Hinweise zur Einführung in rationalen Sprachgebrauch und

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Hinweise zur Einführung in rationalen Sprachgebrauch und rationale Argumentation
Zusammengestellt von Dr. A. Brauneis
Germanistische Literaturwissenschaft, Universität Fribourg (CH), 2017
I. Text
Eine wissenschaftliche Untersuchung begründet eine Hypothese in intersubjektiv nachvollziehbarer
Weise durch rationale Argumentation. Solche Untersuchungen sind gemeinhin unterteilt in Einleitung, Hauptteil und Schluss.
In der Einleitung wird der Gegenstand1 der Untersuchung vorgestellt und die untersuchungsleitende Hypothese formuliert. Letztere kann als Behauptung oder Frage formuliert werden. Anschliessend wird die Art und Weise, in der Sie eine Behauptung zu begründen beziehungsweise eine Frage
zu beantworten beabsichtigen, skizziert. Sie klären ihre LeserInnen in ihrer Einleitung also, bildlich gesprochen, nicht nur über die Ziele ihrer Untersuchung auf, sondern legen auch die Schritte dar, die
Sie zu gehen beabsichtigen, um diese Ziele zu erreichen. Sie klären ihre LeserInnen in der Einleitung
ferner über die bedeutungs- und interpretationstheoretischen Annahmen auf, auf die Sie sich bei
ihrer Untersuchung stützen sowie über die begrifflichen Instrumente, derer Sie sich zu bedienen beabsichtigen, um ihre Untersuchung durchzuführen.2
Im Hauptteil bemühen Sie sich um eine deduktive Begründung ihrer untersuchungsleitenden
Hypothese. Leitend ist hierbei die Frage: Wenn meine Hypothese richtig ist, was muss dann der Fall
sein/wie muss mein Gegenstand beschaffen sein? Diese Frage beantworten Sie im Hauptteil ihrer
Untersuchung, indem Sie ihren LeserInnen durch Bildung und Verknüpfung einer Reihe von Argumenten eine bestimmte Auffassung von dem Gegenstand ihrer Untersuchung nahelegen – eben die
Auffassung, die Sie einleitend als untersuchungsleitende Hypothese formuliert haben.
Die argumentative Begründung ihrer Hypothese sollte durch eine fortlaufende Kommentierung
ihres Vorgehens begleitet werden, damit für ihre LeserInnen an jedem Punkt (gedanklichen Abschnitt) ihrer Untersuchung deutlich ist, was Sie gerade aus welchen Gründen sagen, d.h. in welchem
Begründungszusammenhang ihre jeweiligen Aussagen mit ihrer Hypothese stehen.
Der Schluss ihrer Untersuchung resümiert den Gang derselben: Sie fassen ihre Argumentation
zusammen, um deutlich zu machen, mit welchen Gründen sich die Richtigkeit ihrer Hypothese behaupten lässt.
TEXTFASSUNGEN: Die sprachliche präzise und argumentativ konsistente und kohärente Begründung
einer Hypothese erfordert nicht nur einen analytisch disziplinierten Verstand, sondern auch viel
Übung. In den seltensten Fällen (eigentlich nie) bringt die erste schriftliche Fassung der Begründung
einer Hypothese einen wissenschaftliche Standards befriedigenden Text hervor. Erfahrungsgemäss
1
2
Der Begriff Gegenstand wird hier und im Folgenden (wie es in der Philosophie üblich ist) gebraucht, um
konkrete Dinge, abstrakte Dinge, Situationen, Sachverhalte und Handlungszusammenhänge zu bezeichnen. In diesem Sinne kann etwa das Verfassen eines Romans ebenso Gegenstand sein wie der Roman (das
konkrete Ding) selbst.
Cf. hierzu Tilmann KÖPPE/Simone WINKO: „Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft.“ Handbuch
Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Thomas Anz Hg. Stuttgart et al., 2007, S. 285–372,
hier S. 285–289. Zur weiterführenden Lektüre ist zu empfehlen: Harald FRICKE: „Methoden? Prämissen?
Argumentationsweisen! Überlegungen zur Konkurrenz wissenschaftlicher Standards in der Literaturwissenschaft.“ Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der
„Theoriedebatte“. Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt Hg. Stuttgart, 1992, S. 211–227.
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Zusammengestellt von A. Brauneis, Fribourg, 2017
sind zwei Fassungen erforderlich, um einen solchen Text zu schaffen; zu empfehlen sind drei Fassungen:
(i) Sie verfassen eine Rohfassung der Begründung ihrer Hypothese. Diese Fassung sollte Ihnen
dazu dienen, durch die Verschriftlichung ihrer Gedanken eine möglichst klare Vorstellung von ihrer
Untersuchung zu gewinnen.
(ii) In einer Neufassung der Begründung ihrer Hypothese bemühen Sie sich dann um eine
sprachlich präzise und argumentativ konsistente und kohärente Begründung ihrer Hypothese. Diese
Fassung ist vergleichsweise schneller geschrieben als die Rohfassung. Sie wissen nun schon ungefähr,
worauf Sie hinaus wollen und haben auch schon eine Ahnung davon, wie Sie dahin kommen. Wichtiger noch ist aber, dass Sie jetzt auch schon wissen oder zumindest wissen sollten, worauf Sie nicht
hinaus wollen und wie Sie nicht an ihr Ziel kommen beziehungsweise welche Schritte sich auf dem
Weg an ihr Ziel als überflüssig herausgestellt haben. Dementsprechend kürzer fällt die Neufassung
gegenüber der Rohfassung in der Regel auch aus.
