S. 155 ff.).
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Antwort auf ein Problem, das die Entwertung des vorangehenden Paradigmas hinterlassen
hat“, bereithält, wie Jürgen Habermas46 meint?
Der hier unternommene kursorische Gang durch die Philosophiegeschichte soll – um
diesen Kontext gleich klarzustellen – die letztere Auffassung stützen. Die Zusammenhänge
verschiedener philosophischer Paradigmen sollen untersucht und herausgestellt werden,
analog zum pädagogischen Ansatz im erwähnten Seminar: Da ging es stets auch darum,
Studienanfängern der Philosophie Kompetenz darin zu vermitteln, ihnen begegnende
Argumentationsweisen und Positionen in Denkmodelle der Philosophie einordnen und interne
Bezüge und solche zu ihrem eigenen Kontext verstehen zu können. Nur so läßt sich – wenn
überhaupt – ein Überblick über die unübersehbare Vielfalt philosophischer Schulen gewinnen.
So wie es ein gewisses Wagnis ist, einen verstehenden Durchgang durch diese drei
Paradigmen innerhalb eines Seminars in einem Semester absolvieren zu wollen (ein Wagnis,
das viel Disziplin und konzentrierte Mitarbeit erfordert), erscheint es auch hier vermessen, auf
wenigen Seiten dieses Wagnis nachzuvollziehen und kritisch zu rekonstruieren. So gilt für
beide Anliegen: Gelingen können sie höchstens unter der Maßgabe, zum einen bloß
schlaglichtartig Details der paradigmatisch umrissenen Hauptströmungen zu beleuchten und
zum anderen den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der Paradigmen, auf die logischen
Abhängigkeiten und die ideengeschichtlichen Ablösungsprozesse zu richten.
I. Paradigma: Sein
Schöne alte Welt –
die klassisch-griechische Kosmosfrömmigkeit
Exemplarisch für die klassisch-griechische Weltauffassung, die am Anfang unseres
Durchgangs durch die Philosophiegeschichte steht, wird ein Auszug aus Platons Dialog
‚Timaios‘ herangezogen. Den Hauptteil des Dialoges macht Timaios’ Rede über das
Entstehen der Welt aus. Darin wird die „klassisch griechische Ontologie als ewigkeits- und
strukturbezogene Kosmostheologie“47 unter anderem so entfaltet:
„Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick
auf das Unvergängliche gerichtet (...), denn sie ist das Schönste alles Gewordenen,
er der Beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken
und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibendem auferbaut (...).
Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nicht schlecht
sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und
ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da
ihm diese durchaus besser schien als jene. (...) [So] verlieh er der Seele Vernunft
und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner
Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.“48
Die Welt ist hier als Kosmos geordnete Schönheit49 und Abglanz des göttlich-planvollen
Ewigen dargestellt.
46
47
48
49
Habermas 1999, ebd.
Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 28c f. (S. 154 f.).
Als pädagogisch fruchtbar erwies sich in diesem Zusammenhang der Hinweis eines referierenden Studenten auf
das in die deutsche Sprache eingegangene Wort ‚Kosmetik‘, denn es knüpft (vermittelt durch französische
Übernahme) an die griechische ‚kosmetiké techné‘ – ‚Kunst des Schmückens‘ – an. (Vgl. Etymologisches Wörterbuch
des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin. München 1995, S. 721.)
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Was ist nun die Rolle des Denkenden in dieser Welt? Ihm ist es aufgegeben, mit seiner
Seele, die sich als Teil der wohlgestalteten Ordnung verstehen läßt, in diese Einblick zu
nehmen. Die ewigen Ideen, die allem Seienden zugrunde liegen, sind demzufolge Thema und
Erkenntnisgebiet der Philosophie; das bloß wandelbar-geschichtliche Auftreten der Dinge,
mithin die Praxis gilt es zu überwinden, um so zur reinen Theorie zu kommen. Dann wird der
„Philosoph, der mit dem Göttlichen, dem Kosmos und Logosgemäßen umgeht, (...) selber
kosmosgemäß und göttlich“50.
Für die dem Menschen angeborene Erkenntnisfähigkeit gibt es eine dominante Metapher:
das Sehvermögen. Dahinter steht die vorgestellte Analogie, daß wir so, wie wir mit unseren
Augen unmittelbar aufnehmen könnten, was ist, in gleicher Weise durch Anschauung von
Sachverhalten unmittelbar zu Erkenntnis kämen. Verbunden ist damit die Überzeugung,
Philosophie überhaupt sei aus Anschauung der kosmischen Kreisläufe entstanden – so
rekonstruiert jedenfalls Timaios „das Wesen Philosophie, als welches ein größeres Gut weder
kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Geschlecht als Geschenk von den Göttern“51.
Die optische Erkenntnisfähigkeit sei uns Menschen gegeben, heißt es weiter,
„damit wir beim Erschauen der Kreisläufe der Vernunft am Himmel sie für die
Umschwünge unserer eigenen Denkkraft benutzten, welche jenen, die regellosen
den geregelten, verwandt sind, und, nachdem wir sie begriffen und zur
naturgemäßen Richtigkeit unseres Nachdenkens gelangten, durch Nachahmung
der durchaus von allem Abschweifen freien Bahnen Gottes unsere eigenen, dem
Abschweifen unterworfenen, danach ordnen möchten.“52
Wie sich wesentliche Elemente dieser Auffassung bis in die römische Stoa erhalten haben,
zeigt Hans Jonas, wenn er Ciceros „De natura deorum“ wie folgt zusammenfaßt:
Die Welt sei als All „beseelt, verständig und weise, und etwas von diesen
Eigenschaften wird auch in manchen seiner Teile sichtbar; (...) der Mensch hat
aber zusätzlich zu dem natürlichen Anteil, der ihm als einem Teil der
Vollkommenheit des göttlichen Universums zukommt, auch die Fähigkeit, sich
selbst zu vervollkommnen, indem er sein Sein dem des Ganzen durch Betrachtung
mittels seines Verstandes und Nachahmung in seiner Lebensführung angleicht“53.
Die Annäherung an die ewige Vernunft der Kosmos-Gesamtheit soll also als Orientierung der
aktuellen Lebenswelt diese selbst transzendieren.
Erschütterungen: Sophistik und Gnosis – und klassische Antworten
Für Erfahrungswelt und Intuitionen derjenigen, die heute mit Philosophie beginnen, ist
zunächst nur schwer eine Anknüpfungsmöglichkeit an dieses Weltverständnis abzusehen. Wir
empfinden heute die Welt, auf die sich unsere Praxis bezieht, als krisengeschüttelt und
unbeständig. Doch lenkt man den Blick zurück auf Platon, kann deutlich gemacht werden,
daß diese Krisenerfahrung keine Erscheinung der Moderne ist – Platons Philosophie selbst ist
nämlich in gewisser Weise schon eine Antwort auf zwei geschichtliche Krisenerfahrungen54,
„die die philosophische Reflexion herausforderten: Einmal die bedrängende Erfahrung eines
permanenten geschichtlichen Wandels, der alles erschüttert, verändert und in Frage stellt.
Zweitens die nicht minder bedrängende Erfahrung einer in dieser Zeit um sich greifenden
50
51
52
53
54
So faßt Dietrich Böhler Politeia VI, 500c f. zusammen: Böhler 2001 c, S. 3.
Platon, Timaios 47 b f. (S. 169).
Ebd.
Jonas 1999, S. 292.
Zum faktisch-historischen Kontext der griechischen Polis-Krise detaillierter vgl. Apel/Böhler/ Kadelbach 1984,
Bd. I, S. 306 ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Aufklärungs- und Bildungsbewegung der Sophisten.“55 Der ‚Angriff‘ dieser sophistischen
Bewegung erschütterte die unhinterfragte Vertrautheit mit dem ontotheologischen
Hintergrund der platonischen Philosophie; auch wenn die Sophistik von Weisheitslehre über
Rhetorik mehr und mehr zu einem Skeptizismus wurde, der – wie es in der philosophischen
Einführung von Wilhelm Windelband und Heinz Heimsoeth dramatisch heißt56 – nur
„anfangs eine ernste wissenschaftliche Theorie war, jedoch bald in ein frivoles Spiel
überging. Mit der selbstgefälligen Rabulistik ihres Advokatentums machten sich die späteren
Sophisten zu Sprechern aller zügellosen Tendenzen, welche die Ordnung des öffentlichen
Lebens untergruben.“
Fruchtbar machen lassen sich indessen die Antworten Platons und Aristoteles’ auf diese
Erschütterungen. Im Hinblick auf die im Rahmen einer Einführung in die Philosophie
entscheidende Einsicht über den Zusammenhang philosophischer Paradigmen erweisen sich
insbesondere zwei Grundsätze als wesentlich, die Teil dieser Antworten an die skeptische
Herausforderung sind: Logosgrundsatz und Satz vom zu vermeidenden Widerspruch.
1. Wenn man den Logosgrundsatz rekonstruiert, läßt sich dort ein „fast sinnkritisch
dialogpragmatischer Vorgriff aus sokratischem Geist“57 festhalten, den Platon durch Sokrates
im Dialog ‚Kriton‘ anführen läßt: „Schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts
anderem von mir gehorche als dem Logos [lógos]58, der sich bei der Untersuchung mir als der
beste zeigt.“59 Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als wahr oder
richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen Diskursen. Nur was sich anhand
wohlbegründeter Argumente erweisen läßt, kann als verbindlich gelten.60 Die
überzeugendsten Argumente stehen miteinander im Widerstreit; und damit ist vom
platonischen Sokrates zugleich notwendigerweise „die Diskursgemeinschaft der sinnvoll
Argumentierenden als die einzige Instanz für die Prüfung und für das In-Geltung-Setzen von
Normen akzeptiert. Damit hat er sich gegenüber dem Ethos einer realen NormenGemeinschaft auf die Ethik einer idealen Normenbegründungsgemeinschaft berufen.“61
Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser
Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle
Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen (mit sich
selbst oder als Schau göttlicher Ideen) als Fundament für Erkenntnis ansieht und den Logos
bloß als „Ausfluß von jenem“62. Doch an dieser Vorstellung wird unreflektiert festgehalten;
Denken gilt weiterhin als Tätigkeit, „die man prinzipiell einsam, unabhängig von
Kommunikation und Sprache, vollziehen“63 könnte. „Erst heute, wo die Philosophie
sprachbewußt wird“,64 kommt ans Licht,65 daß mit der Einsicht in die Rationalität der
unbegrenzten Gemeinschaft der Argumentierenden gerade die Kommunikation mit diesen
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
Apel/Böhler/Kadelbach 1984, Bd. I, S. 309.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 58.
Böhler 2001 c, S. 5.
Schleiermacher übersetzt etwas verengend lógos mit „Satz“, obwohl sich mindestens die Bedeutungen „das
Sagen, Sprechen, (...) Rede = Darstellung, (...) Rechenschaft, (...) Begründung, Beweis, (...) Denkkraft, Vernunft“
anbieten (Menge 1953, cf. logos, 274). Vgl. Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II, S. 340 f.; vgl. den Abschnitt ‚Dritte
Reflexion der unterstellten sokratischen Bildungsidee: Logos‘ (S. 254-257) in Jürgen Sikora: Bildung als
Dialogpraxis. Einige Anmerkungen zu Sokrates, die Grenzen und Möglichkeiten ‚Mitverantwortung‘ zu lehren
und zu lernen betreffend. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 247-270.
Platon, Kriton 46 b (S. 38).
Vgl. Böhler 2001 a, S. 47.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 339.
Platon, Sophistes 263 e (S. 239).
Böhler 2001 c, S. 5.
Apel/Böhler/Rebel 1984, Bd. II., S. 342.
Die selbstverständliche Formulierung „ans Licht kommen“ zeigt erneut, wie sehr bis in unseren heutigen
Sprachgebrauch Erkenntnis mit optischer Metaphorik zusammenhängt.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Anderen als das unhintergehbare Erkenntnismodell schlechthin immer schon anerkannt
werden muß.
2. Damit zu einer anderen klassischen Antwort auf die skeptische Herausforderung:
Aristoteles’ Aufweis der Unbestreitbarkeit des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch –
Es kann nicht zugleich und in der selben Hinsicht66 gelten: A und non-A. „Mangel an
Bildung“67 wirft Aristoteles den Skeptikern vor, die einen Beweis in klassischer (d.h.
deduktiver) Form für diesen Satz vom zu vermeidenden Widerspruch fordern. Aristoteles
meint damit eigentlich – so könnte man es modern und weniger autoritär sagen – mangelnde
Selbstreflexion. Dies geht aus seiner Erläuterung hervor: Einerseits sei es unsinnig, für alles
einen Beweis nach dem Muster der deduktiven Ableitung zu verlangen, dies würde nämlich
heillosen „Fortschritt ins Unendliche“68, also infiniten Regreß, nach sich ziehen – denn jeder
deduktive Beweis ist von Prämissen abhängig, die selbst wieder in Frage gestellt werden
müßten, wenn für alles Beweise dieser Art eingefordert würden. Zum anderen kann ein
unbezweifelbarer indirekter Beweis geführt werden, indem gezeigt wird, daß die Gültigkeit
des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch nicht mit einer sinnvollen Äußerung bestritten
werden kann. Denn wenn eine Äußerung A (zum Beispiel die Äußerung: „Der Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch gilt für mich nicht!“) verständlich sein soll, muß sie sich auf
etwas Bestimmtes beziehen und die Bedeutung A haben und nicht zugleich die Bedeutung
non-A; eine Äußerung, in der A und non-A enthalten sein würden, wäre so allgemein, daß sie
nichts Bestimmtes mehr bezeichnen würde und also unverständlich wäre.69 Ein Skeptiker, der
die Gültigkeit des Prinzips in Zweifel ziehen will, verwickelt sich folglich in einen
„Widerspruch immer dann, wenn er überhaupt redet und denkt. Das ist aber eine Bedingung,
die alle nur denkbaren Fälle abdeckt, in denen sich auch nur das Problem erheben könnte (...).
Das Prinzip ist also für jeden, gegen den überhaupt zu argumentieren sich lohnt (weil er es
selbst tut), unvermeidlich Voraussetzung.“70 Hervorzuheben ist, daß Aristoteles bei der
Begründung auf die Dialogpraxis reflektiert und „ganz ausdrücklich einen zentralen Teil
seiner Philosophie mit Hilfe dieses Argumenttyps“71 begründet. Die Bedeutung dieser
Argumentationsweise im Zusammenhang mit dem in diesem Seminar beabsichtigten
Lernfortschritt soll hier betont werden. Denn die indirekte Skeptikerwiderlegung nach diesem
Modell ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Philosophen es vermögen, aus
skeptischen Erschütterungen hergebrachter Vorstellungen Kapital zu schlagen. Die
entscheidende Frage, die sie sich, da sie sich in einer Argumentation befinden, vorlegen,
lautet: Was ist Voraussetzung eines sinnvollen Redebeitrags?
Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen
Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorzuhalten. Er geht einerseits nicht weit
genug mit dem reflexiven Ansatz, in dem er sich nicht selbst auf seine Rolle als
Argumentierender besinnt: „im Ganzen wird das Argument durchaus aus der distanzierten
Position des Theoretikers vorgetragen, der von außen ganz allgemein und unabhängig von
seiner faktischen Argumentationssituation hier und jetzt überlegt“72. Andererseits geht er zu
weit in der Abwehr sophistischer Rhetorik – dies ist ablesbar u.a. an der Aristoteles-Schule
66 Der einschränkende Verweis auf gleiche, mitgedachte und explizierbare Verwendungsweise der Begrifflichkeit A um
die es jeweils geht – hier durch die Wendung „in gleicher Hinsicht“ ausgedrückt –, hat sich im Seminar als
wichtig erwiesen. Denn andernfalls bringen Seminarteilnehmer leicht Beispiele, in denen A und non-A gleichzeitig
zu gelten scheinen, tatsächlich aber verschiedene Kategorien oder Verwendungsweisen zu Grunde liegen. Diese
Beispiele sind aber wenig geeignet, weil ‚zu schwach‘, um sich wirklich mit der Stärke des aristotelischen
Aufweises messen zu können.
67 Aristoteles Metaphysik 1006 a (zit. n. Kuhlmann 1985, S. 271).
68 Ebd.
69 Ausführlicher vgl. Kuhlmann 1985, S. 273-276.
70 Kuhlmann 1985, S. 275.
71 Kuhlmann 1985, S. 268.
72 A.a.O., S. 275 f.
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37
seit Theophrast, der „die pragmatische Dimension der Rede (Kommunikation zwischen
Sprecher/Hörer und Hörer/Sprecher) (...) als erkenntnis- und daher philosophisch irrelevant
zurückstuft, um die Philosophie von der nicht wahrheitsfähigen Rhetorik etc. zu
emanzipieren“73. Der so interpretierte Aristoteles blendet die pragmatischen Bedingungen der
Rede, d.h. die Verwendungsweise von Sprache in bestimmten Handlungskontexten,
systematisch aus und konzentriert sich allein auf die logischen Voraussetzungen der Rede.
Dabei läßt sich sein Modell der Skeptikerwiderlegung – der indirekte Aufweis, in dem die
Sinnlosigkeit von Bestreitungsversuchen gezeigt wird –, wie zu sehen sein wird, insbesondere
für praktische Kontexte fruchtbar machen.
In historischer Perspektive könnte man sagen, daß zur Überwindung dieses
gegenstandstheoretischen Rests die völlige Erschütterung der traditionellen Auffassung von
Sprache und Welt noch ‚fehlte‘. Als eine der Vorbereitungen dieser Erschütterung kann das
Phänomen der Gnosis74 gesehen werden, das sich in den ersten Jahrhunderten nach Beginn
unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum in Gestalt zahlreicher Sekten und
Glaubensrichtungen zeigte. In ihnen „fand die geistige Krise des Zeitalters ihren
verwegensten Ausdruck und gleichsam ihre radikale Antwort“75: eine „jenseitsbezogene, die
Welt als heillose Entfremdung verneinende Selbstsorge und Selbsterlösungsreligiosität“76. An
Stelle der Auffassung von der einen Welt (in der sich die Zeichen göttlicher Vernunft
wiederfinden lassen) predigen gnostische Lehrer nun radikalen Dualismus zwischen Gott und
Welt: „Die Gottheit ist absolut außerweltlich, ihr Wesen ist dem des Universums fremd, das
sie weder geschaffen hat noch regiert und zu dem sie die vollkommene Antithese bildet: dem
in sich geschlossenen und fernen göttlichen Reich des Lichts steht der Kosmos als Reich der
Finsternis gegenüber.“77 Im Zusammenhang mit der Erlösungslehre der Gnosis wird die
Besinnung auf das Innere des Menschen zum entscheidenden Moment, denn Voraussetzung
zur Erlösung ist „das ‚Wissen des Weges‘, nämlich des Weges der Seele aus der Welt hinaus
(...). Die unmittelbare Erleuchtung macht das Individuum nicht nur souverän in der Sphäre
des Wissens (daher die grenzenlose Vielfalt gnostischer Lehren), sondern bestimmt auch sein
praktisches Verhalten.“78 In unserem Kontext der Betrachtung philosophischer Paradigmen ist
die damit aufkommende individuelle Souveränität oder Autonomie relevant. Mit dem
‚Fluchtimpuls‘ aus der verkommenen Welt geht eine Herausforderung für die
Erkenntnisleistung des Einzelnen einher. Im Dualismus der Gnosis liegt somit „praktisch eine
Vorstufe zu einem autonomen Selbst- und Weltverhältnis, welches Normen und Sinn letztlich
nicht in der Welt vorfinden kann, sondern begründen bzw. prüfen und selbst erkennen
muß.“79
73
74
75
76
77
78
79
Böhler 2001 c, S. 6.
Vgl. den Artikel Carsten Colpes in RGG, Sp. 1648-1652.
Jonas 1999, S. 55.
Böhler 2001 c, S. 9.
Jonas 1999, S. 69.
Jonas 1999, S. 72 f.
Böhler 1999, S. 2. Dieser Impuls bildet den Ansatzpunkt für Hans Jonas’ vergleichende Betrachtung von Gnosis
und modernem Existentialismus, die von einer Parallelität von – wie Jonas selbst zugibt – historisch sehr
unterschiedlichen Phänomenen ausgeht; aber eben dieser Fluchtimpuls evoziert deren Vergleichbarkeit – s. a. die
Attraktivität ‚gnostischer‘ Bewegungen in jüngster Zeit (vgl. Hans Jonas: Epilog – Gnostizismus, Existentialismus
und Nihilismus. In: Jonas 1999, S. 377-400).
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
38
II. Paradigma: Selbst
Selbstbesinnung bei Augustinus und Descartes
Voll in Besitz genommen wird diese Stufe der Autonomie durch Augustinus, der in seiner
Jugend dem Manichäismus, einer der wirkmächtigsten gnostischen Bewegungen, anhing.
Seine Aneignung und Weiterentwicklung der Vorstellung eines autonomen Ichs lassen
Augustinus zu „einem Urheber des modernen Denkens“ werden80. Seine Suche nach einem
sicheren Fundament für die Philosophie läßt ihn fündig werden im
„Prinzip der selbstgewissen Innerlichkeit, das Augustin zuerst mit voller Klarheit
ausgesprochen und als Ausgangspunkt der Philosophie formuliert und behandelt
hat. Unter dem Einfluß der ethisch-religiösen Bedürfnisse hatte sich allmählich
und fast unvermerkt das metaphysische Interesse aus der Sphäre der äußeren
Wirklichkeit in diejenige des inneren Lebens verschoben. An die Stelle der
physischen Begriffe waren die psychischen als Grundfaktoren getreten.“81
Damit wird zugleich eine neue Selbstbehauptung des Individuums in der Welt begründet.
Seele bzw. Bewußtsein werden (neben Gott und Geschichte) zu zentralen Themen der
Philosophie Augustins.
„Die Wissenschaft von der Außenwelt, von der Natur, vom Kosmos ist dagegen
ganz unwichtig. Die Wendung geht jetzt – das zeigt den Beginn eines neuen
Paradigmas an – nach ‚innen‘.“82
Die in der Neuzeit aufkommende „Verinnerlichung des Denkens als Suche nach dem Selbst
im Denken und Erfahren bzw. nach dem Selbst als Subjekt des Denkens und Erkennens“83 hat
hier einen Ursprung. Die Bedeutung Augustins im Zusammenhang der Untersuchung und
Einführung philosophischer Paradigmenwechsel wird noch gesteigert dadurch, daß er sein
Interesse auch auf die menschliche Sprache richtet84, und durch seine selbst in Anspruch
genommene Rolle als Vermittler platonischer Philosophie.85
Mit dem Vorigen ist schon der Übergang zum methodischen Subjektivismus René
Descartes’ angedeutet. Als Wegbereiter wäre ergänzend noch die große mittelalterliche
Auseinandersetzung um die Universalien, also um die „Frage nach der metaphysischen
Bedeutung der Gattungsbegriffe“86 zu erwähnen, was hier – wenngleich die Folgen der
Auseinandersetzung weitreichend sind – nur am Rande geschehen kann. Hier wären vor allem
Spielarten des Nominalismus zu nennen, bei denen „das augustinische Gefühlsmoment,
welches der individuellen Persönlichkeit ihre metaphysische Würde gewahrt sehen will“87,
festzustellen ist. Zugleich macht sich aber auch „die antiplatonische Tendenz der erst jetzt
bekannt werdenden aristotelischen Erkenntnistheorie geltend, die nur dem empirischen
Einzelwesen den Wert der ‚ersten Substanz‘ zuerkennen will“88. Inwiefern der Subjektivismus
an den Nominalismus anknüpft, läßt sich an Wilhelm von Occams spätem nominalistischem
Modell ablesen (wie es in Windelbands Philosophiegeschichte beschrieben ist): „Die
Einzeldinge (...) werden von uns intuitiv (ohne Vermittlung von species intelligibiles)
80
81
82
83
84
85
86
87
88
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 237.
Ebd.
Kuhlmann 1985, S. 284.
Böhler 2001 c, S. 9.
Andererseits bietet der Aufweis der augustinischen Defizite auf diesem Gebiet den Vorreitern des dritten
Paradigmas Gelegenheit zur Weiterentwicklung eigener Ansätze, s.u.
Vgl. Böhler/Gronke 1994, Sp. 775.
