1 Frauen in den Hindureligionen – Ein Dasein voller Widersprüche

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Manuskript
radioWissen
Frauen in den Hindureligionen – Ein Dasein voller Widersprüche
AUTORIN:
Margarete Blümel
REDAKTION: Bernhard Kastner
Zitator:
Als Prinz Rama von seinem Vater für vierzehn Jahre ins Exil geschickt wird, will der
Königssohn seine Frau Sita in ihrer Heimatstadt zurücklassen. Sita aber kann Rama
davon überzeugen, sie mitzunehmen. Denn der Ehemann, sagt sie, sei für eine Frau ein
Gott und ihr Leben ohne ihren Gatten habe für sie keinerlei Bedeutung Einiges später
wird Sita von einem Dämon entführt. Der Affengott Hanuman erklärt sich dazu bereit,
Sita auf seinem Rücken zu Rama zurückzubringen. Wie, fragt Sita, könne sie einem
anderen Mann als ihrem Gatten erlauben, sie zu berühren? Und: Solle sie etwa zulassen,
dass Rama dann um die Ehre ihrer Rettung gebracht werde?
O-Ton Prof. Birgit Heller:
Sita ist ein Frauenideal seit der klassischen indischen Zeit, ist eine der großen Figuren,
die in dem Epos Ramayana vorkommen, also die weibliche Hauptfigur.
Erzählerin:
So die Indologin Professor Birgit Heller von der Universität Wien. Bis heute kennt in
Indien jedes Kind dieses National-Epos. Die im Ramayana porträtierte Sita ist zum
Inbegriff der treuen und ihrem Ehemann vollkommen ergebenen Frau geworden. Wie
keine andere Figur in der hinduistischen Mythologie vereint Sita die Qualitäten in sich, die
eine ideale Gattin auszeichnen. Eine Frau, die ihr Wohlergehen immer mit dem
Wohlergehen anderer identifiziert, insbesondere mit dem des Gatten und dem ihrer
Kinder.
O-Ton Birgit Heller:
Generell ist das klassisch-brahmanische Frauenideal die gute Ehefrau, die ihrem Mann
dient, ihrem Mann ihr Leben weiht, die sich ihm hingibt, die, ja, es geht so weit, dass
man eigentlich sagt, die Hochzeit ersetzt für eine Frau die religiöse Initiation. Sie ist ihre
religiöse Initiation und die Religion der Frau besteht im Dienst an ihrem Ehemann. Also,
auf den Punkt gebracht würde das heißen: Gattendienst ist Gottesdienst für die Frau –
also das ist die Vorstellung der Brahmanen.
O-Ton Urvashi Butalia:
It is rooted in hinduism … religion is politically imposed as a political ideology.
Overvoice 1:
All das ist im Hinduismus begründet, einer Religion, die hierzulande alles dominiert.
Dieser Glaube ist zu einer Ideologie geworden, die unsere Politiker für ihre Zwecke
nutzen.
Erzählerin:
Ergänzt die Historikerin und Frauenrechtlerin Urvashi Butalia aus Delhi:
O-Ton Urvashi Butalia:
Therefore it becomes even worse because … So all of those things have to do with
religion.
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Overvoice 1:
Selbst Hindus, die ihren Glauben kaum oder gar nicht praktizieren, unterliegen diesem
Diktat. Politiker und Presse machen ihnen weis, dass mit ihnen etwas nicht stimmt und
dass sie sich dieser Ideologie anzuschließen haben. Auch wenn wir eigentlich einem
modernen, säkularen Land angehören – diese religiöse Tünche haftet in Indien allem an.
Erzählerin:
Das Hochzeitsbuffet mit den vegetarischen Speisen, dem Reis und den gefüllten
Fladenbroten ist mit fliegensicheren Gittern abgedeckt. Die Gäste – die Herren in
Tuchhosen und Jackett, die Damen in Seiden- oder Brokat-Saris – hängen an den Lippen
des Priesters, der einen Behälter mit geklärter Butter über einer Feuerstelle schwenkt
und Sanskrit-Texte. Ihm gegenüber sitzen der angehende Ehemann und die ganz in rot
gekleidete Braut auf einem Podest. Die junge Frau starrt gesenkten Blicks und mit
undurchdringlicher Miene vor sich hin.