(iii) In der schriftlichen Endfassung ihrer Untersuchung bemühen Sie sich dann noch um eine
sprachlich ansprechende Präsentation ihrer Gedanken. Die Neufassung ihrer Gedanken sollte deutlich gemacht haben, was Sie sagen wollen. Wenn das erstmal geschafft ist, können Sie sich Gedanken
darüber machen, ob das, was klar geworden ist, auch schön lesbar ist. In diesem Stadium ist aber
darauf zu achten, dass Sie keine argumentativen Rückschritte machen. Die sprachliche Sublimierung
ihrer Gedanken darf unter gar keinen Umständen zu Lasten der argumentativen Substanz ihrer Untersuchung gehen.
STILISTISCHE HINWEISE: (i) Sätze sollten kurz und einfach strukturiert sein; Hypotaxen sollten Sie nur mit
Bedacht konstruieren. (ii) Auf Fremdwörter sollten Sie nach Möglichkeit verzichten; Sie riskieren
damit unnötige Bedeutungsverwirrung. (iii) Auch auf Metaphern sollten Sie nach Möglichkeit verzichten oder diese nur mit Bedacht konstruieren. Hier gilt im Besonderen, was für den Gebrauch von
Sprache im Allgemeinen gilt:
Sprache ist ein Instrument, dessen wir uns bedienen, um uns darüber zu verständigen, was in
der Welt der Fall ist (oder sein sollte) oder wie es sich mit etwas verhält. Wenn Sie Wörter benutzen
und Sätze formulieren, dann muss klar sein, worauf Sie sich mit ihren sprachlichen Zeichen beziehen
und was Sie über Gegenstände auszusagen beabsichtigen. Diese Art disziplinierter Sprachverwendung ist leider (auch in der Wissenschaft) die Ausnahme. Allzu oft werden Gedanken zu Gegenständen und auch die Gegenstände selbst eher vage umschrieben, als präzise zum Ausdruck gebracht
respektive bezeichnet.
Wenn Sie Metaphern verwenden, sollten Sie deren Bedeutung erläutern, ansonsten riskieren Sie
gegenstandslose Aussagen zu machen. Der Satz ‚1914 ist ein Krieg (der so genannte Erste Weltkrieg)
ausgebrochen.‘ ist, allgemeinsprachlich verstanden, sinnlos. ‚Krieg‘ ist ein Begriff, der dazu dient,
bestimmte Konfliktsituationen zu bezeichnen. Eine Situation kann nicht, wie es im Beispielsatz der
Fall ist, Subjekt einer Handlung sein. Der Satz ist also gegenstandslos. Schlimmer noch, der Satz
täuscht über die eigentlich handelnden Subjekte hinweg. Dies bedeutet aber nicht, dass man den
Satz nicht sinnvoll verwenden kann. Man kann den Satz verwenden, um bestimmte Annahmen darüber, wie es sich mit etwas (dem Ersten Weltkrieg) verhält, in einem sprachlichen Bild pointiert zu
fassen. Wenn Sie Metaphern so zu verwenden beabsichtigen, müssen Sie ihre Bedeutung aber erläutern. Wenn ich zum Beispiel sage ‚1914 ist ein Krieg (der so genannte Erste Weltkrieg) ausgebro-
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chen.‘, dann könnte ich damit zum Beispiel zu verstehen geben wollen, dass ich der Ansicht bin, dass
die beteiligten Parteien, die einander 1914 den Krieg erklärt haben, schnell die Kontrolle über das
Geschehen verloren haben und dieses Geschehen eine gewisse (ihrerseits näher zu erläuternde) Eigendynamik entwickelt hat. Dies wäre eine These, die es zu begründen und zu diskutieren gälte. So
könnte man zum Beispiel sagen: ‚In Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und
im Schatten wird in Form eines kontrafaktischen historischen Romans der Ausbruch eines Krieges
thematisiert.‘ Nun wäre zu erläutern, was mit dieser Metapher (d.h. in diesem Fall der bildlichen
Formulierung einer Hypothese) gemeint ist. Gemeint sein könnte: ‚In Christian Krachts Roman Ich
werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wird in Form eines kontrafaktischen historischen
Romans eine Eigendynamik kriegerischer Handlungen thematisiert, die die Handlungsvollmacht der
am Geschehen beteiligten Akteure suspendiert.‘ Diese Formulierung ist schon etwas klarer als die
ursprüngliche Metapher, bedarf aber immer noch der Erläuterung.