Windelband/Heimsoeth 1957, S. 232.
A.a.O., S. 292.
Ebd.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
39
vorgestellt; allein diese Vorstellungen sind nur die ‚natürlichen‘ Zeichen für jene Dinge und
haben zu ihnen nur eine notwendige Beziehung, dagegen eine sachliche Ähnlichkeit mit ihnen
so wenig, wie dies sonst für ein Zeichen in Hinsicht des bezeichneten Gegenstands nötig
ist.“89 Der Zusammenhang mit dem hier schon angedeuteten – und spätestens mit Descartes
vollzogenen – Übergang zum zweiten Paradigma, dem der Subjektphilosophie, läßt sich mit
Jürgen Habermas so auf den Punkt bringen:
„Der Nominalismus hatte die Dinge ihrer inneren Natur oder ihres Wesens
beraubt und die Allgemeinbegriffe zu Konstruktionen des endlichen Geistes
erklärt. Seitdem fehlte der gedanklichen Erfassung die Fundierung in der
begrifflichen Verfassung des Seienden selber. Die Korrespondenz des Geistes mit
der Natur konnte nicht mehr als Seinsrelation begriffen werden, die Regeln der
Logik spiegelten nicht mehr die Gesetze der Wirklichkeit.“90
Es ist die (wenn auch nicht konsequente, s.u.) Anwendung skeptischer Fragestellungen, die es
René Descartes möglich macht, die subjektivistische Wendung zu vollenden. Es gelingt ihm,
Skepsis zu „durchdenken und als methodischen Zweifel für begründete Erkenntnis fruchtbar
[zu] machen“91. Descartes’ gründlicher und allgemeinverständlich formulierter Neubeginn der
‚ersten‘ Philosophie bewegt Hegel dazu, in seiner ‚Vorlesung über die Geschichte der
Philosophie‘ über ihn zu sagen, er sei „so ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von
vorne angefangen und den Boden der Philosophie erst von neuem konstituiert hat“92.
Voraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der Erklärungsrichtung“.93
Da die Vorstellung einer untrüglichen Korrespondenz zwischen äußerer Wirklichkeit und
Erkenntnis nicht mehr zur Verfügung stand, suchte Descartes nach einem alternativen
Fundament für gesicherte Erkenntnis: „Wenn das erkennende Subjekt einer entqualifizierten
Natur die Maßstäbe der Erkenntnis nicht mehr entnehmen kann, muß es diese aus der reflexiv
erschlossenen Subjektivität selbst schöpfen.“94 Es ist wichtig festzuhalten, daß nicht gleich
auf jegliche Maßstäbe gesicherter Erkenntnis95 verzichtet werden soll. Denn Descartes
verfolgt mit seinem ‚De omnibus dubitandum est‘ nicht die Strategie des haltlosen
Skeptizismus;
„es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d.h. allen
Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom
Denken anfangen, um erst vom Denken auf etwas Festes zu kommen, einen reinen
Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel
das Resultat.“96
Das Ergebnis der Cartesischen Suche nach unbezweifelbarem Grund, wenn sich doch an allen
äußeren Erscheinungen zweifeln läßt, ist bekanntlich das cogito, mein ich denke: das
Bewußtsein als Zweifelnder, das ich nicht sinnvoll bezweifeln kann, ohne mir selbst zu
widersprechen. Skeptiker, die wirklich an allem zweifeln wollen, werden von Descartes –
durchaus in augustinischer Tradition – auf ihr eigenes zweifelndes Bewußtsein verwiesen und
auf die Gewißheit, die sie darin finden können, wenn sie sich bewußt machen: „Indem ich
zweifle, weiß ich, daß ich, der Zweifelnde, bin; und so enthält gerade der Zweifel in sich die
89
90
91
92
93
94
95
A.a.O., S. 293.
Habermas 1999, S. 242.
Böhler 2001 c, S. 12. Vgl. Gronke 1999, S. 30 ff.
Hegel 1986, S. 123.
Habermas 1999, S. 242.
Ebd.
Insofern geht die Polemik Rortys, wenn er mit Étienne Gilson davon spricht, daß „Descartes’ Hirngespinste“
deshalb so aufsehenerregend gewesen wären, „weil man Fragen ernst nimmt, die zu stellen die Scholastiker (...)
zu vernünftig waren“, ins Leere (Rorty 1981, S. 246 f.).
96 Hegel 1986, S. 127.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
40
wertvolle Wahrheit von der Realität des bewußten Wesens: denn wenn ich in allem anderen
irren sollte, so kann ich darin nicht irren; denn um zu irren, muß ich sein.“97 Oder, wie es
dann bei Wittgenstein heißt: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht zum
Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“98 Die
Ähnlichkeit zur aristotelischen Zurückweisung desjenigen Skeptikers, der meint, den Satz
vom zu vermeidenden Widerspruch nicht anerkennen zu müssen, ist unübersehbar: Die
Zurückweisung des Skeptikers verwendet eine indirekte Argumentation, die ihm nachweist,
mit seinem Bestreitungsversuch zugleich Voraussetzungen zu machen – und diese
Voraussetzungen muß er reflektierend sofort einsehen, und damit ebenso die Sinnlosigkeit
seines Bestreitungsversuchs. Die unhintergehbare Gewißheit des cogito erstreckt sich sogar –
mindestens mit dieser Erwägung geht Descartes über Augustinus hinaus – auf die ketzerische
(in gnostischen Lehren angespielte) Eventualität, wir würden in dieser Welt von einem bösen
Dämon mit Absicht verführt, und alle unsere Wahrnehmungen seien von diesem Dämon
eingepflanzte Täuschungen; denn selbst dann, so Descartes, sei ja gewiß, daß ich es bin, der
da getäuscht wird.
Diese so reflexiv aufweisbare Unhintergehbarkeit ist von Vertretern des dritten,
kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophiegeschichte etwas mißverständlich als
‚Letztbegründung‘ bezeichnet worden – mißverständlich, weil Kritiker sie so verstehen
konnten, als sei mit der einmaligen Begründung von Gewißheiten dieser Art die
Reflexionsarbeit ein für alle Mal ‚erledigt‘ und deren Ergebnisse müßten fortan dogmatisch
anerkannt werden (was Vertretern des Paradigmas den Vorwurf latenten Fundamentalismus’99
eingebracht hat); gemeint ist aber Unhintergehbarkeit im Sinne von jeweils in der aktuellen
Auseinandersetzung als unbezweifelbar – d.h. nicht mit sinnvollen, widerspruchsfreien
Argumenten bezweifelbar – anerkennungswürdiger Grundlage dieser Argumentation. In
diesem Sinne ist Wolfgang Kuhlmann zu verstehen, wenn er schreibt, daß es sich bei der
cartesischen Verwendungsweise der reflexiven Wendung „tatsächlich um ein
Letztbegründungsargument handelt, ein Argument, mit dem selbst der äußerste Skeptizismus,
derjenige, der sogar mit einer uns absichtlich täuschenden Instanz zu rechnen bereit ist, noch
zu bezwingen ist.“100
Descartes erweitert dieses Modell jedoch noch in anderer Hinsicht entscheidend
gegenüber Augustinus: Die in reflexiver Denkrichtung zu gewinnende Gewißheit steht im
Mittelpunkt seiner Philosophie, ja im Mittelpunkt von Wissenschaft überhaupt.
Descartes macht das reflexive Argument
„zum Zentrum und zugleich zum Prinzip seiner ganzen Philosophie. Zum
Zentrum und Angelpunkt insofern, als alle sachhaltigen Aussagen der cartesischen
Philosophie in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit stehen zu diesem
Argument. Zum Prinzip insofern, als mit diesem reflexiven Argument die
cartesische Philosophie im engeren Sinne, die prima philosophia, ausdrücklich zur
Philosophie in der intentio obliqua, zur Reflexion wird, und zwar vor allem zur
Reflexion auf das erkennende Subjekt. Bei Descartes verliert das Argument
vollkommen den Charakter eines sophistisch spielerisch zu verwendenden bloßen
97 Windelband/Heimsoeth 1957, S. 238 mit Verweis auf Augustinus, De beata vita 7; Solil., II, 1 ff.; De ver. Rel. 72
f.; sowie De trin. X, 14. Vgl. auch Kuhlmann 1985, S. 287 f.
98 Wittgenstein, Über Gewißheit § 115, zit. n. Habermas 1999, S. 244.
99 Vgl. Karl-Otto Apels Einschätzung in: Primordiale Mitverantwortung. Zur transzendentalpragmatischen
Begründung der Diskursethik als Verantwortungsethik. Gespräch von Horst Gronke, Jens Peter Brune und
Micha H. Werner mit Karl-Otto Apel. In: Prinzip Mitverantwortung, S. 97-121, S. 118 mit dem Verweis auf
Jürgen Habermas 1996; sowie dessen Abschnitt über den „Sinn von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie“ in
Habermas 1991, S. 185-199; vgl. Habermas 1999, S. 256 ff.
100Kuhlmann 1985, S. 290.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Versatzstückes aus dem
Skeptikerdiskussionen.“101
Arsenal
41
der
nur
halb
ernst
gemeinten
Grenzen der Subjektphilosophie –
‚Metaphysischer Rest‘ bei Augustinus, Descartes, Kant
Es bleibt jedoch – trotz all dieser Würdigungen – eine gewisse Ambivalenz festzuhalten, die
aus der mangelnden ‚Sprachbewußtheit‘ von Augustinus und Descartes resultiert. Augustinus
hatte zwar noch den Erkenntnisprozeß als ‚Dialog‘ verstanden, allerdings als inneren Dialog
der Seele mit Gott, also als „sprachfreie Erleuchtung“102. Der Bewußtseinsphilosoph
Descartes übersieht hingegen vollends, „daß Sprache und Kommunikation zu den
Bedingungen der Möglichkeit sinnvollen Zweifelns gehören“103. Die Folge sind interne
Inkonsequenzen: Denn ohne Inanspruchnahme sprachlicher Zusammenhänge müßte die
cartesische Gewißheit strenggenommen beschränkt bleiben auf „das mögliche apriorische
Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich selbst – als real zweifelndem, also
sprachfähigem, also auf Andere bezogenem und leibhaftem, also in der Welt befindlichem
Kommunikations-Lebewesen etc. – muß haben und daher auch als sicher müßte voraussetzen
können“104. Doch dies genügt Descartes eben nicht, er vermengt diese geltungslogische
Funktion mit seinem „psychologischen und ontotheologischen Ziel, den Bestand einer
individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) zu erweisen.“105 Damit verstößt
Descartes gegen seine eigene Programmatik, derzufolge er sich doch verpflichtet hatte, nichts
anzuerkennen, was sich mit gutem Grund bezweifeln läßt. Statt sich durchgehend reflexiv auf
die Voraussetzungen seiner Argumentation zu besinnen, nimmt er wieder eine theoretische
Einstellung ein. Von strikter Reflexion läßt er sich nur bis zum Erweis des cogito leiten
– wenn „dies feststeht: ‚sum, existo‘, sofort wechselt Descartes die Einstellung:
die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt
werden kann“, verläßt er und „analysiert in theoretischer Einstellung, was es ist,
was er da gewonnen hat, und gelangt so zu der überaus problematischen
Bestimmung: ‚sum res cogitans‘ und zu (...) ebenso problematischen
Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne Selbstwiderspruch
bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“106.
Die breite Inanspruchnahme dieser – von sinnvollen skeptischen Argumenten eben durchaus
erschütterbaren – Brückenprinzipien bei Descartes sorgt dafür, daß er als „unfreiwilliger
Kronzeuge für die These von der Unfruchtbarkeit reflexiver Argumente in Anspruch
genommen werden“107 kann. Es ist aber eigentlich mangelnde Reflexivität, die für diese
Defizite verantwortlich ist. Was als Leistung Descartes’ festzuhalten bleibt, ist der Anspruch,
daß philosophische Erkenntnisse den Standards wissenschaftlicher Sicherheit zu genügen
haben, womit „Descartes die Grundform des Anfangs aller wahrhaft wissenschaftlichen
Philosophie entdeckt“ hat – „wie sehr er den Sinn dieses Anfangs auch mißverstanden und
damit den wirklichen Anfang verfehlt hat“.108
101A.a.O., S. 291.
102Böhler/Gronke 1994, S. 775.
103Böhler 2001 c, S. 13.
104A.a.O., S. 14.
105Ebd.
106Kuhlmann 1985, S. 297.
107A.a.O., S. 291.
108Edmund Husserl (1956): Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. Rudolf
Boehm. Den Haag (Husserliana Bd. VIII), S. 5. Zit. n. Gronke 1999, S. 37.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
42
Einen wirklichen unbezweifelbaren Anfang in der Philosophie wollte in vergleichbarer
Weise Immanuel Kant gewinnen. Er spielt natürlich in einem Seminar, das Paradigmen der
Philosophiegeschichte und ihren Zusammenhang untersucht, eine Schlüsselrolle. Auch Kant
verfolgte den Anspruch, daß die zu erreichende „Selbsterkenntnis der Vernunft durch
Begrenzung ihrer Ansprüche“109 wissenschaftlichen Anforderungen genügen müsse: In seiner
Vorrede zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ gibt er zu, daß bei einem Vorhaben wie dem seinen
unter anderem „Gewißheit und Deutlichkeit (...) als wesentliche Forderungen anzusehen
[sind, T.L.], die man an den Verfasser, der sich eine so schlüpfriche Unternehmung wagt, mit
Recht tun kann“110. Diese wissenschaftliche Sicherheit soll durch strikte Verfolgung der
transzendentalen Methode erreicht werden, die kritisch nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis fragt. Auch Kant bedient sich dabei einer indirekten
Argumentationsstrategie – derjenigen,
„daß die ‚objektive Gültigkeit‘ eines x (sei es eines ‚Prinzips der Sinnlichkeit‘, sei
es einer Kategorie, sei es eines ‚Grundsatzes des Verstandes‘, sei es auch z.B.
eines ‚teleologischen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur‘) auch dadurch
erwiesen werden kann, daß gezeigt wird: Ohne dieses x, ohne die ‚objektive
Gültigkeit‘ dieses x, kann es Erfahrung nicht geben.“111
Kant argumentiert dabei „ganz im Sinne des cartesischen Paradigmas“112. Denn er bemüht
sich nicht etwa, den Skeptiker auf klassisch-metaphysische Weise zu überzeugen – also
dadurch, daß er „neben sich und seine Erkenntnisbeziehungen zur objektiven Welt tritt und
(...) nach dem Muster der ontologischen Wahrheitstheorie durch Vergleich des Subjektiven
mit dem Objektiven von einer dritten Position aus die bezweifelte Übereinstimmung
(adaequatio) in den fraglichen Punkten“113 zu zeigen versuchte – denn er weiß, daß sich eine
solche Übereinstimmung niemals unbezweifelbar erweisen ließe. „Er versucht den Nachweis
vielmehr aus der Position des neuzeitlichen Erkenntnissubjekts“114: von der Frage ausgehend,
was die Sinnbedingungen dafür sind, „daß ein Vernunftsubjekt objektive Erfahrung überhaupt
haben kann.“115 Diese Methode ist auch als Antwort auf den empiristisch-objektivistischen
Skeptizismus von Hume zu verstehen. Insofern macht die kantische Vernunftkritik im
Hinblick auf das erkenntnissichernde Fundament „Schluß mit unkritischer Ontologie /
Metaphysik im Sinne der theoria-Tradition“116.
Doch dieser Bruch wird innerhalb der kantischen Philosophie nicht vollendet. Es ist
nämlich ein „metaphysischer Rest“117 festzustellen unter dem Aspekt der
Erkenntnisorientierung Immanuel Kants. Denn die Erkenntnis richtet sich seinem Modell
zufolge jeweils auf das hinter dem Gegenstand der Erfahrung (der Erscheinung) liegende
‚Ding an sich‘ (also quasi außerhalb der Erfahrung) „auf die Dinge, ‚so wie sie an sich selbst
sind‘ (reines Wesen)“118. In diesem reinen ‚An-sich-Sein‘ bleiben sie jedoch für uns – „im
Unterschied zu dem göttlichen, alles direkt anschauenden Verstand“119 – letzten Endes
unerkennbar. Denn wir sind auf Erkenntnis durch Erfahrungsvermittlung notwendigerweise
angewiesen. Der Skeptiker kann Kant nun zeigen, daß diese Vorstellung inkonsistent ist.
Denn dieses Argumentieren für ein Modell, das sich auf etwas letzten Endes Unerkennbares
109Böhler 2001 b, S. 16.
110Kant KrV A, S. XV, zit. n. Kant 1956, S. 9.
111Kuhlmann 1985, S. 300.
112A.a.O., S. 303; vgl. KrV B, S. 817 ff.
113Ebd.
114Ebd.
115Gronke 1999, S. 39.
116Böhler 2001 c, S. 21.
117Ebd.
118Ebd.
119Ebd.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
43
stützt, ist in sich widersprüchlich, „eine sinnlose Rede“120. Dies wird deutlich, wenn wir Kant
selbst mit den Voraussetzungen konfrontieren, die er implizit benötigt, um uns gegenüber
diese Theorie zu vertreten. Denn Kant führt die Rede vom für uns prinzipiell unerkennbaren
‚Ding-an-sich‘ im Mund und macht zugleich Aussagen über dieses: „daß es sich um ein
‚unerkennbares Reales‘ handele, behauptet man ja schon erkannt zu haben“;121 und dies,
während er das Ziel verfolgt, eine Erkenntnistheorie zu begründen, „die nach ihrem eigenen
Verständnis Vernunftkritik auf den Bereich des vom Bewußtsein Erfahrbaren beschränkt“122.
Für diese Erkenntnistheorie ist eine solche „immanent widersprüchliche Auffassung“
natürlich fatal;123 entgegen Kants Unterstellung läßt sich „der Begriff eines unerkennbaren
Dinges an sich nicht einmal denken“124. So läßt sich dem kantischen Projekt entgegenhalten,
daß der Skeptiker nicht ‚besiegt‘ sei, und zwar „solange er noch sinnvoll nach einer
Rechtfertigung für das kantische Verfahren fragen könne“125. Wie kommt es zu diesem
metaphysischen, unreflektierten Rest? Hauptursache ist, „daß Kant sich im Rahmen der
Vernunftkritik statt der an sich für sein Projekt erforderlichen strikten Reflexion
ausschließlich der theoretischen Reflexion bedient“126. Kant reflektiert zwar auf die
Bedingungen der Erkenntnis, letztlich aber in „theoretisch selbstvergessener distanzierender
Reflexion von außen“ 127; und statt von sich selbst – dem Philosophen – als Reflexionssubjekt
auszugehen, thematisiert er eigentlich „den Physiker“128 als exemplarisches Reflexionsobjekt.
Die skeptische Frage: „Welche Erkenntnisbedingungen kann / muß ich als
Transzendentalphilosoph
beachten?“129,
mithin
die
quaestio
iuris
der
Transzendentalphilosophie130, bleibt ungestellt.
Trotz dieser Defizite soll hier noch einmal die Weiterentwicklung des Vernunftbegriffes
Würdigung finden, die Kant gegenüber dem klassischen Modell vornimmt und die als
‚kopernikanische Wende‘ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist; Kant gibt mit seinen
„Überlegungen zur Konstitution des Selbstbewußtseins einen überzeugenden
Beleg dafür, daß sein transzendentaler Ansatz, in dem der vorneuzeitliche Vernunftbegriff eines vernehmenden Erfassens zugunsten der Vorstellung einer
leistenden, geltungskonstitutiven Vernunft zurückgedrängt wird, gegenüber Descartes’ noch von scholastischen Einflüssen durchwirktem Denken einen
wesentlichen Denkfortschritt markiert.“131
120Ebd.
121Ebd. „Eine Folge davon ist, daß sich der Philosoph unter der Hand Erkenntnismöglichkeiten zubilligt, die er als
vernunftkritischer Denker, der nur das reflexiv Ausweisbare in Anspruch nimmt, nicht haben kann. Kant macht
sich etwa nicht klar, daß er sich einen quasi-göttlichen Einblick in das Verhältnis von einer erkennbaren
Erfahrungswelt und einer vermeintlich unerkennbaren Welt an sich zugesteht. Wenn man solcherart Einträge in
den philosophischen Diskurs unausgewiesen einbringt, weil man nicht reflexiv genug philosophiert, tangiert dies
auch den Geltungsstatus der möglichen Ergebnisse dieses Diskurses.“ (Gronke 2001, S. 216 f.)
122Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
123Kuhlmann spricht davon, „daß es überhaupt verheerend sei für ein Unternehmen, welches mit dem
Dogmatismus endgültig abrechnen wolle, wenn es selbst des Dogmatismus bezichtigt werden könne.“
(Kuhlmann 1985, S. 306).
124Gronke 1999, S. 49 und Anm. 103.
125Kuhlmann 1985, S. 306.
126A.a.O., S. 308.
127Ebd.
128Ebd.
129A.a.O., S. 42 f.
130Vgl. Böhler 2001 c, S. 18.
131Gronke 1999, S. 42 f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
44
III. Paradigma: Sprache
Radikaler Skeptizismus als widersprüchliche Konsequenz aus der Kant-Kritik
Die skeptischen Anfragen, gegen die man sich innerhalb der kantischen Vernunftvorstellung
schwerlich eine schlagende Argumentation denken kann, sind wohl deutlich geworden.
Überblicksartig kann gesagt werden, daß diese Erschütterung erneut einen
Paradigmenwechsel einleitet und insofern vergleichbar ist mit dem Paradigmenwechsel
zwischen klassischer Ontologie und Subjektphilosophie: „Wie der Universalienstreit im
ausgehenden Mittelalter zur Entwertung der objektiven Vernunft, so hat im ausgehenden 19.
Jahrhundert die Kritik an Introspektion und Psychologismus zur Erschütterung der
subjektiven Vernunft beigetragen.“132 Aus dem nun mehrfach angeführten sprachreflexiven
Ansatz ergibt sich, in welcher Richtung die Suche nach unhintergehbaren Fundamenten
philosophischer Argumentation – die Suche nach ‚Skepsis-resistenten‘ Ergebnissen also –
fruchtbar sein kann: im Bereich der Sprache selbst. Ihre Thematisierung als
gewißheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven Vernunft markiert den
Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma.
„Mit der Verlagerung der Vernunft aus dem Bewußtsein in die Sprache als dem
Medium, über das handelnde Subjekte miteinander kommunizieren, ändert sich
die Erklärungsrichtung noch einmal. Die epistemische Autorität geht vom
erkennenden Subjekt, das die Maßstäbe für die Objektivität der Erfahrung aus sich
selber schöpft, auf die Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft über. Bis
dahin ergab sich eine intersubjektive Geltung von Meinungen aus einer
nachträglichen Konvergenz von Gedanken und Vorstellungen (...). Aber nach der
linguistischen Wende gehen alle Erklärungen vom Primat einer gemeinsamen
Sprache aus.“133
Dieser ‚linguistic turn‘ macht es möglich, so nun die These, das „Scheitern von Des-cartes’
und Kants transzendentalphilosophischen Ansätzen“134 zu überwinden.
Könnte man nun auch ein anderes Modell vertreten, welches das Scheitern einfach
hinnimmt? Also dem radikalen Skeptiker ‚nachgeben‘ und sich dessen Position des
„skeptischen Relativisten, der die Möglichkeit einer absoluten Selbstrechtfertigung der
Philosophie und einer rationalen Vernunftkritik bestreitet“135, zu eigen machen? Man würde
also – von den bisherigen Erfolgen skeptischer Erschütterung ermuntert und im skeptischen
Aufspüren ‚metaphysischer Reste‘ geübt – die These vertreten wollen, daß es unhintergehbare
Wahrheit im Grunde genommen nicht gibt ebensowenig wie verläßliche Kriterien dafür. Zur
Prüfung wollen wir kurz aus dem historischen Durchgang heraustreten und aufzeigen, daß
diese Argumentationsweise sich nicht wirklich vertreten läßt, weil sie sich nicht
widerspruchsfrei äußern, ja nicht einmal denken läßt. Dietrich Böhler legt – wie viele seiner
Mitstreiter auch in diesem Band – überzeugend dar, warum es nicht möglich ist, diese
Position in einem aktuellen Dialog mit sinnvollen Argumenten zu vertreten. Dies kann dem so
auftretenden Skeptiker anhand seiner eigenen Praxis, in der er sich – diese Auffassung
äußernd oder denkend – befindet, gezeigt werden. In Dietrich Böhlers Beitrag zum
Sammelband ‚Zwischen Universalismus und Relativismus‘136 von 1998 heißt es:
132Habermas 1999, S. 243 f.
