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D I E W E LT
D O N N E R S TA G , 2 2 . O K T O B E R 2 015
Forum
GASTKOMMENTAR
BILDER
DES TAGES
Deutscher IT
droht ein
„Dieselgate“
q Seit 500 Jahren bewacht die Schweizergarde den Vatikan – und den
Papst persönlich. Dafür kann man sich ruhig mal bedanken, dachte sich
Franziskus auf dem Weg zur Familiensynode, und gab einem Mitglied
der „Pontificia Cohors Helvetica“ die Hand. w Wenn sich zwei Sterne
küssen: Diese Computersimulation veranschaulicht ein Drama, das sich
gerade in der Großen Magellanschen Wolke abspielt, 160.000 Lichtjahre
von der Erde entfernt. Das Planeten-Duett wird entweder in einem einzigen Riesenstern enden – oder als doppeltes schwarzes Loch. e „Wut“
steht auf den Plakaten, mit denen staatliche Ärzte in Hongkong für eine
bessere Bezahlung demonstrieren. Sie wollen drei Prozent mehr Gehalt,
das haben auch die Regierungsbeamten gerade bekommen. Klingt irgendwie gerecht – aus der Ferne betrachtet. rha
HEIKO V. TSCHISCHWIT Z
UND EBERHARD BRANDES
Heiko v. Tschischwitz ist CEO bei LichtBlick,
Eberhard Brandes CEO des WWF
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REUTERS/BOBBY YIP
DPA/L. CALÇADA
DPA/ETTORE FERRARI
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eutschlands Ingenieure sind Weltspitze. Dank ihres Know-how sind
wir Exportweltmeister. Doch diese
Position ist in Gefahr. Denn Deutschland
droht bei der digitalen und erneuerbaren
Energierevolution den Anschluss zu verpassen. Und das, obwohl unser Land als
Erfinder der Energiewende gilt.
Wiederholt sich hier ein bekanntes Muster? Der erste Rechner wurde von dem
Deutschen Konrad Zuse gebaut, bei Halbleitern und Schaltkreisen waren deutsche
Unternehmen lange vorne mit dabei. Doch
ein iPhone made in Germany? Fehlanzeige.
Geht es um die Verknüpfung von Hardware
und Software zu spannenden Innovationen,
dann dominieren Google, Apple oder Microsoft.
Derzeit sind wir wieder im Begriff, uns
vom Fahrersitz auf die Rückbank verdrängen zu lassen. Wir stecken mitten im größten technologischen Umbruch seit der
Einführung des Computers und des Internets. Deutschlands Ingenieure haben
diese Entwicklung entscheidend mit angeschoben, sie haben Fotovoltaik, Windkraft und Speichertechnologien entwickelt
und tauglich für den Massenmarkt gemacht. Unsere Energie und Mobilität werden erneuerbar und digital. Es entstehen
gänzlich neue Geschäftsfelder und Produkte.
Wenn Energie künftig mehr in Netzwerken aus Haushalten, Unternehmen oder
Kommunen produziert wird, dann braucht
es dafür zum Beispiel smarte Unternehmen,
die IT und Energie gleichermaßen verstehen. Sie stellen Apps, IT-Plattformen
und intelligente Zähler bereit, mit denen
lokale Energie optimal verteilt wird. Woher
werden die neuen Player kommen? Sind wir
bereit in Deutschland? Oder fahren die
Ernte womöglich wieder andere ein?
Wenn es so kommt, dann liegt das nicht
an fehlenden Ideen. Die sind wie eh und je
zur Genüge vorhanden. Nur fallen sie leider
in den Vorstandsetagen und Aufsichtsräten
vieler Unternehmen, insbesondere der
Automobil- und Energiebranche, nicht auf
fruchtbaren Boden. Das Gros der Spitzenmanager denkt noch immer fossil. Sie versuchen, aus ihren Technodinos wirtschaftlich herauszupressen, was möglich ist – wie
das Beispiel des Braunkohletagebaus Garzweiler ebenso traurig belegt wie „Dieselgate“ bei VW. Energieunternehmer lobbyieren
in Berlin für staatliche Kohlesubventionen.
Und die Chefs der Automobilbranche
kämpfen in Brüssel gegen strengere Abgasnormen. Noch immer fließt der Löwenanteil der Forschungs- und Marketingetats
in Verbrennungsmotoren, statt die E-Mobilität konsequent zu fördern. „Umparken im
Kopf“ geht anders.