Der hier in Rede stehende Sachverhalt sei noch an einem zweiten Beispiel erläutert:3 Wenn Sie
sagen: ‚Durch Christian Krachts Roman Imperium wird LeserInnen der Verlust von Wirklichkeit erfahrbar.‘, ist dieser Satz, allgemeinsprachlich interpretiert, unverständlich. Das Wort ‚Wirklichkeit‘ bezeichnet keinen konkreten Gegenstand, den man verlieren könnte! Die Metapher vom ‚Verlust der
Wirklichkeit‘ wäre also zu erläutern. Gemeint sein könnte zum Beispiel, dass der Roman seine LeserInnen darüber verunsichert, was wirklich ist, weil in der fiktionalen Welt, von der er erzählt, eine
eindeutige Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem nicht möglich ist. Nun wäre zusätzlich zu erläutern, weshalb man der Ansicht sein kann, dass diese Verunklarung der Zuordnung von Zeichen und
Bezeichnetem das Gefühl von Wirklichkeitsverlust vermittelt. Man könnte sich hier auf die Annahme
stützen, dass wir das als wirklich empfinden, was wir eindeutig mittels sprachlicher Zeichen identifizieren und klassifizieren können. Insofern im Fall der fiktionalen Welt, von der der Roman erzählt,
eine eindeutige Identifikation und Klassifikation von Gegenständen mittels sprachlicher Zeichen nicht
möglich ist, gibt der Roman seinen LeserInnen das Gefühl von Wirklichkeitsverlust. LeserInnen des
Romans können eine fiktionale Wirklichkeit – verstanden als die Gesamtheit der fiktionalen Gegenstände des Romans – im Fall von Imperium nicht beschreiben, weil sie die Gegenstände der fiktionalen Welt nicht eindeutig identifizieren und klassifizieren können. Von einem Verlust der Wirklichkeit
wäre dabei insofern zu sprechen, als sich die Erkenntnis, dass die sprachliche Beschreibung der fiktionalen Welt unmöglich ist, erst allmählich einstellt, LeserInnen also zunächst der Annahme sein können, sie wüssten, was in der fiktionalen Welt wirklich ist, d.h. was der Fall ist.
3
Das folgende Beispiel beruht auf einem Argument von Adrienne FEHR: „‚[...] in manchen Momenten ist
ihm, als entgleite ihm die ohnehin recht brüchige Realität [...]‘.“ Fribourg, 2017 [masch.], S. 1–3.
3
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II. Sprachgebrauch
SATZ: Ein Satz ist als solcher semantisch abgeschlossen. Als semantisch abgeschlossene Einheit wird
ein bestimmter Typ von Sätzen durch Aussagen darüber, dass etwas der Fall ist oder dass es sich mit
etwas in bestimmter Weise verhält, konstituiert. Die Bedeutung dieser Aussagesätze besteht aus
einem Gedanken und der Behauptung der Wahrheit dieses Gedankens.4
→
Versichern Sie sich stets der Bedeutung jedes einzelnen ihrer Sätze!
PRÄDIKATION: Aussagen darüber, was der Fall ist oder wie es sich mit etwas verhält, werden mit Hilfe
von Prädikaten formuliert. Prädikate erfüllen Klassifikationszwecke: Um über einen Gegenstand unter vielen Gegenständen im Besonderen zu sprechen, grenzt man diesen Gegenstand möglichst
trennscharf mit Hilfe von Prädikaten von anderen Gegenständen ab. Ein und derselbe Gegenstand
kann durch Prädikate eingegrenzt werden, deren Verwendung sich nicht logisch-semantisch ausschliesst. Ein Gegenstand kann, anders gesagt, nicht durch zwei Prädikate eingegrenzt werden, deren
Verwendung sich logisch-semantisch ausschliesst. Wenn eine eindeutige Prädikation schwierig oder
gar nicht möglich ist, dann ist die Verwendung eines Prädikats zu präzisieren, d.h. es ist darüber aufzuklären, inwiefern ein bestimmter Gegenstand unter einen bestimmten Begriff fällt (dazu später).5
LOGISCH-SEMANTISCHE IMPLIKATION: Einen Satz zu verstehen, bedeutet zu verstehen, unter welchen
Bedingungen dieser Satz wahr ist. Im Falle eines singulären prädikativen Satzes bedeutet dies, dass
der Satz wahr ist, wenn der Gegenstand unter den Begriff fällt, mit dem er bezeichnet wird. Die
Wahrheitsbedingungen eines Satzes ziehen bestimmte logische Implikationen nach sich.6 Diese logischen Implikationen ergeben sich daraus, dass die Wahrheit eines Satzes von der Wahrheit anderer
Sätze abhängt.7 Logische Implikationen ergeben sich also aus dem semantischen Verhältnis von Sätzen.8
→
4
5
6
7
8
4
Versichern Sie sich stets der logisch-semantischen Implikationen ihrer Sätze! Anders gesagt: Bedenken Sie immer, die Wahrheit welcher Sätze durch die Sätze, die sie formulieren, logisch-semantisch impliziert wird. Wenn Sie nicht genau darauf Acht geben, was Sie
sagen und was durch das, was Sie sagen, logisch-semantisch impliziert wird, dann gehen
Sie das Risiko ein, sich in Widersprüche zu verwickeln. Aber Achtung: Widerspruchsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit argumentativer Kohärenz. Eine Reihe von Sätzen kann
gänzlich widerspruchsfrei sein und zugleich können die Sätze dieser Reihe in keinem argumentativen Zusammenhang miteinander stehen. Versichern Sie sich stets des argu-
Cf. Ernst TUGENDHAT/Ursula WOLF: Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart, 2016 [1983], Kap. 2.
