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DALAI LAMA
DER
MITTLERE
WEG
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DALAI LAMA
DER
MITTLERE
WEG
Glaube und Vernunft
in Harmonie
Aus dem Englischen übersetzt
von Elisabeth Liebl
Diederichs
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Middle Way. Faith Grounded in Reason
© 2009 Wisdom Publications, USA
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das FSC-zertifizierte Papier Munken Premium für dieses Buch
liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.
© 2010 Diederichs Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Weiss/Zembsch/Partner, Werkstatt/München
Bildmotiv: © Corbis All Rights Reserved
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-424-35012-8
www.diederichs-verlag.de
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Inhalt
Vorwort des Übersetzers
der englischsprachigen Ausgabe 7
EINFÜHRUNG
Die Macht des Mitgefühls 13
TEIL I
Erläuterungen zu Nagarjunas
Grundlegende Verse zum Mittleren Weg
ERSTES KAPITEL
Sich der Tiefe nähern 27
ZWEITES KAPITEL
Die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens 46
DRITTES KAPITEL
Die Analyse von Selbst und Nicht-Selbst 89
VIERTES KAPITEL
Die Analyse der konventionellen Wahrheit 122
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TEIL II
Erläuterungen zu Tsongkhapas
Drei Grundlegende Aspekte des Pfades
ERSTES KAPITEL
Die Tiefe praktizieren 153
ANHANG 1
Drei Grundlegende Aspekte des Pfades 187
ANHANG 2
Lobpreis der Siebzehn Nalanda-Meister 191
Schlusswort 198
Bibliografie 200
Anmerkungen 204
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Vorwort des Übersetzers
der englischsprachigen Ausgabe
Das vorliegende Buch bietet eine umfassende Darstellung
der Grundlagen des Mahayana-Buddhismus, wie sie in der
tibetischen Tradition gelehrt werden, und wurde aus einer
Reihe von Vorträgen zusammengestellt, die Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, 2004 in Toronto gehalten hat. Das
Buch teilt sich in zwei große Abschnitte. Teil I beschreibt
den Pfad zur Erleuchtung anhand dreier zentraler Kapitel
aus dem Mulamadhyamakakarika (Grundlegende Verse zum
Mittleren Weg), einem Text, der im 2. Jahrhundert von dem
indischen Meister Nagarjuna verfasst wurde. Teil II erklärt,
wie die Schlüsselelemente des buddhistischen Pfades, nachdem man ein korrektes Verständnis derselben erworben hat,
in die Praxis umgesetzt werden können. Teil II stützt sich
auf Je Tsongkhapas (1357–1419) Text Drei Grundlegende Aspekte des Pfades. Der in Versform gehaltene brillante Text
wurde ursprünglich als briefliche Unterweisung an einen
sich in der Ferne aufhaltenden Schüler Tsongkhapas verfasst. Es liegen zwar fast eineinhalb Jahrtausende zwischen
diesen beiden wichtigen Texten, dennoch ergänzen sie sich
wunderbar. Dass sie auch dem spirituell Suchenden von
heute noch so viel zu sagen haben, beweist die zeitlose Gültigkeit der Erkenntnisse, die in ihnen niedergelegt ist.
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Wie schon bei anderen zahlreichen Gelegenheiten zuvor hatte ich in Toronto die Ehre, dem Dalai Lama als
Übersetzer zu dienen. Schon vom ersten Tag an hatte ich
das Gefühl, dass an dieser Vortragsreihe etwas Besonderes
war. Anders als sonst üblich ging der Dalai Lama bei seinen
Erläuterungen zu diesen Texten äußerst systematisch vor.
Zum einen geschah dies, um zu verdeutlichen, dass der tibetische Buddhismus als direkte Fortsetzung der Lehrtradition der Nalanda-Universität gelten kann, eine Tatsache,
auf die der Dalai Lama vielfach hingewiesen hat. Vor dem
Aussterben des Buddhismus in Indien war dies die bedeutendste buddhistische Universität des Landes. Ihre Blütezeit fällt in einen Zeitraum von kurz nach der Zeitenwende bis zum Ende des 12. Jahrhunderts.
