Heinrich Schwarz Der Mensch in der Gesellschaft SOZIALWISSENSCHAFT Heinrich Schwarz Der Mensch in der Gesellschaft Deutscher Universitäts-Verlag Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1. Auflage Dezember 2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frauke Schindler / Britta Göhrisch-Radmacher Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-6095-1 Vorwort Es war längst fällig, den jahrhundertealten Begriff des menschlichen Verstandes durch eine völlig neue Definition des menschlichen Bewusstseins abzulösen. Ein Bewusstsein, das zwischenmenschliche Beziehungen berücksichtigt und soziales Verhalten mit aufschlüsselt. Angewandt auf die Soziologie war dadurch ein neuer einheitlicher Theoriekern aufzuzeigen. Mein besonderer Dank gilt Frau Wrasmann, Frau Schindler und Frau GöhrischRadmacher für die redaktionelle Begleitung und meinem Sohn Christian für die formale Gestaltung. Heinrich Schwarz V Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................... XI 1. Soziologie ohne einheitlichen Theoriekern...................................................... 1 1.1. Die Trennung von Individuum und Zwischenmenschlichem in der verstehenden Soziologie .................................................................... 2 1.1.1. Durkheims ‚soziologische Tatbestände’ ........................................ 2 1.1.2. Nicht-logische Handlungen............................................................ 3 1.1.3. Die unintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns ............... 4 1.2. Der erweiterte Rational Choice-Ansatz in der erklärenden Soziologie .... 5 2. Ansatz eines einheitlichen Theoriekerns.......................................................... 9 2.1. Der menschliche Verstand in der abendländischen Philosophie, ein Problem für die Soziologie.................................................................. 9 2.2. Das neue menschliche Bewusstsein ........................................................ 20 2.2.1. Die Dimensionierung der Vorstellungen ...................................... 27 2.2.1.1. Physiologische Daten zu Reiz und Reaktion ................... 27 2.2.1.2. Die Vorstellung wird zum inneren Raum ........................ 36 2.2.1.3. Bestimmung der psychischen Dimensionen .................... 40 2.2.1.4. Die Entwicklung der inneren Räume ............................... 47 2.2.1.5. Aus den inneren Teilräumen entsteht der Wachstumsraum............................................................... 48 2.2.1.6. Die Ballungen von Wachstumsräumen und deren Auflösung in die Grundräume................................ 51 2.2.1.7. Die Grundräume werden zu inneren Räumen.................. 58 2.2.2. Die Masse der inneren Räume ...................................................... 67 2.2.2.1. Die innere Zeit.................................................................. 67 2.2.2.2. Die Bewegungen der inneren Räume............................... 75 2.2.2.3. Die psychische Masse der inneren Räume....................... 80 2.2.2.4. Physiologische Daten zu den innersekretorischen Drüsenfunktionen............................................................. 83 2.2.2.5. Die elektrischen Erregungen werden zu VII spezialisierten Antrieben.................................................. 87 2.2.2.6. Bewegungen, spezialisierte Antriebe und psychische Massen der inneren Räume ........................... 95 2.2.2.7. Die psychischen Erscheinungen von Gefühl (Affekt) und Stimmung ................................................. 102 2.2.2.8. i.R. Massen und innere Zeit .......................................... 110 2.2.3. Die psychischen Gravitationsfelder ........................................... 115 2.2.3.1. Die Gravitation der inneren Räume .............................. 115 2.2.3.2. Das psychische Gravitationsfeld................................... 121 2.2.3.3. Die Masse-Energie-Äquivalenz .................................... 134 2.2.3.4. Der innere Vorzugsraum und die Modulation .............. 142 2.2.3.5. Die innere Zeit in den psychischen Bezugssystemen ............................................................ 