Cf. TUGENDHAT/WOLF: Logisch-semantische Propädeutik, Kap. 5.
So wird zum Beispiel der Satz ‚Christian Krachts Roman Imperium ist ein komischer Roman.‘ durch den
Satz ‚Alle Romane von Christian Kracht sind komische Romane.‘ logisch impliziert.
Der Satz ‚Alle Romane von Christian Kracht sind komische Romane‘ ist nur dann wahr, wenn die Sätze
‚Christian Krachts Roman Faserland ist ein komischer Roman.‘, ‚Christian Krachts Roman 1979 ist ein komischer Roman.‘ usw. wahr sind.
Cf. TUGENDHAT/WOLF: Logisch-semantische Propädeutik, Kap. 6, insb. S. 100sq.
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mentativen Zusammenhangs ihrer Sätze und des argumentativen Zusammenhangs ihrer
Argumente (dazu später)!
KOMPLEXE SÄTZE: Komplexe Sätze sind zusammengesetzte Sätze. Hier interessiert nur ein bestimmter
Typ komplexer Sätze: die Kausalsätze. Ein Kausalsatz hat die Form ‚weil p, so q‘, wobei die Buchstaben p und q als Satzsymbole zu interpretieren sind. Die Wahrheit von Kausalsätzen hängt nicht allein
von der Wahrheit ihrer Teilsätze ab. Wahr ist ein Kausalsatz nur dann, wenn ein Teilsatz, der eine
Aussage formuliert, die eine andere Aussagen begründen soll, tatsächlich einen Grund für diese Aussage formuliert (zur Frage, wie man solche Begründungszusammenhänge herstellt, s.u.).9
→
Achten Sie bei der Formulierung ihrer Sätze auf die Verwendung von Adverbien wie also,
folglich, demzufolge, demnach, somit/damit, mithin! Diese Adverbien dienen dem
Zweck, Begründungszusammenhänge zwischen verschiedenen Sätzen herzustellen. Sie
müssen sich bei der Verwendung dieser Adverbien also sicher sein, dass Sie tatsächlich
zwei Sätze miteinander in einen Begründungszusammenhang setzen wollen. Eine unachtsame Verwendung dieser Adverbien kann schnell zu Verwirrung darüber führen, was
Sie zu verstehen geben wollen.
BEGRIFF: Ein Gegenstand fällt unter einen Begriff, wenn der generelle Terminus10, dessen Verwendung
zusammen mit anderen generellen Termini, die in derselben Weise verwendet werden, das Begriffsverständnis definiert, auf diesen Gegenstand zutrifft.11
→
Versichern Sie sich stets der sachlichen Angemessenheit der Bezeichnung eines Gegenstands durch einen Begriff. In fachsprachlichen Äusserungszusammenhängen ist der Gebrauch von Begriffen in den seltensten Fällen unkontrovers. Reflektieren Sie also ihre
Begriffsverwendung unter dem Gesichtspunkt ihrer sachlichen Begründetheit und geben Sie Gründe für ihre Begriffsverwendung an. Dies gilt unabhängig davon, ob Sie einen eingeführten Begriff übernehmen oder einen Begriff selbst explizieren, um ihn zum
Gebrauch einzuführen. Auch wenn Sie einen Begriff (z.B. aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft) übernehmen, muss deutlich sein, mit welchen Gründen Sie
diesen Begriff gebrauchen, um etwas zu bezeichnen.
Eine reflektierte und reflektierende Begriffsverwendung ist deshalb so wichtig, weil fachsprachliche
Begriffe oft nicht nur dem Zweck dienen, Gegenstände zu identifizieren und zu klassifizieren. Wenn
dies immer so wäre, dann würde hier nur gelten, was oben schon gesagt wurde: Bemühen Sie sich
um eine präzise, d.h. in ihrer Identifikation und Klassifikation von Gegenständen trennscharfe Begriffsverwendung. Hinzu kommt nun jedoch, dass viele fachsprachliche Begriffe nicht allein dem
Zweck dienen, Gegenstände zu klassifizieren (im Sinne einer Beschreibung dieser Gegenstände). Mit
9
10
11
Cf. TUGENDHAT/WOLF: Logisch-semantische Propädeutik, Kap. 7.
Cf. TUGENDHAT/WOLF: Logisch-semantische Propädeutik, S. 94: „Ein singulärer Terminus ist ein Ausdruck,
der die Funktion hat, einen einzelnen Gegenstand zu bezeichnen; ein genereller Terminus ist ein Ausdruck, der die Funktion hat, Gegenstände zu klassifizieren und zu unterscheiden.“
Cf. TUGENDHAT/WOLF: Logisch-semantische Propädeutik, Kap. 8.
5
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vielen Begriffen wird zugleich etwas über die Bedeutung der Gegenstände ausgesagt, die man mit
diesen Begriffen identifiziert und klassifiziert (im Sinne einer Interpretation dieser Gegenstände).
