Liebe Gemeinde - Evang. Kirchgemeinde Frauenfeld

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„Steh auf und geh umher!“
Predigt über Apg. 3,1-11; Frauenfeld, 8.7.2007;
Pfr. A. Bänziger
Apostelgeschichte 3: Ein Gelähmter wird geheilt
Einmal
gingen
Petrus
und
Johannes in den Tempel. Es war drei Uhr, die Zeit für das
1
Nachmittagsgebet.
2 Am Schönen Tor des Tempelvorhofs saß ein Mann, der von Geburt an gelähmt war. Jeden
Tag ließ er sich dorthin tragen und bettelte die Leute an, die in den Tempel gingen.
3 Als er Petrus und Johannes sah, wie sie gerade durch das Tor gehen wollten, bat er sie um eine
Gabe.
4 Die beiden blickten ihn fest an, und Petrus sagte: »Sieh uns an!«
5 Der Gelähmte tat es und erwartete, daß sie ihm etwas geben würden.
6 Aber Petrus sagte: »Gold und Silber habe ich nicht; doch was ich habe, will ich dir geben. Im
Namen von Jesus Christus aus Nazaret: Steh auf und geh umher!«
7 Und er faßte den Gelähmten bei der rechten Hand und half ihm auf.
Im gleichen Augenblick erstarkten seine Füße und Knöchel;
8 mit einem Sprung war er auf den Beinen und ging umher. Er folgte Petrus und Johannes in
den Vorhof des Tempels, lief umher, sprang vor Freude und dankte Gott mit lauter Stimme.
9 Das ganze Volk dort sah, wie er umherging und Gott dankte.
10 Sie erkannten in ihm den Bettler, der sonst immer am Schönen Tor gesessen hatte. Und sie
staunten und waren ganz außer sich über das, was mit ihm geschehen war.
11 Das ganze Volk im Tempel beobachtete, wie der Geheilte sich eng an Petrus und Johannes
hielt, und alle folgten ihnen voll Staunen in die Salomohalle.
Liebe Gemeinde
Stellen wir uns diese Szene einmal lebendig vor: Da liegt ein gelähmter Bettler am
Eingang zum Tempelareal. Ein paar treue Freunde oder Verwandte bringen ihn jeden Tag
dorthin. Er ist seit seiner Geburt gelähmt, kann seine Glieder nicht bewegen. Wie oft fühlen
auch wir uns irgendwie gelähmt angesichts der Probleme in dieser Welt. Ja, kommt uns
manchmal nicht unsere Welt so vor wie dieser Gelähmte? Kraftlos, ohne
Zukunftsperspektive, angewiesen auf ein bisschen Hilfe.
In den Augen der meisten frommen Israeliten allerdings war klar: Dieser Mann erleidet
eine Strafe Gottes. Unter den Schriftgelehrten wurde über das Problem diskutiert, ob ein
Mensch schon im Mutterleib gesündigt haben könne, oder ob seine Eltern daran schuld seien.
Auch heute glauben ja viele wieder an ein Karma und an die Seelenwanderung; dass
Menschen in einem nächsten Leben für die Fehler des vergangenen büssen müssten. Für die
jüdische Bevölkerung jedenfalls war klar: ein solcher Mann ist unrein, mit Sünden belastet.
So jemand darf nicht in den Tempel hineingehen, er könnte sonst die reine Atmosphäre
stören. Und wieder sehen wir Parallelen zu heute: auch wir möchten doch die Leidenden
lieber nicht sehen müssen. Die Drogensüchtigen müssen verschwinden von öffentlichen
Plätzen. Kranke gehören ins Spital und Alte ins Pflegeheim! Und wir als Christen wollen uns
fragen: Haben Leidende, Kranke, Aussenseiter Platz in unserer Mitte, in unseren
Gottesdiensten?