Der Dalai Lama leitete seinen Vortrag mit einem von
ihm selbst verfassten Text ein, in dem er den Hauptlehrern
von Nalanda, deren Lehren das Fundament des tibetischen
Buddhismus bilden, seine Ehrerbietung bezeugt. Dort sagt
er (Die vollständige Fassung des Textes findet sich in Anhang 2):
Heute, wo Wissenschaft und Technik einen sehr hohen Stand
erreicht haben, kümmern wir uns fast ausschließlich um
weltliche Belange. Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig,
dass wir, die wir dem Buddha folgen, ein auf echtes
Verständnis gegründetes Vertrauen in seine Lehren gewinnen.
Daher sollten wir uns mit objektivem Geist und einer
gesunden Portion Skepsis der Analyse unserer
Überzeugungen widmen und diese auf ihre Grundlagen hin
untersuchen.
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Ein entscheidender Ratschlag, den uns die Nalanda-Tradition – wie der Dalai Lama sie nennt – erteilt, lautet, dass
wir uns dem Buddhadharma nicht einfach nur aufgrund
von Glauben und Vertrauen zuwenden, sondern diese Entscheidung mit einer kritischen Prüfung verbinden sollten.
Die Wichtigkeit einer solchen Herangehensweise, auch als
»Weg eines mit Klugheit begabten Menschen« bezeichnet,
wird von vielen Nalanda-Meistern nachdrücklich unterstrichen. Das Vertrauen in den Buddha und den Dharma
– seine Lehre –, das auf diese Weise gewonnen wird, ist tief
und unerschütterlich. Wie aber können wir diese Art von
Vertrauen entwickeln? Der Dalai Lama schreibt hierzu:
Durch das Verständnis der zwei Wahrheiten und der Natur
der Grundlage werde ich zweifelsfrei feststellen, wie wir im
Gefolge der vier Wahrheiten in Samsara eintreten und diese
Welt wieder verlassen.
Dadurch wird mein Glaube an die Drei Juwelen
unerschütterlich, Glaube, der aus Weisheit entsteht.
Möge ich gesegnet werden, sodass sich der Pfad zur
Befreiung fest in mir verankert.
Diese Strophe aus dem Lobpreis der Siebzehn Nalanda-Meister
gibt in gewisser Weise die Gliederung für Teil I dieses Buches vor, in dem die Schlüsselelemente des buddhistischen
Pfades anhand eines Kommentars zu Nagarjunas Mulamadhyamakakarika erläutert werden. Am Anfang steht ein Kommentar zu den zwölf Gliedern des abhängigen Entstehens
(die in Kapitel 26 von Nagarjunas Text behandelt werden).
Nagarjuna beschreibt hier ausführlich, wie das UrsacheWirkungs-Gefüge, das uns im Kreislauf der Existenzen festhält, aus buddhistischer Sicht aussieht. Die Wurzel der zwölf
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Glieder ist die grundlegende Unwissenheit, die sich an die
Vorstellung der inhärenten Natur von Ich und Erscheinungswelt klammert.
Daran schließt sich ein Kommentar zu Kapitel 18 an,
der Nagarjunas Sicht der Lehre Buddhas zum Nicht-Selbst
(anatman) erklärt sowie zur Selbst-Losigkeit des Ich und
der fünf Skandhas, den psychischen und physischen Komponenten der Persönlichkeit. Dieses Kapitel handelt von
der Leerheit, die Nagarjuna zufolge die letztendliche Seinsweise aller Wesen darstellt. Diese Leerheit ist, um Nagarjunas Worte zu gebrauchen, tathata (»Soheit«), paramartha
(»letzendliche Wahrheit«) und dharmata (»die Natur der
Wirklichkeit«).
In seinem Kommentar zu Kapitel 24 von Nagarjunas
Text erläutert der Dalai Lama schließlich, dass Leerheit
nicht gleichbedeutend ist mit Nihilismus. Vielmehr ist damit eine Sichtweise der Wirklichkeit gemeint, die uns erlaubt, die relative beziehungsweise konventionelle Wirklichkeit zu erklären. Nur diese Erklärung der Leerheit lässt
das Wirken von Ursache und Wirkung als logisch haltbar
erscheinen. Der Dalai Lama erläutert ausführlich, wie in
Nagarjunas Darstellung Leerheit – die letztendliche Wahrheit – und abhängiges Entstehen – die relative Wahrheit –
untrennbar verwoben sind.