Solche Begriffe sind interpretationstheoretisch nicht-neutral. Sie müssen sich immer darüber im Klaren sein, ob die Begriffe, die Sie verwenden, bestimmte Annahmen über die Bedeutung der Gegenstände, die Sie identifizieren und klassifizieren wollen, implizieren.12
12
6
Zur weiterführenden Lektüre ist zu empfehlen: Tom KINDT/Hans-Harald MÜLLER: „Wieviel Interpretation
enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie.“ Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Fotis Jannidis et al. Hg. Berlin/New York, 2003, S. 286–304.
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III. Hypothetisch-deduktives Vorgehen
InterpretInnen fiktionaler Literatur verfahren hypothetisch-deduktiv. Nachdem Sie sich einen ersten
Eindruck von ihrem Gegenstand verschafft haben, beginnen Sie mit der Formulierung einer (Interpretations-)Hypothese. Aus dieser Hypothese ergeben sich bestimmte Folgerungen, die Sie sich klar
machen müssen: Sie leiten Folgerungen aus ihrer Hypothese ab, indem Sie sich – gestützt auf bestimmte (literaturtheoretische) Vorannahmen (s.u.) – die Frage beantworten: ‚Was muss der Fall
sein, wenn meine Hypothese richtig ist?‘ Anschliessend überprüfen Sie diese Folgerungen anhand
von konkreten Textdaten. Sie überprüfen also, ob sich die Folgerungen, die Sie aus ihrer Hypothese
abgeleitet haben, durch konkrete Textdaten stützen lassen. Hierbei schliessen Sie vom ‚Allgemeinen‘
auf das Besondere, verfahren also deduktiv, insofern Sie bestimmte Annahmen über ihren Gegenstand machen und diese Annahmen mit Blick auf die Eigenschaften dieses Gegenstands überprüfen.13
Solche Annahmen können mehr oder weniger allgemein sein. Sie können zum Beispiel eine Hypothese über einen Roman von Christian Kracht formulieren und diese dann durch die Analyse (s.u.)
dieses Romans überprüfen. Sie könnten aber auch eine Annahme über alle Romane von Christian
Kracht formulieren: ‚Alle Romane von Christian Kracht besitzen die Eigenschaft F.‘ und diese Annahme anhand eines konkreten Texts überprüfen. Diese beiden Annahmen unterscheiden sich in
ihrem Allgemeinheitsgrad. Die erste Annahme bezieht sich auf einen konkreten Text und kann zumindest prinzipiell durch die Analyse dieses Texts hinreichend begründet werden: Wenn Sie von der
Annahme ausgehen: ‚Christian Krachts Roman Imperium ist ein komischer Roman.‘, dann ist der Befund, dass Christian Krachts Roman Imperium ein komischer Roman ist, hinreichend, um ihre Annahme zu begründen. Die zweite Annahme bezieht sich auf eine bestimmte Textgruppe (‚alle Romane von Christian Kracht‘). Wenn Sie nun zu dem Schluss gelangen, dass Christian Krachts Roman
Imperium die Eigenschaft F besitzt, dann ist dies notwendig, um ihre Annahme begründen zu können.
Der Befund ist aber noch nicht hinreichend. Sie müssten des Weiteren zeigen, dass auch alle anderen
Romane von Christian Kracht die Eigenschaft F besitzen.
Hypothetisch-deduktives Interpretieren literarischer Texte kann man als eine Form von analytischer Bedeutungsrekonstruktion im Sinne einer Verknüpfung bedeutungstragender Teile eines Ganzen (etwa eines Texts) interpretieren:14 Sie identifizieren und klassifizieren bedeutungstragende Elemente in einem Text und bringen diese am Leitfaden einer Hypothese, die im Verlauf ihrer Interpretationsarbeit womöglich modifiziert werden muss, in einen logisch-semantischen Zusammenhang.15
Ein analytischer Zugriff ist interpretationstheoretisch neutral: Unabhängig davon, nach welcher Bedeutung Sie fragen, wenn Sie einen Text interpretieren und welche Vorgehensweise Sie dabei verfolgen, kann man Bemühungen um die Rekonstruktion von Bedeutung als analytisch bezeichnen, wenn
13
14
15
Cf. Dagfinn FØLLESDAL: „Hermeneutik und die hypothetisch-deduktive Methode.“ Hermeneutik. Basistexte
zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation. Axel Bühler Hg. 2., durchgesehene Auflage. Heidelberg, 2008, S. 157–176. Zur weiterführenden Lektüre ist zu empfehlen: Fotis JANNIDIS: „Analytische Hermeneutik. Eine vorläufige Skizze.“ Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Uta Klein/Katja Mellmann/Steffanie Metzger Hg. Paderborn, 2006, S. 131–144.
Cf. Peter F. STRAWSON: Analyse und Metaphysik. Eine Einführung in die Philosophie. München, 1994 [1992],
S. 33–34.
Zur weiterführenden Lektüre ist zu empfehlen: Tilmann KÖPPE: „Prinzipien der Interpretation – Prinzipien
der Rationalität. Oder: Wie erkundet man fiktionale Welten?“ Scientia Poetica 9 (2005): 310–329.
7
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diese bedeutungstragende Elemente identifizieren, klassifizieren und in einen logisch-semantischen
Zusammenhang bringen.