Zurück zu diesem Gelähmten. Er liegt nun also täglich am Eingang zum Tempel, dort, wo
viele Menschen vorbeikommen. Und wahrscheinlich rechnet er sich aus, dass die Leute, die
Predigt über Apg. 3,1-11: „Steh auf und geh umher!“
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Pfr. A. Bänziger
zum Gebet gehen, am ehesten bereit sind, ein Almosen zu spenden. Was da nicht alles für
verschiedene Leute vorbeikommen: Da gibt es Priester auf dem Weg zu ihrem Dienst im
Tempel; sie sind sich ihrer Würde und Verantwortung bewusst, aber für einen einfachen
Bettler haben sie selbstverständlich keine Zeit. Es kommen auch Schriftgelehrte vorbei,
Studenten, die eifrig ein theologisches Problem diskutieren. Da kommt auch ein reicher
Kaufmann vorbei, der findet, es könne seinem Geschäft nicht schaden, wenn er auch wieder
einmal zum Gebet in den Tempel gehe. Schon wegen dem Gesehenwerden und so! Und mit
einem Almosen kann man doch sein Gewissen wieder einmal ein wenig beruhigen. Auch
heute geben sich Firmen doch gerne einen sozialen oder ökologischen Anstrich. Aber auch
ein armer Familienvater kommt vorbei; er hat im Moment keine Arbeit; das Gebet und der
Glaube sind ihm ein wichtiger Halt. Eine alte Frau humpelt an dem Bettler vorbei; sie ist seit
vielen Jahren allein und kann nicht viel geben. Aber auch sie wirft ein Geldstück in den Hut
des Bettlers. Im Tempel findet sie Menschen, mit denen sie sich verbunden weiss.
So sieht also dieser Mann jeden Tag eine bunt zusammengewürfelte Schar von Menschen
an sich vorbeiziehen. Alle sind sie auf ihre Art religiös, nehmen teil am Betrieb im Tempel,
spenden etwas für die Armen. Die Religion hat für jeden von ihnen etwas: einen Trost, eine
Ermahnung, eine gedankliche Herausforderung, eine Beruhigung ihres Gewissens, einen
Segen, Gemeinschaft, ein Almosen.
Da sieht dieser Bettler zwei einfache Männer daherkommen, dem Aussehen nach sind es
wahrscheinlich Fischer oder Bauern aus Galiläa. Was tun die wohl um diese Zeit hier in
Jerusalem? Das Pfingstfest ist doch vorbei, die müssten jetzt daheim ihrer Arbeit nachgehen!
Sind sie wohl arbeitslos? Sie scheinen aber gut gelaunt zu sein, gehen mit erwartungsvollen,
freudigen Schritten auf den Tempel zu. Der Gelähmte bittet sie um ein bisschen Geld. Er
erwartet, dass sie ein Geldstück einwerfen und dann schnell vorbeigehen. Er weiss, dass
niemand etwas mit ihm zu tun haben will, mit einem Sünder. Und doch hätten die Leute ein
schlechtes Gewissen, wenn sie nichts geben würden. Aber diese beiden Männer – Petrus und
Johannes – sind anders. Sie bleiben stehen, sehen ihn direkt an und da sagt der eine, Petrus:
„Sieh uns an! Silber und Gold besitze ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im
Namen Jesu Christi des Nazoräers - geh umher!“
In diesem Moment ergreift Petrus seine Hand, er spürt, wie eine Kraft durch seine Glieder
strömt. Er springt auf und beginnt umherzugehen. Er läuft in den Tempelhof hinein, springt
vor Freude umher und lobt Gott. Die Menschen im Tempelhof erkennen ihn und sind ganz
ausser sich vor Staunen. Sie sehen, dass er mit Johannes und Petrus in die Salomohalle geht.
Dorthin, wo früher jeweils Jesus mit den Pharisäern diskutiert hatte und wo sich jetzt seine
Anhänger versammeln. „Da müssen wir auch mal hin und sehen, was da los ist!“, sagen die
Leute und eine grosse Menge strömt dorthin, um zu hören, wie dieses Wunder geschehen ist.
