Seite 1 von 4 „Einer ist der Gute“ (Predigt zu Mt.19,16-17) Da kam einer zu ihm und sagte: Meister, was muss ich Gutes tun, um ewiges Leben zu erlangen? Er sagte zu ihm: Warum fragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute. Willst du aber in das Leben eingehen, so halte die Gebote! Matthäus 19,16-17) Liebe Gemeinde, wir alle sind einmal zur Schule gegangen. Wir wissen, wie das Prinzip der Schule funktioniert. Als Schüler eignet man sich ein Wissen an oder erlernt Fähigkeiten, welche später im Leben angewendet werden können. Einfach ausgedrückt: In der Schule die Theorie, im Leben die Praxis. Im Bibelabschnitt, den ich soeben gelesen habe, kommt einer, der etwas lernen will, zu Jesus. Er spricht ihn als Meister an. Er kommt mit unglaublich hohen Erwartungen und Lernzielen. Er will das ewige Leben erwerben und er hofft, dass er die Lehre dazu bei Jesus bekommt. Wenn ich die Lehre über das Gute habe, denkt er, dann habe ich das Rezept zum ewigen Leben in der Tasche. Man sagt ja, Bildung sei ein Guthaben, ein Kapital. Ist es aber wirklich möglich, die Religion so zu erlernen, wie eine Fremdsprache oder wie die Bedienung eines Computers? Kann man sich Religion aneignen, sodass sie zu meinem Eigentum wird, sodass ich darüber verfügen kann wie über ein anderes Wissen? Viele gehen in solcher Weise mit dem Glauben um. Glaube wird als Besitz angesehen. Glaube wird in ein Dogma gepresst, damit er zum Besitz wird. Glaube wird festgehalten zwischen den Buchdeckel der Bibel wie ein Besitz. Glaube wird in einer Bekehrungsgeschichte erfasst, welche zum Besitz des Bekehrten wird. --- Doch irgendwie müssen wir ja unseren Glauben ausdrücken. Wir möchten doch den Glauben mit andern teilen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass wir dabei den Glauben wie einen Besitz handhaben. Diese Gefahr besteht in erster Linie auf der Seite der Lehrer, der Pfarrer, der Missionare, ganz allgemein auf der Seite jener, die den Glauben weitervermitteln. Seite 2 von 4 Wie verhält sich aber Jesus, der ja auch ein Lehrer und Meister des Glaubens ist? Er macht seinem Schüler als Erstes klar, dass es nicht um das Gute geht, sondern um den Guten. Es geht nicht um einen Gegenstand, und sei es auch ein geistlicher Gegenstand, sondern um eine Person, um Gott. Es geht nicht um das Haben, sondern um das Sein. Es geht nicht um den Besitz einer Lehre, etwa des Christentums, sondern um eine Beziehung zu Gott und zum Leben. Dann aber nennt Jesus die Gebote, die jeder lernen und einhalten soll. Warum aber spricht Jesus an dieser Stelle von den Geboten, nachdem er gesagt hat: Einer ist der Gute. – Die Gebote sind ja eine Gabe von dem Einen, von Gott. Sie sind mehr als eine Aufklärung über das, was gut oder schlecht ist. Durch die Gebote vermittelt uns Gott weniger ein Wissen über das Gute und das Böse. Er ruft uns vielmehr auf, ihn zu hören und das Gehörte zu tun. Die Antwort Jesu erinnert an das Urgebot Gottes, welches er den ersten Menschen im Paradies gegeben hatte. Es ist jenes rätselhafte Gebot, welches den Menschen verboten hatte „vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen“. Es ist ein eigenartiges Gebot, das dazu aufruft, nicht zu wissen, was gut und was schlecht ist! Es verlangt, dieses Wissen Gott zu überlassen. Es spart mitten im Leben des Menschen einen Raum des Nichtwissens aus, einen Freiraum für das Vertrauen, für das Hinhören auf Gott. - Die Gebote machen unsere Beziehung zu Gott lebendig, wenn wir in ihnen ein Echo auf das Gebot im Paradies erkennen. Sie machen uns aufmerksam auf die Stimme Gottes, die zu uns sagt: „Lass mich dein Gott sein, lass mich dir den Weg zeigen, schenke mir Vertrauen!“ In diesem Sinne sind die Gebote nicht eine Theorie über das Gute, sondern ein Wort des guten Gottes, der zu uns spricht. Was wir „die Zehn Gebote“ nennen, heisst wörtlich in der hebräischen Sprache „die zehn Worte“. Damit wird unterstrichen, dass Gott zu uns spricht, dass die Gebote Ansprache sind nicht eine abstrakte Lehre über das Gute oder ein Judentum oder ein Christentum. Liebe Gemeinde, ist das bloss eine Nuance, wie wir die Gebote Gottes verstehen, oder geht es um mehr? --- Was wie eine kleine Nuance aussieht hat gewaltige Konsequenzen. Seite 3 von 4 Wir Menschen meinen immer wieder, wir könnten das Gute fassen als Lehre, als Theorie oder als Weltanschauung. In der Geschichte der Menschheit prallen dann die verschiedenen Lehren aufeinander: Christentum, Judentum, Islam, Protestantismus, Katholizismus, Kommunismus, Liberalismus, Kapitalismus, Humanismus, Sozialismus....alles Lehren vom Guten. Spätestens wenn sich alle diese Lehren gegenseitig mit Mord und Totschlag bekämpfen widerlegen sie sich selbst. Das Resultat dieser