Kommentar Die Begründungsfalle Plädoyer für eine hermeneutisch ausgerichtete theologische Ethik Von Johannes Fischer In den Januar- und Februarausgaben der Wochenzeitschrift DIE ZEIT wurde unter Beteiligung namhafter Philosophen die ethische Problematik der Gewinnung und Nutzung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken diskutiert. Im Zentrum stand die Frage des moralischen Status menschlicher Embryonen. Zu den bemerkenswerten Aspekten der Diskussion gehörte die Tatsache, dass der Anspruch auf rationale Begründung bei dieser Frage offenbar an definitive Grenzen stösst. Letztlich geht es um eine Intuition, welche die Wahrnehmung menschlichen Lebens betrifft. Zum Wesen von Intuitionen aber gehört, dass sie keiner Begründung fähig sind. Man kann zwar Gründe suchen für das, was man intuitiv für richtig hält. Aber damit begründet man nicht die Intuition, sondern das für richtig Gehaltene. Was man allerdings tun kann, ist dies, dass man den orientierenden Sinn einer Intuition zu verstehen sucht, indem man konsequentialistisch fragt, was wäre und welche Folgen es hätte, wenn wir die betreffende Intuition nicht hätten oder wenn sie geschwächt würde. Was würde dies für den Umgang mit menschlichem Leben bedeuten? Daraus lässt sich dann möglicherweise ein Argument gewinnen gegen die Zulassung einer bestimmten Praxis, welche, wenn sie erst einmal allgemein eingeführt ist, aufgrund von Gewöhnung eine Schwächung der betreffenden Intuition zur Folge hätte. Was ist an dieser Beobachtung bemerkenswert? Die moderne Ethik ist begründungsorientiert. Sie hat teil an dem, was Ernst Tugendhat »die Radikalisierung des Begründungsgedankens«1 in der Moderne genannt hat, von der das wissenschaftliche Denken auch in anderen Bereichen geprägt ist. Im Falle der Ethik lässt sich das Begründungsdenken zurückführen auf die moderne Auffassung des Handelns. Während für die vormoderne, teleologische Auffassung des Handelns die Frage nach dem Worumwillen einer Handlung leitend war, ist die moderne Auffassung von der Warum-Frage geleitet. Die Antwort auf diese Frage hat dabei die dreifache Gestalt von Gründen, Motiven und Handlungsursachen. Orientierend sind dabei allein die Gründe, was sich daran zeigt, dass wir unsere Motive im Lichte von Gründen daraufhin beurteilen, ob sie gut oder schlecht sind und ob wir uns von ihnen bestimmen lassen wollen. Sich im Handeln orientieren heißt daher unter den Bedingungen der modernen Auffassung: sich anhand von Gründen orientieren. Davon ist das moderne Verständnis der Moral geprägt: »Die Moral versieht uns mit Gründen für unsere Handlungen.« 2 Die Gründe haben dabei die zweifache Gestalt von »Normen und Werten«. Dieses Dual lässt sich selbst noch aus dem Begründungsdiskurs rekonstruieren, den wir im Hinblick auf Handlungserwartungen oder Handlungsaufforderungen führen. Man Zeitschrift für Evangelische Ethik, 46. Jg., S. 163 – 167, ISSN 0044-2674 © Gütersloher Verlagshaus 2001 163 muss sich dazu vergegenwärtigen, dass die an einen anderen gerichtete Aufforderung, etwas Bestimmtes zu tun, zwei Arten von Warum-Fragen provoziert: Warum gerade er in dieser Situation das Betreffende tun soll; und warum das Betreffende überhaupt getan werden soll. Was die erste Frage betrifft, so muss die Antwort den Betreffenden und die Situation so von anderen Personen und Situationen unterscheiden, dass plausibel wird, warum gerade er in dieser Situation das Geforderte tun soll. Die Unterscheidungsmerkmale aber definieren Klassen von Personen und Situationen. Die Antwort auf die Frage, warum gerade er in dieser Situation das Geforderte tun soll, besteht folglich