Die klaren Erläuterungen und die scharfe Analyse
Seiner Heiligkeit, verbunden mit den Erkenntnissen
maßgeblicher Kommentatoren wie Aryadeva (circa 2.
Jahrhundert), Chandrakirti (7. Jahrhundert) und Tsongkhapa (frühes 15. Jahrhundert), lassen in den Versen Nagarjunas die tiefe Einsicht in die Natur der Wirklichkeit
aufscheinen. Dennoch verliert der Dalai Lama nie die
Tatsache aus den Augen, dass letztendlich die Belehrun10
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gen zur Leerheit einen Zweck haben: Wir sollen sie mit
unserer persönlichen Erfahrung in Verbindung bringen
und daraus ein tiefer gehendes Verständnis der Welt, die
uns umgibt, gewinnen. Oder – wie Nagarjuna es ausdrückt – der Zweck der Belehrungen zur Leerheit ist es,
das Festhalten an der inhärenten Existenz von Selbst und
Erscheinungswelt zu lockern, damit wir wahre Freiheit
erlangen.
In Teil II des Buches werden Methoden beschrieben,
wie wir unser Wissen über den Pfad praktisch verwirklichen können. Seine Heiligkeit gibt zu diesem Zweck tiefgründige Erklärungen zu Tsongkhapas berühmtem Text
Drei Grundlegende Aspekte des Pfades. Bei diesen drei Aspekten handelt es sich um wahre Abkehr, das Erwecken des
Erleuchtungsgeistes sowie die korrekte Sicht der Leerheit.
Hat man durch Nachdenken über die Leerheit, die vier
edlen Wahrheiten und die zwölf Glieder des abhängigen
Entstehens ein gutes Verständnis des buddhistischen Pfades
entwickelt, so kann man Teil II als Anleitung für die tägliche Meditationspraxis benutzen.
Als ich die Mitschriften der Vorträge für dieses Buch überarbeitet habe, war es mir eine große Freude, mich erneut
mit diesen einzigartigen Belehrungen befassen zu können.
Viele Menschen haben dazu beigetragen, dass dieses Buch
realisiert werden konnte. Zunächst einmal gilt mein ganzer
Dank Seiner Heiligkeit selbst, der stets eine unerschöpfliche Quelle von Weisheit und Mitgefühl ist. Ich danke
ferner der Tibetan Canadian Association of Ontario und besonders ihrem Präsidenten Norbu Tsering, die 2004 die
Kalachakra-Einweihung in Toronto organisiert hat, denn
bei dieser Gelegenheit wurden die hier präsentierten Be11
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lehrungen erteilt. Danke an Lyna de Julio und Linda Merle, die mir geholfen haben, Teile der Vorträge zu transkribieren. Gedankt sei auch Ehrwürden Lhakdor und seinem
Team in Dharamsala, die mir eine tibetische Mitschrift der
Belehrungen Seiner Heiligkeit zur Verfügung stellten, die
sich bei der Überarbeitung meiner eigenen mündlichen
Übersetzung ins Englische als äußerst hilfreich erwies. Und
nicht zuletzt möchte ich meinem Lektor bei Wisdom
Publications, David Kittelstorm, danken. Durch seine unschätzbare Hilfe ist aus diesem Text ein lesbares Buch geworden. Mögen diese Bemühungen dazu beitragen, dass
die Weisheit des großen Meisters Nagarjuna durch die erhellenden Erläuterungen Seiner Heiligkeit den Suchenden
auf dem Pfad des Erwachens zur Quelle von Einsicht und
Inspiration wird.
Thupten Jinpa
Montreal, 2009
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EINFÜHRUNG
Die Macht des Mitgefühls
Vor vielen Jahrhunderten erkannte der Mensch, wie wichtig es ist, sich den Intellekt und seine Möglichkeiten dienstbar zu machen. Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung
der Schrift und schließlich zur Einführung eines formalen
Schulsystems. Dass Bildung wichtig ist, gilt heute schon
fast als Allgemeinplatz, doch sollte man über alldem nicht
vergessen, was eigentlich der höhere Zweck des Lernens
ist. Denn was nützt es uns,Wissen anzuhäufen, wenn dieses
Wissen nicht zu einem glücklicheren Leben führt?
