Grippeviren auf der Überholspur

Werbung
S c h we r p u n kt
Grippeviren auf der Überholspur
Das H1N1-Virus – fälschlicherweise als
Schweinegrippe bezeichnet – ist in aller Munde. Vor drei Jahren war es das
Virus H5N1, die Vogelgrippe. Über die
Entstehung der neuen Viren sind sich
die Forscher nicht einig: Ist die Massentierhaltung schuld oder das enge
Zusammenleben von Mensch und
Tier? Klar ist, dass die industrielle Tierhaltung, die Globalisierung und die
weltweite Reisetätigkeit massgeblich
für die Verbreitung von Seuchen verantwortlich sind.
n von Nadja Brodmann
Viren sind sehr wandlungsfähige Partikel. Sie enthalten Erbsubstanz, sind
aber für ihre Vermehrung auf lebende
Zellen höherer Lebewesen angewiesen – Viren sind somit Parasiten. Ihre
grosse Verbreitung quer durchs Pflanzen- und Tierreich belegt, dass sie ein
sehr erfolgreiches Vermehrungskonzept entwickelt haben.
Influenza-Viren:
: für Austritt aus
Wirtszelle
H bzw. N sind
Eiweisse in der
Das Schwein als «Mischgefäss»
Influenza-Viren von Vögeln springen
nur selten auf Menschen über; dies
gilt auch für die Vogelgrippe H5N1.
Schweine hingegen sind sehr empfänglich sowohl für Grippeviren von
Vögeln als auch von Menschen. Daher
besteht die Gefahr, dass verschiedene
Influenza-Viren in einem Schwein
zusammentreffen und Erbmaterial
austauschen. Dadurch können völlig
neue Viren entstehen, die unter Umständen dem Menschen gefährlich
werden. Das schlimmste Szenario:
Ein Vogelgrippe-Virus trifft in einem
Schwein auf ein menschliches Grippevirus und mutiert zu einem völlig
neuen Virus, das die Gefährlichkeit
der Vogelgrippe und gleichzeitig die
leichte Übertragbarkeit der saisonalen Wintergrippe besitzt. Das Schwein
dient dabei quasi als «Mischgefäss».
Dies geschah so 1957 und 1968 bei
den letzten zwei Pandemien sowie vermutlich auch 1918, als die «Spanische
Grippe» über 20 Millionen Menschen
dahinraffte.
Die «neue Schweinegrippe» ist eine
Menschengrippe
Das Schweinegrippe-Virus enthält
Gene von Schweinen, Vögeln und
Virushülle.
(Quelle: Buch
„Viren“, Walter
Doerfler,
www.fischer-
Menschen. Es wurde im März 2009
zum ersten Mal in Mexiko festgestellt und entstand vermutlich auch in
einem Schwein. Genetische Analysen
deuten darauf hin. Wie, wann und wo
die Übertragung auf den Menschen
stattfand, ist aber ungewiss. Allerdings grassiert der Erreger primär unter Menschen, nicht unter Schweinen.
Daher ist der Name Schweinegrippe
völlig irreführend, es handelt sich wie
bei der saisonalen (Winter-)Grippe
um eine Menschengrippe. Sie wird
korrekt als A/H1N1 bezeichnet, kurz
H1N1 genannt. Eine mutmassliche
Übertragung von infizierten Bauern
auf ihren Schweinebestand fand nur
in wenigen Einzelfällen statt. Deutsche Forscher konnten im Juli durch
eine experimentelle Infektion von
Schweinen mit dem H1N1-Virus belegen, dass auch die Tiere empfänglich
und untereinander ansteckend sind.
Der Krankheitsverlauf war aber sehr
milde.
Eine Pandemie wird «erkoren»
Das Umgekehrte, eine Übertragung
des H1N1-Virus von Schweinen auf
Menschen, sollte theoretisch funktionieren, ist aber wissenschaftlich nicht
belegt. Unter Menschen verbreitet sich
: für Eintritt in
Wirtszelle
kompakt.de)
Auch Wale können «Schweinegrippe» bekommen.