O-Ton Birgit Heller:
Еs gibt alte Texte, die heute noch im Hochzeitsritual verwendet werden, wo zum Beispiel
ein Hymnus an Indra, eine der wichtigen vedischen Gottheiten, gerichtet ist. Und in
diesem Hymnus wird um hundert Söhne für die Braut gebetet. Die Tochter gilt auch in
dieser Zeit schon als ein Jammer und der Sohn ist eben das Licht in der Himmelswelt.
Das erklärt sich dadurch, dass der Vater in der Vorstellung lebt, dass er in seinem
eigenen Sohn eigentlich wiedergeboren wird und dafür die Frau einfach auch benötigt
wird und sie wichtig für ihn ist.
Erzählerin:
Im Kern sind die religiösen Traditionen aus den Hindureligionen, die meist übergreifend
als 'Hinduismus' bezeichnet werden, patriarchalisch. Ihre Sozialstrukturen, ihre
maßgeblichen Werte und Verhaltensnormen werden von Männern geprägt. Nicht nur die
'Initiative und Schöpferkraft', so die Definition des Religionswissenschaftlers Friedrich
Heiler, auch die Leitung der religiösen Organisationen liege stets in den Händen der
Männer. Dieser durchaus korrekten Aussage muss man jedoch unverzüglich ein anderes
wichtiges Zitat an die Seite stellen:
Zitator:
Heute weiß man, ohne dies zugeben zu wollen, dass der Hinduismus nichts weiter ist, als
eine von der europäischen Wissenschaft gezüchtete Orchidee. Sie ist viel zu schön, um
sie auszureißen, aber sie ist eine Retortenpflanze. In der Natur gibt es sie nicht.
Erzählerin:
Eine Aussage von Professor Axel Michaels, Indologe und Leiter der Abteilung Kultur- und
Religionsgeschichte an der Universität Heidelberg. Professor Michaels plädiert dafür, nicht
vom 'Hinduismus' zu sprechen, sondern von den 'Hindureligionen'. Denn: Es gibt weder
verbindliche, religiöse Texte für die Gesamtheit der Hindus noch eine einheitliche
Doktrin:
O-Ton Birgit Heller:
Die Schwierigkeit ist, dass man eigentlich gar nichts verallgemeinern kann, weil es sich
hier de facto um verschiedene Religionen und religiöse Traditionen handelt, die vielleicht
nicht mehr miteinander zu tun haben als Islam, Christentum und Judentum. Ja, also es
gibt eine gewisse Verwandtschaft, gemeinsame Vorstellungen, aber darüber hinaus sehr
viele verschiedene Vorstellungen auch. Und insofern ist es sehr schwierig, überhaupt
etwas Allgemeines zu sagen. Man muss eigentlich immer dazu sagen, das gilt jetzt für
die klassisch-brahmanische Tradition der Hindureligionen, die mehr oder weniger
prägend sich auch auf das gesellschaftliche Zusammenleben ausgewirkt hat. Oder das
gilt für vishnuitische Traditionen, für shivaitische Traditionen und so weiter.
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Erzählerin:
So hat es in der Vergangenheit durchaus immer wieder Hindu-Frauen gegeben, die ihren
eigenen Weg gegangen sind. Manche von ihnen schworen dem Ideal der Gattin, die ihren
Ehemann wie einen Gott verehrt, ab und begaben sich auf den Pfad der Askese. Einige
dieser Mystikerinnen waren sehr populär und erfuhren große Verehrung:
O-Ton Birgit Heller:
Gerade in den vishnuitischen Traditionen haben etliche Mystikerinnen in der Geschichte
gelebt, die die Beziehung zu einem Gott, auch die eheliche Verbindung zu einem Gott als
Schutzmaßnahme mehr oder weniger auch verwendet haben, um sich einer irdischen Ehe
enthalten zu können. ja, also in dem Falle nimmt Gott die Stelle eines ungeliebten
irdischen Mannes ein. Und sie haben andere Möglichkeiten, andere Geschlechtsrollen
auch oder eine andere Rolle zu leben als nur die der hingebenden Ehefrau.