133Ebd.
134Gronke 1999, S. 52.
135A.a.O., S. 70.
136Böhler 1998.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
45
„Der Rückgang auf die notwendige, alles menschliche Tun und Lassen zumeist
unausdrücklich begleitende, mithin für jeden erfahrbare und erkennbare MetaPraxis des Etwas-Behauptens, welche einen argumentativen Dialog eröffnet oder
antizipiert, erschließt uns einen universalen ‚Grund der Verbindlichkeit‘ (Kant)
und damit zureichende Kriterien für die Suche nach dem Wahren und
Richtigen.“137
Denn diese unhintergehbare Meta-Praxis begleitet eben auch das Tun und Lassen des
Skeptikers – erst recht, wenn er versucht, irgendeine Position (zum Beispiel eine skeptische)
zu vertreten. Und dies kann dem Skeptiker gezeigt werden, in dem er „in einen
dialogreflexiven Test verwickelt“138 wird. Darin wird der Skeptiker erstens „auf die aktuelle
Dialogsituation hingewiesen (...), in die er – sich selbst und uns gegenüber – bereits
eingetreten ist (...)“; dann wird zweitens „diese Dialogsituation mit seiner Meinung, seinen
Aussagen, konfrontiert“; und drittens wird „geprüft (...), ob diese Aussagen von uns, in der
Rolle argumentativer Dialogpartner, jetzt als Dialogbeitrag ernst genommen und
dementsprechend mit einer begründbaren Rede (einem sinnvollen Dialogbeitrag) beantwortet
werden könnten.“ Daß Dietrich Böhler im Zusammenhang mit diesem Modell der
Skeptikerwiderlegung139 auf Kant verweist, hat trotz der oben gemachten Kritik an Kants
theoretischer Einstellung seine Berechtigung – denn sein Ansatz, der für die Frage nach
Wahrheit ja Kriterien wie Allgemeinheit und vernunftgemäße Prüfbarkeit heranzieht, läßt sich
sprachlich transformieren. Wie dies möglich ist, zeigt in überzeugender Weise schon die
Kant-Kritik des Charles Sanders Peirce. Dessen „Konzeption der Konsensbildung in der
‚Gemeinschaft der Wissenschaftler‘“140 ersetzt die kantische theoria-Einstellung und zugleich
den Solipsismus der Subjektphilosophie. Die solipsistisch vorgestellte Gewißheit des
Einzelsubjekts wird abgelöst durch die „Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft (...)
als Konkretisierung des transzendentalen Subjekts bei Kant“141. Wahrheit ist das, worüber in
dieser Instanz sich „Konsens in methodisch kontrollierbarer Form herstellen“142 ließe. An die
Stelle der von Kant vorgestellten Einheit von Bewußtseinsinhalten tritt „semantische
Konsistenz einer intersubjektiv gültigen ‚Repräsentation‘ der Objekte durch Zeichen, die nach
Peirce freilich erst in der (...) Dimension der Interpretation der Zeichen entschieden wird.“143
Transformation Kants am Anfang der ‚Transformation der Philosophie‘
Wenn zunächst nur von einer ‚ersetzenden‘ Vorstellung oder ‚Ablösung‘ der kantischen
Vernunftinstanz die Rede ist, dann wird damit der Erkenntnisfortschritt noch nicht deutlich
genug. Er liegt darin, daß skeptische Kritik an diesem Modell der ‚indefinite community of
investigators‘ keinen Ansatzpunkt mehr findet; denn der Kritiker muß, um Kritik an ihm
vorzubringen, selbst diese Instanz in Anspruch nehmen – denn genau ihr gegenüber müßte die
Kritik des Skeptikers verständlich sein, will er sich überhaupt nur theoretisch die Möglichkeit
offen halten, gegebenenfalls bessere Argumente zu haben. Die unbegrenzte Gemeinschaft der
137Böhler 1998, S. 136.
138Dies und die folgenden Zitate: Böhler 2001 a, S. 51.
139In welcher sprachlichen Gestalt dieser Dialog mit dem Skeptiker im einzelnen ablaufen könnte, dazu Beispiele
bei Gronke 1999, S. 93-96 mit dem Verweis auf Wolfgang Kuhlmann (1993): Bemerkungen zum Problem der
Letztbegründung. In: Alexander Dorschel u.a. (Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M., S. 233-327; und
bei Brune 1995, S. 69-73.
140Apel 1973 Bd. I, S. 12.
141Ebd.
142Ebd.
143Apel 1973 Bd. II, S. 169.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
46
Argumentierenden als ‚höchster Punkt‘ der Peirceschen Transformation Kants144 bedarf damit
höchstens noch der Explikation, die Karl-Otto Apel so leistet:
Darin „konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der
Interpretation und das forschungslogische Postulat einer experimentellen
Bewährung der Erfahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt
dieser postulierten Einheit ist die unbegrenzte Experimentier-Gemeinschaft, die
zugleich die unbegrenzte Interpretationsgemeinschaft ist.“145
Im Rahmen dieser Konzeption läßt sich auch die problematische Unterscheidung von ‚Dingan-sich‘ und Erscheinungen verabschieden: An ihre Stelle „tritt in der sinnkritischrealistischen Transzendentalpragmatik die Peircesche Unterscheidung zwischen dem Realen
als dem prinzipiell – in the long run – Erkennbaren einerseits und dem hier und jetzt faktisch
Erkannten andererseits“146.
Für den Übergang zum dritten Paradigma, dem Paradigma der Kommunikation, ist damit
etwas Wichtiges geleistet, denn Peirces Auffassung kann ergänzt werden von der
„kommunikationsbezogenen Auffassung der Sprache und des Denkens, (...) einer
(transzendental-pragmatischen) Rekonstruktion der Bedingungen sinnvoller Rede und
wahrheitsfähigen Argumentierens“147. Diese Transformation der Philosophie verändert die
Zielrichtung philosophischen Denkens weg „von jedweder Betrachtung (bloße
Beobachterperspektive, also subjekt- und dialogvergessen) hin zu einer aktuell
dialogbezogen-sinnkritischen Reflexion auf sich und Andere als Partner des jetzigen
Dialogs“148. Vollendet werden kann diese Transformation als Reflexion auf die Dialogizität
von Sprache überhaupt, wobei sie im Rahmen deutschsprachiger Philosophie anknüpfen kann
auch an „Wilhelm von Humboldts kaum rezipierte (mit Kant gegen Kant denkende) Einsicht:
Sprechen als miteinander Sprechen und als Aktualisieren einer dualischen bzw.
dialogförmigen Struktur der Sprache“149. Bedingung der Möglichkeit des Sprechens ist
Humboldt zufolge „Anrede und Erwiderung“150; und dies „hat zur Folge, daß ein Sprecher die
eigene Rede nur verstehen, mithin sie auch nur vorbringen kann, weil er immer schon in
Erwartung und Erwartungserwartung des resp. der Anderen redet“151.
Sprachanalyse als Thema der Philosophie nach dem ‚linguistic turn‘
Insgesamt läßt sich der ‚linguistic turn‘ als der „Durchbruch der sprachanalytischen
Philosophie zum beherrschenden Paradigma der Philosophie im 20. Jahrhundert“152
beschreiben. Das Verhältnis von Erfahrungssubjekt auf der einen und Welt auf der anderen
Seite wird abgelöst: Das von der Gnosis bis Kant als einsames Subjekt gedachte Selbst „stellt
sich nun als gar nicht absolut und nicht als autonomer Grenzpunkt der Welt heraus, sondern
zeigt sich als realkommunizierender Akteur, der in Welt als einen Sozial- und
Sinnzusammenhang von vornherein einbezogen ist“153. Die Beschäftigung mit diesen
Kommunikationsprozessen wird zum vorherrschenden Thema der Philosophie. Sprache als
144Vgl. A.a.O., S. 173.
145Ebd.
146Kuhlmann 1985, S. 25.
147Böhler 2001 c, S. 25.
148Ebd.
149Ebd.
150Wilhelm von Humboldt (1960): Über den Dualis. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Berlin (Akademie-Ausgabe). Bd.
VI., S. 27. Zit. n. Böhler 2001 b, S. 168.
151Böhler 2001 b, S. 168.
152Kuhlmann 1985, S. 16.
153Böhler 1985, S. 65.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
47
Ausdruck dieses Zusammenhanges rückt in den Mittelpunkt philosophischer Analyse, was
dazu führt,
„daß die Sprache, die lange Zeit nur als ein – freilich stets besonderer –
Gegenstand der Erkenntnis figurierte, nun endlich in die ihr eher gemäße Stelle
einer entscheidenden subjektiven Erkenntnisvoraussetzung rückt (...). Statt mit
zunächst nur privat zugänglich scheinenden ‚Tatsachen des Bewußtseins‘ hat die
Analyse es nun mit öffentlich zugänglichen Strukturen von Zeichen und Sprache
zu tun, was sowohl die Analyse selbst, wie auch ihre kritische Diskussion, ganz
wesentlich erleichtert.“154
Zunächst gilt es, das Phänomen der Sprache zu differenzieren. Neben der semantischen und
der syntaktischen Dimension der Sprache entdeckt die Analyse (z.B. bei Carnap und
Morris155) die Bedeutung der dritten, der pragmatischen Dimension der Sprache. Hieraus
resultiert die Rede von der pragmatischen Wende der (Sprach-)Philosophie; „Sprache ist jetzt
etwas, das erst im Gebrauch durch Subjekte Bedeutung erhält; der Gebrauch (das kognitive
Verhältnis des Sprechers zur Sprache) wird zentrales Thema unter Titeln wie ‚Was heißt es,
einer Regel zu folgen‘ oder ‚How to do Things with Words‘.“156
Das Verständnis von Sprache als ‚Regelfolgen‘ hat am nachhaltigsten Ludwig
Wittgenstein aufgebracht. Doch seine Bedeutung im Rahmen des ‚linguistic turn‘ ist
insgesamt ambivalent. Denn in seinen frühen Schriften beschäftigte er sich zwar bereits mit
Sprache, allerdings ganz und gar in theoretischer Einstellung – was ihn gegenüber skeptischer
Kritik schwächt: „Der frühe Wittgenstein eröffnet die Bewegung mit der paradoxen Fassung
einer Sprachkritik, welche ganz ausdrücklich für den Sprachkritiker selbst und seine
kritischen Aktivitäten keinen legitimen Platz vorsieht.“157 Leitfaden des frühen Wittgenstein
ist nämlich sein methodisch-solipsistisches Verständnis von Sprache158 – Wittgenstein ist
dabei nicht klar geworden, daß er selbst ja als Kritiker und Argumentierender über Sprache
als Regelfolgen zu uns, seinen Lesern spricht und somit bereits eine Meta-Ebene von Sprache
in Anspruch genommen hat. Doch beim späten Wittgenstein wird dieser ‚logische
Atomismus‘ (Apel) überwunden, indem der „neue Schlüsselbegriff des späten Wittgenstein:
der Begriff des ‚Sprachspiels‘ oder besser gesagt: der ‚Sprachspiele‘“159aufkommt. Dieses
Modell ist leistungsfähig zur Illustration der logischen Verbindung von „Handlungssinn und
sozialem Handlungskontext“160: Der Sinn einer konkreten Handlung läßt sich nur dann
verstehen, wenn auch die Lebenspraxis, auf die die Handlung bezogen ist, bereits –
mindestens teilweise – mitverstanden wird.
„Ein Akteur muß immer schon ein wie immer unvollständiges Wissen haben, so
daß er sich im Totum eines Handlungszusammenhangs (...) in gewisser Weise
auskennt, wenn er eine bestimmte Handlungsweise (...) als Handlungsweise einer
sozialen Praxis soll richtig verstehen und anwenden können.“161
Wittgenstein überwindet aber niemals vollständig – dies muß als entscheidendes Defizit
festgehalten werden – die Aporie seiner Frühschriften, die er sich einhandelt, weil „die Stelle
154Kuhlmann 1985, S. 16 f. Daher ist es vielleicht eher zu verschmerzen, wenn das Folgende tendenziell wie eine
historische „Nacherzählung“ einiger Stationen des dritten Paradigmas wirkt und zuweilen weniger wie eine
gründlich-kritische Würdigung.
155Vgl. Kuhlmann 1985, S. 17.
156A.a.O., S. 18.
157A.a.O., S. 17.
158Darin „war die Funktion der intentionalen Ausdrücke wie ‚meinen‘ als etwas aufgefaßt, das man nicht selbst
wieder meinen, d. h. als etwas ‚bezeichnen‘ kann; ihre Funktion sollte identisch sein mit dem Meinen, d. h. der
Bezeichnungsfunktion überhaupt.“ (Apel 1973 Bd. II, S. 71)
159Apel 1973 Bd. II, S. 71.
160Böhler 1985, S. 202.
161Ebd.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
48
des Zeicheninterpreten, die Stelle des zeichenverwendenden Subjekts, entweder ganz leer
bleibt oder nur – halbherzig – im Sinne der empirischen Pragmatik besetzt wird.“162
Wittgensteins Kritik an der klassischen Sprachauffassung
und Aufhebung dieser Kritik: Doppelte Dialogizität
Zwar wird diese Leerstelle auch vom späten Wittgenstein nicht ausgefüllt; im Rahmen einer
auf den Zusammenhang philosophischer Paradigmen konzentrierten Untersuchung ist
Wittgenstein dennoch zu würdigen. Denn in Absetzung zu traditionellen Sprachvorstellungen
lassen sich die von (oder zumindest mit) Wittgenstein errungenen Fortschritte erkennen: Mit
seinen ‚Philosophischen Untersuchungen‘ vollendet er die Kritik des „seit Aristoteles die
Sprachlogik beherrschenden Denkmodells“, welches naiv angenommen hatte, „daß die
Wörter der Sprache ihre ‚Bedeutung‘ dadurch haben, daß sie ‚etwas bezeichnen‘, und (...) daß
die Wörter ‚Namen‘ für ‚vorhandene Dinge‘ oder ‚Gegenstände‘ sind“163. Wittgenstein
verabschiedet nun diese Vorstellung ebenso nachhaltig wie das augustinische Modell, Kinder
würden sprechen lernen, indem sie die durch die Eltern vorgesagten Bezeichnungen für
Gegenstände (auf die diese dabei hinweisen) nachahmen. Dieses Modell hatte nämlich
übersehen, „daß ein Kind, das zum erstenmal die Sprache erlernt, hinweisende Erklärungen
noch gar nicht verstehen kann, da es weder über eine strukturelle Artikulation der Welt schon
verfügt, die ihm sagt, was jeweils durch einen Hinweis gemeint ist (ob z.B. die Farbe oder
Form oder Art oder Zahl), noch die Funktion des zu erklärenden Wortes in der Sprache, seine
Verwendung, schon kennt. Eine hinweisende Erklärung von Namen versteht nach
W[ittgenstein] nur der, ‚der schon etwas mit ihr anzufangen weiß‘ (...).“164 Wittgenstein
macht also auf bislang nicht berücksichtigte Voraussetzungen des eingeschränkten
Sprachspiels Benennung von Gegenständen aufmerksam und weist es aus als „‚defizienten
Modus‘ derjenigen Sprachspiele (...), in denen Kinder zugleich mit der Erlernung ihrer
Muttersprache auch eine bestimmte Lebensform und ein bestimmtes strukturell artikuliertes
Verständnis der Welt als Situation der Lebenspraxis sich aneignen“165. Und da ohne diese
fundierenden Bezüge zu bestimmter Lebensform und -praxis kein Erlernen von Sprache
denkbar ist, kommt so die Kritik an Augustins166 „apragmatischer, nämlich
instrumentalistisch
gegenstandstheoretischer
und
methodisch
solipsistischer
Sprachauffassung“167 zum vorläufigen Abschluß.
Die Reichweite dieses Sprachverständnisses auch beim späten Wittgenstein erweist sich
indessen, wie oben angedeutet, aufgrund der unaufgeklärten Irreflexivität als begrenzt. Dieses
Defizit arbeitet Audun Øfsti auf, indem er zeigt, daß das Sprachspielmodell nicht geeignet ist,
um das Ganze einer Sprache abzubilden. Øfsti ergänzt damit Erkenntnisse der
sprachanalytischen Philosophie. Diese zeigt die „Doppelstruktur der Rede“168 aus
performativem und propositionalem Teil als denknotwendig: Aussagen können nur
verständlich sein, „weil sich die Sprecher immer schon und unvermeidlich in eine
performative Distanz zu ihnen bringen, indem sie für sie Geltung beanspruchen. So hat jeder,
der etwas [und damit propositionalen ‚Inhalt‘, T.L.] behauptet, weil seine
Behauptungshandlung Geltung (mögliche Wahrheit bzw. Richtigkeit) für die Aussage
unterstellt [und zwar den Anderen, den Adressaten seiner Behauptungshandlung gegenüber –
162Kuhlmann 1985, S. 25.
163Apel 1973 Bd. I, S. 253.
164A.a.O., S. 261 mit Verweis auf Wittgenstein, Phil. Unters. § 31.
165A.a.O., S. 262.
166Z.B. in Confessiones I, Kap. 8.
167Böhler 2001 c, S. 26.
168Böhler 2001 a, S. 29 mit Verweis auf Habermas 1991.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
49
hierdurch kommt die Performativität ins Spiel, T.L.], die Ebene des argumentativen Dialogs
betreten und dadurch bereits die Rolle eines Dialogpartners auf sich genommen.“169 Øfstis
Erweiterung zur doppelten Doppelstruktur weist nun darauf hin, daß mit dieser
Doppelstruktur stets auch die Bezugsmöglichkeit auf diese einhergeht: Wir können auf diese
Doppelstruktur noch einmal reflektieren und diese Reflexion explizieren. Also sei es doch
richtiger, so Øfsti, von einer doppelten Doppelstruktur der Rede zu sprechen, um das Ganze
einer Sprache ausdrücken zu können: „Notwendig für eine vollständige Sprache und
Kommunikationskompetenz ist die doppelte Reflexivität der performativ-propositionalen
Äußerung und des Stellungnehmenkönnens zu solchen Äußerungen.“170 Nun ist nach dieser
Präzisierung noch einmal an die Geltungsansprüche, die wir mit dem Vorbringen einer
Äußerung zugrunde legen, zu erinnern.
Da „das Vorbringen und das Erläutern einer Äußerung wiederum die Form von
Dialogbeiträgen hat, deren Geltungsansprüche mit der Anerkennung anderer als
gleichberechtigter Argumentationspartner etc. verwoben sind“, schlägt Böhler
vor, „diese doppelte dialogbezogene Doppelstruktur ‚doppelte Dialogizität der
Kommunikation‘ oder ‚doppelte Dialogstruktur der Sprache‘ zu nennen“171.
So ist das dritte Paradigma der Philosophiegeschichte vollständig entfaltet, indem die
„betrachtende (theoretische bzw. analytische) Einstellung“ verlassen worden ist und statt
dessen die Besinnung „auf den jeweiligen Dialog und die Dialogpartnerrolle“172 durchgeführt
wird. Die zutage tretenden Bestimmungen der Sprache lassen sich dabei als
Differenzierungen der Voraussetzungen verstehen, die mit sinnvollen Äußerungen
einhergehen. Um zu prüfen, ob sie skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem
sinnkritischen Test unterziehen: Lassen sich sinnvolle Argumente finden – also Argumente,
die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die
Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender anerkennen muß –, die die
vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen verworfen werden. Zeigt sich
dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß keine sinnvoll gedacht werden
können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann können die Thesen als bestätigt gelten.173
Dieser sinnkritische Test kann auch Anwendung beispielsweise für diesen Durchgang
durch die Philosophiegeschichte finden – und dabei die Frage klären helfen, welche
Erkenntnisse der einzelnen Argumentationsweisen und Konzeptionen jeweils als
entscheidende (und zu bewahrende) Denkfortschritte gegenüber vorherigen Modellen
Gültigkeit beanspruchen können. So kann eine kritisch-logische Einschätzung dieser
paradigmatischen Entwicklungen erreicht werden, die mehr und anderes als ihre historische
Rekonstruktion174 zu leisten vermag. Analog lassen sich Fehlentwicklungen – sozusagen
Sackgassen im ‚Labyrinth der Ideen‘175 – aufdecken, wie Dietrich Böhler es formuliert:
169Böhler 1998, S. 134 f.
170Böhler 2001 c, S. 26 a.
171Böhler 2001 a, S. 33 in Anknüpfung an Audun Øfsti (1994): Abwandlungen. Essays zur Sprachphilosophie und
Wissenschaftstheorie. Würzburg, S. 139-147, 166-181.
172Böhler 2001 c, S. 27.
173Ebd. Micha Werner zeigt beispielhaft, wie fruchtbar mit diesem Kriterium im Hinblick auf bestimmte Probleme
gearbeitet werden kann und welche Beschränkungen zu berücksichtigen sind. (Micha Werner 2001: „Who
counts“, in: Marcel Niquet u.a. (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen. Würzburg, S. 265-292.
174Die Tatsache, daß hier und im zugrundeliegenden Seminarprogramm Dietrich Böhlers Paradigmen und
Philosophen grosso modo entsprechend der historischen Abfolge behandelt werden, hat dementsprechend
primär einen pädagogischen Grund – so läßt sich eine (natürlich sehr schematische) Systematisierung wichtiger
Strömungen der Philosophiegeschichte vermitteln, die spätere Einordnungen erleichtert. Dieser
Erkenntnisfortschritt wurde von den Teilnehmern des Seminars in einer Evaluierung am Ende des Semesters als
besonderer wertvoll gewürdigt.
175Vgl. Böhler 2001 c, S. 1.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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„Seit Augustin kommt ein philosophischer Individualismus auf, seit Kant ein
transzendentaler Solipsismus, der voraussetzt oder behauptet, einer könne für sich
allein (solus ipse) Sinn und Gültigkeit haben. Darin sehe ich das, erst dank KarlOtto Apels gemeinschafts- und diskursbezogener ‚Transformation der
Philosophie‘
überwundene,
próton
pseūdos
der
abendländischen
Bildungstradition, ihren elementaren Denkfehler. Er ist der hohe Preis, den die
abendländische Philosophie für ihre vielleicht größten Errungenschaften, die
Begründung des kritischen, Vorgegebenes distanzierenden Denkens und der
freien, selbständig urteilsfähigen Person, hat entrichten müssen.“176
Ob und inwieweit dieser Preis unvermeidlich ist, kann die dialogreflexive Sinnkritik
aufweisen, deren kritische Prüfung und Aneignung philosophischer Paradigmen man in
Dietrich Böhlers Seminarpraxis erlernen kann.
Literatur
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Tübingen. Bd. II, Sp. 1256-1298.
Brune, Jens Peter (1995): Setzen ökonomische ‚Sachzwänge‘ der Anwendung moralischer Normen
legitime Grenzen? In: Ders., Dietrich Böhler, Werner Steden (Hg.): Moral und Sachzwang in der
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Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik? Würzburg.
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Pädagogik. In: Prinzip Mitverantwortung. S. 203-226.
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176Böhler 2001 b, S. 154.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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Windelband, Wilhelm; Heimsoeth, Heinz (151957): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie.
Tübingen.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
52
2.1 Nach der Lektüre.
2.1.1 Fragen und Antworten.
1) S. 27, Z.16ff
„ Man kann somit auch nicht kontextfrei in ‚das’ Philosophieren einführen; denn auch das
Methodenverständnis wandelt sich mit dem allgemeinen Bild von Philosophie.“
Was bedeutet Methodenverständnis?
Das ist ein selbsterklärender Ausdruck …
2) S. 27, Z. 22ff
„Für diese Aufklärung scheinen Fragemodelle skeptischer Art besonders geeignet zu
sein…“
Warum eignet sich gerade der Skeptizismus am Besten als Ausgangspunkt?
Diese Frage kommt mit der neunten frage überein, s. u.
Fragen zum Logosgrundsatz
3) Generelle Frage: Wie verhalten sich Logos und Erkenntnis zueinander? Logos
i.S. von Begriff und Argument ist die notwendige (nicht schon die hinreichende)
Bedingung von Erkenntnis.