Unternehmen wie Tesla zeigen, wie man
aus der globalen Energiewende mit neuem
Denken Chancen macht. Die Kalifornier
entwickeln nicht nur schicke E-Flitzer,
sondern schicken sich an, den Speichermarkt zu revolutionieren. Wir haben in
Deutschland Kapital und kluge Köpfe. Aber
das allein reicht nicht. Wenn wir den Anschluss nicht verlieren wollen, brauchen
wir eine neue Unternehmenskultur. Mit
dem derzeit bei vielen Managern beliebten
Kurztrip ins Silicon Valley ist es nicht getan. Für einen grundsätzlichen Wandel sind
flachere Hierarchien erforderlich, in denen
Mitarbeiter mit ihren Ideen mehr Gehör
finden. Investitionen in Innovation bringen
mehr Ertrag, wenn Mut zum Risiko besteht.
Es geht nicht darum, Fehler zu vermeiden –
sondern sie schneller als andere zu machen
und daraus zu lernen. Nicht die Angstkultur
von VW, sondern die Fehlerkultur von
Google muss das Vorbild sein.
Deutschland ist das Land der Erfinder.
Immer noch. Wir glauben: Wenn wir uns
auch in den Chefetagen der Realität einer
digitalen und erneuerbaren Energie- und
Mobilitätswelt öffnen, die Energiewende
beherzt vorantreiben und eine innovationsfreudige Unternehmenskultur schaffen,
dann können wir auch in 20 Jahren noch
Exportweltmeister sein.
ESSAY
„Lassen Sie uns streiten“
Z
u selten ist das Unerwartete eine
Freude. Erwartet hatte ich von dem
Friedenspreisträger eine Sonntagsrede, gehalten hat der Schriftsteller
und Islamwissenschaftler Navid Kermani in der Paulskirche die wohl
ungewöhnlichste, emotional wie intellektuell aufrüttelndste Ansprache der letzten Zeit.
Ich war überrascht, denn zu sehr hatte sich bei mir das
Bild eines der Realität entrückten, staunenden Ästheten eingeprägt, für den nur das Ideale wirklich wahr
ist. Obwohl er sich oft als Reporter vor Ort die Schrecken besieht, erschien mir sein Weltbild sehr vom
„Sehenwollen“, anstatt vom „Hinsehen“ bestimmt.
Gut in Erinnerung ist mir noch sein 2011 geäußertes
euphorisches Lob „Der Zärtlichkeit der Massen“ der
Menschen auf dem Tahir-Platz in Kairo. Seine Einschätzung, dass der „arabische Frühling“ größer als die
Französische Revolution oder die Wiedervereinigung
sei. Auch dass er sich in der Islamkonferenz der Debatte mit den Islamverbänden über Grundrechte entzog,
machte ihn für mich nicht zu einem kritischen Geist.
Kermani machte bisher das, was dem Mainstream
unserer Gesellschaft entsprach: den Islam zu entpolitisieren und Religion damit als etwas Entrücktes
oder Überirdisches zu rehabilitieren. Die Laudatio des
Literaturprofessors Norbert Miller zielte dann auch auf
den Poeten, der sich mehr um sich und die ästhetische
Form, als um das Leben selbst kümmert.
Und dann diese Rede! Sie war angelegt wie eine
Sinfonie. Es begann mit der Ouvertüre des Berichts
über ein Kloster von christlichen Mönchen, die den
Islam lieben und deren Pater Jacques vom IS entführt
worden war. Was sich zunächst wie eine Abschweifung
anhörte, instrumentierte sein Thema, die „Nächstenliebe“ über Religionsgrenzen hinweg. Die folgenden
sinfonischen Sätze, mal schnell, mal langsam komponiert, steigerten sich zunächst in eine leidenschaftliche Anklage gegen die Schrecken, die der Islamische
Staat, aber auch die islamischen Staaten wie SaudiArabien der Welt, den Menschen und der Religion
antut. Er zählte auf, was im Namen des Islam in aller
Welt an Verbrechen verübt wurde und wird. Und bezeichnete dies als „islamischen Faschismus“.
Den Islamverbandsvertretern Bekir Alboga von der
türkischen Ditib und Aiman Mazyek vom Zentralrat
der Muslime, die in der ersten Reihe der Paulskirche
Lieber Navid
Kermani: Der
Islam ist, wie er
gelebt wird, und
nicht, was in ihm
gelesen und
vermutet wird.
Auch nicht, was
er sein könnte
und einmal war
NECL A KELEK
zuhörten, muss Hören und Sehen vergangen sein, als
der Redner Sätze sagte wie: „Es gibt keine islamische
Kultur mehr“ und dafür unter anderem die Wahabisten
verantwortlich machte, die ja gerade den Zentralrat
und Moscheen in Deutschland finanzieren. Kermani
kritisierte auch den Westen, der die Aufklärung mit
Gewalt in die islamische Welt getragen und dem Orient keine Zeit gelassen habe. Das religiöse Denken sei
durch das „politische Dynamit“ der Aufklärung und
den religiösen Faschismus von Salafisten und Wahabisten verschwunden. Dabei habe der Islam eine friedliche, vor allem mystische Tradition, sie sei nur verloren. Von Mohammeds Kriegen sprach er nicht.