Erzählerin:
Ein Individualismus westlicher Prägung und emanzipatorische Bestrebungen lassen sich
aber bis heute nicht mit den Hindureligionen vereinbaren. Doch dass sich Frauen
innerhalb gewisser Grenzen für ihre Ziele eingesetzt haben, ist nicht neu:
O-Ton Birgit Heller:
Еs gab wichtige, sehr selbstbewusste, gebildete Frauen. Oft waren sie die Töchter, die
Schwestern von den Hindu-Reformern, die sich eben engagiert haben in den
Reformbewegungen, die eben auch sehr gefördert wurden von ihren Vätern, den Brüdern
und dergleichen, die sich dann auch eingesetzt haben. Also das ist so diese eine gebildete
Schicht von Frauen, die sich hier engagiert hat. Und dann gibt‘s eine zweite, nicht
weniger wichtige Wurzel für diese vielfältigen Bewegungen und das sind diese
sogenannten 'grassroot movements'. Beispielsweise – es soll ein Kraftwerk gebaut
werden und dadurch verlängert sich der Weg von Frauen, um das Brennholz zu sammeln
um Stunden am Tag, weil die Wälder dafür abgeholzt werden und dergleichen. Das war
ein wichtiger Anlass, dass eine ganz breite Bewegung sich formiert hat von Frauen, die
sich an die Bäume gekettet haben, um zu verhindern, dass sie gefällt werden. Und die
haben das auch wirklich erreicht, dass das Kraftwerk verlegt wurde.
Erzählerin:
Die Anthropologin Sunita Jain aus Delhi:
O-Ton Sunita Jain:
Within the hyrarchy of the caste system each caste ... It may not be so at all.
Overvoice 1:
Hinzukommt, dass selbst die verschiedenen Kasten und ihre Unterkasten ihre ureigenen
Gesetze, Praktiken und Normen haben. Der Status der Frauen bei den Brahmanen zum
Beispiel unterscheidet sich deutlich von der Position, die Frauen sonst oft innehaben.
Aber die Unterschiede machen sich manchmal auch daran fest, wo die Betroffenen leben.
Die Leute aus dem Norden etwa haben generell eine andere Haltung Frauen gegenüber
als die Bewohner des Südens. Im Süden Indiens befinden sich die Frauen in einer
ziemlich starken Position. Die Gesellschaft dort ist überwiegend matriarchalisch orientiert
und im Falle einer Erbschaft erhält grundsätzlich die Frau das Land oder was immer
hinterlassen wird. Ansonsten werden Sie überall in Indien die eine oder andere Variation
vorfinden. Problematisch wird es, wenn man versucht, das Ganze zu simplifizieren, also
zu sagen: So und nicht anders ist die Position der Frau in Indien. Damit liegen Sie falsch,
weil es sich immer wieder anders darstellt.
Erzählerin:
In vielen hinduistischen Traditionen herrscht die Überzeugung vor, dass die Erde, dass
der indische Subkontinent, eine Göttin ist und dass der Hindu diese wie seine eigene
Mutter anzusehen habe. 'Bharat Mata', 'Мutter Indien', gilt es zu ehren und
uneingeschränkt zu beschützen. Und die Göttin selbst kann, ohne dass ihr dies von den
anderen Göttern streitig gemacht wird, sagen: 'Alles, was ihr seht, bin ich'. Indiens
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heiliger Fluss, der Ganges, wird gern auch mit dem Beinamen 'Ganga Mata', 'Mutter
Ganges', geehrt. Die Urkraft ist weiblich. Hindu-Frauen leben, zumindest theoretisch, in
einem Umfeld, in dem traditionell auch Göttinnen verehrt werden.