152 2.2.3.6. Die Raumsektoren......................................................... 153 2.2.3.7. Das Gewissen ................................................................ 156 2.2.3.8. Totem, Tabu und Inzestschranke .................................. 158 2.2.3.9. Die Erinnerungen .......................................................... 164 2.2.4. Psychische G-Felder des Individuums bestimmen das Zwischenmenschliche.......................................................... 171 2.2.4.1. Der lose Zusammenschluss........................................ 174 2.2.4.2. Das Gesetz der G-Einwirkung ................................... 176 2.2.4.3. Die Zufallsgruppe....................................................... 178 2.2.4.3.1. Das Gesetz der Verstärkung....................... 179 2.2.4.4. Die Gruppe auf Zeit ................................................... 180 2.2.4.5. Die soziale Gruppe..................................................... 181 2.2.4.6. Kulturelle Einflüsse.................................................... 181 2.2.4.7. Das Gewissen in der Gruppe auf Zeit ........................ 182 3. Die Trennung von Psychologie und Soziologie kann nicht weiter angenommen werden.................................................................................. 187 3.1. Durkheims soziologische Tatbestände und die psychischen G-Felder............................................................................................... 188 VIII 3.2. Webers Kernforderung und die Systeme von Parsons und Luhmann....................................................................................... 190 3.3. Soziale Interaktion............................................................................... 192 3.3.1. Die Definition der Situation ...................................................... 192 3.3.2. Symbolischer Interaktionismus................................................. 194 3.3.3. Der dramaturgische Ansatz ....................................................... 196 3.3.4. Ethnomethodologie ................................................................... 197 3.4. Die menschliche Entscheidung in der erklärenden Soziologie........... 199 3.4.1. Die Entscheidung im neuen menschlichen Bewusstsein .......... 203 3.4.1.1. Der Charakter der Entscheidung .................................. 204 3.4.1.2. Gerichtete Kraft zur Zielerreichung............................. 204 3.4.1.3. Das Wesen der Entscheidung....................................... 205 3.4.1.4. Der Entscheidungsprozeß ............................................ 205 3.4.1.4.1. Der Entscheidungsprozeß bei Alternativen . 205 3.4.1.4.2. Die ausgewogene Entscheidung .................. 206 3.4.1.4.3. Die spontane Entscheidung.......................... 206 3.4.1.4.4. Die Entscheidung nach Grundsätzen und Gewissen ............................................... 207 3.4.1.4.5. Der Konflikt ................................................. 207 3.4.1.4.6. Der freie Wille bei der Entscheidung........... 208 3.4.1.5. Rechenbarkeit des Entscheidungsprozeßes.................. 211 3.5. Personale Netzwerke und Sozialstruktur ............................................ 212 3.5.1. Die Sozialisation nach Cooley, Mead, Piaget und Freud ......... 215 3.5.2. Die Familie als Startrampe........................................................ 217 3.6. Fazit ..................................................................................................... 219 Literaturverzeichnis.......................................................................................... 223 IX Abkürzungsverzeichnis i.R. ................................................................................................... innerer Raum a.R ....................................................................................................