in einer Aussage von der Art, dass jeder in gleichartigen Situationen das Geforderte tun soll. Im Resultat ergibt sich die Form der Norm: Wenn eine Situation vom Typ s gegeben ist, ist eine Handlung des Typs h geboten, verboten, freigestellt. Was die zweite Frage betrifft, warum das Geforderte überhaupt getan werden soll, so reichen hier offenbar empirische Gründe, die auf Merkmale der beteiligten Personen oder der Situation Bezug nehmen, nicht aus. Im Blick auf einen jeden solchen Grund kann zurückgefragt werden, inwiefern dies ein zureichender oder zwingender Grund dafür ist, dass das Geforderte getan werden soll. Erfordert sind damit Gründe, in bezug auf die diese Frage nicht sinnvoll gestellt werden kann. Eben dies kennzeichnet evaluative Urteile. Wenn geantwortet wird »weil es gut ist, so zu handeln«, dann macht es keinen Sinn zu fragen, inwiefern dies ein Grund ist, so zu handeln. Zu sagen, dass etwas gut ist, ein Gut darstellt, ein Wert ist oder einen Wert hat, heißt eben sagen, dass es einen Grund darstellt, es zu erstreben, zu bewahren, zu realisieren und ihm im Handeln zu entsprechen. Das begründungsorientierte Verständnis der Moral wiederum hat Folgen für das Verständnis von Ethik. Dieser fällt die Aufgabe zu, uns mit den richtigen Gründen für unsere Handlungen zu versehen. Es ist diese Begründungsaufgabe, welche die modernen ethischen Theorien in Gestalt des Kantianismus und des Utilitarismus zu leisten beanspruchen. Das Bemerkenswerte an der eingangs genannten Debatte liegt nun darin, dass hier etwas zum Vorschein kommt, das durch das Begründungsdenken der modernen Ethik verdeckt worden ist: Elementarer als das Begründen ist das Verstehen. Bevor wir Gründe für oder gegen die Herstellung und Nutzung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken anführen können, müssen wir verstanden haben, welche sittlichen Orientierungen durch diese neuen technologischen Möglichkeiten überhaupt tangiert sind. Das heißt, wir müssen eine Gedankenverbindung herstellen zwischen diesen technologischen Möglichkeiten und vorhandenen sittlichen Orientierungen. In unserem Fall haben diese nicht den Charakter von »Normen« oder »Werten«, sondern von Intuitionen, die durch die Vorstellung möglicher Szenarios im Umgang mit menschlichen Embryonen hervorgerufen werden. Erst in der Diskussion über die Frage »Warum soll man ...?« bzw. »Warum soll man nicht ...?« nimmt diese Gedankenverbindung den Charakter von Gründen pro oder contra an. Diese dem Argumentieren mit Gründen vorausliegende Aufgabe des Verstehens wird durch ein rein begründungsorientiertes Verständnis von Ethik verdeckt. Durch den »turn to applied ethics« scheint diesbezüglich einiges in Bewegung zu kommen. In ihrer öffentlichen Rolle hat die Angewandte Ethik es mit Kontroversen und Problemen zu tun, hinter denen Erfahrungen, Wahrnehmungsmuster und Intuitionen stehen, die sich nicht von vornherein im Code der ethischen Fachsprache artikulieren. Die Angewandte Ethik sieht sich daher mit der Frage konfrontiert, ob überhaupt und in welcher Weise sich dieser komple164 xe Hintergrund den gewohnten fachethischen Sprach- und Denkmustern subsumieren lässt oder wie er sonst zu beschreiben und zu interpretieren ist. Die Zielsetzung, für Klärungen nicht im Fachdiskurs von Ethik-Spezialisten, sondern in der öffentlichen Debatte einer sozial höchst differenzierten Gesellschaft zu sorgen, erfordert daher die Anstrengung des Verstehens. Was ist es, das Menschen die Dinge so sehen lässt, wie sie sie sehen? Welche Orientierungen stehen im Hintergrund der Skrupel, die sie haben, und der Standpunkte, um die öffentlich gestritten