O-Ton Sunita Jain:
We have this concept in hinduism ... But what we do with it is a separate story.
Overvoice 1:
Außerdem gibt es im Hinduismus das Konzept, dass der Körper eines Gottes aus einer
männlichen und einer weiblichen Hälfte besteht. Ich kenne keine andere Religion, die
Frauen einen so hohen Stand verliehen hätte. So sollte ein Mann, der an einer religiösen
Zeremonie teilhat, stets eine Frau an seiner Seite haben. Lebt seine Frau von ihm
getrennt oder ist sie krank, wird man für die Dauer der Zeremonie ein Bild von ihr neben
ihm aufstellen. Traditionell versetzt das Dharma, das für uns geltende göttliche Gesetz,
die Frau in eine ausgesprochen angesehene und einflussreiche Position. Doch wie diese
Theorie dann umgesetzt wird - das steht auf einem ganz anderen Blatt.
Erzählerin:
Vrindavan, hundertfünfzig Kilometer entfernt von Delhi. Aus ganz Indien kommen die
Anhänger der Gottheit Krishna an diesen Wallfahrtsort, um ihrem Gott Ehre zu bezeugen.
Vor allem Witwen aber suchen in Vrindavan Erlösung von ihrem Unglück. In den Tempeln
der Pilgerstadt bringen die Frauen Gott Krishna Bhajans, religiöse Lieder, dar. Die
Aktivistin Mohini Giri:
O-Ton Mohini Giri:
That is Sri Krishna's place and people think ... the myth is there. And also the third is
that they are all together there.
Overvoice 2:
Hier, in Krishnas Heimat, glaubt man, Befreiung vom Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt
zu finden. Und die Frauen haben das Gefühl, als seien sie mit Krishna 'verheiratet'. So
wie die Kuhhirtin Radha aus dem Radha-Krishna-Mythos. Außerdem sind die Witwen in
Vrindavan unter ihresgleichen.
Erzählerin:
Diese Frauen sind an ihren schmucklosen weißen Saris zu erkennen. Sie schauen
niemanden an, wenn sie durch die Gassen ziehen, um sich etwas zu essen zu erbetteln.
Witwen gelten häufig als Ballast, da sie keine Rente bekommen und kaum je zum
Einkommen der Familie beitragen können. Durch den Tod des Ehemannes werden sie
entwertet. Denn Gehorsamkeit, Treue, Hingabe und Unterordnung – die von der Frau
geforderten Tugenden, die sie in die Nähe der Glücksgöttin Lakhsmi rücken – zählen nach
dem Ableben des Mannes nicht mehr.
O-Ton Birgit Heller:
Frauen sorgen dafür, dass die Familie wohlhabend ist, dass der Familienernährer am
Leben bleibt, durch Gelübde zum Beispiel, und das Fastengelübde sind sehr verbreitet
unter indischen Frauen. Die eben auch so sozialisiert werden, dass sie im Grunde
genommen die Verantwortung für das Leben ihres Mannes haben – und vor allem für das
lange gesunde Leben ihres Mannes, was ihnen selbst zugutekommt. Denn wenn der
Mann stirbt, dann erwartet sie ein sehr freudloses Dasein als Witwe. Selbst wenn sie
asketisch lebt, ist das nicht unbedingt ein Leben, das sich eine Frau wünschen kann, weil
sie eigentlich sehr verbreitet noch als Unglücksbringerin gilt, nicht zu Festen eingeladen
wird und dergleichen.
Erzählerin:
Doch nicht nur Witwen haben es in Indien oft schwer. In Teilen des Landes, etwa im
Bundesstaat Karnataka, führen die sogenannten Devadasis ein trauriges Dasein. Die
Dienerinnen Gottes werden in ihrer Jugend rituell mit der Göttin Yellamma verbunden.