äußerer Raum i.Z. .........................................................................................................innere Zeit a.Z. ....................................................................................................... äußere Zeit VzR ...................................................................................... innerer Vorzugsraum XI 1. Soziologie ohne einheitlichen Theoriekern Die Soziologie ist von ihrem Beginn an einem tragischen Irrtum unterlegen, der nicht in ihr selbst begründet ist. Um auf methodische Weise soziale Probleme in den menschlichen Beziehungen zu erklären, sind Interpretationen erforderlich. Dafür stehen von Seiten der Soziologie verschiedene theoretische Betrachtungsweisen zur Verfügung. Diese sind allesamt getragen von dem Menschenbild, das über Jahrhunderte von der abendländischen Philosophie geprägt wurde: dem Menschen als Individuum, das, wie man lange Zeit glaubte, von seinem Verstand bestimmt ist. Und erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit erscheint der Mensch irrational zu handeln. Es hat seine Wirkung bis heute, wenn zweitausend Jahre mit der Frage verbracht wurden, ob der menschliche Verstand die sinnlich erfahrene Welt formt bzw. diese durch innewohnende Ideen (Allgemeinbegriffe) begreift. Für das derart fixierte Individuum sind dann bestimmte Umfeldeinflüsse auf dessen Sitte und Moral nicht unterzubringen. Da die Theorie der Aggregation von einzelnen Psychen aus oben genannten Grund nicht befriedigte, wurde soziales Verhalten Wesenheiten übertragen, die außerhalb des Individuums liegen. Oder man versucht, ausgehend vom subjektiven Verhalten die Makrobeobachtung zu erklären. Wobei in letzteren Fall die zunehmende Bedeutung des Unbewussten für das menschliche Handeln im Wege steht. Um der Interpretation sozialer Beziehungen einen gemeinsamen Theoriekern anzubieten, ist es in einem ersten Schritt erforderlich, den menschlichen Verstand, die Ratio, das, was man konventionell unter Bewusstsein versteht, zu untersuchen. Gelingt es, ein völlig neues Verständnis des menschlichen Bewusstseins und schließlich auch des Irrationalen zu erhalten, so wäre das menschliche Handeln in seinen sozialen Beziehungen neu zu formulieren. Das würde auch beinhalten müssen, die menschliche Entscheidung an sich neu zu definieren und sie in Bezug auf das zwischenmenschliche Verhalten zu erklären. 1 1.1. Die Trennung von Individuum und Zwischenmenschlichem in der verstehenden Soziologie Hartmut Esser nennt hierzu insbesondere zwei Vorschläge, „ ... die für die Abgrenzung eines spezifisch soziologischen Gegenstandes auf Resonanz gestoßen sind: die von Émile Durkheim (1838 - 1917) so genannten ‚soziologischen Tatbestände’ einerseits. Und die von Vilfredo Pareto (1848 - 1923) als ‚nichtlogische Handlungen’ andererseits.“1 Esser bezieht als dritten Aspekt die ‚unintendierten Folgen absichtsvoller Handlungen’ nach Robert M. Merton mit ein.2 1.1.1. Durkheims ‚soziologische Tatbestände’ „Ein soziologischer Tatbestand war für Durkheim jede ‚soziale Erscheinung’, die sich von den individuellen Handlungen, Bestrebungen und Manifestationen verselbständigt habe. Beispiele wären die Sitten, die Bräuche und Normen einer Gesellschaft, das Recht und die Moral, die Arbeitsteilung, die Strukturen sozialer Ungleichheit und Machtverteilung, die Kultur und die Sprache - kurz: alle Institutionen, die ‚unabhängig’ von konkreten Individuen bestehen und auf die sie bildenden Personen eine ‚zwingende Macht’ ausüben und so eine von den Individuen losgelöste Realität darstellen - eine Realität, ‚die einen eigenen Charakter hat’.“3 „Die Basis der Stabilität jener Realität ‚sui generis’ könne, - so Durkheim - nur in der ‚Gesellschaft’ in keiner Weise etwa in den einzelnen ‚Psychen’ (wie Durkheim sagt), im Bewusstsein, den Überzeugungen, Vorlieben oder Gefühlen der Menschen verankert sein“.4 „Ihre Grundlagen fänden die soziologischen Tatbestände nur in der strukturellen Anordnung der Mitglieder einer Gesellschaft und in der Wirksamkeit sozialer Kontrollen: ‚Der erste Ursprung eines jeden sozialen Vorgangs von einiger Bedeutung muss in der Konstitution des inneren sozialen Milieus gesucht werden.’ Gegenstand der Soziologie und Schlüssel der Erklärung der sozialen Erscheinungen sind also die Strukturen und die Milieus, die als - wie Durkheim sich ausdrückt - ‚Gussformen’ für das Handeln der Individuen eine Realität eigener, nicht bloß konventioneller Art darstellen. Das Ziel der Abgrenzung soziologischer Tatbestände war bei Durk1 2 3 4 2 vgl. Esser (1993), S.19 vgl. Esser (1993), S.19 vgl. Esser (1993), S.187 vgl. Esser (1993), S.20 heim vor allem die Sicherung einer Sonderstellung der - zur Zeit Durkheims durchaus noch jungen - Soziologie gegen damalige Versuche, soziale Prozesse als einfache Aggregationen psychischer Merkmale von Personen zu erklären.“5 Und Esser weiter: „In der Soziologie ist der Grundgedanke dass die Gesellschaft ein eigenes ‚Wesen’ habe und grundsätzlich mehr sei als die Summe ihrer Teile, vor allem in der theoretischen Richtung des Struktur-Funktionalismus und hier besonders in den Arbeiten von Talcott Parsons (1906 - 1979), aufgegriffen worden. Die Grundidee lebt heute z.B. in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann weiter, wonach die ‚sozialen Systeme’ von den ‚psychischen Systemen’ grundsätzlich unabhängig, wenngleich darauf angewiesen, auf keinen Fall aber auf die Eigenschaften oder Handlungen von individuellen Personen ‚reduzierbar’ seien.“6 1.1.2. Nicht - logische Handlungen „Für Vilfredo Pareto war die Gesellschaft keineswegs eine Realität eigener Art. Sie ist seiner Ansicht nach - für viele Soziologen: horribile dictu - lediglich ein Aggregat von Individuen, die ihrerseits in ihrem Verhalten zwar gewissen ‚Naturgesetzen’ folgen..., jedoch - ganz anders als das Durkheim und seine Nachfolger gemeint haben - keineswegs bloß passiv den Vorgaben der Institutionen, kulturellen Werte und sozialen Strukturen ausgeliefert sind. Das Handeln der Menschen sei sowohl von ‚logischen’ (bzw. ‚rationalen’) wie von ‚nichtlogischen’ (bzw. ‚irrationalen’) Beweggründen bestimmt. Die nicht-logischen Handlungen nannte Pareto auch Residuen. ... Für Pareto sind weite Bereiche der Handlungen von dieser Art. Zu diesen Residuen gehören u. a. die Sexualität, die ‚Integrität’, die ‚Soziabilität’ und das ‚Bedürfnis’, seine Gefühle durch äußere Akte darzustellen. Kurz: Man muss die handelnden Personen, ihre Situation, ihre Beweggründe und ihre Abhängigkeiten erst einmal in ihrem subjektiven Sinn verstehen, wenn man soziale Vorgänge erklären will - wie dies Max Weber gefordert hat. Wenn man diesen subjektiven Sinn kennt, dann wird manches, was zuvor irrational erschien, höchst plausibel und sogar berechenbar. Dies alles schließt nicht aus, auch Affekte und Emotionen als Bestandteile von soziologi5 6 vgl. Esser (1993), S.20 vgl. Esser (1993), S.20 f 3 schen Erklärungen zu verwenden.“7 1.1.3. Die unintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns „Die Denkfigur der unintendierten Folgen des absichtsvollen Handelns - als dritter Aspekt des Gegenstandes der Soziologie - setzt an den Wirkungen, an den externen Effekten des sozialen Handelns also, an. Sie gibt es in zwei, gelegentlich als einander ausschließend betrachtete Varianten. Die eine - die freundlichere - ist am nachhaltigsten mit der von Adam Smith (1723 - 1790) formulierten Idee einer invisible hand eingeführt worden, die auf wundersame Weise die egoistisch-rationalen Handlungen der Einzelnen so koordiniert, dass die Wohlfahrt aller gefördert, ja sogar garantiert werde. ... Die egoistischen Intentionen fügen sich - unbeabsichtigt - zum Wohlergehen aller und zur Harmonie, zur Integration und Stabilisierung der Gesellschaft. ... Man sollte noch hinzufügen, dass diese ungeplanten funktionalen gesamtgesellschaftlichen Wirkungen auch ohne das Wissen der Akteure hierüber eintreten. ... Die Entdeckung, dass eine Vielzahl von sozialen Phänomenen und Institutionen - wie das Geld, das Recht, Städte und Gemeinden, die Arbeitsteilung und der Staat - ungeplant und in kleinen Schritten aus dem jeweils nur sehr kurzsichtig orientierten Handeln von Personen evolutionär entstanden ist und gerade deshalb, weil es nicht als Endergebnis bereits von irgend jemand geplant war, seine wundersame Funktionalität aufweist, gehört zu einer der weitest reichenden Erkenntnisse - keineswegs der Soziologie alleine. ... Ungeplante Folgen müssen nicht immer erfreulicher Art sein. ... Die ihren persönlichen Interessen nach Wohlergehen folgenden Individuen finden sich in einem Krieg aller gegen alle wieder!