Da fängt Petrus wieder zu sprechen an, wie am Pfingsttag. Er erklärt diesen Menschen das
Evangelium: Nicht menschliche Kraft hat diesen Gelähmten geheilt, es ist die Kraft Gottes,
die Kraft der Versöhnung und Neuschöpfung, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist.
Liebe Gemeinde, hier zeigt sich auch für uns der Unterschied zwischen Religion und
Glaube an Jesus. Das Evangelium ist nicht nur ein schönes Wort oder eine Tradition oder
eine kirchliche Einrichtung. Es ist die kraftvolle Botschaft von der Versöhnung mit Gott. Im
Namen Jesu werden Menschen verändert und geheilt. Wo Jesus gegenwärtig ist, da werden
die Strukturen dieser alten Welt durchbrochen. Da geschieht Heilung und Erneuerung im
umfassenden Sinn. Da werden nicht nur Pflästerli verteilt, sondern Menschen wirklich neu.
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Da begnügt man sich nicht damit, dass das Problem der Drogensüchtigen einfach von der
Strasse verschwindet, sondern da werden Menschen frei von den quälenden Zwängen, unter
denen sie jahrelang gelitten haben. Da gibt es neues Leben für eine kranke Welt. Ein
Lichtstrahl auf die neue Welt, die Gott schafft.
Religion, das ist ein von Menschen organisierter Betrieb. Religion ist ein bisschen
Almosen für einen gelähmten Bettler, ein bisschen Trost für arme Seelen. Religion ist
Diskussion über Weltprobleme, moralische Ratschläge. Im schlimmsten Fall ist Religion
Verurteilung und Selbstüberhebung: Du bist selber schuld an deinem Zustand, du musst dein
Schicksal tragen! Oder: Mir würde so etwas nie passieren! Religion sagt zu diesem
Gelähmten: Du musst halt mehr beten, probiers doch mal mit Meditation oder autogenem
Training! Ganz anders ist es, wenn wir Jesus Christus begegnen: Im Namen Jesu Christi von
Nazareth: Steh auf und geh umher! Dein Leben kann ganz neu werden, versöhnt mit Gott, du
darfst deine Last ablegen. Jesus ist nicht in diese Welt gekommen, um unseren religiösen
Betrieb ein bisschen zu bereichern. Er ist gekommen, um uns zu erlösen, uns die Fesseln
abzunehmen, um uns zu befreien von dem, was Krankheit und Sünde uns angetan haben.
Deshalb lesen und hören wir im Evangelium auf Schritt und Tritt, wie Kranke geheilt, böse
Mächte ausgetrieben und Menschen mit Gott versöhnt werden.
Das Evangelium ist nicht nur ein Betäubungsmittel, das unsere Schmerzen ein bisschen
lindert. Es ist kein Schlafmittel, um die Probleme dieser Welt zu vergessen. Es ist auch nicht
nur eine Moral, die aus uns anständige Menschen macht. Es ist die frohe Botschaft, dass Gott
alles neu macht. Es ist die kraftvolle, neumachende Aktion Gottes, die verlorene Menschen
rettet, die Therapie für eine kranke Welt. Eine Welt, die gelähmt ist durch die Sünde; eine
Welt, die stirbt am Egoismus der Menschen; eine Welt, die wie ein Aidskranker von einem
Virus befallen ist, der alles durchdringt und all unsere Heilungsanstrengungen immer wieder
zunichte macht. Gottes Therapie in Jesus Christus lindert nicht nur ein bisschen die
Schmerzen, oder zögert den Verlauf der Krankheit ein bisschen hinaus; nein sie heilt und
macht ganz neu. Durch Gottes Geist dürfen wir ein neues Herz bekommen. Und weil Gott
der Schöpfer ist, kann er auch neue Kraft in unsere ermüdeten Glieder bringen, uns neu
aufstehen lassen gegen alle Resignation.