Der Redner forderte von Muslimen Selbstkritik und
rehabilitierte mit einem Satz, was heute so gern als
Islamkritik abgewertet wird: „Wer heute als Muslim
nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, ihn nicht
kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.“ In dieser
Form habe ich so etwas bisher nur von wenigen kritischen Geistern wie Salman Rushdie oder Ayaan Hirsi
Ali gehört, die als Dissidenten geschmäht werden.
Wenn dies ein gläubiger Muslim vor aller Welt sagt,
kann man nur hoffen, dass die Debatte der Muslime
untereinander beginnt und die Diffamierung von Kritik
aufhört. Zum Höhepunkt seiner Sinfonie mit Fermate
und Paukenschlag forderte er direkt und ohne großes
Herumgerede zu einem stärkeren Eingreifen Europas
im Nahen Osten auf. „Darf ein Friedenspreisträger
zum Krieg aufrufen?“ Pause. „Ich rufe nicht zu Krieg
auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg
gibt ...“ Aber Kermani wäre nicht der gelernte Dramaturg und Rhetor, wenn er sein Eingangsthema, die
Liebe, nicht wieder aufnehmen würde. Pater Jacques
ist inzwischen gerettet worden. Von den muslimischen
Nachbarn, die ihn unter Gefahr ihres eigenen Lebens
außer Landes schmuggelten. Ein kleines Happy End im
großen Drama, das mit der Aufforderung endete, ihm
nicht zu applaudieren, sondern gemeinsam für die
noch verschleppten Christen zu beten.
Ich war angetan von diesem Text, weil er rhetorisch
brillant ist und endlich den so lange vermissten Diskurs der Muslime untereinander ermöglicht. Den Streit
darüber möchte ich aufnehmen, denn ich folge Kermani nicht in einigen Auffassungen. Kermani geht davon
aus, dass der Koran zu schön, zu wirklich, zu kunstvoll
sei, um nicht göttlich zu sein. Mohammed ist für ihn
keine historische Figur, die kritisch hinterfragt werden
sollte. Aber der Prophet, der in Medina Kriegsherr
und Staatsführer war, lehrte nicht nur Liebe, sondern
erwartete Unterwerfung und Hingabe. Darin zeigte
sich der allgemeine Charakter dieser Religion allzu
deutlich. Über deren gewalttätiges Selbstverständnis
müssen wir sprechen und auch den Koran kritisch
hinterfragen und ihn nicht nur auf literarische und
ästhetische Qualität prüfen. Ich stimmte mit ihm
nicht überein, wenn er (in einem „SZ“-Gespräch)
bekannte: „Und Glaube ist streng genommen sogar
die Auslöschung des Ich. … Auslöschung des Ich –
das klingt ja nach Faschismus. Dabei geht es genau
darum: Dass unsere Individualität reicher wird, wenn
wir sie ins Allgemeine wenden und das eigene kleine
Ich hintanstellen.“ Redet er hier dem Kollektivismus,
im Islam die Umma, das Wort? Das wäre tatsächlich
im klassischen Sinne reaktionär.
Ich sage, der Islam ist, wie er von den Muslimen
gelebt wird, und nicht, was in ihm gelesen und vermutet wird. Auch nicht, was er sein könnte und vielleicht einmal war. Und ich nehme an, weil Kermani
den Horror und Terror des gelebten Islam nicht mit
seinem Wissen über ihn in Übereinstimmung bringen kann, flüchtet er in eine Art überkonfessioneller
Ästhetik. Kermani redete dem Leitbild einer religiösen Gemeinschaft und nicht der säkularen Gesellschaft das Wort. Und dieser Eifer verleitete diesen
vorsichtigen Mann zum Übergriff. Das zeigte sich, als
er die Anwesenden am Ende seiner Rede zum Gebet
aufforderte. Die Nichtgläubigen dürften auch stehend hoffen, sagte er.
Das ging mir zu weit. Religion kann man nicht
entpolitisieren, um dann den Ritus des Gebets in der
Paulskirche, die wie kein anderer Ort für die säkulare
Tradition unserer Demokratie steht, politisch zu
instrumentalisieren. Meiner Meinung nach kann sich
der Islamische Staat genauso auf den Koran berufen,
wie Kermani ihn zu einer Botschaft der Liebe macht.
Solange wir ihn nicht kritisch lesen, die Gewalt ächten, bleibt die Offenbarung ambivalent. Kermani
setzt nur auf die Liebe als Kern aller Religion. Das ist
eine These, über die ich mit ihm und anderen Muslimen gern streiten würde.
Die Autorin (57) ist eine deutsche Sozialwissenschaftlerin und Publizistin. Sie ist Islamkritikerin und versteht sich als Frauenrechtlerin.
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