“8 Laut Georg Simmel (1858 - 1918) sollte sich „Zur Abgrenzung des Gegenstandes der Soziologie ... diese mit den formalen Gemeinsamkeiten der sozialen Phänomene befassen. Er dachte ... bei diesen formalen Besonderheiten vor allem an die Wechselwirkung mit anderen Menschen. ‚Vielmehr glauben wir jetzt die historischen Erscheinungen aus den Wechselwirkungen und dem Zusammenwirken der Einzelnen zu verstehen, aus der Summierung und Sublimierung unzähliger Einzelbeiträge aus der Verkörperung der sozialen Energien in Gefilden, 7 8 4 vgl. Esser (1993), S.21 ff. vgl. Esser (1993), S.21 ff. die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln.’“9 1.2. Der erweiterte Rational-Choice-Ansatz in der erklärenden Soziologie Esser betont: „Inzwischen verstärkten sich jedoch nachhaltig die Anzeichen, dass der für jede sozialwissenschaftliche Erklärung erforderliche ‚nomologische Kern’ - wenn überhaupt - nur auf der mikroskopischen Ebene, auf der Ebene des (situationsorientierten) Handelns von Akteuren zu finden sein dürfte. Nahezu alle aktuellen Entwicklungen in der soziologischen Theoriediskussion verweisen wohl nicht ganz zufällig (und oft auch eben unbeabsichtigt) auf irgendeine Hinwendung zu einer solchen Akteursorientierung. ...Der so genannte RationalChoice-Ansatz kann nun als das Forschungsprogramm gelten, in dem diese Wendung zur Fundierung der soziologischen Theorie (zur Erklärung makroskopischer Zusammenhänge) in Gesetzen über das Handeln von Akteuren am deutlichsten sichtbar geworden und bei dem die Orientierung am Ziel (und an den methodologischen Kriterien) der Erklärung am konsequentesten ist. ...Ein wichtiger Bestandteil dieser Theorietechnik ist die Modellierung der Erklärung sozialer Prozesse: Die Zusammenhänge von Situationen, Akteuren, Selektionsregeln, Handlungen, Aggregationen und kollektiven Folgen werden (zunächst) in möglichst einfachen Modellen zusammengefasst. Je nach den Besonderheiten des Explanandums und der gegebenen Umstände wird diese Vereinfachung aber falls erforderlich - schrittweise zugunsten einer ‚realistischeren’ (aber auch dann weniger überschaubaren) Modellierung aufgegeben (unter strikter Orientierung an begründbarem Wissen darüber, welche ‚realistischeren’ Gesetzmäßigkeiten z.B. der Selektion von Handlungen - unter welchen Bedingungen beobachtet werden müssen). In der Sprache des Ansatzes: man geht nach dem Prinzip der ‚abnehmenden Abstraktion’ vor - die Modellierung sei so einfach wie möglich und so ‚realistisch’ (und damit: so komplex) wie nötig. ... Zu diesen ‚realistischen’ Annahmen sind u.a. die Bedingungen des alltäglichen Handelns zu zählen: die Bedeutung der ‚subjective expected utility’ beim Handeln, der Rückgriff auf fertige Routinen und die Orientierung an groben Typisierungen von Situationen und ‚Plänen’.“10 9 10 vgl. Esser (1993), S.26 ff. vgl. Esser (1991), S.2 f 5 In dem Bemühen um einen einheitlichen Theoriekern versucht Esser, die ’erklärende’ Soziologie nicht in Widerspruch zu einigen zentralen Besonderheiten der ‚verstehenden’ Soziologie zu sehen, mehr noch ist Esser der Ansicht, „...dass im Rahmen der verstehenden Soziologie bzw. des ‚interpretativen Paradigmas’ Konzepte entwickelt worden sind, an denen dieser gemeinsame Theoriekern unvermeidlicherweise anknüpfen muss. Aber auch: dass eine solche Anknüpfung ohne weitere Schwierigkeiten möglich ist, auch wenn dabei die eine oder andere lieb gewonnene Grenzziehung hinfällig wird. 11 ... Anderseits schließt das Erfordernis des ‚deutenden’ Verstehens von sozialem Handeln es aber - wie man seit Max Weber weiß - in keiner Weise aus, das Handeln ‚in seinem Ablauf und in seinen Folgen ursächlich (zu) erklären’ (Weber 1972/I) und dabei - bei der Erfassung der ‚Subjektivität’ des Handelns - die Regeln einer ‚objektiv’ verfahrenden soziologischen Methode anzuwenden. Anders gesagt: die Berücksichtigung der Subjektivität (als Besonderheit der Sozialwissenschaften) ist durchaus unter Anwendung einer ‚objektiven’ Methode, wie sie im Prinzip für alle Wissenschaften gilt, möglich. Genau auf diese Kombination - die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer ‚objektiven’ Analyse von ‚subjektiven’ Sachverhalten - hat aber - nach Max Weber - Alfred Schütz als einer der Gründerväter der ‚verstehenden Soziologie’ insbesondere in seinem Spätwerk (implizit und explizit) deutlich hingewiesen. ...Alfred Schütz, ... hat ... immer wieder der Auffassung widersprochen, dass die Grundstrukturen des Handelns die einer ‚objektiven’ Logik seien, die Strukturen der Lebenswelt des Alltagsmenschen seien nicht solche eines ‚logischen’, sondern solche eines ‚sinnhaften’ Aufbaus. Das heißt: die Sozialwissenschaften dürften nicht von einer ‚objektiven’ Formal-Logik als Basis ihrer Modellierungen ausgehen, sondern von der ‚subjektiven’ PsychoLogik des normalen, wenngleich ‚hellwachen’ Alltagsmenschen.“12 Esser steckt dann die Ausgangsposition für die ‚erklärende’ Soziologie ab: „Das Ergebnis dieser methodologischen und theoretischen Klärungen durch Alfred Schütz, ... ist eine Theorie des (Alltags-) Handelns, die Handeln als ‚sinnhaft’ - reflektiert – ‚rational’ und als vereinfacht - routinegeleitet - vortypisiert auffasst und daran anknüpfend und darauf aufbauend versucht, soziologische 11 12 6 vgl. Esser (1991), S.4 vgl. Esser (1991), S.6 f Strukturprozesse zu erklären.“13 Dazu drängen sich folgende Fragen auf: Wie ist in der vorausgehenden Mikrobetrachtung neben Rational Choice das Lust-Unlust-Prinzip unterzubringen? Rational Choice setzt doch ursprünglich - und bis heute immer noch - den konventionell angenommenen Verstand voraus. Den damit verbundenen freien Willen also. Wie wird dabei das Lust-Unlust-Prinzip zugeordnet? Doch sicher nicht der ‚Ratio’. Liegt es im Unbewussten und welche Beweggründe wirken dann auf Entscheidung und Handeln ein? Welche ‚Gewichtung’ müssen derartige Motivationen erfahren? Bezüglich der drei Schritte soziologischer Vorgehensweise 14 stellen sich somit die Fragen: Wenn im ersten Schritt die Logik der Situation, also die besondere Art der Beziehung zwischen Situation und Akteur dargestellt wird, weiß man denn, was in der Situation im Menschen vor sich geht? Zur Logik der Selektion, dem zweiten Schritt: Sie „...verbindet zwei Elemente auf der Mikro-Ebene: die Akteure und das soziale Handeln. Es ist die Mikro - MikroVerbindung zwischen den Eigenschaften der Akteure in der Situation und der Selektion einer bestimmten Alternative. Hierzu wird eine allgemeine Handlungstheorie benötigt, die es zulässt, die wichtigen Merkmale der Situation aufzunehmen.“15 Ist bisher so klar, wie der Mensch selektiert und schließlich handelt, um eine Theorie zu formulieren? Und stimmt diese Handlungstheorie konkret? Ferner die Logik der Aggregation, mit ihr „...wird die Mikro-MakroVerbindung des Modells zurück auf die Ebene der kollektiven Phänomene hergestellt.“16 Auf die beiden vorgenannten Schritte hin erhebt sich die Frage nach der Sicherheit einer derartigen Mikro-Makro-Verbindung. 13 14 15 16 vgl. Esser (1991), S.7 vgl. Esser (1993), S.94 vgl. Esser (1993), S.94 vgl. Esser (1993), S.96 f 7 2. Ansatz eines einheitlichen Theoriekerns Dazu ist vorweg eine kleine Geschichte des menschlichen Verstandes erforderlich. 2.1. Der menschliche Verstand in der abendländischen Philosophie, ein Problem für die Soziologie Platon (427 - 347 v. Chr.) lehrte, „ ... dass in den ewigen Ideen uns ein Maß des Denkens und Handelns gesetzt ist, dass wir denkend und ahnend erfassen können.“17 Was sind nun diese Ideen? „Wir nehmen eine Idee an, wo wir eine Reihe von Einzeldingen mit demselben Namen bezeichnen. Ideen - griechisch eidos oder idea, ursprünglich ‚Bild’ - sind also Formen, Gattungen, Allgemeinheiten des Seins. ... Die einzelnen Dinge vergehen, aber die Ideen bestehen als deren unvergängliche Urbilder weiter. ... Da jedoch die einzig wirklichen Ideen nur dem reinen Denken zugänglich sind, kann die Erforschung des körperlichen Seins für Platon nur eine zweitrangige Bedeutung haben.“18 Mit anderen Worten, die Naturdinge sind Abbilder oder Erscheinungen der Ideen. Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) antwortet: „Nur das Einzelne ist wirklich.“ Und unterzieht die platonische Ideenlehre scharfer Kritik. Aristoteles „...weist nach, dass das Allgemeine nicht für sich, neben und außerhalb der Dinge Existierendes ist. Die allgemeinen Begriffe drücken nichts als das Gemeinsame an einer bestimmten Gruppe von Einzeldingen aus. Es sind Namen, nicht Dinge. In Wirklichkeit gibt es nur die zahllosen Einzeldinge, zum Beispiel Bäume. ‚Baum’ als ein Allgemeines, dem irgendeine Wirklichkeit zukäme, gibt es überhaupt nicht. Dieser Begriff existiert nur in den Köpfen. ... Damit waren die Fronten bezogen, zwischen denen sich das ganze Mittelalter hindurch der Streit zwischen ‚Realismus’ und ‚Nominalismus’ abspielen sollte.“19 „Nun sieht aber Aristoteles genau wie Platon es sah, dass die zahllosen ‚Bäume’ vergehen, während ‚Baum’ als Allgemeines vom Wechsel der Einzelerscheinung unberührt fortbesteht. Wollen wir sicheres Wissen haben, so kann sich dieses nicht auf die zufäl- 17 18 19 vgl. Störig (1952), S.129 vgl. Störig (1952), S.131 vgl. Störig (1952), S.147 9 ligen und veränderlichen Einzelerscheinungen beziehen, sondern nur auf das notwendige und unveränderliche. Dieses Unveränderliche findet Aristoteles in den Formen (wofür er aber auch zum Teil wieder den von Platon verwendeten Begriff ‚eidos’ = Idee gebraucht). Um aber von Form sprechen zu können, muss man etwas voraussetzen, das geformt wird, dem die Form aufgeprägt wird. Das gänzlich Ungeformte und Unbestimmte, an dem die Formen in Erscheinung treten, nennt Aristoteles ‚Stoff’ oder ‚Materie’. Die Materie für sich genommen, unter Absehung von allen Formen, hat nicht Wirklichkeit.“ Sie hat aber unter den gestaltenden Kräften der Formen die Möglichkeit, wirklich zu werden.20 Mit diesen beiden Fronten war eine Fehlentwicklung eingeleitet, welche über die Jahrhunderte hinweg ungeprüft übernommen wurde: der menschliche Verstand war kreiert. Ähnlich, wie das ptolemäische Weltbild Jahrhunderte bis Kepler, Kopernikus, Galilei überdauerte. Und wenn auch, inzwischen mit abnehmender Gläubigkeit, wurde dieser konventionelle menschliche Verstand bis heute ernsthaft nicht in Zweifel gezogen. Er wird in der Scholastik auf der Grundlage von Aristoteles insbesondere von Thomas von Aquin (1225 - 1274) übernommen. Auf die Frage, wie wir überhaupt Erkenntnis gewinnen, „ ... gibt Thomas die Antwort, die Aristoteles gegeben hatte: Nicht durch Teilhabe an göttlichen Ideen (oder Erinnerungen an diese gemäß der Lehre Platons), sondern allein durch Erfahrung auf Grund der Sinneswahrnehmungen. Thomas ist Empiriker. Alles Material unserer Erkenntnis stammt aus den Sinnen. Freilich nur das Material. Der tätige Intellekt bildet dieses Material weiter. Die sinnliche Erfahrung zeigt uns nur das individuelle Einzelding. Das eigentliche Objekt des Verstandes ist aber die in den Einzeldingen vorhandene Wesenheit, ‚Washeit’ (quiditas). Damit er diese erkenne, muss der Geist die ‚Phantasie’ zu Hilfe nehmen. In eigentümlicher Weise ist hier die grundlegende Erkenntnislehre Kants vorgebildet, nach welcher Erkenntnis entsteht im bildenden Gestalten der durch die Sinneswahrnehmung gegebenen Erscheinungen mittels der im Menschengeist liegenden Denk- und Anschauungsformen.“21 Aus dem derart interpretierten menschlichen Verstand ergibt sich für sittliches Handeln zwangsläufig die von 20 21 10 vgl. Störig (1952) S.147f vgl. Störig (1952) S.216f Thomas von Aquin gesetzte Willensfreiheit.22 500 Jahre später bemüht Immanuel Kant (1724 - 1804) erneut den Verstand. „Sinnlichkeit ist das in uns liegende Vermögen, von etwas, das von außer uns auf uns einwirkt, beeindruckt (affiziert) zu werden. Die Sinne, und nur sie allein, liefern uns Anschauungen, das heißt unmittelbare Vorstellungen einzelner Gegenstände. Auf den ersten Blick scheint eine solche Einzelvorstellung, sagen wir eine Rose, das nicht weiter analysierbare Letzte zu sein, auf das wir bei der Zergliederung unseres Erkenntnisprozesses stoßen können. Kritische Untersuchung zeigt, dass das keinesfalls so ist, dass vielmehr an ihrem Zustandekommen schon zweierlei beteiligt ist: Wir haben verschiedene Sinne. Der Geruchsinn vermittelt in unserem Beispiel einen bestimmten Duft, Gesicht und Tastsinn eine bestimmte Form und Farbe des Gegenstandes. Die Sinne liefern uns nur Empfindungen, die als solche gewissermaßen nur den Rohstoff, die Materie abgeben zur Vorstellung ‚Rose’. Es ist noch etwas in uns, das die Empfindungen erst ordnet, und zwar in ganz bestimmter Weise ordnet: in eine räumliche und zeitliche Einheit. Die Einzelvorstellung ist also nicht bloßer Stoff, sondern bereits geformter Stoff.