Jeder kennt Menschen, die zwar eine gute Ausbildung
genossen haben, aber dennoch nicht glücklich sind. Die
Bildung hat zwar ihr kritisches Denkvermögen geschult
und ihre Erfolgsaussichten verbessert, doch sie haben
Schwierigkeiten, den an sie gestellten Erwartungen zu genügen, und das macht sie ängstlich und frustriert. Ganz
offensichtlich ist eine gute Ausbildung allein noch keine
Garantie für Glück und Zufriedenheit. Für mich ist Wissen
vor allem ein Werkzeug, mit dem man sowohl Gutes wie
Schlechtes erreichen kann.
Viele Menschen glauben, der Hauptzweck des Lernens
sei es, mehr Geschicklichkeit im Ansammeln von Geld, Be13
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sitz oder Macht zu entwickeln. Doch so wie Wissen allein
noch nicht glücklich macht, so wenig befreien uns Macht
und materieller Besitz von Sorge und Unzufriedenheit. Es
muss also einen zusätzlichen Faktor im Geist geben, der die
Grundlage für ein glückliches Leben schafft, etwas, das uns
ermöglicht, die Schwierigkeiten dieses Lebens zu meistern.
Ich sage häufig von mir, dass ich als einfacher buddhistischer Mönch keine sonderlich breit gefächerte Ausbildung
genossen habe. Ich weiß ein bisschen über buddhistische Philosophie, doch war ich als Schüler in den ersten Jahren meiner Ausbildung eher faul. Daher sind meine Kenntnisse selbst
in diesem Bereich begrenzt. Dazu kommt noch, dass ich in
Fächern wie Mathematik, Geschichte oder Geografie so gut
wie gar nicht geschult worden bin. Obendrein führte ich als
junger Mensch ein recht bequemes Leben. Die Dalai Lamas
besaßen zwar kein Millionenvermögen, meine Lebensumstände waren dennoch recht komfortabel. So waren meine
Kenntnisse der buddhistischen Lehre begrenzt, als ich nach
der Besetzung Tibets durch die Chinesen aus meinem Geburtsland fliehen musste, und ich hatte nur wenig Erfahrung
in der Lösung praktischer Probleme. Mit einem Mal lastete
eine großeVerantwortung auf mir, und alles, was ich bis dahin
an geistiger Schulung genossen hatte, wurde einer Bewährungsprobe unterzogen. In all diesen Jahren war das Mitgefühl, eine innere Qualität also, mein verlässlichster Freund.
Mitgefühl schenkt uns Aufrichtigkeit und innere Stärke. Wer aufrichtig ist, muss nichts verbergen und macht
sich nicht abhängig von der Meinung anderer. Das Selbstvertrauen, das man auf diese Weise gewinnt, lässt uns jedes
Problem entschlossen und mutig angehen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Probleme und Hindernisse
sich als höchst hilfreich erweisen können, wenn man sich
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entschlossen und beharrlich um eine Lösung bemüht, da
sie unsere Erfahrung auf eine breitere und tiefgründigere
Basis stellen. Daher denke ich, dass es nichts Kostbareres
gibt als Mitgefühl.
Was aber versteht man unter Mitgefühl? Mitgefühl bedeutet, dass man anderen gegenüber ein Gefühl der Nähe,
der Achtung und Zuneigung empfindet, wobei unsere
Haltung nicht von deren Verhalten uns gegenüber abhängt.
Normalerweise mögen wir alle Menschen gern, die uns
wichtig sind. Unsere Feinde, also die Menschen, die
schlecht von uns denken, schließen wir aus diesem Gefühl
der Nähe aus.Wahres Mitgefühl hingegen erkennt, dass andere sich wie wir Glück und Erfolg wünschen und nicht
leiden wollen. Wahres Mitgefühl umfasst Freunde und
Feinde gleichermaßen, unabhängig davon, welche Haltung
sie uns gegenüber einnehmen.
Gewöhnliche Liebe ist an Bedingungen geknüpft und
mit Anhaftung vermischt. Wie andere leiderzeugende Gefühle beruht auch die Anhaftung nicht auf einer korrekten
Sicht der Wirklichkeit, sondern auf geistigen Projektionen.