Sobald sie in die Pubertät gekommen sind, müssen sie den Anhängern ihrer Gottheit zu
Diensten stehen. Yellamma sei zu einer Göttin der Huren verkommen, klagen die Gegner
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des Yellamma-Kultes. Dies sei die traurige Wahrheit, bestätigt der Anthropologe
Professor Vinesh Srivatha aus Delhi. Früher oder später fielen die Tempeldienerinnen in
der Tat der Prostitution zum Opfer:
O-Ton Vinesh Srivastha:
The concept of prostitution is not there in the concept of devadasi... then these women,
they become prostitutes.
Overvoice 3:
Devadasis sind Dienerinnen Gottes und der Begriff Prostitution ist hier, vom Prinzip her,
völlig fehl am Platz. Aber wenn man das Ganze irdischen Zwecken überführt, wenn man
es sozusagen vermenschlicht, dann werden diese Frauen zu Prostituierten.
Erzählerin:
Traditionell umfassten die Pflichten einer Devadasi verschiedene Opferhandlungen für die
Gottheit, die rituellen Tänze und die Teilnahme an den religiösen Zeremonien. Doch weil
die Tempeldienerinnen in jedem Mann, der ihre Dienste beansprucht, die fleischliche
Inkarnation des Sohnes ihrer Göttin sehen, fühlen sie sich dazu verpflichtet, ihm auch
körperlich zu Diensten zu stehen. Die jungen Mädchen, die von den Eltern gegen ein
geringes Entgelt dem Tempel übergeben werden, dürfen nicht heiraten, müssen jedem,
der sich als Glaubensanhänger Yellammas ausgibt, zu Willen sein und landen irgendwann
schließlich in einem der Bordelle Mumbais oder Punes. Oft sind die Eltern der Betroffenen
arm. Und mancher Vater weiß seine Tochter immer noch lieber im Dienst der Göttin, als
sie nicht verheiraten zu können, weil er das Geld für ihre Mitgift nicht aufzubringen
vermag. Trotz diverser Kampagnen von lokalen und internationalen NichtRegierungsorganisationen gegen den Missbrauch der Devadasis, ungeachtet eines seit
vielen Jahren bestehenden Gesetzes gegen diese Praxis, übergeben Eltern ihre Töchter
nach wie vor den Tempeln der Yellamma.
O-Ton Vinesh Srivastha:
In spite of the fact that it has been abolished ...but there are women who have devoted
themselves to God.
Overvoice 3:
Obschon diese Praktiken verboten sind, bestehen sie auch jetzt noch. Noch immer finden
Sie Devadasis, Mädchen, die sich in dieser Weise an die Gottheit binden - auch wenn all
das inzwischen eher im Verborgenen blüht.