wird? Die Angewandte Ethik hat daher eine eminent hermeneutische Aufgabe. So nützlich die analytische Zergliederung, Überprüfung und Kritik von Begriffen und Argumentationen ist, die in öffentlichen Debatten eine Rolle spielen, so wenig lässt sich die Aufgabe der Angewandten Ethik hierauf beschränken. Bliebe doch bei einer solchen Beschränkung der intuitive Hintergrund unberücksichtigt, in dem die moralische Sensibilität und Beunruhigung ihren Ursprung hat. Gewisse Kommunikationsprobleme zwischen Ethik-Experten einerseits und Praktikern bzw. Ethik-Laien andererseits dürften darauf zurückzuführen sein, dass der hermeneutischen Erhellung dieses Hintergrunds von Seiten der Ethik häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Folge davon ist, dass die Praktiker ihre eigenen Fragen und Probleme nicht wiedererkennen in der Art der Behandlung, die ihnen die Ethik-Experten aufgrund ihres – normativistischen, prinzipien- und begründungsorientierten – Verständnisses von Moral und Ethik angedeihen lassen.3 Das hat Frustrationen und Projektionen auf beiden Seiten zur Folge. Aus der Sicht der Praktiker macht dann die Ethik den Eindruck eines abgehobenen Expertendiskurses, der mehr mit seinen eigenen, internen Fragestellungen und Denkaufgaben beschäftigt ist, als dass er sich auf die Perspektive derer einlässt, die den ethischen Problemen in der Praxis konfrontiert sind. Aus der Sicht der Ethik-Experten kann sich umgekehrt der Eindruck aufdrängen, es würden sich die Praktiker der Zumutung und dem hohen Anspruch ethischer Reflexivität, Rationalität und Distanznahme verweigern und befangen bleiben in bestimmten moralischen Positionen, die ihnen durch ihre jeweiligen Praxisfelder und sozialen Milieus nahegelegt werden. Wenn das Ziel der Angewandten Ethik wirklich in der Klärung von Fragen besteht, die ihren Ursprung nicht in philosophischen Fachdiskursen, sondern in gesellschaftlichen Praxis- und Lebenszusammenhängen haben, dann muss zunächst verstanden werden, welcher Art diese Fragen sind und welche Orientierungen dabei im Hintergrund stehen. Und es muss nach dem orientierenden Sinn dieser Orientierungen gefragt werden. Wenn die Beobachtung richtig ist, dass die Tendenz heute in Richtung auf eine stärker hermeneutisch orientierte Ethik geht, dann ist dies von erheblicher Bedeutung für die theologische Ethik. Ist doch auch diese vom Begründungsdenken der Moderne infiziert worden. Darin hat man geradezu ihr Spezifisches gesehen, dass sie theologische Begründungen beibringt, wo die philosophische Ethik philosophische Begründungen bereitstellt. Die endlosen Debatten darüber, ob die Begründungen der theologischen Ethik ihren Ausgang von der Offenbarung nehmen sollen oder aber von der menschlichen Vernunft, konnten nur deshalb aufkommen, weil man die Aufgabe der theologischen Ethik so verstand, dass sie Begründungen liefern sollte für das christliche Handeln. Faktisch führte dies zu einer fragwürdigen Theologisierung der Sphäre des Sittlichen. Nicht das christliche Ethos, wie es sich für die theologische Tradition in den »geistlichen Tugenden« Glaube, Hoffnung und Liebe konkretisierte, fungierte bei dieser Auffassung als Quelle der sittlichen Orientierung christlichen Lebens und 165 Handelns, sondern vielmehr die – christologischen, schöpfungstheologischen usw. – Gründe, welche die Theologie bereitstellt. Der Ursprung dieser Verkehrung liegt wiederum in der modernen Auffassung des Handelns, welche die theologische Ethik unbesehen übernommen hat. Nötigt diese doch dazu, das christliche Ethos der dreifachen Alternative Grund-Motiv-Ursache einzupassen. Im Rahmen dieser