unseligen Geschichte ist eine Distanzierung der Menschen von jeder Weltanschauung. Weil aber kein Mensch ohne Orientierung seinen Lebensweg gehen kann, basteln sich heute so viele ihre Weltanschauung selbst. Ein bisschen Humanismus, ein bisschen Liberalismus, dazu drei Esslöffel Buddhismus und ein paar Reste des Christentums gut mischen und mit esoterischen Zusätzen würzen ergibt eine akzeptable Weltanschauung für den postmodernen Individualisten. Und schon entsteht ein neuer „Ismus“, nämlich der Individualismus. Ein konsequenter Individualismus ist langfristig aber unerträglich, weil er in die Vereinzelung, in die Isolation und in die Beliebigkeit führt. - Darum lässt als verzweifelte Gegenbewegung der Fundamentalismus nicht auf sich warten. Genau das erleben wir heute: Auf der einen Seite Individualisten, für welche fast alles Gültigkeit haben kann - je nach Lust und Laune - und auf der andern Seite Fundamentalisten, welche sich radikal oder gar fanatisch zu einer Religion halten. Nicht nur im religiösen Bereich, sondern auch im politischen und im wirtschaftlichen gibt es das selbe Phänomen: Einerseits mehr und mehr Unbeteiligte, mehr und mehr Gleichgültige und anderseits immer radikalere, immer fanatischere Gruppen. Kein Wunder, dass das Gewaltpotenzial zunimmt. Liebe Gemeinde, ich bin mir schon bewusst, dass ich hier keine umfassende Gesellschaftsanalyse präsentieren kann. Ich beschreibe nur sehr rudimentär einige Tendenzen. Ich tue dies, weil ich überzeugt bin, dass die knappe Antwort Jesu an den eifrigen Schüler auch uns Grundlegendes zu sagen hat. Nicht diejenigen finden das ewige oder das wahre Leben, welche die rechte Lehre über das Gute besitzen, sondern jene, welche sich von Gott ansprechen lassen, jene welche auf Seite 4 von 4 seine Stimme hören und danach leben. Die Schriftgelehrten und die Pharisäer wissen zwar viel über den Glauben, doch das sagt noch nichts über ihr Herz. Jesus pries die geistlich Armen selig, weil er wusste, es genügt ganz wenig, um das Herz für Gott zu öffnen. Darum sagte er einmal: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen geoffenbart hast.“ Wir leben in einer Welt der Konzepte und Programme, in einer Welt der Problemlösungsstrategien und der Leitbilder. Mit unglaublichem Energieaufwand setzen wir unsere Lebenszeit ein für das Gute, ja für das Beste; - aber, - leben wir wirklich? Haben wir eine leise Ahnung, was ewiges Leben, was Glückseligkeit sein könnte? Einer ist der Gute, sagte Christus. Suchen wir ihn also. - Als das Volk Israel noch überhaupt gar nichts besass, nicht einmal die Thora, nicht einmal eine Heimat, sondern in der Wüste unterwegs war, da begegnete ihm Gott. Gott sprach zu ihm nur zehn Worte. - Wer weiss, vielleicht ist unsere Zeit reif, alle Rezepte über das Gute zurückzulassen und ohne Besitz, auch ohne Glaubensbesitz, in die Wüste zu gehen, um voll Vertrauen auf Gott zu hören. Vielleicht könnte unsere Zeit ganz neu Gott begegnen. Ich denke, dass dies für jede Religion gilt. Der Christ soll in der Bibel suchen, aber so dass er die Stimme Gottes hört. Der Jude soll in der Thora suchen, aber so dass er die Stimme Gottes hört. Der Muslim soll im Koran suchen, aber so dass er die Stimme Gottes hört. Denn eines ist sicher, wir sind alle Geschöpfe Gottes und wir bekommen alle das Leben von dem Einen, den Jesus den Guten nennt. Amen. Pfr. Carl Schnetzer / Kirchgasse 22 / CH-8903 Birmensdorf / 11.09.2016 2016-09-11/Mat 19,16-17-/-Einer ist der Gute Fürbittgebet Gott, du Ursprung des Universums, durch dein Wort hast du die Welt erschaffen. Ein Wort von dir genügt und wir leben auf. Komm, sprich zu uns, wir bitten dich. Wir danken dir für alle, welche die Heilige Schrift erforschen und mit Sorgfalt und Liebe weitergeben. Gib uns allen deinen Geist, damit wir durch die Schrift deine Stimme hören können, wir bitten dich. Wir bitten dich für uns alle, die wir den Glauben weitergeben um Respekt und Demut. Lass uns auf Christus schauen. Er hat sich ganz gegeben und hat nie etwas erzwungen. Wir bitten dich, erhöre uns. Für alle, welche sich sehnen nach Orientierung, bitten wir dich. Besonders bitten wir dich für die Jugendlichen und ihre Eltern. Lass uns Christen erkennen, welche Verantwortung wir haben in dieser Zeit. Wir bitten dich: Für alle, welche sich in falschen Sicherheiten einschliessen, bitten wir dich. Du kennst die Ängste des menschlichen Herzens, du kannst befreien und heilen. Lass nicht zu, dass Menschen durch andere Menschen abhängig gemacht werden. Wir bitten dich. In der Stille beten wir vor dir. STILLE Gott, du Quelle des Lebens und der Liebe, durch Christus sind wir mit dir verbunden weit mehr als wir jetzt schon erkennen können. Wir danken dir. Amen.