“23 Wenngleich Kant Raum und Zeit als a priori gegeben hält, so mutet doch folgender Zusammenhang recht modern an „...die Zeit ist notwendige Form unseres Vorstellens und sie ist ... damit nicht nur Form unserer inneren Anschauung (so wie der Raum die Form der äußeren), sondern unserer Anschauung schlechthin. ‚Alle Erscheinungen überhaupt, ... sind in der Zeit und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit’.“24 Kant wählt aber ab hier den komplizierenden Weg über den Verstand und baut durch Reihung von Behauptungen sein Gebäude auf, das zu seiner Zeit methodisch ‚richtig’ zu sein schien, das aber, wie wir sehen werden, in seinem Fundament stark baufällig ist. Kant folgert nämlich: „Von den beiden ‚Stämmen’ unseres Erkenntnisvermögens ist also der Verstand, wenn er nicht im luftleeren Raum umhertappen soll, immer auf die Sinnlichkeit angewiesen, die ihm das anschauliche Material liefert. Aber die Sinnlichkeit ist genau so sehr auf den Verstand angewiesen. ... Sinnlichkeit und Verstand wirken also bei der Erkenntnis zusammen. Wie schon 22 23 24 vgl. Störig (1952) S.217 vgl. Störig (1952) S.336f vgl. Störig (1952) S.337f 11 innerhalb der Sinnlichkeit deren apriorische Formen die Empfindungen ordnen, so formt jetzt der Verstand den Rohstoff, den die Sinnlichkeit - als Ganzes genommen - liefert, weiter; er erhebt ihn zu Begriffen und verbindet die Begriffe zu Urteilen. ... Wie entsteht also der Begriff eines Gegenstandes? Aus den Empfindungen entsteht zunächst durch die apriorischen Formen der Sinnlichkeit die Anschauung in Raum und Zeit. Der Verstand verknüpft die Anschauungen nach den Gesichtspunkten der zwölf Kategorien (- die wiederum a priori, also vor aller Erfahrung im Verstande liegen -).“25 Und Kant folgert weiter: „Da alle Erfahrung so zustande kommt, dass der Verstand in den von der Sinnlichkeit gelieferten Rohstoff seine Denkformen (unter ihnen die Kausalität) einprägt, so ist ganz klar, dass wir in aller Erfahrung diese Formen auch wieder antreffen müssen!“26 Ja, Kant nimmt so sehr Stellung für den Verstand, dass er meint: „Die gesetzmäßige Ordnung der Natur rührt aber daher, dass unser Verstand die Erscheinungen nach den in ihm liegenden Normen verknüpft. Der Mensch ist der Gesetzgeber der Natur! Da es unser eigenes Denken ist, welches die Natur (zwar nicht ‚schafft’, aber) ‚macht’, kann man sagen, nicht unsere Erkenntnis richtet sich nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände richten sich nach unserer Erkenntnis!“27 Weiter schließt Kant: „Die Vernunft bildet über Sinnlichkeit und Verstand gewissermaßen ein weiteres, noch höheres Stockwerk. Die Vernunft ist ihrem logischen Gebrauche nach – von den Ideen zunächst noch abgesehen – ‚das Vermögen zu schließen’. Der Verstand bildet Begriffe und verknüpft sie zu Urteilen. Die Vernunft verbindet die Urteile zu Schlüssen.“28 Und was sagt Kant zu dem sittlichen Handeln des Menschen? Als handelndes Wesen macht er von seiner Vernunft einen praktischen Gebrauch. „Wie sollen wir handeln? Wodurch soll unser Wille bestimmt werden? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wird unser Wille bestimmt durch Gesetze, die in uns selbst, die in unserer Vernunft liegen. In diesem Fall wäre die Vernunft autonom (selbstgesetzgebend). Oder unser Wille wird bestimmt durch etwas, das außer uns, außerhalb unserer Vernunft liegt. Dann wäre unser Wille durch ein fremdes Gesetz bestimmt (Hetero- 25 26 27 28 12 vgl. Störig (1952) S.339 ff. vgl. Störig (1952) S.342 vgl. Störig (1952) S.343 vgl. Störig (1952) S.344