4a) S. 30, Z.28ff
„Nur was sich anhand wohlbegründeter Argumente erweisen lässt, kann als verbindlich
gelten. Die überzeugendsten Argumente stehen miteinander im Widerstreit;…“
Nonsens
Stehen die überzeugendsten Argumente notwendigerweise im Widerstreit
miteinander? Könnte es auch anders sein?
Allerdings: es muß anders sein.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
53
4b) Inwiefern kann von einem Argument gesprochen werden, wenn partikulare
Interessen vertreten werden?
Insofern es formal konsistent und semantisch verständlich ist. Brisant ist die sinnkritische
Frage, ob N.N. ein glaubwürdiger Diskurspartner bleibt bzw. einen diskutablen Beitrag
zum und im argumentativen Diskurs machen kann, wenn er nichts als ein partikuläres
Interesse vertritt. Man bedenke die Sinnbedingungen a3, a4 und b2, b3, b4 wie auch schon
b1 des folgenden Schemas:
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
54
Normative Sinnbedingungen eines Dialogbeitrags /
Normen der Diskurspartnerrolle
Diskurspragmatisch sinnvoll, d.h. diskutierbar als Beitrag zu einem
argumentativen Dialog ist eine Rede, ein Gedanke als Einlösungsversuch
von:
vier Geltungsansprüchen (a)
einlösbar durch:
Selbstverantwortung
Selbst- und
Mitverantwortung
erfüllbar
durch:
Selbstverantwortung
Selbstund
Mitverantwortung
a1) Anspruch auf Verständlichkeit der Redehandlungen (R) als
Nachvollziehbarkeit ihres Sinns mit Widerspruchsfreiheit
des propositionalen Gehalts (P) als P, als Teil von R und von
R als Diskursbeitrag (Voraussetzung für Andere, mit dem
Sprecher (S) über R kommunizieren zu können)
a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention samt
Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraussetzung
für Andere, mit S über R kommunizieren zu wollen, sich auf
R einlassen zu können).
a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit meiner
Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s.o.: a2)
vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann.
a4) Anspruch auf Legitimität bzw. Richtigkeit von
Handlungsweisen oder Normen, woraufhin sie im Diskurs
geprüft werden können (Gerechtigkeitsidee);
konstitutive
Bedingung für
Kommunikation
überhaupt
teils konstitutive
Bedingung, teils
regulative Idee
mit konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
und sechs vorgängigen Dialogversprechen (b)
b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen als
autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, also
sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheitsfähige
Dialogbeiträge zu bemühen
b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen
Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvollen
Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren
Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz,
(selbst- und ergebniskritisch) im Auge zu behalten, also
auch nach möglichen besseren Argumenten zu suchen,
b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialogpartner
zuzuerkennen und ihre Würde zu achten:
Diskursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde,
b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als Möglichkeit
der Verantwortung, jetzt und in Zukunft,
also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu
ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, sozialen
und kulturellen Realisierungsbedingungen öffentlicher
Diskurse,
b5) die Fallibilität von Situationsanalysen und
situationsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also
deren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine
irreversiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen
mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können,
b6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein für die
Umsetzung der Diskursergebnisse in die alltagsweltlichen
und gesellschaftlichen Praxisfelder.
Sinngeltung
diskursbezoge
ne regulative
Ideen mit
konstitutiver
Funktion für
Dialoge und
Kooperationen
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
55
5) S. 30, Z. 27
„Entscheidendes Kriterium für die Anerkennung einer Rede als schlüssig und der
Proposition als wahr oder richtig ist also ihre Überzeugungskraft in argumentativen
Diskursen.“
Könnte man hier die Begriffe wahr oder richtig durch den Begriff schlüssig
ersetzen?
Für Rede ja; nicht für die, von der Rede behauptete, Aussage/Proposition.
6) S.30, Z.35ff
„Gleichwohl ist ein wichtiges Defizit festzuhalten: Konsequent gedacht wäre mit dieser
Vorstellung der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft nicht mehr jene traditionelle
Auffassung zu vereinbaren, welche den inneren seelischen Dialog des Einzelnen […] als
Fundament für Erkenntnis ansieht…“
Die Idee der unbegrenzten Rechtfertigungsgemeinschaft ist unvereinbar mit der
Erkenntnisgewinnung durch den „inneren seelischen Dialog des Einzelnen“.
Stehen diese beiden Vorstellungen wirklich im Widerspruch miteinander? Muss
nicht auch das Denken des Einzelnen ‚kommunikationsbezogen’ gedacht werden?
Ja, aber dann ist es ja bezogen auf jene Idee.
7) S. 31, Z. 37
„Indes bleibt Aristoteles wegen seiner akommunikativen, gegenstandstheoretischen
Sichtweise ein bedeutender unreflektierter Rest vorbehalten.
Was bedeutet Gegenstandstheorie?
So ist die Frage sachunangemessen (schief) gestellt, da es, wie T. Lücke ausdrücklich
sagt, nur um eine gegenstandstheoretische Perspektive auf etwas geht. Die Thesen oder
die Unterstellungen, die Sache der Ontologie (ihr Thema) seien dingliche Gegenstände
und die Beziehung des Ontologen auf sein Thema sei von der Art des Vorstellens bzw.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
56
Sehens von Dingen; und diese Phänomene seien durch ein pures Sehen, eigentlich sprachund kommunikationsunabhängig, erkennbar.
zu 7)
Die gegenstandstheoretische Sichtweise der klassischen Ontologie:
sprach- und kommunikationsverzerrende Verdinglichung des Ganzen zum Inbegriff
von Dingen.
Anstatt die dialog- und denkkonstitutive Klasse der Behauptungen und der (davon
getragenen) Fragen als Sprachhandlungen mit Geltungsansprüchen zu berücksichtigen,
betrachten die meisten Metaphysiker seit Platon und Aristoteles (im Wortsinne der
theoretischen bzw. kontemplativen Einstellung eines Etwas Vernehmenden oder Etwas
Beobachtenden) das Thema ihrer Behauptungen, als sei es ein dinglicher Gegenstand:
„das Sein“ und dessen Ganzheit als Inbegriff von „Seiendem“.
Die ontologische Frage nach dem Ganzen wird nämlich von dem Vorverständnis, dieses
sei nach dem Muster eines dinglichen Gegenstandes zu verstehen, bestimmt. Darin liegt
eine sprach- und kommunikationsverzerrende Verdinglichung des Ganzen, was da ist. Das
aber ist niemals bloß dinghaft und begegnet uns auch nicht als bloße Dinglichkeit. Denn
zum Ganzen gehört einerseits die an sich selbst sinnhafte Lebenswelt und Kulturwelt,
andererseits die Natur, insofern sie (vor aller Naturwissenschaft) je schon als etwas von
bestimmter Bedeutlung sprachlich vorgedeutet ist, und überdies insoweit sie schon in
gesellschaftlich kulturelle, zumeist technische Verwendungszusammenhänge einbezogen
und dadurch denaturiert bzw. technisch „gestellt“ und zu industriellen „Herstellungen“
genötigt bzw. „bestellt“ wird (Heidegger, „Die Frage nach der Technik“, 1950).
Fragen zum Satz vom zu vermeidenden Widerspruch
8) S.31, Z. 8-29
Die Skeptikerwiderlegung setzt ein gewisses Maß an Rationalität voraus. Der
Skeptiker jedoch lehnt Rationalität ab. Können die Argumente, die gegen den
Skeptiker angeführt werden dann überhaupt „gültig“ sein?
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
57
Gegenfrage: Kann ein sinnvoller Redebeitrag Rationalität überhaupt bestreiten? ‚Rede‘ im
weiten Sinne von Prüfbarkeit / prüfbarer Aussage ist von jedem sinnvollen Redebeitrag
vorausgesetzt.
Zu Descartes
9) S. 34
Kann man Skeptizismus als Grundlage unserer Erkenntnis betrachten?
Nein, aber skeptische Fragen und Argumente. Lassen Sie mich diese Ihre Frage
zusammen mit Frage 2) beantworten:
Skeptizismus (S) als Ausgangspunkt von Prinzipienerkenntnis
S ist ungeeignet, weil er (→ „ismus“!) die Verabsolutierung einer Haltung bedeutet, die
jeden Dialog unmöglich macht; nämlich die Haltung „es ist doch alles zweifelhaft. Also
läßt sich gar nichts klären und erkennen, so daß man konsequenterweise schweigen
sollte.“ → „Negativer Dogmatismus“ laut Sextus Empiricus und Diskursverweigerung lt.
D. B.
Geeignet ist jedoch der argumentative Versuch, die Wahrheit aller behaupteten Thesen
möglichst in Frage zu stellen. Denn das
– ermöglicht eine kritische Teilnahme am argumentativen Dialog (a) und
– es enthält den Zweifel an der Gültigkeit jedweden (sachlich gehaltvollen) universalen
Prinzips (b).
(a) und (b) zusammen sind eminent fruchtbar, weil sie den Vertreter eines Grundsatzes/
Prinzips (mit Anspruch auf allgemeine Gültigkeit) zu dem Versuch nötigen, diesen
Gültigkeitsanspruch einzulösen statt sich seiner Sache naiv dogmatisch sicher zu fühlen.
10) S. 34, Z.19
„Vorraussetzung für diesen Neuanfang ist dabei eine „Umkehrung der
Erklärungsrichtung“ (Habermas)
Was bedeutet hier „Umkehrung der Erklärungsrichtung“?
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
58
Erst die Quelle lesen (hier: Habermas‘ Aufsatz), dann dritte fragen.
11)
Findet man in Descartes’ Ansatz nicht eine Fortsetzung des Dualismus der Gnosis,
wie er auf S. 32, Z. 24ff beschrieben wird („ radikaler Dualismus zwischen Gott und
Welt“: in sich geschlossenes göttliches Reich des Lichts vs. Kosmos als Reich der
Finsternis)?
Das nicht, wohl aber eine Analogie: Dualismus res cogitans/Ich denke versus res extensa/
meßbare Dinge.
Fragen und Antworten (Teil II)
zu Tilman Lücke, „Mit skeptischen Fragen durch die Philosophiegeschichte“ Protokoll
der Fragen zum Text ab S. 35177 unten: „Grenzen der Subjektphilosophie –
‚Metaphysischer Rest’ bei Augustinus, Descartes, Kant“
Brückenprinzipien
12) S. 36 Mitte, Zitat Böhler:
„[Descartes gelangt] zu der überaus problematischen Bestimmung: ‚sum res cogitans’ und
zu (...) ebenso problematischen Brückenprinzipien, die (...) sich offenbar sämtlich ohne
Selbstwiderspruch bestreiten [lassen], und damit ist der Letztbegründungseffekt vertan“.
Brücke vom Subjekt zur Außenwelt.
Was ist unter „Brückenprinzipien“ bei Descartes zu verstehen? Worum handelt es
sich dabei und benutzt Descartes selbst diesen Begriff?
Nein
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
59
Sprache und ‚linguistic turn’
13) S.41f: Sprachanalyse als Thema der Philosophie nach dem ‚lingustic turn’
Hat sich die Sprache selbst grundlegend geändert, oder wird sie seit dem ‚linguistic
turn’ nur anders gesehen?
Ersteres kann unmöglich angenommen. Denn: Wie könnten Sie dann a) alte Texte
verstehen, b) alte Sprachen als Sprachen erkennen und lernen? Aber spätestens seit W. v.
Humboldt wird Sprache umfassender u. tiefer begriffen, nämlich in ihren pragmatischen
Dimensionen. Man sollte daher auch angemessener von der „pragmatischen Wende“ der
Sprachauffassung, der Verstehens- und Erkenntnisauffassung sprechen.
14) III. Paradigma: Sprache, S. 38-40, passim
z.B.: „[Sprache] als gewissheitsermöglichende Voraussetzung an Stelle der subjektiven
Vernunft“ (S. 38 unten) oder: „[Peirce’s] ‚Konzeption der Konsensbildung in der
‚Gemeinschaft der Wissenschaftler’’[Zitat Apel] ersetzt die kantische theoria-Einstellung
und zugleich den Solipsismus der Subjektphilosophie. [...] Wahrheit ist das, worüber in
dieser Instanz [einer Experimentier- und Interpretationsgemeinschaft] sich ‚Konsens in
methodisch kontrollierbarer Form herstellen’[Zitat Apel] ließe.“ (S. 40 oben)
Warum sollte ein solipsistischer Ansatz nicht zu Erkenntnis führen können, bzw.
inwiefern ist Kommunikation eine Vorraussetzung für Erkenntnis? Wird einem
einsam, ohne jeglichen kommunikativen Kontakt Lebenden die Möglichkeit zu
Erkenntnisgewinn abgesprochen?
Fragen Sie: Wie sollte er Sinn u. Bedeutung haben? Wie etwas als etwas von bestimmter
Bedeutung verstehen können?
Doppelte Dialogstruktur der Sprache
15) S. 43 oben
Welchen Ansatz verfolgt Audun ∅fsti? Bitte um Erläuterungen.
177
Seitenabgaben beziehen sich auf die im Internet zugängliche Version des Textes.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
60
Fragen Sie immer: welche Fragestellung liegt einem Ansatz zugrunde? Worauf antwortet
er?
Denn Sie verstehen einen Ansatz immer nur insoweit, als Sie die Frage rekonstruieren, auf
die er eine Antwort gibt. Diesen hermeneutischen Grundsatz Hans-Georg Gadamers
möchte ich Ihnen zu Herz und Geist legen.178
Øfstis Fragestellung ist:
Was gehört zu einer formal vollständigen Sprache?
Er antwortet, kurz gefaßt: Die (in einer Sprache vorstrukturierte) Möglichkeit der
Sprecher, sich verständlich – mit einer formal kompletten Äußerung – auf das Gesagte
und auf Andere zu beziehen resp. sie einzubeziehen, und zwar durch ein System von
Personalpronomina, dank dessen Andere in der Sprache virtuell anwesend sind.
16) S. 43f. – S. 66 im Original: Festschrift Böhler, 2002:
„Um zu prüfen, ob sie [i.e. die mit sinnvollen Äußerungen einhergehenden
Voraussetzungen, MLK] skeptischen Anfragen standhalten, können wir sie dem
sinnkritischen Test unterziehen: Lassen sich sinnvolle Argumente finden – also
Argumente, die sich vom Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit
selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen bestreitet, die er als Argumentierender
anerkennen muß –, die die vorgebrachten Thesen bestreiten? Dann müssen diese Thesen
verworfen werden. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente finden lassen, ja daß
keine sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium standhalten, dann
können die Thesen als bestätigt gelten.“
Wie genau funktioniert der sinnkritische Test?
Zunächst einmal ist das Zitat zu knapp gefaßt, würde jedoch auch durch Hinzufügung des
im Original vorausgegangenen Satzes sachlich nicht klar genug. Daher ist zunächst eine
Reformulierung von T. Lückes Sätzen erforderlich. Etwa folgendermaßen:
Sinnkritik als Reflexion im Dialog auf die Sinnbedingungen der Argumentation
Wenn wir Gewißheit darüber erhalten wollen, ob die vermutete Sinnbedingung eines
Argumentationsbeitrages (und einer Wahrnehmung der Diskurspartnerrolle) wirklich
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
61
gültig ist, so daß ihre Annahme der Geltungsskepsis standhalten kann, (handelt es sich nur
um eine Vermutung oder ist es wirklich eine notwendige und tragende
Sinnvoraussetzung?), müssen wir einen reflexiven sinnkritischen Test durchführen:
‚Lassen sich sinnvolle Argumente geltend machen, – also Argumente, die sich vom
Skeptiker vorbringen lassen, ohne daß er damit selbstwidersprüchlich die Vorbedingungen
bestreitet, die er als Argumentierender anerkennen muß –, die die vorgebrachte These, „x
ist eine Sinnbedingung eines Beitrags zum/im argumentativen Diskurs“, in Zweifel
ziehen?
Wenn ja, dann ist die These zu verwerfen. Zeigt sich dagegen, daß sich keine Argumente
finden lassen, ja daß keine sinnvoll gedacht werden können, die diesem Sinnkriterium
standhalten, dann kann die Annahme als bestätigt gelten, dann ist x eine Sinnbedingung
eines Argumentationsbeitrags und ist konstitutiv für die Diskurspartnerrolle.
Nun käme Ihre Frage, meine Damen und Herren, nämlich:
„Wie genau funktioniert der sinnkritische Test?“
Wenn Sie so fragen, haben Sie zwei heikle Vorentscheidungen getroffen. Allgemein
haben Sie sich für eine theoretische Einstellung entschieden, in der Sie selbst als
Denkende, als Argumentationsteilnehmer ersichtlich nicht vorkommen. Insbesondere
haben Sie, weil Sie nach dem Funktionieren von etwas fragen, völlig abgesehen von den
Subjekten, welche die sinnkritische Prüfung vornehmen müssen, und ebenso von deren
reflexivem Verfahren. Beides, Subjekte und Besinnung der Subjekte, wird ausgeblendet,
wenn man objektivierend nach dem Funktionieren (nach dem Vorbild eines Apparats)
fragt.
Doch bereits der, wie ich gestehe, auch von mir z.T. verwendete Begriff ‚sinnkritischer
Test‘ ist sehr erläuterungsbedürftig. Ja, er ist insofern unangemessen, als er einem
objektivistischen Methodenverständnis Vorschub leisten kann: als handele es sich um ein
Verfahren, dessen Anwender bei der Durchführung des Verfahrens außen vor bleiben
könne – wie etwa bei einem Lackmustest. Hier aber geht es um eine strikt reflexive
Methode. sie besteht in einer Besinnung von Teilnehmern (Subjekten) eines
Streitgesprächs, und zwar erstens auf Sinnvoraussetzungen jedweder, auf Gültigkeit
zielenden und daher nur Argumente zulassenden Untersuchung (Diskurs), zweitens darauf,
ob die von einem Teilnehmer vorgebrachte und strittige Behauptung – und auch ein
178
Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl. 1965,
S. 352.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
62
vorgebrachter Zweifel stellt eine Behauptung dar – vereinbar ist mit den erkannten
Sinnvoraussetzungen eines argumentativen Diskurses.
Und wie lassen sich jene erkennen? So, daß sie zunächst (nach Art des hermeneutischen
Zirkels aus unserem Vorverständnis vom argumentativen Diskurs) rekonstruiert werden;
und indem dann erstens versucht wird, jedes einzelne Rekonstrukt (R1) für sich zu
bezweifeln. Alsdann ist, zweitens, die Besinnung der Teilnehmer fällig, die sich fragen:
‚Bleiben wir glaubwürdige Diskurspartner, wenn wir an der Gültigkeit von (R1) zweifeln?
Oder widersprechen wir damit einer Voraussetzung unserer Diskurspartnerrolle, die wir
auch durch unseren soeben vorgebrachten Diskursbeitrag implizit als gültig und
verbindlich anerkannt haben?179
Wie haben wir uns demgemäß eine reflexive sinnkritische Prüfung zu denken?
Denken wir uns, daß sich Personen in einem jetzt anhängigen Streitgespräch auf die von
ihnen in Anspruch genommene Rolle des Argumentationspartners (Ap) besinnen, indem
sie sich fragen:
‚Bleibe ich ein glaubwürdiger Ap, wenn ich die These T als Beitrag zum argumentativen
Dialog vertrete?‘
Nicht also ein „Test“, der mich außen vor läßt, sondern eine aktuelle Dialogreflexion wird
angestellt: Eine Konfrontation der Sinnbedingungen/Normen der Diskurspartnerrolle mit
dem Gehalt einer These, die ‚ich‘ als Ap vertrete.
2.1.2 Eine Nachschrift von D. Böhlers Antworten
[folgt später]
179
Dazu: D. Böhler, „Glaubwürdigkeit des Diskurspartners.“ In: Th. bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hg.),
Wirtschaft und Ethik. EWD Band 12, Münster (Lit) 2004, bes. S. 105-139.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
63
III
Grundlagen: Diskurs als argumentativer Dialog – systematisch und
philosophiegeschichtlich erörtert.
3.1
Einholung des argumentativen Dialogs als Entwicklungsziel der Philosophie? Die
drei philosophischen Paradigmen und die wiedergängerische Rhetorik.
Wir fragen nach den Sinnkriterien des philosophischen Diskurses. Im Blick auf diese Frage
können wir die Etappen der Philosophiegeschichte teleologisch, vom Zielpunkt her, darstellen
und kritisch prüfen. Als internes Entwicklungsziel nehmen wir eine zustimmungswürdige,
argumentativ konsensfähige Selbsteinholung der Philosophie an, der Philosophie als
Sachwalterin des einsehbar Allgemeinen, des Logos. Die Philosophie soll das einholen
können, was sie beim Philosophieren in Anspruch nehmen muß.
In einer solchen Selbsteinholung liegt die Selbstverantwortung der Philosophierenden.
Verantwortlich sind sie in erster Linie für die Klärung des Diskursphänomens, zu dem ihre
Denkpraxis gehört, und die Sorge für eine Übereinstimmung ihrer Thesen mit den Grundlagen
der kommunikativen Praxis des Diskurses.
Die Klärung betrifft das Diskursphänomen in seinen verschiedenen Erscheinungen: elementar
als Begleitphänomen aller Formen und Ausdrucksweisen menschlichen Lebens, kultiviert und
differenziert sowohl als Medium und Geltungsinstanz der gesellschaftlichen bzw. politischen
Kultur wie auch als Medium und Geltungsinstanz der Wissenschaften und der Philosophie
selbst.
Diese Klärung, hier nur im kursorischen Überblick zu leisten, ist zunächst eine
Rekonstruktionsaufgabe
und
dann
die
Sache
einer
selbstkritischen
Prüfung
der
Rekonstruktionsergebnisse, eine Geltungsreflexion. Letztere ist erforderlich, wenn die
Philosophie diejenigen Voraussetzungen begründen (und dadurch verantworten) soll, die sie
selbst in Anspruch nimmt, wofern sie sich – seit Sokrates, Platon und Aristoteles – als
Sachwalterin des Logos und damit als die erste Wissenschaft versteht, als die
Grundlegungswissenschaft. Kraft einer Reflexion in dem strittigen Diskurs, in dem sich ein
Philosoph mit seinen Thesen gerade befindet, auf die Sinnvoraussetzungen bzw.
Geltungsbedingungen jedes argumentativen Diskurses, müssen die Philosophierenden
erweisen können, daß sie mit dem argumentativen Diskurs ein kommunikatives und moralisch
bindendes Verhältnis mit allgemeingültigen Regeln und Grundnormen in Anspruch nehmen:
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
64
das Argumentieren überhaupt, welches immer schon eine Sache des Erkennens und des
gesollten Wollens ist, eine logische und moralische Verbindlichkeit.
Die logische Verbindlichkeit des Argumentierens hängt an seinem Ziel, Wahrheitsansprüche
einzulösen, indem auf konsistente Weise gute Gründe für eine These erarbeitet werden, so daß
sich ein einsehbar Allgemeines ergibt. Damit verwoben ist eine mögliche moralische
Verbindlichkeit für praktische Urteile und konkrete Normen: eine verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit, so daß auch alle Betroffenen, sofern sie den Diskurs konsequent als
Argumentationspartner mitvollziehen, dem Urteil oder Normenvorschlag zustimmen würden.
Insofern es den Philosophen gelingt, die internen normativen Grundlagen des argumentativen
Diskurses als dialogischer, mithin logisch und moralisch verbindlicher Praxis zunächst
aufzudecken, nämlich zu rekonstruieren, und sie dann reflexiv zu erweisen, haben sie die
Basis dessen eingeholt, was wir „Philosophieren“ nennen. Sie haben dann erkannt und
demonstriert, worauf sich jeder, der sich und anderen etwas verständlich machen und uno actu
zur Geltung bringen will, bereits eingelassen hat: die Rolle eines Partners im argumentativen
Dialog, der auf das logisch Allgemeine und auf die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit als
Ziel verpflichtet ist.