Influenza-A-Viren bei Walen, Pferden
und Schweinen
Viele Viren haben sich auf bestimmte
Wirte spezialisiert. Allerdings gab es
schon immer Viren, die den Graben
zwischen verschiedenen Tierarten
überspringen konnten. Die grösste
Bedeutung kommt den Grippeviren
zu, den sogenannten Influenza-AViren. Denn auch Tiere können an
Grippe erkranken, so z.B. Schweine,
Nutz- und Wassergeflügel, Pferde,
Nerze, Seehunde und Wale. Auch das
Vogelgrippe-Virus (H5N1) oder das
neue «Schweinegrippe-Virus» (H1N1)
zählen zu den Influenza-A-Viren.
2 Tier & Konsum Nr. 4 | 2009
Bernice Wuethrich (Science 299, 2003):
i
«Die nordamerikanische Schweinegrippe hat auf eine evolutionäre
Überholspur gewechselt – jedes Jahr bringt sie am Laufmeter neue
Varianten hervor».
Die «echte» Schweinegrippe:
Influenzaviren des Schweins
sind weit verbreitet, haben
aber mit dem aktuell unter
Menschen grassierenden A/
H1N1-Virus nichts zu tun. Die
Symptome der Schweine sind
ähnlich wie bei Menschen:
plötzliches Fieber, Mattigkeit,
Husten («Bellen»), Nasenausfluss, Bindehautentzündungen und Atembeschwerden.
Seuchen breiten sich in Massentierhaltungen explosionsartig aus.
Bild: Copyright Daniel Hauenstein/OceanCare
Panikmache oder ernsthafte Gefahr?
Mit dem Auftreten von H1N1 werden
Erinnerungen an die Vogelgrippe in
Europa im Herbst/Winter 2005/06
wach. Einige Leute gerieten in Panik,
hamsterten Atemschutzmasken und
kauften unter der Hand rezeptpflichtiges Tamiflu. Wie gross ist die Bedrohung der Menschheit wirklich? Damals litt vor allem das Geflügel unter
dem Auslaufverbot und den Massenabschlachtungen. Bei der «Schweinegrippe» wurde nur in Ägypten das Virus als Vorwand genommen, um die
rund 400‘000 «unreinen» Schweine
der christlichen Minderheit auszumerzen. Doch nun geht die Angst
um, das H1N1-Virus könnte sich
verändern und so gefährlich werden,
dass es Mensch (und Schwein) massenhaft dahinrafft wie 1918 bei der
Hypothese 1: Massentierhaltungen als Brutstätten
Influenzaviren werden durch Tröpfcheninfektion verbreitet. Wenn
massenhaft Tiere auf engstem Raum zusammengepfercht werden, dann
sind in sehr kurzer Zeit sehr viele Wirtswechsel und eine beschleunigte
Generationenabfolge der Viren möglich. Dadurch steigt das Risiko für
eine gefährliche Mutation oder eine Vermischung verschiedener Viren.
Bild: jochen.westermann
das Virus rasant. Am 11.6.09 rief die
WHO (Welt-Gesundheits-Organisation) eine Pandemie aus. Hierzu wurde
eigens der Paragraf gestrichen, dass es
sich dabei um ein gefährliches Virus
handeln müsse. Weltweit sind in den
ersten fünf Monaten gemäss WHO
über 160‘000 Personen erkrankt und
1‘154 gestorben, allerdings meist Personen mit angeschlagenem Immunsystem. Diese Zahl ist im Vergleich zur
saisonalen Grippe mit jährlich rund
einer Million Toten aber sehr gering.
Mensch und Tier leben vielerorts unter einem Dach.
Hypothese 2: Enges Zusammenleben von Mensch und Tier
Risikofaktoren für die Entstehung von neuartigen Viren sind das enge Zusammenleben von Menschen und Tieren unter schlechten hygienischen
Verhältnissen und ungünstigen klimatischen Bedingungen. Dies ist z.B.
in Südostasien der Fall, wo ganze Familien zusammen mit Hühnern und
Schweinen unter einem Dach leben und verschiedenste Viren aufeinandertreffen. Auch Lebendtiermärkte gelten als problematisch bezüglich
Virenaustausch zwischen Menschen und Tieren.