Alternative bleibt für Phänomene wie Liebe oder Hoffnung kein anderer Status als der eines Motivs. Als bloßes Motiv aber hört Liebe auf, orientierend zu sein, was sie für die theologische Tradition zweifellos war. Denn, wie gesagt, orientierend sind bei dieser Alternative allein die Gründe, nicht die Motive. Und so ist die zwangsläufige Folge, dass an Stelle des christlichen Ethos die Gründe der Theologie zur eigentlichen Quelle sittlicher Orientierung werden. Die theologische Ethik gerät dadurch unter den unguten Druck, sich als theologische über die Gründe und Begründungen profilieren zu sollen, die sie beibringt. Eine hermeneutisch gerichtete theologische Ethik wäre von solchem Druck entlastet. Sie hätte bei strittigen Entscheidungen, Handlungen oder Regelungen zu fragen, was jeweils im Sinne des christlichen Ethos ist; so wie gegenwärtig in der Debatte um embryonale Stammzellen nach dem impliziten Ethos gefragt wird, das unsere Wahrnehmung menschlichen Lebens bestimmt. Das würde voraussetzen, dass sich die theologische Ethik einen angemessenen Begriff davon bildet, worum es sich beim christlichen Ethos handelt: gewiss nicht um »Normen und Werte«, sondern um eine bestimmte Ausrichtung der Intuition, die durch die christliche Symbolisierung der Lebenswirklichkeit vermittelt ist und die Menschen in ihren Mitmenschen und der nichtmenschlichen Natur etwas sehen lässt, wodurch sie intuitiv affiziert werden; z. B. den »Nächsten« in seiner Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Eine hermeneutisch gerichtete theologische Ethik hätte demnach die christliche Symbolisierung der Lebenswirklichkeit zuerst und vor allem von ihrer Wirkung auf die Intuition her zu begreifen und nicht von ihrer Eignung für theologische Begründungen und Wirklichkeitskonstruktionen her. Die Hirnforschung belehrt uns heute darüber, dass unsere Intuitionen in Gestalt bestimmter psychotorischer Antriebe ihren Sitz in einem anderen, evolutionsgeschichtlich sehr viel älteren Teil des Gehirns haben als unser Sprach- und Denkvermögen.4 Diesen Teil haben wir mit höher entwickelten Tieren gemeinsam. Direkt haben wir darauf kaum Einfluss. Einfluss haben wir hingegen auf die Welt, auf welche die Intuition reagiert, und diesbezüglich hängt das Allermeiste davon ab, wie diese Welt symbolisch strukturiert ist. Dass es ein christliches Ethos gibt, verdankt sich der Tatsache, dass es eine christliche Symbolisierung der Lebenswirklichkeit gibt. Es ist höchste Zeit, dass das Begründungsparadigma, insoweit es noch die theologische Ethik bestimmt, verabschiedet wird zugunsten einer konsequent hermeneutischen Orientierung. Die Vorzeichen dafür stehen, wie gesagt, nicht schlecht in Anbetracht der allgemeinen Tendenzen zu einem stärker hermeneutisch gerichteten ethischen Denken. Prof. Dr. Johannes Fischer Institut für Sozialethik Zollikerstr. 117 CH-8008 Zürich 166 Anmerkungen 1. 2. 3. 4. E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, 33-56, 41. G. Harman, Das Wesen der Moral: Eine Einführung in die Ethik, Frankfurt/M. 1981, 109. Das betrifft in besonderer Weise die medizinische Ethik, vgl. etwa P. A. Komesaroff, From Bioethics to Microethics: Ethical Debate and Clinical Medicine, in: ders. (ed.), Troubled Bodies. Critical Perspectives on Postmodernism, Medical Ethics and the Body, Durham/London 1995, 62-86, 65ff. Diese Einsicht verdanke ich einer Diplomarbeit, die der Mediziner und Physiker Albert Zeyer im Rahmen des Nachdiplomstudiums in Angewandter Ethik geschrieben hat, welches das Ethik-Zentrum der Universität Zürich zusammen mit den Universitäten Münster, Padua und Utrecht anbietet. 167