So ergibt sich das interne Entwicklungsziel des Diskursbegriffs durch Reflexion auf die
Diskurspraxis selbst. Es ist zuvörderst die Erkenntnis der konstitutiven Regeln und Normen
des Dialogs der Argumente, sodann deren Berücksichtigung und Befolgung in der je
besonderen Philosophie, Theorie oder auch Lebenskunst. Im Blick auf dieses Telos können
wir die unterschiedlichen Beiträge zur Entfaltung dieses Grundbegriffs allen Denkens
zwanglos interpretieren und kritisch beurteilen: als einen Fortschritt oder eine Regression,
oder auch als beides in verschiedener Hinsicht. Darin sehe ich den kriteriologischen Kern
einer philosophischen, reflexiv argumentierenden Begriffsgeschichte und einer Theorie des
Diskurses, die auch die praktischen Diskurse einschließt, mithin die moralische
Urteilsbildung.
Eine solche entwicklungslogisch angelegte, kritische Begriffsgeschichte ist ein Spiegel des
Geistes. Historisch zunächst ein Geistesspiegel Europas, kann sie logisch und ethisch ein
Geistesspiegel aller Denkenden sein. Warum? Der Geistesspiegel Diskurs ist für alle
möglichen Thesen und Fragen offen, über die sich mit Argumenten streiten läßt. Die Idee
dieses friedlichen Streits, die Auseinandersetzung allein mit Argumenten, hat im Athen des
fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht bloß Schule gemacht, sondern eine neue Kultur des
Miteinander-Denkens und Miteinander-Streitens ermöglicht. Deren Urbild ist der Sokratische
Dialog als Institution des Gründe-Gebens, des λόγον διδόναι (logon didonai). Denn Sokrates
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
65
sucht nach dem geltungslogisch Allgemeinen, nach Wahrheit und richtiger Definition, und
führt diese Suche in Form eines dem Gerichtsverfahren entlehnten έλεγχος (elenchos) durch.
Daraus entwickelte sich in Europa das Paradigma kritischer Vernunft, in dem die
Gerichtshofmetapher – am pointiertesten in Kants „Kritik der reinen Vernunft“180 – eine
ausgezeichnete Rolle spielt. Dank seiner Kritik eines Scheinwissens, das unfähig ist, die naiv
behaupteten Interessen und Meinungen als Geltungsansprüche einzulösen, und dank seiner
Aufnahme juridischer Verfahrenselemente weist der Sokratische Dialog über sich hinaus auf
ein kommunikatives Verständnis von „Kritik“ und „Vernunft“, von „Geltung“ aus Gründen
und „Gewißheit“ durch Rechtfertigung.
Bis auf die Gegenwart nur unterschwellig wirksam oder gar, wie bei Descartes, solipsistisch
ausgeklammert, blieben freilich der egalitär kommunikative Verständigungsaspekt und die
dialogische Ethik des Diskurses, obzwar beide in Platons sokratischen Dialogen angelegt sind
– schon und noch. Das „Noch“ verweist auf die ontologische und ideentheoretische
Verdeckung, ja Überformung der freien Verständigung unter Gleichberechtigten und ihrer
gemeinsamen moralischen Basis als Dialogpartner: Der Seinstheologe Platon verdrängte den
argumentativen Dialog zunehmend durch eine kontemplativ spekulative Wesensschau, die
theoria. Ineins damit überformte er den, in Dialogen wie „Apologie“, „Kriton“, „Gorgias“
und „Thrasymachos“ spürbaren, Ansatz einer sokratischen Moralbegründung, nämlich eine
dialogische Besinnung auf normative Grundlagen des Denkens. Denn er zwängte den
Sokratischen Richtungsstoß zu einem Denken aus dem Dialog in den undialogischen Rahmen
einer Seinsschau – einer geistigen Schau des Ganzen und seines Urgrundes. Diesen bestimmte
er als das ewig in sich ruhende Gute und Eine. Den Dialogansatz des Sokrates, dessen
konsequente Durch- und reflexive Weiterführung ein Denken jenseits einer uneinholbaren
Metaphysik erlaubt hätte, ersetzte Platon durch eine ungeschichtlich denkende, spekulative
Kosmostheologie. Aus seiner Deutung des göttlichen Kosmos leitete er dann die höchsten
Werte und deren normative Gehalte ab – naturalistischer Fehlschluß im Rahmen eines
spekulativen Intellektualismus?
Platon stellt eine erste Weggabelung unter mehreren dar, die uns vor die Alternativfrage
stellen: Wie hätte sich das europäische Denken – hier: nach Sokrates – entwickeln können?
Und wie würde es sich im Sinne einer Entwicklungslogik entwickelt haben, wenn Platon und
auch sein eigenwilliger Schüler Aristoteles schon reflexiv dialogisch gedacht hätten? Das ist
keine müßige rückwärtsgewandte Perspektive. Kraft einer Entwicklungslogik kann die Frage
180
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f; B 697, 767 f, 779f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
fruchtbare
Gedankenexperimente
eröffnen,
66
die
uns
über
unsere
eigenen
Traditionsabhängigkeiten aufklären und uns emanzipatorische Anstöße geben mögen. Eine
aufregende Sache. Um sie zu betreiben, versuche ich in dieser Einleitung, die Darstellung
stets mit der Auseinandersetzung, die Hermeneutik mit der Kritik zu verbinden. So nämlich,
daß wir Zeitgenossen unser Denken wirkungsgeschichtlich in dem der Tradition spiegeln und
das der Tradition kritisch mit den Geltungsansprüchen des argumentativen Diskurses
konfrontieren.
Jene Alternativfrage weist uns einerseits auf das Abenteuer der faktischen europäischen
Ideengeschichte hin; andererseits eröffnet sie die Perspektive einer Entwicklungslogik,
welche die unverzichtbaren Elemente einer Selbstaufklärung des Denkens als Stufen seiner
Selbsterkenntnis aufeinander aufbauen würde. Die Alternativfrage provoziert dazu, derart mit
und gegen die tatsächliche Philosophiegeschichte zu denken, daß sich die faktische Genese
der Diskursidee mit ihrer normativen Rekonstruktion verbindet: die Frage danach, wie es in
der Geistesgeschichte wirklich vor sich gegangen ist, mit der Frage, wie sich die Diskursidee
konsequenterweise entwickelt hätte.
3.2
Die Wie-, Was- und Warum-Frage der Moral: Aufstufung zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit als Entwicklungslogik der lebensweltlichen praktischen Diskurse.
Dort, wo es zu einer kommunikationsphilosophischen Bearbeitung der Impulse von Wilhelm
von Humboldt einerseits, von Charles Sanders Peirce andererseits kommt, erscheint der
argumentative Diskurs als die Existenzbasis und Realisierungsform der Vernunft. Das ist
insbesondere bei der Transzendentalpragmatik K.-O. Apels und der Formalpragmatik bzw.
Diskurstheorie von J. Habermas der Fall. Diese kommunikationsphilosophische Bearbeitung
bedeutet eine Entmetaphysizierung – oder sollten wir sagen, eine Entmythisierung? – der
Vernunft. Abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen der theoria-Tradition,
entledigt sie sich ihrer metaphysischen Maskierung. Sie tritt nicht länger als nous (νούς) auf,
als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu
erschauen. Nunmehr zeigt sie sich als die dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu
erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn eine dialogische Praxis bildet ein normativ
verpflichtendes und kriterial bestimmendes Anerkennungsverhältnis. Als Diskursverhältnis
von Gleichberechtigten, gehalten, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und
das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
67
sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre,
weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. So führt die Rekonstruktion der konstitutiven
Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen
Diskursethik.181
Traditionell gesagt, besteht eine Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft.
Wenn Vernunft nichts anderes ist als das Verhältnis und die Praxis des argumentativen
Dialogs, dann ist das Vernunftkriterium nicht bloß das logisch Allgemeine sondern auch etwas
au fond Sittliches und Soziales: Gerechtigkeit als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit. Dann
ist es auch kein bloßes Kriterium der Gültigkeit, sondern ebenso eine moralische Grundnorm.
Warum? Weil jeder, der nach Gültigkeit sucht, seine Glaubwürdigkeit als Diskurspartner
verlöre und den möglichen Argumentationspartnern nicht die geschuldete Anerkennung
gewähren könnte, wenn er die Verbindlichkeit des Diskursprinzips in Frage stellte, welches
fordert: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen
Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen Situation
gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹
In dieser Norm der moralischen Normen, dem zugleich kriteriologischen und deontologischen
Diskursprinzip, sehe ich auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer
„Entwicklungslogik des moralischen Urteils“ oder sagen wir genauer: der praktischen
Alltagsdiskurse. Eine solche verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence
Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert Mead
sowie John Dewey erarbeitet hat.182 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und
Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d.h.
Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat.
Den Rahmen jener Dilemmata bilden vor allem zwei „entwicklungsphilosophische“
Annahmen. Von G.H. Mead entlehnt er die sozialisationstheoretische Annahme, daß die
Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über
diese, symbolisch vermittelte, Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: „Wir
181
K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)); ders.,
Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders.,
Transf. d. Philos., II (1973), S. 358-435. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985); J. Habermas,
Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußts. u.
kommunik. Handeln (1983), S. 53-125; ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.
M. 1991; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985).
182
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung
(1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg (1996)). K.-O.
Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des
moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“ im
Jahre 1980), S. 59-65, vgl. auch 66-153.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
68
besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen
können.“183
Die Reziprozitätsrelation gilt auch als Strukturbedingung ‚meiner’ Beurteilung praktischer
Fragen und Konflikte. Darüberhinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ
moralische, entwicklungsphilosophische Annahme – den Kern des Beurteilungskriteriums:
die Orientierung an Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit, das sich von
kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch
universalistischen Formen entwickele. Die Pointe von Kohlbergs Entwicklungslogik ist die
stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung der Reziprozität als Kriterium
moralischer Urteile.
Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf den hermeneutischen Zirkel
zwischen philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen, also viel eher auf
Abduktion im Peirceschen Sinne denn auf Induktion.184 Das Verhältnis von idealtypischer
Rekonstruktion und empirischer Bestätigung hat Kohlberg als komplementäres Verhältnis
beschrieben, das zu einer wechselseitigen Korrektur führt: „Die Wissenschaft kann
überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde,
phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann
jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen,
was Moral sein sollte.“185 Diesen „hermeneutischen Rekonstruktionismus“ hat Habermas als
„Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie)
und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)“ gewürdigt.186
Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose
Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen
Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies: die genetische Entwicklungsfrage ‚Wie
wird man moralisch?’, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ‚Was heißt moralisch bzw.
moralisch zu sein?’ und die deontologische Begründungsfrage ‚Warum soll man moralisch
183
G. H. Mead, Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle, in: ders., Philosophie der Sozialität.
Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie. Hg. v. H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84ff. Vgl. ders.,
Geist, Identität und Gesellschaft (1968), Kap. 9-11 und 19-25.
184
Die strukturelle Verwandtschaft des ‚Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen’ und des abduktiven Schlusses
bzw. der „Hypothesis“ bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders., Peirce, Schriften
I, Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 81ff, vgl. 139ff; und: Peirce, Schriften II, Vom
Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970, S. 153ff und ebenda: „Vorlesung 7: Pragmatismus
und Abduktion“, S. 365ff.
185
L. Kohlberg, From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of
moral development, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S.
151-235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38).
186
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg (1996), S. 37-42
und 49ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
69
sein bzw. sein wollen?’. Kohlberg teilt nämlich mit der Diskursphilosophie die – letztlich auf
Sokrates zurückgehende – Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst
verwoben sind. Genauer gesagt: derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit
noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er ein Verständnis dessen ins Spiel bringt, was
es heißt, moralisch zu sein.
Nun läßt sich die sokratische „Was-ist“-Frage nicht von der Entwicklungsfrage „Wie wird
man etwas?“ abtrennen. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe
leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und
Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys
Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen
Kompetenz zurück. „Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen
Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen
Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer
Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie.
Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man keine psychologische
Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf
die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.“187 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn
moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage in der Tat voraus. Und es ist jene
Erläuterungsfrage, auf welche die Probanden, denen ein moralisches Dilemma aufgegeben ist,
jeweils antworten, sei es auch nur implizit. Kohlbergs Entwicklungslogik ist letztlich die
systematisierte Aufstufung von Antworten auf die Frage, was es heiße, moralisch zu sein.
An Kant geschult, erkennt Kohlberg überdies, daß sich die Was-ist-Frage, wenn sie im Blick
auf Moral gestellt wird, letztlich nur beantworten läßt, wenn man zugleich die Frage ‚Warum
moralisch sein?’ beantworten kann. Als transzendental Fragender, die quaestio iuris stellender
Philosoph hat Kant eine moralische Verhaltensweise als diejenige bestimmt, die „den Grund
einer Verbindlichkeit“ bei sich führe.188 Eben in diesem Sinne versteht Kohlberg den
Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als Selbsteinholung des moralischen
Sollens als autonome Einsicht des praktisch Urteilenden in die Verpflichtung zur
Gegenseitigkeit, und zwar zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, zeichnet
Kohlberg eine solche Begründung als rein moralische aus, die das Prinzipienniveau einer
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit erreicht haben würde. Darin sieht er das Telos einer
187
Vgl. das Manuskript Kohlbergs: „General Preface”, in: Essays in moral development, 1978 (zit. bei D. Garz,
Kohlberg (1996), S. 44).
188
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), Akademie-Ausg., S. 389.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Entwicklungslogik
des
moralischen
Urteils,
70
wenngleich
dieses
Urteilsprinzip
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von den meisten Menschen offenbar nicht erreicht bzw.
von den Begründungen ihrer moralischen Urteile verfehlt werde. Freilich verstand er es
zunächst, wie Kant und Rawls, gewissermaßen im Sinne der methodisch akommunikativ
denkenden Traditionslinie – als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame
Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das
bleibt zu diskutieren.
Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte
Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem „Heinz-Dilemma“ –
angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen.
Diese ließen sich nach „regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung“ differenzieren und
beruhten auf einer ebenfalls gestuften „kognitiven Basis“.189 In den gegebenen
Urteilsbegründungen stufe sich das Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der
gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren
Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle
Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als
Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zu der
abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die
um ihrer selbst anerkannt wird („law and order“ – Stufe 4). Hier und sonst besteht die
stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit „differenzierter und
verallgemeinerter als die vorausgehende ist“.190 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn
wir verschiedene Veröffentlichungen Kohlbergs zusammenführen, in dieses Stufenschema der
moralischen Urteilsentwicklung fassen:
189
190
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59f.
A.a.O., S. 100f.
Übernahme guter und richtiger Rollen,
Einhalten der konventionellen
Ordnungen und Erwartungen anderer
II Konventionelle
Ebene
III Postkonventionelle
Ebene
Quasi physische
Geschehnisse/Handlungen und
Bedürfnisse
I Präkonventionelle
Ebene
2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht
und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen.
Rücksicht.
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden
meiner Gruppe. Konformität
1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko
2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller
Gegenseitigkeit (do ut des)
1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und
Gehorsam
Entwicklungsstufen
Übereinstimmung des ‚Ich‘ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des
oder potentiell (→ Gedankenexperiment,
Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl)
Empathie) gemeinsamen Werten und
6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem
Ansprüchen, Grund-Rechten und
Respekt/Vertrauen und an der verallgemeinerbaren
Pflichten
Gegenseitigkeit: idealer Rollentausch durch
Gedankenexperiment (z. B. kategorischer Imperativ)
(Übergangsstufe 4 ½)
Basis der moralischen Wertung
Ebene
Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg
71
Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974, S. 60 f und: From Is to Ought, in: Th. Mischel (Hg.),
Cognitive Development and Epistemology, New York 1871, S. 151-235. Vgl. Kohlberg, Boyd u. Levine, Die Wiederkehr der sechsten Stufe:
Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S.
205-240, hier S. 223 f. Vgl. Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol I. San Francisco 1981, S. 411.
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
mögliche Regressionstendenzen
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
72
Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch
soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische
Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische
Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das
Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die
Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung
gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen
anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3.
Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein
Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen
Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt
werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle,
bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die „Adoleszenzkrise“ das
prinzipienbezogene, metakonventionelle Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen
Urteilsbildung.
Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist
„die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der
Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen
zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der
Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei
dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.“
Wenngleich sich „die logische Ordnung“ der Stufen unter dem Gesichtspunkt der
Differenzierung von „Reziprozität und Gleichheit“, zumal nach „Kategorien der
Gerechtigkeit“ weiter fortsetzt,191 gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch
kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen
einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch
einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung, Infragestellung und kritischen
Gewichtung der eingelebten Sitten und Normen mit Hilfe von Prinzipien und diskursiven
Erwägungen. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein
Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adolenszenzkrise sogar als eine eigene
Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: anarchistische Obertöne, eine grenzenlose
Relativierungstendenz
und
ein
regressives
„,Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‘“,
das
Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des „wie du mir, so ich
191
A.a.O., S. 101.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
73
dir“ (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist,
weil alles als erlaubt gilt. 192
Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigsten
Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung
zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten
Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und
Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft
werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die
Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die
Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können.
Die
Prinzipienorientierung
charakterisiert
Kohlberg
als
„postkonventionelle“
bzw.
„nachkonventionelle Ebene“. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese
Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw.
Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon
aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen
Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive
Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips
in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs
Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine
prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen
bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu
denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Prüfung, welche
Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der
anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen
sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von „metakonventionell“ zu reden,
wo Kohlberg unvorsichtig von „postkonventionell“ spricht.
Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit
Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 „das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung
vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen“
192
Vgl. L. Kohlberg, The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1984, S. 440ff; E. Turiel,
Adolescent conflict in the development of moral principles, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues
in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D. C. 1973, S. 231-249; ders., Conflict and
transition in adolescent moral development, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14-29, dt. in: R. Döbert,
J. Habermas, G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253-269.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
74
ebenfalls „eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)“ ist. Und auf „Stufe 6 werden
moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert,
z.B. die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ: ‚Handle so, wie du handeln würdest,
nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ‚sollte‘], wenn er
in der Situation wäre.‘ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen,
daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ‚Gerechtigkeit‘
definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der
Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die
moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d.h. sie
schreiben vor, ‚so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen
Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‘ (Mead, 1934).193 „Auf prinzipieller Ebene
besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den [...] Prinzipien der Gerechtigkeit als
gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten
Reziprozität“194.
Führt
man
Kohlbergs
Programm
einer
Sukzession
der
Ausdifferenzierung
und
Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durch, dann ergeben sich freilich drei
Änderungen. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das
metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sozialordnung als Sitten- und
Gemeindeordnung: den von Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bund, dessen
Gegenstand und zugleich die Vertragsurkunde das „Bundesbuch“ mit den 10 Geboten ist, als
Stufe 5½ berücksichtigt. Warum? Hier fallen die utilitaristischen Untertöne einer
Nutzenvereinigung weg; die Orientierung an dem, was gerecht und gut ist, die Achtung des
menschlichen Lebens, die Nächstenliebe und das Vertrauen auf einen Gott, dessen
Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich verlassen
kann, treten in den Mittelpunkt. Sie sind es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des
Bundes mit dem Gott motivieren, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1,27 und 9,5f; 5.
Mose 10, 12-21 und 32, 1-4; Josua 24; Micha 6, 8; Psalm 119 etc. Jedenfalls in den jüngeren,
den nachexilischen Überlieferungen dieser Bundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch
Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der Einsicht und freien
Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Die anfängliche Fremdbestimmung durch den
machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines Unterwerfungsvertrages einfach ‚gibt’
Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988),
bes. S. 387ff, 410 und 430f.
193
Vgl. G.H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (dt.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a.M.
1968).
194
L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 102.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
75
– diese heteronome Normengenese tritt zurück. Ja mehr noch: In der späteren Bundes- und
Thora-Theologie scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In
logischer Zuspitzung würde daraus folgen: unabhängig davon, wie das Gesetz
zustandegekommen ist, es ist einsehbar gerecht, und daher kann man sich damit identifizieren.
Was die Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie
veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch
gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie den rein
kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat, so daß
das
anzustrebende
Ziel
und
das
Geltungskriterium,
die
hermeneutische
Verständigungsgegenseitigkeit und die diskursive Geltungsgegenseitigkeit, als regulative
Prinzipien festgehalten sind. Demgemäß läßt sich auf der moralischen Prinzipienstufe ein
akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein role taking in
Form des Einfühlens in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, bloß
umständehalber und unter starkem Fallibilitätsvorbehalt in Kauf nehmen: als Notbehelf,
dessen Ergebnisse riskant hypothetisch sind – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung
mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis.
3.2.1 Eine verantwortungsethische Stufe 7 oder: Das Problem der moralischen
Strategiebildung.
Freilich ist die Prinzipienfrage, ob eine Handlungsmaxime überhaupt argumentativ
zustimmungswürdig sei, in hohem Maße idealisierend. Setzt sie doch voraus, daß alle
Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und guten Willens sind, also auch bereit, die
zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just
diese regulative Idealisierung müssen Verantwortungsträger nach Maßgabe ihrer jeweiligen
realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistischverantwortungsethisch gewissermaßen einklammern – nicht um sie zu vergessen, sondern um
sie zu differenzieren: Das regulative Ideal, die Normen eines idealisierenden praktischen
Diskurses, ist in folgenverantwortbare, konkrete Handlungsorientierungen umzuarbeiten; und
dabei müssen die situationsbedingten Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch
aufgefangen werden. “Blauäugigkeit“ ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit
gilt, daß „gutgemeint“ nur zu oft das Gegenteil von „gutgetan“ bzw. von „verantwortlich“ ist.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
76
Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen
Urteilsbildung, wenn es um Verantwortung für anvertraute Schwächere geht und die
Verantwortungsträger nicht voraussetzen können, daß sie es de facto einzig mit moralischen
Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben (werden). Eben
diese Voraussetzung kann in der sozialen Wirklichkeit unzutreffend sein. Ist das der Fall,
dann
wäre
es
gegenüber
Schutzbefohlenen,
Klienten,
aber
auch
gegenüber
Kooperationspartnern, die sich auf ‚mich’ verlassen, unverantwortlich, wenn ‚ich’ mich
gleichsam blauäugig verhielte. Wie? Indem ich meinem Gegenüber stets guten Willen bzw.
moralische Untadeligkeit oder auch nur strikte Rechtlichkeit unterstellte. Das Gleiche kann
auch für mein Verhalten in bzw. gegenüber Institutionen, Machtzusammenhängen und
sozialen Systemen gelten. Vorsicht, ja strategisches Kalkül, mag hier im Interesse ‚meiner
Leute’
durchaus
angebracht
sein.
Soll
‚ich’
als
Verantwortungsträger
oder
Mitverantwortlicher doch dafür geradestehen können, daß sie nicht Schaden nehmen und ‚ich’
ihre (vorausgesetzt: legitimen) Interessen mit Erfolg wahrnehmen kann.
Wer verantwortlich handeln und den Seinen keine Schadensfolgen aufhalsen will, der muß
sich aus moralischen Gründen mit moralischer Skepsis wappnen. So muß er darauf gefaßt
sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen durchsetzen will und daher weder zur strikten
Befolgung von Rechtsnormen (vom Straßenverkehr bis zu Handelsgeschäften) bereit ist noch
gar zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das moralisch Richtige. Auch sind in
vielen Feldern der Gesellschaft – von den politischen Arenen über die Märkte bis zur Börse –
die Handlungsbedingungen weniger dialogisch als vielmehr strategisch bzw. strategisch
agonal vorstrukturiert: Es geht nicht (oder nicht vordringlich) um Konsens aus guten
Gründen, sondern zumal um Vorteile im Kampf der Macht- und Interessen-Konkurrenz.
Infolgedessen sollten Verantwortungsträger ein gewisses moralisches Mißtrauen ins Spiel
bringen, indem sie ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der Gegenseite bzw. auf
garantiert moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen einklammern, statt sich
naiv darauf zu verlassen. Sie sollen bereit sein, Konterstrategien zu entwickeln, um der
moralisch legitimen Sache zum Erfolg zu verhelfen. Die realistische, ja moralskeptische
Distanznahme nach außen und die Bereitschaft, Konterstrategien zu suchen und einzusetzen,
gehören zur Fürsorglichkeit, die ein Verantwortlicher nach innen wahrzunehmen hat.