WissenschaftstheoretikerInnen haben eine Reihe von Kriterien zur Beurteilung der Güte literaturwissenschaftlicher Interpretationen formuliert. Auf diese Kriterien muss hier nicht im Einzelnen
eingegangen werden. Festgehalten sei an dieser Stelle nur: Eine Interpretation muss widerspruchsfrei sein und sollte möglichst viele Textdaten in einen logisch-semantischen Zusammenhang miteinander bringen, d.h. dem literarischen Text positive Kohärenz16 nachweisen. Je mehr Textdaten eine
Interpretation vor dem Hintergrund bestimmter Vorannahmen über die Bedeutung literarischer
Texte in logisch-semantischen Zusammenhang miteinander bringt, desto besser ist diese Interpretation, verglichen mit anderen Interpretationen, d.h. mit anderen Interpretationen, die von denselben
(literaturtheoretischen) Vorannahmen ausgehen, aber weniger Textdaten in einen logisch-semantischen Zusammenhang miteinander bringen.
Hypothesen entstehen nicht ohne bestimmte (literaturtheoretische) Vorannahmen.17 Es wäre
stark vereinfacht, wollte man sagen, man gewänne eine Hypothese dadurch, dass man sich einen
ersten Eindruck vom Gegenstand verschafft, also in unserem Fall: einen Text liest. Wenn Sie einen
Text lesen und anschliessend eine Hypothese über dessen Bedeutung formulieren, dann tun Sie dies
vor dem Hintergrund mehr oder weniger grundlegender und/oder weitreichender Annahmen. Über
diese Hintergrundannahmen müssen Sie nicht nur sich selbst Klarheit verschaffen. Sie müssen auch
ihre LeserInnen über ihre Hintergrundannahmen informieren. Dies ist deshalb so wichtig, weil solche
Hintergrundannahmen weitreichende Folgen für die Auffassung davon haben können, worin die Bedeutung eines literarischen Texts besteht. Dementsprechend kontrovers können solche Hintergrundannahmen sein. So könnte man zum Beispiel der Annahme sein, dass literarische Texte in der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Problemen entstehen, man die Bedeutung eines Texts
also nur verstanden hat, wenn man verstanden hat, wie sich der Text zu einem bestimmten Problem
(z.B. Industrialisierung und der mit ihr verbundenen Pauperisierung) verhält. Man könnte etwa auch
der Ansicht sein, dass ein Text sich je nach Klassenlage seines Autors affirmativ oder kritisch zur herrschenden gesellschaftlichen Ordnung verhält. Man wäre dann also der Auffassung, dass man die
Bedeutung des Texts nur dann verstanden hat, wenn man verstanden hat, inwiefern sich in diesem
Text die gesellschaftspolitischen Interessen seines Autors ausdrücken.
16
17
8
Von der positiven Kohärenz eines Texts spricht man, wenn die Sätze, aus denen dieser Text besteht, in
einem gedanklichen Zusammenhang stehen. Von negativer Kohärenz spricht man demgegenüber, wenn
die Sätze eines Texts sich zwar nicht wechselseitig wiedersprechen, aber auch nicht in einem gedanklichen
Zusammenhang stehen. Nehmen Sie etwa den folgenden Text: ‚Peter erscheint am Montag nicht zu seiner
Verabredung mit Marianne. Am Mittwoch hat Peter es versäumt, seine Seminararbeit pünktlich
abzugeben. Am Samstag stellt Ingrid fest, dass Peter nicht eingekauft hat, wie er es ihr versprochen hatte.‘
Wenn Sie nun die Annahme formulieren: ‚Peter ist ein unzuverlässiger Mensch.‘, dann können Sie mit
dieser Annahme den Text als kohärent im positiven Sinne ausweisen, da alle drei Handlungen den
Tatbestand der Unzuverlässigkeit erfüllen. Wenn Sie hingegen die Annahme formulieren: ‚Peter ist ein
unzuverlässiger Student.‘, dann könnte man diese Annahme durch den zweiten Satz bestätigt finden. Die
anderen Sätze würden dieser Annahme nicht widersprechen, sie würden diese Annahme aber auch nicht
bestätigen. Diese Lesart würde also nur zum Befund negativer Kohärenz führen.
Zur weiterführenden Lektüre ist zu empfehlen: Werner STRUBE: „Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation.“ Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik. Paul Michel/Hans Weder Hg. Zürich, 2000, S. 43–67.
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Argumentation18
ARGUMENTATION: Eine Argumentation beginnt (i) mit einer Hypothese, i.e. einer Behauptung oder
Vermutung darüber, was der Fall ist oder wie es sich mit etwas verhält. Das Ziel der Argumentation
ist die Begründung dieser Hypothese. Um eine Hypothese zu begründen, werden (ii) Tatsachen (z.B.