So haben sich die ersten Christen verstanden. Als eine Gemeinschaft von neuen
Menschen; von Menschen, die durch Gottes Wirken geheilt worden sind. Als ein „Stosstrupp
des Lebens“ in einer vom Tod gezeichneten Welt. Sie erlebten, wie Jesus vom Tod
auferstanden ist, wie er Kranke heilte und böse Geister vertrieb. Und sie rechneten mit diesen
Zeichen auch als Jesus nicht mehr leiblich bei ihnen war. Sie waren überzeugt: Nichts kann
dieses neue Leben aufhalten, das Gott gibt. Und darum waren sie auch bereit, ihren Besitz
zusammenzulegen und füreinander zu sorgen. Darum versammelten sie sich täglich zum
Gebet in den Häusern und erzählten auch im Tempel von den grossen Taten Gottes, waren
erfüllt von Freude und Lobpreis über diesen grossen Gott, der alles neu macht.
Aus dieser Glaubensüberzeugung heraus waren sie dann auch in der Lage, diesem Bettler
mehr anzubieten als ein paar Batzen: ein ganz neues Leben. Ich frage mich in meiner Arbeit
oft: Was kann ich den Menschen wirklich weitergeben? Oft fehlt mir der Mut, so direkt ein
Wunder von Gott zu erwarten. Dabei hat er sich doch nicht geändert. Nur wir trauen ihm oft
so wenig zu und meinen, wir müssten alles aus unseren menschlichen Quellen machen. Vor
einigen Jahren erzählte ein afrikanischer Pfarrer aus Uganda folgende Begebenheit: Damals
noch unter der Schreckensherrschaft von Idi Amin, wo die Christen hart verfolgt wurden,
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brachte eine Mutter ihren gelähmten Sohn in eine dieser geheimen christlichen
Versammlungen. Und dieser Pfarrer bekam den Mut, diesem jungen Mann wie Petrus im
Namen Jesu Heilung zuzusprechen. Und es geschah genau gleich wie in der
Apostelgeschichte: der Junge bekam wieder Kraft und konnte wieder gehen. Das blieb
natürlich seinem Vater nicht verborgen. Was aber die Christen nicht gewusst hatten, dass
dieser geheilte Junge der Sohn des berüchtigten Geheimpolizeichefs am Ort war. So
rechneten diese Christen mit dem Schlimmsten, ja dass sie erschossen würden. Und es
geschah wie erwartet, Soldaten der Geheimpolizei tauchten in dieser christlichen
Versammlung auf. Aber als dieser Pfarrer ihnen erzählte, nicht er, sondern Jesus habe diesen
jungen Mann geheilt, da waren sie so beeindruckt, dass sie ihrem Chef davon Bericht
erstatteten. Und von da an kamen immer wieder Polizisten und Soldaten zu den Christen,
weil auch sie die Kraft Gottes erleben wollten. Und der Geheimpolizeichef liess die Christen
gewähren.
Liebe Gemeinde, wir dürfen nicht meinen, die ersten Christen oder auch etwa diese
Christen in Afrika seien halt etwas Besonderes gewesen. Auch sie waren und sind nur
gewöhnliche Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern. Aber was wir wieder neu lernen
müssen: dass wir einen grossen Gott haben, dem wirklich nichts unmöglich ist. Wir müssen
wieder lernen, nicht nur auf Silber und Gold zu bauen, auf Dinge, die wir Menschen machen
können, auf unsere Technik, unseren Verstand, auf die Medizin und was auch immer wir mit
Geld kaufen können, sondern dem Schöpfer zu vertrauen, von dem alles kommt. Unsere
kranke Welt braucht die heilende Kraft Gottes. Unsere Kirche, unsere Gesellschaft braucht
Erneuerung aus dem Geist Gottes. Begnügen wir uns nicht mit ein bisschen AlmosenBetrieb. Erwarten wir und glauben wir, dass Gott sein Reich baut, auch heute, unter uns und
eines Tages alles neu macht.
Amen.
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