Denken wir z.B. an Unternehmer oder Manager, die für den Unternehmenserfolg einzustehen
haben, sich aber allenthalben mit der Zahlung von Schmiergeldern, mit Korruption und
dergleichen Moralwidrigkeiten konfrontiert sehen, die in den meisten Ländern auch
Rechtswidrigkeiten sind. Sie stehen vor dem verantwortungsethischen Problem, ob bzw. unter
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
77
welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß sie sich an einer solchen Praxis beteiligen
dürfen – und/oder ob und auf welche Weise sie dieser moralwidrigen Praxis entgegenarbeiten
können, ohne dadurch ihren (vorausgesetzt: legitime Güter anbietenden) Unternehmen und
Mitarbeitern gefährlichen Schaden zuzufügen.
Darf sich ein Verantwortungsträger unter dem Zwang dieser Situation und der Notwendigkeit,
den für sein Unternehmen lebenswichtigen Auftrag A zu erhalten, ausnahmsweise auf eine
Zahlung von Schmiergeldern etc. einlassen? Sollte er das sogar tun, sofern er sich von
vornherein für das Ziel engagiert, daß in seinem Auftragsland L mittelfristig die Schmiergeldund Korruptionspraxis als Wirtschaftskriminalität geächtet wird? Das liefe darauf hinaus, die
Notmaßnahme einer Konterstrategie – gleichsam durch einmaliges Heulen mit den Wölfen –
zu kompensieren, nämlich durch das Engagement für eine moraladäquate Veränderung der
rechtlichen und wirtschaftspolitischen Verhältnisse, die allerdings mittelfristig greifen
müßte.195
In der Situation weitaus dramatischer, in der moralischen Beurteilung durchaus
übersichtlicher sind Dilemmasituationen, in denen die mögliche Lebensrettung gegen die
unmittelbare Wahrhaftigkeit steht, das Gebot der Hilfeleistung gegen das Gebot „du sollst
nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Denn hier ist die Lebensrettung eindeutig
der Wahrhaftigkeit vorzuordnen, sofern durch eine unwahrhaftige Auskunft ein sonst
bedrohtes Leben gerettet werden kann. Man denke an einen Mörder, der einen Hausbesitzer
oder einen Wohnungsbesitzer fragt, ob sich der von ihm gesuchte X in der Wohnung versteckt
habe. Auch wenn es kein Mörder, sondern z.B. ein Gestapo-Beamter zur Zeit des Dritten
Reiches oder ein Jakobiner zur Zeit des revolutionären Terreurs ist, welcher diese Frage stellt,
so ist die schützende Lüge, mit der der Hausbesitzer antwortet, sofern sie denn wirklich eine
Schutzfunktion erfüllen kann, eine legitime moralische Konterstrategie. Sie ist moralisch
legitim, weil keine begründete Zustimmung des Gesuchten zu seiner Ermordung möglich und
in einer reinen Argumentationsgemeinschaft erwartbar ist. Wir werden bei Gelegenheit Kants
auf dieses vergleichsweise harmlose aber lehrreiche Dilemmabeispiel zurückkommen.
Bis hierher haben wir das Rechtfertigungsproblem moralischer Strategien einfacher
dargestellt, als es wirklich ist, weil wir allein das Verhältnis eines Verantwortlichen nach
195
Zu dem Problem: D. Böhler, Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung. Hans Jonas und die
Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist, in: Th. Bausch, D. Böhler u.a. (Hg.), Zukunftsverantwortung
in der Marktwirtschaft. In memoriam Hans Jonas, EWD-Bd. 3, Münster 2000, bes. S. 59ff und 63ff. Vgl. die
empirisch orientierte Einzelanalyse und Problemübersicht von Britta Richarz, Wirtschaftskriminalität als
Diskussionsgegenstand in der aktuellen deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensethik,
Magisterschrift, Philosophisches Institut der Freien Universität Berlin, 2006.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
78
außen, nicht aber das Verhältnis zu seinen Leuten bzw. Schutzbefohlenen berücksichtigt
haben. Es dabei bewenden zu lassen, hieße die verantwortungsethische Urteilsbildung zu
verkürzen. Denn das moralstrategische Außenverhältnis des Verantwortlichen wirft einen
Schatten auch auf sein Binnenverhältnis: Er muß prüfen, inwieweit er es den Seinen bzw. dem
Gefährten oder z.B. den Angehörigen des Unternehmens, für das er tätig ist und
Entscheidungen zu treffen hat, zumuten sollte und kann, in die Strategiebildung einbezogen
und in deren Einzelheiten eingeweiht zu werden. Das hier zuständige regulative Prinzip heißt:
soviel gemeinsame Beratung und Abstimmung wie möglich, so wenig Schonung der eigenen
Leute und so wenig Zurückhaltung von Informationen wie nötig. Doch schließt diese
Orientierung für Grenzsituationen auch ein gänzliches Verschweigen ein. Sofern eine
offenherzige Erörterung der eigenen Verhaltensweise den anderen Betroffenen nicht zumutbar
erscheint oder diese sogar schädigen bzw. gefährden dürfte, insoweit sollte sie unterbleiben.
Dann gilt es zu schweigen. Es bleibt dann nur der Diskurs im engsten Kreis oder sogar nur je
mein Gewissensdiskurs...
Die Abwägung der Zumutbarkeit kann, jedenfalls in Situationen, wo sehr viel auf dem Spiele
steht oder wo es gar um das Leben geht, auch zum Täuschen, ja selbst zum Belügen guter
Freunde und Verwandter führen. Im Widerstand gegen das totalitäre und terroristische
Naziregime hat Dietrich Bonhoeffer solches Täuschen, wiewohl er sehr darunter litt,
praktiziert und reflektiert. Offenbar hatte er wie viele Christen – unter ihnen Immanuel Kant –
das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ radikalisiert
und universalisiert. War sein ursprünglicher Sitz im Leben die Gerichtsverhandlung unter
dem Tor im alten Israel, so daß es sich auf Zeugenaussagen in einer mündlichen Verhandlung
bezog, konnte es im Anschluß an die Moralität der Bergpredigt als Verpflichtung zu
allgemeiner und permanenter Wahrhaftigkeit verstanden werden. Es mag dieser Hintergrund
sein, vor dem der Häftling Bonhoeffer nach zehn Jahren Nazisystem und Widerstand gegen
dasselbe zum Jahreswechsel 1943 die Frage stellte:
„Sind wir noch brauchbar? Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen
Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede
gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten
ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche
Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“196
Ein anderes Beispiel gibt der deutsch-jüdische Schauspieler Michel Degen, der im März 1943
als Junge mit seiner Mutter vor der SS geflüchtet war, von Berliner Wohnung zu Wohnung,
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
79
und eine Weile bei der exilrussischen Pianistin Ludmilla Dimitrieff, die auch für Parteigrößen
private Klavierkonzerte gab, Unterschlupf gefunden hatte. Die herbe, fast egomane Frau in
den besten Jahren, Witwe eines deutschen Juden, schwärmte gegenüber dem Knaben von
beschnittenen Männern, holte ihn nachts zu sich ins Bett und mißbrauchte ihn sexuell. Das
verschwieg der Junge seiner Mutter im Zimmer nebenan.
Michael Degen erinnert sich: „Wenn ich nicht verheimlicht hätte, wie Ludmilla mich
bedrängte, wäre meine Mutter sofort ausgezogen. Wir hätten auf der Straße gestanden und das
– wäre wahrscheinlich der Tod gewesen. Da hatte ich zum ersten Mal eine große
Verantwortung. Und auch nach dem Krieg habe ich es nicht über mich gebracht, das zu
erzählen, weil die beiden Frauen so eng miteinander befreundet waren.“197
Stellen wir hier die moralische Verantwortungs- und Zumutbarkeitsfrage: Fragen wir uns,
worin genau die moralische Strategie des Jungen bestand. Wie verhält er sich? Worauf leistet
er Verzicht?
Analog zu dem Verhalten des Theologien im Widerstand, der den Talar ausgezogen hatte und
in den Geheimdienst, die Abwehr des Dritten Reiches eingetreten war, suspendiert auch der
Knabe Michael Degen seinen Anspruch auf direkte Wahrhaftigkeit. Seiner Mutter
verschweigt er, was die russische Pianistin, die ihnen beide Unterschlupf gewährt und
dadurch ihr Leben bewahrt, ihm selbst antut. Während sonst Mutter und Kind alles
miteinander teilen, distanziert das Kind hier die Vertrauensgemeinschaft, in der es sich
aufgehoben
fühlt.
Durchbricht
es
doch
zwischen
beiden
selbstverständliche
Erwartungserwartung gegenseitiger Wahrhaftigkeit. Eine große seelische Leistung, durch die
das Kind plötzlich moralisch erwachsen wird, ja die Rolle des Verantwortungsträgers
übernimmt, welcher die Folgen seines Handelns kritisch durchdenkt und der Mutter das
Unzumutbare nicht zumutet.
Indem der Junge seine unmittelbare Wahrhaftigkeit suspendiert, gibt er aber nicht die
Wahrhaftigkeit des Argumentationspartners preis. Vielmehr erweist er sich gerade dadurch als
einer, der ernsthaft überlegt und somit als glaubwürdiger Partner in einer möglichen, freien
und offenen Argumentationsgemeinschaft, indem er der Mutter verschweigt, was ist. Denn
nur dadurch kann er den Verantwortungsprinzip gerecht werden, welches gebietet, ihrer
beider Leben vor der Vernichtung, vermutlich vor Auschwitz, zu bewahren. Das Interview
196
197
D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. v. E. Bethge,
München 111962 (zit.: Widerstand), S. 31.
M. Hanfeld, Ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Degen. Das jüdische Totengebt hat mir das Leben
gerettet, in: FAZ, 31.Oktober 2006, S. 46.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
80
mit Michael Degen zeigt, daß er bereits als Kind das Argument der Folgenverantwortung und
das der Zumutbarkeitsabwägung mit intuitiver Klarheit repräsentiert hat. Ergo: Als
Diskurspartner, der nach dem besten Argument sucht, hat er seinen Wahrhaftigkeitsanspruch
nicht zurückgenommen, hat ihn vielmehr eingelöst. Aber nur dadurch, daß er den
Wahrhaftigkeitsanspruch in der direkten Interaktion mit der Mutter zurücknimmt, um
Verantwortung zu übernehmen, wird er für diese Situation ein glaubwürdiger Diskurspartner.
Ein zweites kommt hinzu. Der Junge suspendiert nicht allein den unmittelbaren
Wahrhaftigkeitsanspruch, verzichtet auch auf die unmittelbare Wahrnehmung seines
Autonomieanspruchs, nämlich gegenüber der Ludmilla. Läßt er sich doch von ihr
mißbrauchen, zum Instrument ihrer sexuellen Wünsche machen. Er beharrt nicht auf seiner
Selbstbestimmung ihr gegenüber, sondern läßt sich zum Mittel ihrer egoistischen Zwecke
machen und erniedrigen. Er verzichtet darauf, seinen Anspruch auf Menschenwürde
durchzusetzen. Er fordert nicht ein, was Kant in seinem Imperativ der Menschenwürde als
unbezweifelbares moralisches Recht anerkannt hat – den Anspruch, von anderen nie nur als
Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht zu werden.198
Auf andere Weise aber, auf der Ebene des argumentativen Diskurses, den er als
Gewissensdiskurs mit sich selber führt, verwirklicht er freilich den Anspruch auf Autonomie
desto glänzender. Er erweist sich als urteilsautonom. Gerade dadurch, daß er sich nicht in die
Arme seiner Mutter wirft und laut werden läßt, was ihm von der Ludmilla angetan wird,
erweist er sich als autonomer Argumentationsteilnehmer; kann er doch gute Gründe geltend
machen, die in jedem Diskurs, in dem allein sinnvolle Argumente zählen, Bestand hätten und
Anerkennung fänden.
Wenn wir jetzt einmal von dem zweiten moralstrategischen Gesichtpunkt in dem Beispiel
Michael Degen absehen, von dem Verzicht auf die Selbstbehauptung der eigenen Autonomie,
die ja auch von der Selbstverleugnung Dietrich Bonhoeffers erbracht worden ist, und uns auf
die Suspendierung der unmittelbaren Wahrhaftigkeit konzentrieren, dann zeigt sich:
198
Ungekürzt lautet die Menschenwürde- oder Selbstzweckformel Kants Kategorischen Imperativs: „Handle so,
daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Kant, GMS, Akademieausgabe Bd. IV, S. 429 (vgl. Meiner-Ausgabe,
Hamburg 1990, S. 54 f.). Im Anschluß daran arbeiten Kant die „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das
keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich sich selbst gibt“ als Kriterium dafür heraus, daß dem
Menschen ein absoluter bzw. „innerer“ Wert zukomme, und nicht etwa bloß ein von außen zugemessener,
relativer wert, nämlich entweder ein Marktpreis oder ein Affektionspreis (ebd., Akademieausgabe, S. 434 f.)
Er kommt zu dem Schluß, daß moralische Autonomie, also die Selbstbestimmung eines Willens hinsichtlich
seiner moralischen Urteilsbildung bzw. Gesetzgebung, „der Grund der Würde der menschlichen und jeder
vernünftigen Natur“ sei (ebd., S. 436).
Es ist eben diese Würde aufgrund moralischer Autonomie, welche in unserem Beispiel der heranwachsende
Michael Degen unter Beweis gestellt hat, indem er auf moralstrategische Weise Verantwortung wahrgenommen
und es ertragen hat, von Ludmilla Dimitrieff de facto manipuliert und entwürdigt zu werden.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
81
Die ursprünglich nach außen gerichtete strategische Vorbehaltlichkeit und kontextstrategische
Verhaltensbereitschaft muß, zumindest angesichts von Lebensgefahr, um der Verantwortung
willen auch nach innen gewendet werden. Denn Wahrhaftigkeit kann u.U. selbst für den
vertrautesten Kreis der Betroffenen unzumutbar sein, da sie unverantwortliche Risiken
erzeugen kann: Risiken, die einzugehen illegitim wäre, weil sie „das Ganze der Interessen der
betroffenen Anderen“, wie Hans Jonas formuliert, aufs Spiel setzen würden.199 Die Rücksicht
auf die Zumutbarkeit der Wahrheit nach innen ist die Kehrseite der Konterstrategie nach
außen und ein unabdingbares Moment der Verantwortungsethik: Rücksicht auf die
Zumutbarkeit mitsamt moralstrategischer Zurücknahme der Wahrhaftigkeit ist dann, aber
auch nur dann verantwortungsnotwendig, wenn das Gesamtinteresse der betroffenen Anderen
bedroht ist, ihr Leben.
Dieses Verantwortungskriterium ist kein neues Prinzip, das neben das Moralprinzip mit
seinem Kriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit träte. Nein, es ergibt sich aus
dessen Anwendung auf die Situation des Verantwortlichen, der in nonmoralanalogen
Situationen moralisch richtig handeln will und soll. Mithin so, daß er Handlungsweisen sucht,
die im Lichte der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als zugleich folgenverantwortlich und
zumutbar gelten können. Bei dieser Suche leitet ihn die geltungsmäßig prinzipienbezogene
und
praktisch
situationsbezogene
Verantwortungsfrage
(7):
‚Welche
strategischen
Gegenmittel nach außen und welche Wahrhaftigkeitszurückhaltungen nach innen sind unter
den gegebenen moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Verantwortungsträger als
Diskurspartner zustimmungswürdig und also verantwortbar, auch wenn sie persönlichen
moralischen Intuitionen oder religiösen Geboten zuwiderlaufen mögen?‘
Eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit ist also mit der politisch von Max Weber
und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und feministisch von
Carol Gilligan geltend gemachten Fürsorge- und Verantwortungsperspektive vereinbar. Im
Blick auf asymmetrische und moralrestriktive bzw. nonmoralische Handlungsbedingungen
fordert diese Perspektive die Bereitschaft zu Konterstrategien und die Prüfung solcher nach
Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (Stufe 6). Hier liegt insbesondere das
Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs
von der „Gesinnungsethik“ zu einer „Verantwortungsethik“, von einer gleichsam privaten
Moralität zu einer politischen Folgenmoral, allgemein von der Selbstsorge um den eigenen
reinen Willen und die (auch nach außen erscheinende) seelisch-moralische Integrität zu der
199
H. Jonas, Prinzip Verantwortung (1979), S.79.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
82
Sozialsorge um die berechtigten Bedürfnisse und Geltungsansprüche Dritter, welche auf dem
Spiele stehen. Dieser Überstieg zur Verantwortungsethik läßt sich so zusammenfassen:
Verantwortungsethik als Bildung moralischer Strategien durch Beziehung des Moralprinzips
„D“ auf non-moralanaloge Situationen.
Dieses Beziehen bzw. Anwenden führt
(1)
zur Differenzierung und Konkretion von „D“ zu → „D-V“ bzw. „Stufe 7“ nach Böhler,
(2)
zu einer jeweiligen moralischen Strategiebildung gemäß „D-V“:
situative Suspension bei diskursidealer Aufrechterhaltung von Wahrhaftigkeit und Autonomie. D. h., ‚ich‘ kann als Diskurspartner in einer freien Argumentationsgemeinschaft
für ‚meine‘ Verhaltensweise einstehen.
Jener Übergang führt zu Belastungen der moralischen Person; ja er kann eine moralische
Identitätskrise zur Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei
Repräsentanten des religiösen Ethos oder eines Standesethos (Pfarrer, Ärzte, Soldaten). Es
fragt sich jedoch, ob es sich bei solchen unleugbaren Krisen des moralischen
Selbstverständnisses eigentlich um eine Krise auf der metakonventionellen moralischen
Prinzipienstufe (6) handelt. Oder begegnen wir hier gesinnungsethischen Überhöhungen
tradierter moralischer Intuitionen bzw. Ideale, die sich in einem argumentativen, anhand des
Moralkriteriums der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (6) geführten Diskurses nicht
verteidigen
lassen,
so
daß
sie
auch
die
verantwortungsethische
Prüfung
einer
moralstrategischen Konkretion (7) nicht bestehen können? Entwicklungslogisch wäre jeweils
zu prüfen, ob es sich um Verabsolutierungen tradierter, institutionalisierter und eingelebter
Orientierungen unterhalb der diskursfähigen Prinzipienstufe 6 handelt. Das können ebenso
Orientierungen an Recht und Ordnung (Stufe 4) oder am Sozialvertrag (Stufe 5) sein wie auch
eine religiöse Bindung an göttliche Gebote.
M.E. bezeugen die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker die inneren
Schwierigkeiten, gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent
prinzipienethischen Urteils zu gewinnen und zu behaupten. Denn diese erfordert eine
prinzipiengeleitete Distanzierung nicht allein der ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4),
sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder durch einen Glaubensbund mit Gott
anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 5 ½). Die moralische Urteilsautonomie, die
man sich als möglicher Diskurspartner schon vorausgesetzt hat, ist anstrengend. Sie schließt
eine
zweifache
Bereitschaft
zum
kritischen
Diskurs
ein:
die
Bereitschaft
zur
Geltungseinklammerung aller konkreten normativen Gehalte und die Bereitschaft zu deren
Verantwortbarkeitsprüfung angesichts der gegebenen Situation. Um moralische Autonomie
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
83
zu praktizieren, bedarf es dialektischer Einsicht und psychologischer Selbstdistanz samt
Konfliktbereitschaft.
Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ‚wir’ einerseits Urteilende sind, die als
Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen
Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits
aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen
asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt
sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen, in der ‚wir’ uns
hier befinden, ist der Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt
sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen
berücksichtigt
werden.
Diskursidealität
ohne
Folgenverantwortungsrealismus
wäre
schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen.
Folgenverantwortungsrealismus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es
eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz.
Zur Umsetzung jener Dialektik braucht es Selbstdistanz – Abstand von eingelebten ethischen
Orientierungen und Selbstverständnissen. Wer moralisch verantwortlich sein will, benötigt
Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und Konfliktbereitschaft. Deren
normativer Sinn besagt: ‚Suche und praktiziere Konterstrategien – auch auf die (wohl selten
auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im nachhinein, in einem
besser informierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen bzw. in Gang Gesetzten,
nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen kann.’ Ohne die Risikobereitschaft,
praktisch zu irren, Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer schlecht dazustehen,
gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat – keine „freie, verantwortliche Tat auch gegen
Beruf und Auftrag“, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte.200
Summa summarum können wir das verantwortungsethische Problem so pointieren: Während
auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm
im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit
entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und
daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene Realisierungs- und
Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das
Moralkriterium
der
verallgemeinerbaren
Gegenseitigkeit
als
argumentativer
Zustimmungswürdigkeit bleibt ungeschmälert in Kraft. Und das ist von entscheidender
Bedeutung.
200
D. Bonhoeffer, Widerstand, S. 14.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
84
Warum? Ohne Bindung der moralstrategischen Diskurse an das Moralkriterium liefen sie
Gefahr, der Willkürregel „Der (moralische) Zweck heiligt die (nonmoralischen) Mittel“
anheimzufallen. Dann lösten sich die verantwortungsethischen Beratungen und Überlegungen
in ein strategisches Erfolgskalkül auf: die Mittel und Wege würden bloß noch an den
zweckrationalen Kriterien von Effizienz und Erfolg gemessen. Das liefe auf die unmoralische
Selbstermächtigungsformel hinaus, die da lautet: „uns ist alles erlaubt“.
An dem Maßstab der moralischen Urteilsbildung ist nicht zu rütteln: die eine moralische
Prinzipienorientierung hat Bestand. Aber die Handlungssituationen, um deren Beurteilung
oder praktische Bewältigung es zu tun ist, können von aller Moralität entfernt sein. Denen, die
moralisch guten Willens sind, kann mancherlei Amoralität entgegenstehen. Daher richtet sich
der Blick der Teilnehmer an einem verantwortungsethischen Diskurs in realistischer
Nüchternheit
auf
jene
‚schmutzigen’
Handlungsbedingungen,
unter
denen
der
Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine
Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so
genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung „moralischer
Strategien“201, gibt als deren Bewertungsmaßstab aber das regulative Diskurskriterium der
argumentativen Zustimmungswürdigkeit an: ‚Fragt euch, frage dich, ob eure/deine ins Auge
gefaßte Strategie die begründete Zustimmung aller, zumal der Betroffenen, erhalten würde,
wenn sie diese Situation (im Lichte der euch/dir zugänglichen Informationen) als strikte
Argumentationspartner beurteilten!’
Durch die Koppelung der realistischen, geradezu moralstrategischen Situationseinschätzung
an das diskursethische Moralkriterium transformiert sich die Prinzipienethik von einer
Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Um diesen Überstieg von einem idealisch
unmittelbaren Verständnis und Anwendungswillen des Moralprinzips hin zu einer
moralstrategisch vermittelten Orientierung am Moralprinzip, und zwar anhand der Fragen
nach Folgenverantwortbarkeit und Zumutbarkeit, geht es auf Stufe 7.
3.2.2 Das Paradigma der Kommunikationsphilosophie und Kohlbergs eigentliche
Prinzipienstufe 6.
201
K.-O. Apel, Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?, in:
Funkkolleg Studientexte (1984), III, bes. S. 624-634. Ders., Diskurs (1988), S. 256ff, 265ff und 299f; ders.,
The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially
Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
85
Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik
des moralischen Urteils bzw. der praktischen Urteilskompetenz, mag die Frage aufkommen,
ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von
Bedeutung
sei.
Die
Antwort
ergibt
sich
daraus,
daß
erst
das
dritte,
das
kommunikationsphilosophische Paradigma im Stande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und
fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und noch abzuschließende)
Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen
Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und auch ihrer Weiterentwicklung von
Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ‚kommunikatives Handeln‘ zu einer sokratischen
Reflexion auf ,uns‘ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird
deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste
Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren
zurückblicken.
Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit
Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte gemacht. So gab er 1976 den Anstoß zu einer
kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe. Er argumentierte,
daß von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit strenggenommen erst dann die Rede sein
kann, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen „nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle
Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch
angewendeten
Prinzip
der
Verallgemeinerung
überprüft“
und
damit
die
Bedürfnisinterpretationen „nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive
Willensbildung einbezogen werden“202. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß
Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants Kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame
Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: „Der Einzelne überlegt sich, ob seine
subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind [...], aber er berät sich nicht mit
anderen darüber“. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die
(entscheidende)
„Forderung
einer
zwischen
allen
Betroffenen
zu
vollziehenden
203
Verständigung“ über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein.
Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel (1980) aus dieser moraltheoretischen
Erkenntnis eine falsche entwicklungslogische Konsequenz gezogen. Beließen sie doch
Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen
202
203
J. Habermas, Moralentwicklung und Ich-Identität, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen
Materialismus, Frankfurt a. M. 1976, S. 88 und 87.