S c h we r p u n kt
Christian Griot
(Eidg. Institut für Viruskrankheiten und Immunprophylaxe, IVI):
«Ich halte es für eine grosse Spekulation, dass das A/H1N1-Virus in den gigantischen Schweinefabriken entstanden sein soll. Ich denke, es ist ein Zufall, dass das Virus gerade dort entdeckt
wurde. Meist sind Hygiene und Tierkontrolle gerade in Massentierhaltungen auf hohem Standard, weil das Schadenausmass beim Eindringen von Krankheiten enorm ist. Als viel grössere
Gefahren erachte ich z.B. die Klimaerwärmung oder die Globalisierung. Durch den weltweit
gestiegenen Mehrbedarf an tierischen Produkten sind ganze Regionen neu für die Tierhaltung
genutzt worden, z.B. in Urwaldgebieten. Dort kommen eine Vielzahl von Lebewesen vor, die Viren in sich tragen, dabei nicht
krank werden, jedoch das Virus auf Nutztiere übertragen können. So ist das NIPAH-Virus in Südostasien von Fledermäusen auf
Schweine übertragen worden und hat die Krankheit beim Schwein wie auch beim Menschen ausgelöst. »
Spanischen Grippe. Dagegen spricht
klar, dass die Menschen damals vom
Krieg geschwächt waren und dass
sich die hygienischen Umstände und
die medizinische Versorgung in den
letzten 90 Jahren massiv verbessert
haben. Zudem können heutzutage Risikogruppen dank Impfstoffen besser
geschützt werden.
Vogelgrippe, Schweinegrippe... Gibt
es Gründe für die Entstehung immer neuer Virusepidemien? Die Meinungen in Forschungskreisen gehen
weit auseinander. Die zwei wichtigsten Hypothesen sind einander auf
Seite 3 gegenübergestellt.
Bild: piensaclaro_panoramio
Entstehung der Schweinegrippe
Gemäss Hypothese 1 soll das H1N1Virus in den riesigen Schweinefabriken
Immer neue Virusepidemien
in der Nähe von La Gloria im Staat
Auch wenn sich H1N1 nicht zu einem
Veracruz in Mexico entstanden und
Killervirus entwickelt, so bleibt die
über stinkende Gülleseen auf die BeFrage, ob wir uns nicht in einer imvölkerung übertragen worden sein. Dimer schneller drehenden Seuchenese Tierfabriken «Granjas Carroll» gespirale befinden: Aids, Ebola, Sars,
hören zum weltweit grössten
Schweinefleisch-Konzern,
der Smithfield Foods, USA.
Gemäss Hypothese 2 wäre
das H1N1-Virus vermutlich
schon seit mehreren Jahren
unerkannt unter Schweinen
zirkuliert und weiter mutiert,
nachdem es durch ein triple
reassortement
entstanden
war (Verschmelzung von
Schweine-, Vogel- und Menschengenen in einem Virus).
Danach wurde es auf den
Menschen zurück übertragen – wann genau und wo
dies geschah, ist unbekannt.
Sicher ist nur, dass das neu
gemischte Virus in dieser
Form aktuell nicht in den
Die riesige Schweinefabrik „Granjas Caroll“ in Mexico gehört zum
Schweinebeständen zirkuweltweit grössten Schweinezucht- und Schweinefleischverarbeiliert.
tungsbetrieb „Smithfield Foods“ mit Sitz in Virgina, USA.
4 Tier & Konsum Nr. 4 | 2009
Wo liegt die Wahrheit?