Erzählerin:
Von verstoßenen Witwen über Tempeldienerinnen bis hin zu Stammesangehörigen, die
im Matriarchat leben, den Familienbesitz erben und große Macht besitzen – die
Rollenpalette der Hindu-Frauen ist groß. Eine langjährige Premierministerin und eine
Polizeichefin gibt es, ebenso Priesterinnen und Pilotinnen – und die Frauen in den
Dörfern, die bis heute den Zipfel ihres Saris vors Gesicht ziehen, wenn ein Fremder des
Weges kommt. Auch wenn so manches Übel immer noch nicht ausgemerzt ist, hat sich
doch bereits mit und seit der Reformbewegung des Arya Samaj im neunzehnten
Jahrhundert die Situation der Hindu-Frauen spürbar verbessert. Arya Samaj verfocht eine
Rückkehr zum Hinduismus der vedischen Zeiten, einem Zeitraum, in dem Respekt, ja,
Hochachtung gegenüber Frauen an der Tagesordnung war. Die Bewegung setzte sich für
die Wiederverheiratung von Witwen ein und engagierte sich für die Ausbildung der
Mädchen. Später richteten die britischen Kolonialherren ihr Augenmerk unter anderem
darauf, die Tötung weiblicher Neugeborener und die Verheiratung von Kindern zu
unterbinden. Am Ende aber war es die Teilung Indiens, die eine einschneidende
Veränderung für das Leben vieler Inderinnen hinterließ: Nachdem die aus dem geteilten
Punjab und aus Bengalen stammenden Familien in Indien angesiedelt wurden, mussten
alle Erwachsenen mitarbeiten, um die Situation zu meistern. Die Familienväter konnten
es sich nicht mehr erlauben, ihre Töchter tatenlos zu Hause sitzen zu lassen, bis man ihre
Mitgift zusammengespart und ihre Hochzeit arrangiert hatte. Wer es zu etwas bringen
wollte, musste auch den weiblichen Familienmitgliedern die Aufnahme einer
Berufstätigkeit ermöglichen. Mittlerweile hat sich auch im ländlichen Indien einiges
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getan: So gibt es verschiedene Netzwerke, die Frauen in den Dörfern mithilfe von
Kleinkrediten und Trainingsprogrammen Verdienstquellen verschaffen. Und immer
weniger Hindu-Frauen geraten in Verzweiflung, weil ihr Neugeborenes ein Mädchen ist.
Besonders in den Städten stellt der arbeitslose Sohn eine größere Last dar, als eine
Tochter, die vielleicht einen Lohn nach Hause bringen kann. Und Inder, die von einem
Auslandsstudium oder dem Computerjob in ihre Heimat zurückkehren, suchen eine
kultivierte Frau, die ihre Bildung später an die gemeinsamen Kinder weitergeben wird.
Die Geschichte der Hindu-Frauen schließe sich wie ein Armreif, sagen Inderinnen wie
Sunita Jain und Urvashi Butalia. Weit entfernt vom Ideal der willfährigen Sita kehre sie
vielleicht schon bald an ihren Anfang zurück: zu der in den frühen Upanishaden
niedergeschriebenen Empfehlung für die Rituale, die ein Familienvater durchzuführen
hatte, um die segensreiche Geburt einer klugen Tochter sicherzustellen.
O-Ton Sunita Jain:
There is a huge change which you see in our big cities ... the religion influence is very
strong, it cannot go away.
Overvoice 1:
Vor allem in unseren großen Städten sind die Veränderungen deutlich sichtbar. Doch die
jungen Frauen, die sich jetzt für ein paar Jahre richtig ausleben und aus dem Westen
stammende Ideen und Ideale praktizieren, die sie nicht einmal richtig verstehen ...
Irgendwann werden sie wieder zur Besinnung kommen. Und der Einfluss unserer
Traditionen, unserer Religion, wird sich mit den neu gewonnenen Ansichten aus dem
Westen vermischen. Warum auch nicht? Wir müssen mit der Zeit gehen. Aber ich bin
sicher, es wird immer etwas geben, das diesen Fremdeinflüssen Einhalt gebietet, das
unseren Frauen sagen wird: Ich bin nicht so wie sie. Ich bin ich! Der Einfluss des
Hinduismus hier in Indien ist so groß - und daran wird sich auch nichts ändern.
O-Ton Urvashi Butalia:
The conservatism has not gone away ....Let's see how they deal with that.
Overvoice 1:
Die konservative Grundhaltung ist geblieben. Eltern aus der Mittelklasse gestehen ihren
Mädchen heute ein paar Freiheiten zu – solange klar ist, dass sie danach in ihr gewohntes
Umfeld zurückkehren. Das heißt, die jungen Frauen sollen innerhalb ihrer Kaste heiraten,
und, ob noch immer unberührt oder nicht, dann eine traditionelle Hochzeit feiern und
schließlich Kinder bekommen. Unsere Mädchen und Frauen erhalten also eine ganze
Reihe ziemlich widersprüchlicher Botschaften. Das ist gut so! Mal sehen, was sie daraus
machen!
ENDE
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