K.-O. Apel, Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen
des moralischen Bewußteins, in: Funkkolleg Studientexte (1984), I (Erstausgabe als „Studienbegleitbrief 1“
im Jahre 1980), S. 62.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
86
Gewissensethik und fügten dieser dann – im Sinne einer „universalen Sprachethik“ – noch
eine siebente Stufe der „universalistischen Bedürfnisinterpretationen“ als höchste Stufe
hinzu.204 Doch ergibt es keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn
Kohlbergs
Bestimmung
der
Urteilsstufe
6
das
entwicklungslogische
Telos
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet – also das Moralprinzip
fehlerhaft ansetzt.
Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensentscheids ein Anspruch auf
Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt,
wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren
läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr
oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist aber, „nach bestem
Wissen und Gewissen“ zu urteilen. Damit hat er die Verpflichtung anerkannt, sich auch um
das beste Wissen zu bemühen.205 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen
gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der
Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht
mögliche Gespräch über den Sinn dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt
bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht.
Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betreffenden
Anderen: die regulative Idee der „Verständigungsgegenseitigkeit“ (Böhler).206
Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann
muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert
werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden (Kommunikation auf
Stufe
7)
wäre
Flickschusterei.
Die
mithin
erforderliche
verständigungsbezogene
Reformulierung der Kohlbergschen Stufe 6 müßte zudem zwei verschiedenartige
Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses
zusammenwirft. Das ist einmal die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle
eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Das
ist außerdem die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung
zielt. In einem ersten Schritt geht es um die kommunikative Sinnermittlung als Verständigung
204
J. Habermas, a.a.O., S. 83 und 84f; vgl. K.-O. Apel, a.a.O., S. 62f.
Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G.H. Meads Beziehung des
Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin
und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar:
D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in: Funkkolleg Studientexte
(1984), II, bes. S. 347-350; ders., Rek. Pragm. (1985), S. 339ff.
206
Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), I, S. 276, vgl. 274ff und in Bd.
III, S. 858f.
205
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
87
zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre
Situation. Zu fragen ist zunächst: „Was ist der Sinn der Handlungsweise und der
dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N. N.? Was wollen die
Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?“
Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses
Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen
Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen ist der praktische Diskurs erst der zweite
Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: „Was sollen wir (im Sinne der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren
Interessen und Werten so-und-so beschaffen ist?“ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun
wieder möglichst kommunikativ geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im
Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Im Diskurs geht es um die
Bestimmung der „Geltungs-Gegenseitigkeit“ der Gründe für/gegen eine Handlungsweise.
Aus unseren Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Idee
einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen
Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle
wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslogisch tragenden Säule
(„Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau“) dargestellt.
Diskursebene
verfahren
Rechtsnormen bzw. –
funktionale Autorität u.
Bezug auf
konkrete Werte/Normen
persönliche Autorität und
Konventionell: Bezug auf
II
Strategismus
Vorkonventionell: Egoismus
I
Gegenseitigkeit (do ut des)
Instrumentell relativistische
(gut ist, was mir nützt)
Belohnung bzw. Freiheit von Strafe
(normativen) Anderen
Gegenseitigkeit des generalisierten
Ordnungs- und Rechtsbewußtsein:
Anerkennung und
von Erwartungen in ,unserer’Gruppe
Institutionenloyalität
Normensystem →
Fürsorge
gruppenbezogene
Rollen →
Handlungsweise
Je meine/deine
mein Bedürfnis
gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit
Soziale Identität und Anerkennung
Reifungskrise: zur Autonomie mitsamt Folgen- und Strategie-Verantwortung („Krisenstufe 4½“)
sozialer Ordnung um ihrer selbst willen
4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und
den Rollen ,unserer‘ Gruppe
3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden in
Bezugspunkt
Je deine Handlung, je
Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau
Reziprozität von Gehorsam –
Reifungskrise: zur Anerkennung der Anderen und der Sozialität
Tauschperspektive
2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer
durch egozentrische Machtkonformität
1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/Lustgewinn und
Stufe der Orientierung
Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils:
Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
88
mögliche Regressionstendenzen
19, 18; 5. B. 5 u. 6; Propheten, z.B. Micha 6,8; Hillel und
Jesus)
und Zustimmungs-
würdigkeit (für alle) von
Handlungsweisen
Verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter
(möglichen) Diskurspartnern
einsamem Test der Verallgemeinerbarkeit zum Dialog-
Moralprinzip ‚D’: „Ist die Maxime M aufgrund von
Verständigungs-Gegenseitigkeit und in rein
‚D-V‘ →
Erfolgsbezogene
Moral- und Zukunfts-
argumentative Zustimmungswürdigkeit im Blick auf nonmoralanaloge Handlungsbedingungen
Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M
moralisch noch verantworten?’
sorge gemäß ‚D’
wortungsprinzip
moralischen Gesinnungsmaximen (6):
Moralrestriktionen: ‚Können wir als Diskurspartner die
7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische
Diskursverant-
berücksichtigen!
gleichermaßen
alle Rechtsansprüche
Diskurs-Gerechtigkeit:
Menschenwürde und
Moralprinzip ‚D’ →
bzw. Goldene Regel
und Nächstenliebe
bare Gebote Gottes
Diskurs-Autonomie gegenüber
argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?“
mit Autonomie gegenüber 3 bis 5½,
Kommunikative Diskurs-Einstellung
Korrelation mit Gott, dem Gerechten
Verpflichtungen von 3 bis 5:
gegenüber Eigeninteressen und
Moralprinzip: Vom „Kategorischen Imperativ“ als
6 Orientierung am Gewissen und am universalen
dem Gerechten und Liebenden (z. B. Mose 2. B., 20; 3. B.
Werten/ Normen/
grundsätze
Gesetz: Vertragspartnerschaft
Als gerecht einseh-
Sozialvertrags-
Verfassungs- bzw.
Verbindlichkeit von Konvention und
Politische Autonomie gegenüber der
5½ Orientierung an Kult- u. Sittenvertrag („Bund“) mit Gott Theonomie mit partieller Autonomie
Nutzens ,unserer‘ Gesellschaft (Gemeinwohl)
5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i.S. des
Einsehbarkeit (für mich)
oder Diskurse über die
Gedankenexperimente
Metakonventionell:
III
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
89
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Die
hier
vorgeschlagene
Entwicklungslogik
90
reformuliert
Kohlbergs
Schema
in
diskursverantwortungsethischer Sicht. Diese Reformulierung hat gegenüber dem Urbild vier
Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des „Postkonventionalismus“, zudem kann sie
das genuin moralische Niveau der hebräisch-biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½).
Drittens
bestimmt
verallgemeinerbare
sie
das
moralische
Gegenseitigkeit,
so
Prinzipienniveau
daß
auch
das
der
Stufe
6
strikt
Beurteilungsverfahren
als
nicht
monologisch sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an
die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment
durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung
an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht
und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist,
wird durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu
einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils
aufgehoben. Die vierte Errungenschaft ist sozusagen das „Überlegungsgleichgewicht“ von
Kommunikation,
prinzipiengeleitetem
Verantwortungsdiskurs:
konterstrategische
Die
realistische
Erfolgsgesichtspunkt
Idealdiskurs
und
real
Zukunftsverantwortung
ernüchtert
die
folgenbezogenem
konkretisiert,
Orientierung
an
der
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die
Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden
können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: das Moralischwerden ist ein
Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im
Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich
die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was
‚moralisch’ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen
Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Kohlbergs Antwort auf die Entstehungsbzw. Wie-Frage der Moral lautet also: Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der
vorkonventionellen und dann der konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein
heiße, in Form einer zunehmend umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten
lernt.
Dann erfolge der Einschnitt der Krisenstufe 4½, der Sprung auf die „postkonventionelle“
Urteilsebene. Hier wird nach Kriterien, nach Grundsätzen dafür gesucht, warum eine
Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der
Warum-Frage. Ja, sie wird nun im Lichte der Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
91
Antworten stufen sich jetzt so auf, daß progressiv allgemeine und abstrakte Grundsätze ins
Spiel kommen; und zwar
Stufe 5: Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die
Angehörigen ‚unseres’ politischen Verbandes, z.T. mit Menschenrechten
Stufe 5 ½: Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und
Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen,
Stufe 6: Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und Sich-Orientieren am Prinzip der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit,
Stufe
7:
Sich-Distanzieren
von
einem
gesinnungsethischen,
harmonistischen
und
konkretistischen Verständnis des Moralprinzips und von der Ausschließlichkeit der rein
dialogisch kommunikativen Einstellung, statt dessen Sich-Einlassen auf moralstrategische
Situations-
und
Folgen-Diskurse,
deren
Ergebnisse
aber
dem
Dialogprinzip
der
verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen.
Die Stufen 6 und 7 eröffnen zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Sie ermöglichen es
den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf
Urteilsautonomie, sprich: auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung
der prägnanten Frage „Warum moralisch sein?“ Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die
wertethische Frage der Selbstmotivation: „Warum will ich eigentlich moralisch sein?“ und die
normative Frage der Verbindlichkeitserkenntnis: „Warum soll ich (begründeterweise)
moralisch sein?“ Denn auf der sechsten Stufe und mit situations- sowie zukunftsbezogener
Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden – im Zuge einer sokratischen
Besinnung auf ihre Ansprüche als Diskurspartner – folgende Antworten:
‚Ich, der ich mit Anspruch auf Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um VerständigungsGegenseitigkeit und um Geltungs-Gegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt
habe, daß andere Orientierungen mit meinen Ansprüchen, ein autonomer Diskurspartner zu
sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch
meine moralische Identität zerstören würden.’
Wenn skeptisch nachgefragt wird, warum man diese moralische Wertorientierung wählen und
warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung
auf die eigene Diskurspartnerrolle – diese Antwort:
‚Ich würde mir selbst praktisch unverständlich und verlöre gegenüber anderen meine
Glaubwürdigkeit, meinen moralischen Kredit, den ich als Diskurspartner in Anspruch
genommen habe, wenn ich in Zweifel zöge, daß ich, ein Diskurspartner, die Pflicht habe,
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
92
meine Urteilsbildung und mich selbst an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu
orientieren. Also sehe ich ein, daß ich eben das tun soll.’
Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur bzw. der von dir zu
beurteilende Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindet oder solche Handlungsnebenfolgen
nicht ausschließen kann, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in
Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der
Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie, für die du in realer Kommunikation mit
allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst; doch ist
ein strategisches Handeln deiner dialogischen Moralgesinnung zuwider, weil du die
Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden ‚hintergehen’ willst.
Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die
Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten
und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d.h.
rechtfertigen und daher sollen kannst, die nötige Entscheidung für eine jetzt nicht
konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: du kannst diesen bequemen
Weg
nicht
ernsthaft
wollen.
Denn
er
ist
unvereinbar
mit
deiner
moralischen
Prinzipienorientierung, weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines
Urteils mit der Geltungsgegenseitigkeit verlangt und damit deren Akzeptanz in einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft.
Das,
was
in
letzter
Instanz
zählt,
das
letztlich
ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen
Kommunikations-, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten
Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am DialogMoralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu
distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität
sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu
hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: du würdest im
Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moralund Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische
Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen
(konsequente Stufe 6) fahren lassen.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
93
Weiterhin gilt: Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner
moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht
vorschlagen, wollen oder tun. Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners
unverträglich ist, das darf er nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse
führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage
kommt bloß eine Strategie, von der er – gemeinsam mit den ernsthaften Diskurspartnern,
denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß
sie in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.
3.3
Der argumentative Dialog – ein Diskurs unter vielen?
Unsere einleitenden Bemerkungen haben sich dem Diskursbegriff in reflexiver Einstellung
genähert – ‚zurückblickend’ auf uns selbst, insofern wir gerade über etwas nachdenken, also
an einem Diskurs teilnehmen. Das versteht sich angesichts einer postmodernen Erneuerung
des Relativismus und Historismus gewiß nicht von selbst. Warum also?
Zunächst ist zu bedenken, daß eine Rekonstruktion des Diskursbegriffs, die sich weder historistisch-positivistisch in eine Wortgebrauchsgeschichte auflöst, noch reflexionsvergessen
die Vorentscheidung für einen Relativismus der vielen Diskurse getroffen hat, sondern nach
verbindlichen Definitionskriterien sucht, zunächst ihre leitenden Perspektiven offenlegen
müßte. Hängt doch der Sinn von Begriffen, die sich auf mentale und zugleich (mehr oder
weniger) soziale Phänomene beziehen, in besonderer Weise von der Perspektive ab, in der sie
verstanden und verwendet werden. Das trifft etwa zu für: „Wahrheit“, „Geltung“, „Vernunft“,
„Argumentation“, „Diskurs“, „Dialog“, „Diskussion“ und „Kommunikation“.
Gewiß lassen sich die von jenen Begriffen bezeichneten Phänomene in einer empirisch
phänomenologischen Perspektive analysieren, beschreiben und typologisch erfassen.
Allerdings gerät in dieser, ganz auf einen Gegenstand konzentrierten, Einstellung das Subjekt
der Phänomenanalyse und Begriffsbestimmung aus dem Blick: der bloß Analysierende bzw.
Beschreibende reflektiert nicht auf sein Verhältnis zum Definiendum. Demgegenüber bietet
sich eine dialogbezogene, nämlich reflexiv pragmatische Einstellung an, in der die
Erkenntnissubjekte Rechenschaft über die Rolle des Erkenntnissubjekts ablegen, indem sie
sich auf die Sinn- bzw. Geltungsbedingungen ihrer Verfahrensweise besinnen. In dieser
Perspektive läßt sich zeigen, daß auch eine, sei es empirische, sei es logische Analyse des
Phänomenfeldes von Argumentation, Vernunft, Diskurs, Dialog und Kommunikation
notwendig den Anspruch voraussetzt, wahrheitsfähig, weil vernünftig diskutierbar zu sein.
Anderenfalls wäre eine Analyse sinnlos; denn sie kann nur mit Bezug auf jenen Anspruch
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
94
diskutiert und frei akzeptiert oder zurückgewiesen werden – eben in einem argumentativen
Diskurs. Alles andere liefe auf Willkür oder Dogmatismus hinaus.
Damit sie intersubjektiv gelten, damit sie als Erkenntnisse zählen können, müssen auch die
Resultate einer empirischen Phänomenologie, einer rhetorischen Analyse oder einer
Diskursanalyse vereinbar sein mit unserem performativen Wissen, daß sie Thesen vertreten,
für die hinsichtlich eines argumentativen Diskurses Wahrheit beansprucht wird. Insofern
setzten sie voraus, daß sie zum Dialog der Argumente gehören, mithin auf argumentative
Geltungsfähigkeit und verallgemeinerbare Gegenseitigkeit angelegt sind.
Aus diesem Grunde läßt sich der argumentative Diskurs nicht sinnvoll als eine Sorte unter
vielen Diskursarten begreifen, als eine „Sonderpraxis“ unter anderen Praxen207. Vielmehr ist
„argumentativer
Diskurs“
ein
ausgezeichneter
Begriff,
der
die
Ebene
‚unserer’
Handlungskontrolle, ‚unserer’ Kritik und Begründung – auch die mögliche Kontrolle, Kritik
und Begründung einer Definition – angibt. Diese Geltungsebene kann zwar jeder jederzeit
verlassen, ignorieren und praktisch hintergehen; doch kann man ein solches Verhalten nicht
rechtfertigen, man ist dann in die Willkür gesprungen.
Letztlich muß eine argumentative Rechtfertigung alles begleiten können, was wir tun und
sagen, sofern wir überhaupt wissen wollen, was wir tun und sagen, und daß wir es sind, die da
jeweils etwas sagen und tun usw. Kein sinnhaftes, erinnerbares Erleben und keine
nachvollziehbare gewollte Praxis ohne einen möglichen Begleitdiskurs, in dem ‚wir’ alle als
Subjekte von Geltungsansprüchen ein und dieselbe Rolle spielen oder doch in Anspruch
nehmen: die eines Diskurspartners. Argumentations- und subjektvergessene Konzepte
verfallen der pragmatischen Inkonsistenz bzw. dem performativen Selbstwiderspruch: sie
ignorieren oder bestreiten gar, was sie bereits in Anspruch genommen haben208; es sei denn,
sie nähmen weder sich selbst ernst, noch wollten sie ernstgenommen werden. In solchem
207
Vgl. A. Øfsti, Ist diskursive Vernunft nur eine Sonderpraxis?, in: ders., Abwandlungen
(1994), S. 139-157. K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in
Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992 (zit.: Zur Anwendung der
Diskursethik (1992)), S. 296-316, bes. S. 303ff u. S. 313ff.
208
K.-O. Apel, Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen, in: H.
Schnädelbach (Hg.), Rationalität, Frankfurt a. M. 1984, S. 15-31, bes. S. 23ff; ders., Die
Herausforderung der totalen Vernunftkritik und das Programm einer philosophischen
Theorie der Rationalitätstypen, in: Concordia 11 (1987), S. 2-23; ders., Der postkantische
Universalismus in der Ethik im Lichte seiner aktuellen Mißverständnisse, in: Diskurs
(1988), S. 154-178; ders., Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte
einer transzendentalen Sprachpragmatik, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des
transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. M. 1998 (zit.: Auseinandersetzungen
(1998)), S. 33-80; D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 369ff; J. Habermas, Der philos.
Diskurs der Moderne (1985); W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985).
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
95
Totalverweigerungsfalle wären sie ein selbstgenügsames Grenzphänomen, aber kein
sinnvoller Diskussionsbeitrag, den wir jetzt und hier prüfen, also hinsichtlich seiner
möglichen Wahrheit oder Richtigkeit diskutieren könnten.
3.4
Die Glaubwürdigkeit des Diskurspartners als Angelpunkt einer Dialogethik.
In Platons „Kriton“ gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der
Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die ihn als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses
berühmt gemacht und sein Selbstverständnis auf eine eingängige Maxime gebracht hat. Man
kann sie den Logos-Grundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für die
Diskurspraxis, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit
Diskursergebnissen. Der Satz heißt: „Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I)
es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede,
Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat."209
3.4.1
Sokrates’ Vorwegnahme und Verfehlung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit.
Präzise verständlich ist diese Aussage erst, wenn man klärt, was das „Ich“ des Sprechers
jeweils bedeutet. Die erste Person kommt hier offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins
Spiel: einerseits als das biographische Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein
individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts vor Christus lebt, bestimmte Werte
vertritt und seine eigenen Meinungen hat, andererseits als das Stellung nehmende,
argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich freilich ausdrücklich auf das
Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin nur nach dem besten Argument sucht.
In der Tat, geltungslogisch und diskurspragmatisch betrachtet, nimmt Platons Text bzw. die
Selbstaussage des Sokrates für die Form des sokratischen Elenchos zwei Rollen in Anspruch:
die alltägliche Rolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), und die DiskursRolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II).
Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, wodurch er im Abendland und in Europa
zum Vorbild geworden ist, entsteht aus der Harmonie dieser beiden Rollen. Im „Gorgias“
spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an, was sein Gesprächspartner,
der Selbstbehaupter Kallikles, als unnatürlich empfindet, als philosophische Verrücktheit.
Sokrates sagt dort: „Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete,
ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der
209
Platon, Kriton, 46 b.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
96
ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir [scil: , der ich der Philosophie
obliege,] widersprechen sollte.“210
Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie oder Einheit der Rollen auch im Verhältnis
des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis gewahrt sehen will, als Einheit von
Argumentieren und Handeln, was ja unsere „Kriton“-Stelle deutlich macht. Zu Recht?
Machen wir die Probe, fragen wir uns: Können wir jemanden als glaubwürdigen
Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht,
dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu
werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)?
In der Tat steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers damit, daß er beide
Rollen, die Lebens- und Meinungs-Rolle (Ich I) und die Diskurspartner-Rolle (Ich II) in
Einklang bringt, indem er in der Praxis (Ich I) sich an das zu halten bemüht, was er im
Diskurs (Ich II) als richtig erkennt.211 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des
Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch
eine Kohärenz von ‚Theorie’ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da
Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu
verkörpert, konnte er, wie mir scheint, durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild
anerkannt werden. Was ist es, das Sokrates, mit Karl Jaspers gesprochen, mit Recht zu einem
„maßgebenden Menschen“ gemacht hat,212 wenn nicht die Permanenz dieses Strebens?
Für den Diskursbegriff wie für die Diskursethik kommt alles, aber auch alles, darauf an, die
ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis
einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Anderenfalls entleert sich der
Diskursbegriff,
verliert
seinen
Verpflichtungsgehalt
und
damit
seine
ethische
Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine „Diskurstheorie“ (Habermas) auf,
die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß ihr Diskursprinzip ‚D’ nur mehr den
bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge bzw.
für Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche
Konsequenz.213 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als
Diskurspartner reflektiert, sondern in bloß theoretischer Einstellung über Diskurse nachdenkt.
210
Platon, Gorgias, 482 b/c.
Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D.
Böhler, Warum moralisch sein? (2001), bes. S. 42-51.
212
K. Jaspers, Die großen Philosophen. Erster Band, München/Zürich 1988, S. 105-127.
213
J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103ff.
211
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
97
Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff allein
durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, die zunächst die Diskursvoraussetzungen
rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: was würde mit der eigenen
Diskurspartnerrolle – mit ‚meiner’ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog –
passieren, wenn ‚ich’ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in
Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, sie zu
gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt
der „Diskurspragmatik“, wie ich die Begründungsreflexion der Diskursethik nenne.
Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten
Sokratischen Selbstaussage zu Recht als unbedingt gültig und moralisch verbindlich
beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann,
unterstellen wir, ihr fehle nichts und sie sei unmißverständlich – im Sinne von Gadamers
„Vorgriff der Vollkommenheit“.214 Wenn wir nämlich darüber hinwegsehen, daß dieses
Votum eine subjektive Evidenz zum Gültigkeitsmaßstab macht, daß es auch nicht auf die
Unterscheidung achtet zwischen dem Ergebnis eines zufälligen faktischen Diskurses und dem
eines rein argumentativen Dialogs unter kompetenten Argumentationspartnern, die alle
relevanten Argumente zur Situation hinlänglich berücksichtigt hätten, dann lassen sich daraus
auf den ersten Blick zwei zuverlässige Kriterien für die Verbindlichkeit einer Aufforderung
herausheben. Denn der Sokratische Dialog bringt Selbstverpflichtungen ins Spiel, die nicht
irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, sondern unhintergehbar sind.
Warum lassen sie sich mit guten Gründen, mit sinnvollen Argumenten nicht hintergehen, also
außer Geltung setzen? Sie haften an jener Kommunikations-Rolle, die man dadurch
übernommen hat, daß man (sich und anderen gegenüber) etwas (einen Gedanken, ein Gefühl,
ein Erlebnis oder eine andere Art von Sinn) verständlich macht und dadurch, daß man diesen
Sinngehalt durch eine, als wahr unterstellte bzw. behauptete, Äußerung (sich und anderen
gegenüber) zur Geltung bringt. Es ist dies die Rolle eines Diskursteilnehmers, der zugleich
die Pflichten eines Partners hat. Inwiefern? Nun, diese Rolle wird getragen von generellen
dialogbezogenen Verpflichtungen, die wir alle im Diskurs haben. Sie sind allgemeingültig,
weil sie zu den Sinnbedingungen jeder wahrheitsbezogenen Überlegung und argumentativen
Klärung gehören: es sind normative Voraussetzungen, ohne deren Anerkennung ‚meine’ und
‚deine’ Beteiligung an einer Überlegung sinnlos wäre – ein unverständliches Verhalten, so
daß andere Diskursteilnehmer nicht wissen könnten, woran sie mit mir sind. Denn ihre
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
98
Diskurserwartungen beruhen genau darauf: sie, die ‚mir’ zuhören und mit ‚mir’ im Gespräch
sind, erwarten regulär von ‚mir’, daß ich die konstitutiven Diskursbedingungen erfülle, so daß
sie mit ‚mir’ als ihrem Diskurspartner kooperieren können. Die für das Sich-Verständigen
und für das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ‚mich’ dazu, im
Dialog der Argumente so mitzuarbeiten, daß ‚ich’ letztlich keiner anderen Autorität als der
des besten Arguments folge (1) und daß ‚ich’ die Diskurs-Gemeinschaft aller sinnvoll
Argumentierenden als die entscheidende Instanz für die Prüfung und Anerkennung von
vorgeschlagenen Normen bzw. von behaupteten Sätzen beachte, damit ‚wir’ den Horizont
unserer faktischen Gemeinschaft selbstkritisch überschreiten, um möglichst alle Argumente
zur Sache und alle involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufzusuchen und zu
prüfen (2).