Erwiesen ist, dass Tiere in tierfreundlicher Haltung und mit viel Auslauf
robuster sind und über ein stärkeres
Immunsystem verfügen als Artgenossen in Tierfabriken. Dort werden
Unmengen an Antibiotika eingesetzt,
was gefährliche Resistenzen zur Folge hat. Sicher ist aber auch, dass die
besten Abwehrkräfte nichts nützen,
wenn ein hoch ansteckendes Virus zuschlägt. Einig sind sich alle, dass der
Schaden einer Virusepidemie in einer
Massentierhaltung viel dramatischer
ausfällt als in einer kleinbäuerlichen
Haltung.
Industrielle Tierhaltung als VirusVehikel
Die Massentierhaltung spielt generell
eine wichtige Rolle in der Verschleppung von diversen Krankheiten. Durch
die zunehmende Globalisierung, den
weltweiten Handel mit Spermien,
Jung-, Zucht- und Schlachttieren, Eiern, Fleisch und Fleischprodukten,
Federn und Fellen, mit Futter und Exkrementen sowie durch die Zentralisierung der Schlachtung können Viren
und andere Erreger im Nu über den
ganzen Erdball verbreitet werden. Das
aktuelle H1N1-Virus ist sehr leicht
von Mensch zu Mensch übertragbar
und hat in wenigen Wochen die Erde
umrundet. Verantwortlich dafür ist in
erster Linie die rege Reisetätigkeit von
Geschäftsleuten und Touristen. Falls
das Virus auf Schweine übergreift,
Bild: Institut für Virologie, Tierspital Zürich
S c h we r p u n kt
Grippekranke Schweine mit Atemproblemen nehmen oft die sog. Hundesitz-Stellung ein.
Tiere mit viel Auslauf sind robuster und verfügen über ein
stärkeres Immunsystem als ihre Artgenossen in Tierfabriken.
dürfte es genauso schnell die Tierbestände rund um den Globus verseuchen.
Gefährlicher Virenaustausch zwischen Mensch und Schwein
Da Menschen und Schweine physiologisch sehr ähnlich sind, können
Viren wie H1N1 leicht überspringen.
Zur Zeit ist der Krankheitsverlauf
milde, Schweine sind kaum betroffen.
Dies kann sich aber gemäss Christian
Griot schlagartig ändern: «Je mehr
Leute angesteckt werden, die Kontakt
zu Schweinen haben, desto grösser
wird das Risiko, dass das Virus auch
i
unter Schweinen zu zirkulieren beginnt. Dies muss durch gezielte Hygienemassnahmen verhindert werden».
Sonst könnte das Virus im Schwein
durch Mutation oder Vermischung
mit anderen Viren gefährlicher für
Mensch und Schwein werden. Dann
wären wir gleich weit wie bei der Vogelgrippe: Massenabschlachtungen
von infizierten Tieren, prophylaktische Ausmerzungen und Berge von
Tierkadavern wären die Folge. Die
Tierfabriken würden für das Leid der
Tiere aus der Tierseuchenkasse entschädigt und womöglich noch davon
profitieren.
Die aktuelle H1N1-Grippe ist eine
Menschengrippe und keine
Vogelgrippe «Schweinegrippe»
Name: - Aviäre Influenza, H5N1
- Influenza A/H1N1
Wirt: - Geflügelseuche - Menschenkrankheit
Übertragbarkeit: - sehr schwer auf Mensch
übertragbar
Schweinegrippe.
- sehr leicht von Mensch
zu Mensch übertragbar
Verlauf beim Tier: - sehr ernsthaft, bei Nutzgeflügel - sehr milder Verlauf, selten Todes
meist Todesfolge (fast 100%)
folge bei geschwächten Tieren
Verlauf beim
- sehr ernsthaft, oft mit Menschen:
Todesfolge (80% der Fälle)
- sehr milder Verlauf, meist nur
Todesfolge bei sehr
geschwächten Menschen
Gefahr: - leichtere Übertragbarkeit
von Geflügel auf Mensch
- schwererer Verlauf bei
Mensch und/oder Schwein
(z.B. durch Mutation)
Tier & Konsum Nr. 4 | 2009 5
Herunterladen