Textdaten) bezeichnet, die als Begründung der Hypothese gelten sollen. Tatsachen können eine Hypothese aber nur dann begründen, wenn sich diese Tatsachen mit der Hypothese in einen Begründungszusammenhang bringen lassen, wenn die Tatsachen, bildlich gesprochen, mit einer hypothetischen Aussage darüber, was der Fall ist oder wie es sich mit etwas verhält, in erklärender Absicht
verknüpft werden können. Ein solcher Begründungszusammenhang wird (iii) durch Verknüpfungsregeln hergestellt. Solche Regeln sind als Gründe zu interpretieren, die dazu berechtigen, von bestimmten Tatsachen auf bestimmte hypothetische Annahmen darüber, was der Fall ist oder wie es sich mit
etwas verhält, zu schliessen. Dies leisten Verknüpfungsregeln als Annahmen darüber, was der Fall ist
oder wie es sich mit etwas verhält.19 Solche Annahmen können, wie die Hypothesen, die man mit
Hilfe dieser Annahmen durch Tatsachen begründen will, mehr oder weniger kontrovers sein. Grundsätzlich gilt: (a) Es muss immer klar sein, welchen Verknüpfungsregeln Sie folgen, wenn Sie bestimmte Tatsachen anführen, um Hypothesen zu begründen. Bennen Sie also ihre Verknüpfungsregeln ausdrücklich! (b) Geben Sie immer Gründe dazu an, mit welchen Gründen Sie eine Verknüpfungsregel verwenden.
Letzt genannter Punkt sei an einem Beispiel kurz verdeutlicht: Wenn Sie einen literarischen Text
zum Beispiel psychoanalytisch interpretieren, dann können Sie bestimmte Textdaten als Begründung
einer Hypothese anführen, indem Sie sich auf die von Siegmund Freud formulierte These stützten,
‚Fiktionale handlungsdarstellende Literatur sei der Ausdruck unbefriedigter Wünsche.‘ Sie könnten
zum Beispiel behaupten: ‚Die Erzählung verrät einen Ödipuskomplex.‘ und nennen bestimmte Textdaten: ‚Der Held tötet einen Drachen und rettet die Prinzessin.‘ Jetzt werden Sie sich die Frage gefallen lassen müssen, mit welchem Recht Sie sich bei ihrer Behauptung auf diese Textdaten stützen.
Nun könnten Sie antworten: ‚Ich folge hier Siegmund Freud in der Annahme, dass fiktionale handlungsdarstellende Literatur Ausdruck unbefriedigter Wünsche ist.‘ Wenn wir, der Einfachheit halber,
davon ausgehen, dass Sie bereits durch ein anderes Argument gezeigt haben, dass der Autor einen
Ödipuskomplex hat, können Sie mit Hilfe dieser Verknüpfungsregel diesen Ödipuskomplex in dem
Text des Autors ausgedrückt finden. Wenn man mit Freud davon ausgeht, dass fiktionale handlungsdarstellende Texte immer Ausdruck unbefriedigter Wünsche sind, dann kann man das Handeln des
Ritters als Erfüllung des unbefriedigten Wunschs eines Autors, der einen Ödipuskomplex hat, interpretieren, eben des Wunsches, die Liebe der Mutter nicht mit dem Vater teilen zu müssen. Nun, und
das ist der springende Punkt, wird man Ihnen entgegnen: ‚Ja, ja, das mag ja alles formal stimmig sein,
aber das Problem ist doch ein ganz grundlegendes: die Verknüpfungsregel ist falsch, handlungsdarstellende fiktionale Literatur ist nicht Ausdruck unbefriedigter Wünsche.‘ Um diesem Einwand vorzubeugen, müssten Sie die Verknüpfungsregel ihrerseits begründen. Diese Arbeit müssten Sie hier nicht
18
19
Zum Folgenden cf. Herbert SCHNÄDELBACH: „Philosophische Argumentation.“ Philosophie. Ein Grundkurs.
Ekkehard Martens/H.Sch. Hg. Reinbek b.H., 1985, S. 480–504, hier S. 489–494.
Stephen E. TOULMIN: Der Gebrauch von Argumenten. Kronberg, Ts., 1975, S. 89 nennt Verknüpfungsregeln
in diesem Sinn „allgemeine, hypothetische Aussagen, die als Brücken dienen können“, um von Behauptungen über Tatsachen zu bestimmten Schlussfolgerungen zu gelangen.
9
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selbst leisten. Sie könnten sich auf Siegmund Freuds Begründung seiner These in dem Aufsatz „Der
Dichter und das Phantasieren“ (1908) stützen.
Wenn Sie eine Hypothese formuliert, Daten zusammengetragen und diese durch eine Verknüpfungsregel mit ihrer Hypothese in einen Begründungszusammenhang gebracht haben, (iv) resümieren Sie diesen Begründungszusammenhang in einer Schlussfolgerung. Wenn diese Schlussfolgerung
keine logisch zwingende ist, dann ist die Berechtigung der Verknüpfung bestimmter Tatsachen mit
einer Hypothese in einem Begründungszusammenhang mit einem modal Operator (vermutlich, mit
hoher Wahrscheinlichkeit etc.) zu qualifizieren. Die Verwendung solcher modal Operatoren kann
man mit der Formulierung von Ausnahmebedingungen verbinden. (Man würde dann zum Beispiel
sagen: ‚p ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit richtig, wenn q nicht richtig ist.‘)
Argumentations-Beispiel20:
Gegenstand: Christian Krachts Roman Faserland (1995).
i.
ii.
Hypothese: Der namenlose Protagonist ist auf der Flucht vor sich selbst.