So läßt sich der Logosgrundsatz als Prinzip aller argumentativen Diskurse – sei es etwa
praktischer, theoretischer oder ästhetischer und expressiver Art – entfalten. Dermaßen
expliziert, würde Sokrates allein eine solche Rede als wahr gelten lassen und nur eine solche
Handlungsaufforderung bzw. Norm als wohlbegründet und daher verbindlich anerkennen, die
in kommunikativen Diskursen rational verteidigt werden kann, so daß sie sich als getragen
vom besten Argument erweist.215 Und das beste praktische Argument ist, sagten wir,
dasjenige, welches sich sowohl durch Verständigungsgegenseitigkeit als auch durch
Geltungsgegenseitigkeit ausweisen kann, so daß es der kommunikativ erweiterten Urteilsstufe
6 gerecht wird.
Vergleichen wir unsere Explikation des Logosgrundsatzes mit den Argumenten, die der
Platonische Sokrates im Fortgang des „Kriton“ tatsächlich vorbringt, und berücksichtigen wir
zudem Ansprüche, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal seiner Frau und
Kinder, geltend gemacht werden können, dann fragt sich: Argumentiert Sokrates eher im
Sinne seiner Vorlieben und Meinungen als Ich I oder strikt als Partner in einem rein
argumentativen Dialog, der nach verallgemeinerbarer Gegenseitigkeit sucht, mithin als Ich II?
Für seinen Entschluß, die Hinrichtung auf sich zu nehmen, statt zu entfliehen, bringt er vor
allem sechs Gründe vor.
(I) Der erste Grund bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist
eine allgemeine moralische Maxime. Sie erhebt den Anspruch, den besten Logos über das
214
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975
(zit.: Wahrheit und Methode), S. 277f.
215
Vgl. D. Böhler, Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, in:
Funkkolleg Studientexte (1984), II, S. 313-355, hier 339.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
99
Gut-Leben (ευ ζην, eu zen) darzulegen, daß dieses nämlich „mit dem ehrenhaft und gerecht
leben“ identisch sei (48 b 6-8). Diesen Logos gelte es zu berücksichtigen: nicht die Meinung
„der Vielen, sondern das, was der Einsichtige und Sachverständige hinsichtlich des Gerechten
und Ungerechten „sagen wird, und das, was die Wahrheit selber“ sagt (48a 5-7).
Das ist eine radikale kriteriologische Differenz zwischen den faktischen Meinungen und der
Wahrheit. Ihre immerhin berechtigte Absicht können wir einholen, indem wir uns
klarmachen, daß wir als Argumentierende selbst schon in Differenz zu Meinungssubjekten,
uns und Anderen, getreten sind, indem wir Wahrheit beanspruchen – also das beste
Argument, welches die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würde. Insofern
zeigt es sich, daß Sokrates, geltungslogisch analysiert, eben das voraussetzt und ins Spiel
bringt, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung
erläutert: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten
Argumentationspartnern (Ich als Diskurspartner), wie auch die damit verwobene Differenz
zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder
idealen Argumentationsgemeinschaft.
Allerdings denkt Sokrates nicht eigentlich das, was er hier in Anspruch nimmt; und noch
weniger denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß. Vielmehr geht er auf ein
Expertenmodell zurück, was die Philosophen und viele andere bis heute immer wieder tun,
und allzu gerne. Damit übergeht er nicht nur den dialogischen Aspekt einer Kommunikation
unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern, sondern auch eine Sinnbedingung der
Rede von „Argumentation“ und „Argumentationsgemeinschaft“, daß diese nämlich den Plural
von Argumentationsteilnehmern und Argumenten voraussetzen, mithin auch deren
Verschiedenheit – also die „Pluralität“ (im Sinne Hannah Arendts).216 Er nähert sich der
Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, so wie
ein Sachverständiger spricht. Es ist ein methodischer oder transzendentaler Solipsismus, der
hier hervorlugt: ein uneinholbarer, daher unhaltbarer Standpunkt – pure Metaphysik, die
sinnlos ist, weil im Denken nicht rechtfertigungsfähig. Denn alles Denken ist ein Erheben von
Geltungsansprüchen gegenüber möglichen oder realen Anderen…
Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der
einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des
Einsichtigen am Beispiel des Arztes oder des Turnmeisters ein, um dann die Analogie
plausibel zu machen, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim
Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
100
Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b 48 a 1). Walter Bröcker faßt das bündig zusammen: Wenn diese Analogie angenommen wird,
was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann „ist die Frage beantwortet: Warum soll ich
das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich
meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden
auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur
darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit
dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich
eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten
Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die
berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte
tut.“217
Dieser bekannte intellektualistische, besser: theoria-metaphysische und, wie sich zeigen wird,
kosmos-mimetische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte
moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin dialogische Argumentationen
darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende, Gültigkeit zukomme oder nicht,
als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Die berühmte Maxime lautet: Unrechthandeln ist auf
keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, sodaß auch der, dem Unrecht geschehen
ist, nicht wieder Unrecht tun darf (49 a 5 - b 6).
(II) Sokrates führt den Logosgrundsatz also durch die Maxime weiter, man solle auf ein
erlittenes Unrecht nicht mit einem anderen Unrecht reagieren. Unklar ist jedoch, welchen
Geltungssinn diese Maxime beanspruchen kann: Soll sie ein Prinzip sein, welches die
Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter noch
zuläßt, also einem verantwortungsethischen Diskurs und möglichen moralischen Strategien
noch Raum gibt? Oder ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen
gilt; also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere,
etwa Frau und Kinder, eine (im Prinzip auch von einem selbst lösbar ist, kann) anerkannte
Rechtsnorm verletzen würde? Ein solches verantwortungsethisches Problem, das allein durch
eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) kann
Sokrates aber nicht stellen und angehen. Warum nicht?
216
H. Arendt, Vita actica oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960 und München (Piper) o. J., (zit: Vita activa), S.
14 f., 164 ff., und 214 ff.
217
W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967, S. 32.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
101
(III) Er legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den
Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch
befehlen mögen218. Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten,
„daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!]
wir befehlen.“219
Bedeutet das nicht einen Rückfall auf bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von „law
and order“ (auf der konventionellen Urteilsstufe 4) und damit die Preisgabe des
metakonventionellen Urteilsniveaus? Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung
der von einem selbst anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen
freiwilliger Übereinkünfte ein. Das aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal
gegebenen Einverständnisses kann, ja soll bei gravierenden Zweifeln eingeklammert werden –
allgemein zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des Prinzips
der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein im guten Glauben geschlossener
Vertrag bzw. anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche, ja illegitime
Verbindlichkeiten einschließen.
(IV) Außerdem fällt Sokrates hinter seinen Logosgrundsatz zurück, weil er seine faktische
Vaterlandsliebe, die ihn als Athener prägt (Ich I), über alles zu stellen scheint, so daß sich aus
der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) für ihn
de facto eine letzte Geltungsinstanz ergibt.220 Doch als Diskurspartner (Ich II) hat er die Suche
nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, welche
dieses anerkennen würde, als letzte Gültigkeitsinstanz vorausgesetzt.
Auch ein Vergleich des Arguments (III) mit den biblischen Traditionen fällt übrigens für
Sokrates bzw. für den Autor Platon ungünstig aus. Erheben sie doch tendenziell die
Nächstenliebe und die Achtung vor dem menschlichen Leben als dem Ebenbild Gottes zum
Kriterium dafür, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde.
(V) Kaum von der Hand zu weisen ist hingegen die angestellte Erwägung, daß eine Flucht des
Sokrates seine Freunde in die Notlage bringen könnte, ihrerseits aus Athen fliehen zu
müssen.221 Doch nehmen die Freunde dieses Risiko offenbar im Sinne einer
verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) auf sich, so daß die verallgemeinerbare
Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich u.U. für Sokrates – ebenfalls auf
218
Platon, Kriton, 51 e 4f. Diese Festlegung wird auch nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem er den
Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen (δίκαια,
dikaia) die Rede die von den „Gesetzen“ versprochen worden seien.
219
Schleiermacher übersetzt: „daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe“.
220
Ebd., 51 a 2 - c 5.
221
Ebd., 53 a 8 - b 3.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
102
Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Diese Frage läßt sich
wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffenen klären. Doch wird
der moralisch Empfindsame – und Sokrates verkörpert diesen zweifellos – seine Freunde
kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser u.U.
existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen. Da überlegt man lieber allein für
seine Freunde.
(VI) Ambivalent ist das Argument, er selbst hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein
gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden
angegeben. Einer im „Kriton“-Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht.
Im „Kriton“ weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als
Rechtsverächter ansehen könnte.222 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle
Egoperspektive ‚meines’ Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der
Anerkennung durch je meine partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? In
Widerspruch dazu steht außerdem, daß Sokrates solche faktischen Bezugsgruppen zuvor noch
selbst, und zwar kraft seines substantialistischen Wahrheitskriteriums, als „die Vielen“
distanziert hatte (47). Hier aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine
Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos und der Wahrheit…
Das Argument gewinnt auch dadurch nicht unbedingt an Überzeugungskraft und Gültigkeit,
daß
es
abschließend
mit
dem
Hinweis
auf
den
Glaubwürdigkeitsverlust
des
Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze
entzogen hätte223 – und daher wohl bloß in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen
könne, weil „dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten“ seien.224 Auf der reinen
Geltungs-
und
Prinzipienebene
wäre
das
Glaubwürdigkeitsargument
allein
dann
durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Glaubwürdigkeit von Sokrates I in der
realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf den
Diskurspartner (Sokrates II) zielte, der sich letztlich auf die ideale Gemeinschaft derer
bezöge, die nach dem besten Logos suchen.
Davon könnte aber nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente,
verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7 sprächen. Dann hätte er den
besten Logos auf seiner Seite. Zweifellos ist das auf der idealisierenden Ebene eines reinen
Geltungsdiskurses (im Sinne der Prinzipienstufe 6) nicht der Fall. Aber könnten wir Sokrates
nicht mit einer verantwortungsethischen Argumentation zu Hilfe kommen, indem wir für ihn
222
Ebd., 53 b 3 - c 8.
Ebd., 53 c 5ff.
224
Ebd., 53 d 1ff.
223
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
103
eine moralische Strategiebildung versuchen? Die läßt sich an eine dritte, in der „Apologie“
vorgebrachte Begründung anschließen: „Das größte Gut für den Menschen ist, täglich sich
über die Tugend zu unterreden“225, „zu philosophieren […] und sich selbst sowie andere zu
prüfen“226, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu geben.227 Wenn aber schon die
Athener, Sokrates’ Mitbürger, nicht imstande gewesen seien, dessen philosophisch kritische
Lebensweise zu ertragen, so würden andere sie ebensowenig akzeptieren. Also müßte
Sokrates in seinem Alter „immer unhergetrieben eine Stadt mit der anderen vertauschen“.228
Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann nicht zumutbar. Gewiß. (Wir
berücksichtigen jetzt freilich – sowie auch Sokrates’ eigene Argumentation – bloß das
Individuum Sokrates in seiner Rolle als Philosophen, nicht Sokrates als Vater und als
Ehemann, der für die Ansprüche seiner Familie mitverantwortlich ist.)
Nun hängt – und darauf lief wohl eine Überlegung von Bernadette Herrmann hinaus – die
Wirksamkeit der philosophisch-kritischen Lebensform, realistisch betrachtet, offenbar von der
durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das ist nun einmal eine
ebenso schlichte wie eifersüchtige (und auch kleinliche) Fixierung auf Vorbilder (Stufe 3),
also hier auf den Philosophen Sokrates, und auf die ‚bei uns’ etablierten Gesetze (Stufe 4).
Letztere sind zwar unzureichend und bedürfen dringend einer strukturellen Verbesserung mit
der Perspektive auf Menschenrechte, Menschenwürde, auf Prozeßrecht mit prozeduraler
Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile usw. Doch sind sie der Rechtlosigkeit vorzuziehen.
Was die Vorbildorientierung anbelangt, so könnte Sokrates ein politisch-ethisches Vorbild
dann und nur dann werden, wenn er sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält – also
die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung verworfen
hatte.229 Daß Sokrates als Vorbild anerkannt werde, ist die Voraussetzung für die moralische
Langzeitstrategie „Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens in eine
menschenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung“. Also lohnt es
das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates, sofern sowohl Sokrates selbst vor der
Hinrichtung öffentlich und in einem Vermächtnis – als auch seine Freunde späterhin die Ziele
einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polis-Geistes nicht allein entfalten,
sondern öffentlich resp. auch politisch strategisch daraufhin wirken. In diesem Sinne könnten
wir fast den folgenden Passus der „Apologie“ auslegen: „Ich behaupte also, ihr Männer, die
ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch
225
Platon, Apologie, 38 a 2.
Ebd., 28 e.
227
Ebd., 39 c 7.
228
Ebd., 37 c 7 - d 6.
229
Ebd., 37 c 4 - 38 a 8.
226
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
104
kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der
Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz
entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur
Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt.
Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.“230
Dann käme Sokrates’ Selbstopfer einer moralischen Situationsstrategie gleich, von der gölte,
daß sie erfolgsfähig und moralisch verträglich einbezogen würde in eine moralische
Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens.
So ließe sich auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und
Verantwortungsethik
argumentieren.
Verantwortlichkeiten für Sokrates’
Allerdings
nur
dann,
wenn
auch
die
Frau und Kinder angemessen berücksichtigt werden
könnten: Kann ihnen die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zugemutet werden? Die
Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) erscheint nämlich von neuem
als Frage der moralischen Zumutbarkeit auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7; ist
also alles andere als leicht zu nehmen.
Als Leser von Platons Texten, der „Apologie“, des „Kriton“ oder auch des „Phaidon“ müssen
wir freilich ernüchtert feststellen: es gibt wenig Anhaltspunkte für eine politisch-ethische
Moralstrategie, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – wie auch immer stark explikative
– Interpretation zumal des „Kriton“ wäre unsere verantwortungsethische Skizze wohl zu
schwach belegt. Das gilt es zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates’ Aussagen und
Nichtaussagen über seine Familienverantwortung berücksichtigen. Stellt der platonische
Sokrates sich diesem Zumutbarkeitsproblem? Oder sind wir drauf und dran ihn
verantwortungsethisch hoch zu interpretieren?
Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder
und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates
überhaupt
nicht.
Die
zu
berücksichtigenden
Ansprüche,
Tugenden
und
Gerechtigkeitsbeziehungen werden von ‚seinem Vaterland’ aufgesogen. Zu einer Abwägung
‚Familie versus Vaterland’, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt
es nicht einmal. Allein von den Kindern spricht er. Warum will er sie nicht auf eine Flucht
mitnehmen, und sei es nach Thessalien? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu
machen, und weil die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen
werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften...231
230
231
Ebd., 39 c 3 - d 2.
Ebd., 54 a - b 1.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
105
Ob die Kinder und die Ehefrau eigene, andere Ansprüche haben können und daher die Flucht
auf sich nehmen und diese vorziehen würden, fragt Sokrates nicht. Über eine
Verständigungsgegenseitigkeit ist der, tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende,
jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier
präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und
Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Kommunikation mit ihnen. Die hat
allein zwischen ihm und den „Gesetzen“ statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit
sie versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von
Platons „Politeia“ und „Nomoi“ einläutet: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch
irgend etwas anderes höher als das Recht.“232 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die
Argumentationsgemeinschaft,
der
Realathener
(Sokrates
I)
überwältigt
den
Argumentationspartner, Sokrates II. Kein guter Ausgang, sondern eine konventionalistische
Regression.
Daß Lawrence Kohlbergs Würdigung des „Kriton“ weitaus günstiger ausfällt – „hier steht der
Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt“233 – fordert zur Diskussion heraus. Man
berücksichtige zunächst Kohlbergs Zitatauswahl aus dem „Kriton“: Auszüge 50 a bis 52 e,
doch unter Auslassung der rechtspositivistischen Absolutheitsformel „zu tun, was immer wir
[die Gesetze] befehlen“. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, totale
Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem metakonventionellen Gedankenexperiment eines
Gesellschaftsvertrags. Denn ein solches klammert die Geltung der faktisch gegebenen Gesetze
und Verfahren ein, weil es deren Legitimität prüfen soll. Sokrates hingegen führt kein solches
Gedankenexperiment durch, sondern schließt von dem Faktum seiner bisherigen
rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der
athenischen
Gesetze
und
Verfahren.
Das
bedeutet
die
Vermeidung
einer
Legitimationsprüfung, ja ihre Ersetzung durch einen faktischen bzw. naturalistischen
Fehlschluß: Sokrates macht nichts geltend als eine ‚normative Kraft des Faktischen’ –
gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das ist
Rechtspositivismus, bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten
Rechtsinstitutionen, sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht
232
233
Ebd., 54 b 2 - 4.
L. Kohlberg, Education for Justice. A modern statement of the Platonic view, in: N.F. Sizer & T.R. Sizer
(Hg.), Moral education. Five lectures, Cambridge 1970, S. 57-83. Dazu D. Garz, Kohlberg (1996), S. 119f,
vgl. 116ff und 60f.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
106
entzogen und durch diese Unterlassung de facto deren Geltung akzeptiert habe, ins
Sakrosankte erhebt.
Dem steht der kritische, rechtsprüfende bzw. rechtskonstitutive Impetus der Idee des
Sozialvertrags diametral entgegen. Dessen Orientierungsfunktion kann Kohlberg zwar als
„legalistische Orientierung“ beschreiben; eine solche hat jedoch – eben das unterscheidet die
„postkonventionelle“ Urteilsstufe 5 von der konventionellen Law-and-Order-Stufe 4 – das
gelungene Legitimationsexperiment, besser: einen von allen Beteiligten argumentativ
geführten praktischen Willensbildungsdiskurs, zur geltungsstiftenden Voraussetzung.
Anderenfalls
könnte
Kohlberg
den
Sozialvertragsgedanken
nicht
zu
Recht
als
postkonventionelles (logisch: metakonventionelles) Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar
nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser Urteilsstufe individuelle Rechte als
vorpositive, rechtstragende Menschenrechte gefordert werden können. Eben das hat er getan –
nicht zuletzt, indem er die US-amerikanische „Declaration of Independence“ als „Dokument
der Stufe fünf“ würdigte.234
Dazu war Kohlberg, auch problemgeschichtlich gesehen, durchaus berechtigt, ist doch der
Sozialvertragsgedanke ein integraler Bestandteil des „Naturrechts“ bzw. Vernunftrechts, der
den Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, mehr oder weniger
verbindet mit dem universalen Rechtsstandpunkt der „frei geborenen“ und (qua
Gottesebenbildlichkeit) mit der Würde des Anspruchs auf „unveräußerliche Rechte“
ausgestatteten Menschen. Und es ist dieser rechtsmoralische Anspruch der Menschenwürde,
der aus Samuel Pufendorfs „De jure naturae et gentium“ Eingang in die US-amerikanische
Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben scheint.235
Abschließend können wir unseren philosophischen Diskurs zum „Kriton“, dem es nicht um
eine historisch hermeneutische Würdigung der Auffassungen des Platonischen Sokrates,
sondern um deren Beurteilung als Argumente im Diskursuniversum zu tun ist, in die Form
folgender Tabelle bringen. Horizontal stellt sie Kriterien zusammen, welche Teilnehmer eines
argumentativen Diskurses (also auch Platons Sokrates) geltend machen können. In der
Vertikalen listet sie Instanzen auf, die wir als Diskurspartner berücksichtigen müßten: die
Betroffenen als Anspruchssubjekte im weitesten Sinne – von Sokrates über die Institution
234
L. Kohlberg, The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American education,
in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5-16, hier S. 11.
235
Hans Welzel hat gezeigt, daß dignitas humana, von Samuel Pufendorf zum „naturrechtlichen Zentralbegriff“
erhoben worden, durch den „Vater der amerikanischen Demokratie“, Pfarrer John Wise – „I shall principally
take Baron Pufendorf for my chief guide“ – dem Geist der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 140ff.
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
107
„Polis“ bis zur Metainstitution aller geschichtlichen Institutionen, dem philosophischen
Diskurs der Argumente.
Gerechtigkeit
qua
Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit
Anspruch auf
Wahrheit,
Gültigkeit
Kriterien,
Bezugspunkte
Diskurspartner
(Ich II)
Ein moral. Gehalt des
Logos-Grundsatzes (6),
aber gesinnungsethisch
verabsolutiert, mithin
eher als Stufe 4-Norm
denn als autonom
anzuwendendes,
metakonventionelles
Moralkriterium angesetzt
[Argument V]
Bedeutet die Flucht den
Verlust der Diskursglaubwürdigkeit?
- Reale vs. ideale Diskursgemeinschaft (6)
- [Märtyrertum als
moral. Strategie (7) →
Wahrung von
Rechtsloyalität u. –
sicherheit (4 u. 5)?]
Argument I
Person
(Ich I)
Sokrates (S.)
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung, daher
keine Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Unberücksichtigt:
Situationsanalyse fehlt,
keine Verständigung
Frau
Daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeits-ansprüchen
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung (auch nicht
advokatorisch)
Kinder
Keine Situationsanalyse,
keine Verständigung,
daher bezweifelbare
Berücksichtigung von
Gerechtigkeitsansprüchen
Unzureichend:
Kritikfähige
Situationsanalyse, keine
Verständigung
Freunde
faktizistischer
Fehlschluß von
Sokrates’
Bürgerverhalten
(3) auf
Legitimität der
Gesetze (4)
Argument III
Antizipation von
Stufe (5) mit
Regression auf
Stufe (4)
Argument II
Ja, in der
Verteidigung
seiner selbst vor
Gericht
Polis
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Mögliche Beurteilung von Sokrates’ Argumenten I bis IV, Kriton 48 c - 54 e
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Ein moral. Gehalt des LogosGrundsatzes, aber nicht
metakonventionell, sondern
konventionell (regressiv) gehandhabt
Argument I
Siehe Spalte Sokrates
[Argument V]
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
108
Menschen
würde
Leben
Kriterien,
Bezugspunkte
__________
__________
S. delegiert seine
Fürsorgeverantwortung
undialogisch und ohne das
moralische Prinzip der
Zumutbarkeit zu klären
Sokrates scheint sich in
der Egoperspektive Stufe
(1) auf persönliches
Glück zu berufen und auf
die faktische Akzeptanz
durch eine Gruppe (Stufe
3)
bei Ausblendung von
Verantwortungspflichten des
Familienoberhaupts (3);
aber in „Apologie“ mit
verantwortungs-ethischer
Perspektive:
Wirkungsmöglichkeit für
kritische Philosophie
wahren (Stufe 7)!
Argument VI
Frau
__________
In Übereinstimmung mit
seiner lebensweltlichen
Rolle (3) übt Sokrates
Fürsorgeverantwortung für
seine Kinder, aber
Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner
Argument VI
Kinder
__________
Asymmetrische
Fürsorgeverantwortung
(Ausblendung der
Fürsorgeobjekte als
Diskurspartner,
solipsistisch verkürzende
Antizipation von (7))
Argument IV
Freunde
_______
Unbe-rücksichtigt
bleibt und muß
die Frage bleiben,
ob ein Staat das
Recht auf
Todesstrafe
beanspruchen
darf, da die Idee
der Menschenwürde fehlt
Polis
Betroffene als moralisch Anspruchsberechtigte und andere moralische Instanzen:
Argument V
Sokrates (I + II)
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
Menschenwürdegrundsatz unvereinbar
mit Todesstrafe
→ Legitimation der Flucht
Es fehlt die Frage: Ist ein Sozialvertrag
überhaupt legitim, der einem Staat die
Todesstrafe zuspricht (Prinzip der
Menschenwürde als Rechtskonstituens)
Philos. Diskurs (alle sinnvollen
Argumente, auch Ansprüche der
Nachwelt, zu berücksichtigen)
109
Dietrich Böhler –Vorlesung im Wintersemester 2006/2007
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