Textdaten:
(a) Der Protagonist spricht über die eigene Person, als wäre sie ein Gegenstand, der nicht mit
seinem Selbst identisch ist. (b) Der Protagonist konzentriert sich in seinem Erzählerbericht auf
sinnlich unmittelbar wahrnehmbare Gegenstände. (c) Bei aller Konzentration auf sinnlich unmittelbar wahrnehmbare Gegenstände vermeidet der Protagonist die sinnlich unmittelbare Anschauung der eigenen Person, weil er den Anblick der eigenen Person als unangenehm zu empfinden scheint. (d) Der Protagonist konsumiert beinahe ohne Unterbrechung Alkohol und nennt
sich selbst an einer Stelle einen Alkoholiker.
Beachten Sie: Jede dieser vier Aussagen müsste eigens begründet werden, um in einem Argument als Grund für die obige Hypothese angeführt werden zu können; wobei die Begründungen
unterschiedlich anspruchsvoll wären. Der Einfachheit halber gehen wir davon aus, dass diese
vier Aussagen bereits begründet worden sind.
iii. Verknüpfung: Zu fliehen bedeutet, vor etwas auszuweichen, das man als unangenehm oder als
nicht zu bewältigen empfindet.
Wenn jemand (a) die Beschäftigung mit der eigenen Person als Beschäftigung mit dem eigenen
Selbst vermeidet, kann man zumindest vermuten, dass er sich selbst ausweicht. Anders gesagt:
Die Vermeidung der Beschäftigung mit der eigenen Person als Beschäftigung mit dem eigenen
Selbst könnte Ausdruck des Ausweichens vor dem eigenen selbst sein (muss es aber nicht sein).
In dieser Vermutung sieht man sich im Fall des Protagonisten von Faserland dadurch bestärkt,
dass der Protagonist (b) der eigenen Person als dem eigenen Selbst nicht nur keine Aufmerksamkeit schenkt, sondern zugleich allen anderen Gegenständen grosse Aufmerksamkeit schenkt.
Diese auffällige Diskrepanz stärkt den Verdacht, er weiche sich selbst aus. Dieser Verdacht wird
des Weiteren dadurch gestärkt, (c) dass der Protagonist die sinnlich unmittelbare Anschauung
der eigenen Person bewusst vermeidet, weil er den Anblick der eigenen Person als unangenehm
zu empfinden scheint. Die Frage liegt nahe, ob die Vermeidung der Beschäftigung mit der eige20
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Das folgende Beispiel beruht auf einem Argument von Celine SCHEIDEGGER: „Faserland – Die Flucht.“ Fribourg, 2017 [masch.], S. 1.
Hinweise zur Einführung in rationalen Sprachgebrauch und rationale Argumentation
Zusammengestellt von Dr. A. Brauneis
Germanistische Literaturwissenschaft, Universität Fribourg (CH), 2017
iv.
nen Person als dem eigenen Selbst dem gleichen Unbehagen entspringt. Die Vermutung, dass
die eigene Existenz dem Protagonisten tatsächlich unangenehm ist und er der Beschäftigung mit
sich selbst deshalb ausweicht, wird (d) durch die Tatsache, dass er nahezu ununterbrochen Alkohol konsumiert, insofern gestützt, als Alkohol eine das Selbst-Bewusstsein des Menschen betäubende Droge ist und Alkoholiker in der Regel Menschen sind, die sich durch die eigene Existenz überfordert fühlen.
Schlussfolgerung: Der Protagonist von Christian Krachts Roman Faserland weicht vermutlich vor
sich selbst aus (flieht vor sich selbst), weil ihm die Beschäftigung mit der eigenen Person als dem
eigenen Selbst unangenehm ist, da er sich durch die Existenz des eigenen Selbst überfordert
fühlt.
Zu diesem Argumentationsbeispiel sei zweierlei bemerkt: In den hier nur grob skizzierten
Begründungszusammenhang liessen sich zum einen noch weitere Textdaten integrieren. Das Argument ist in dieser Form aber in sich abgeschlossen: Die Behauptung, der Protagonist fliehe vor
sich selbst, lässt sich ohne Angabe über die Gründe seiner Überforderung durch die eigene Existenz begründen, wenn man die obige allgemeinsprachliche Definition des Dudens von Flucht zugrunde legt. Von einer erschöpfenden Interpretation würde man aber zum anderen wohl noch
die weiterführende Angabe von Gründen darüber erwarten, weshalb sich der Protagonist durch
die eigene Existenz überfordert fühlt. Die Angabe solcher Gründe würde ihrerseits die Hypothese zur Flucht des Protagonisten vor sich selbst stützen.
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Hinweise zur Einführung in rationalen Sprachgebrauch und rationale Argumentation
Zusammengestellt von A. Brauneis, Fribourg, 2017
Lektüreempfehlungen
EIBL, Karl. Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte.
München, 1976.
FRICKE, Harald/Rüdiger ZYMNER. Einübung in die Literaturwissenschaft. Parodieren geht über
Studieren. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. Paderborn, 2007.
GABRIEL, Gottfried. Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und
Wissenschaft. Stuttgart, 1991.
JESSING, Benedikt. Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums. Stuttgart, 2001.
TUGENDHAT, Ernst/Ursula WOLF. Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart, 2016.
WEIMAR, Klaus. Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. München, 1980.
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