Damit überhöht man die Eigenschaften des Objekts. Es
mag durchaus positive Eigenschaften besitzen, doch die
Anhaftung sorgt dafür, dass wir es als rundum gut oder
schön wahrnehmen. Mitgefühl lässt uns die Dinge realistischer sehen. Es besteht also ein großer Unterschied zwischen gewöhnlicher Liebe und Mitgefühl.
Die entscheidende Frage ist nun, ob wir in der Lage
sind, ein solches Mitgefühl zu entwickeln. Aus meiner
Sicht lautet die Antwort: Ja. Denn wir alle tragen den Samen des Mitgefühls in uns, er ist der eigentliche Kern unserer menschlichen Natur. Wir Menschen könnten, besonders in den ersten Lebensjahren, ohne die Zuneigung und
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das Mitgefühl der anderen gar nicht überleben. Dass wir
heute am Leben sind, verdanken wir nur der Tatsache, dass
sich unsere Mutter oder jemand anderer an ihrer Stelle
vom Augenblick unserer Geburt an um uns gekümmert
hat. Hätte sie uns nur ein oder zwei Tage vernachlässigt,
wären wir gestorben. Diese Art der Fürsorge ist uns angeboren, und wir können unsere Intelligenz benutzen, um
diese Haltung weiter zu kultivieren.
Gerade in unserer Zeit ist es notwendiger denn je, diese natürliche Veranlagung zur Güte zu pflegen und zu verstärken. Die Bevölkerungsentwicklung sowie der wirtschaftliche und technologische Fortschritt haben der
modernen Welt einen hohen Grad an Vernetztheit beschert. Unsere Welt wird immer kleiner, daher muss die
Menschheit allen politischen, ideologischen und teilweise
auch religiösen Differenzen zum Trotz Mittel und Wege zu
Kooperation und friedlicher Koexistenz finden. Daran
führt kein Weg vorbei. Dem Mitgefühl kommt also auch
auf internationaler Ebene eine entscheidende Rolle zu.
Es vergeht kein Tag, an dem die Medien nicht über
Blutvergießen und Terroranschläge berichten. Diese Dinge
geschehen nicht aus heiterem Himmel, sondern dafür
wurden Ursachen und Bedingungen geschaffen. Einige
Ereignisse, mit denen wir heute konfrontiert sind, wurzeln
aus meiner Sicht in unachtsamen Handlungen, die im 18.,
19. und 20. Jahrhundert begangen wurden. Unglücklicherweise versuchen einzelne Gruppen, das Vergeltungsbedürfnis der Menschen für ihre politischen Zwecke einzusetzen.
Wie soll man dieser wachsenden Gewalt begegnen? Sicher
nicht mit noch mehr Gewalt und Blutvergießen. Probleme, die durch Gewalt verursacht wurden, kann man nicht
mit Gewalt lösen.
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Warum ist das so? Zunächst einmal ist Gewalt beziehungsweise die Anwendung von Gewalt ihrer Natur nach
nicht kalkulierbar. Man denkt, mit dem »dosierten« Einsatz
von Gewalt Probleme lösen zu können, doch dann geraten
die Dinge immer mehr außer Kontrolle. Des Weiteren bedeutet Gewaltanwendung immer, dass jemand verletzt
wird, wodurch Hass entsteht, der zur Ursache für künftige
Probleme wird. Man könnte Krieg als legalisiertes Gewaltventil bezeichnen. In früheren Jahrhunderten waren die
einzelnen Länder weniger aufeinander angewiesen als heute, daher konnte man die Vernichtung eines Feindes für
sich selbst zum Sieg umdeuten. Doch die enge Verflechtung der Nationen, wie wir sie heute kennen, macht jede
kriegerische Auseinandersetzung sinnlos. Die Vernichtung
des Gegners ist letztlich gleichbedeutend mit Selbstvernichtung.
Interessenkonflikte jeder Art lassen sich am besten
durch Dialog lösen. Dies ist die einzig wirklich Erfolg versprechende Methode. Wir müssen die Wünsche und Interessen der anderen Seite respektieren und Kompromisse
eingehen. Setzen wir uns über die Interessen der anderen
hinweg, legen wir nur die Grundlagen dafür, dass am Ende
auch wir selbst Leid erfahren werden.
Bei meinen Vorträgen weise ich immer wieder darauf
hin, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Gewalt
war und dass uns dies klar und deutlich zeigt, dass Gewalt
keine Probleme löst. Konflikte können nur auf friedlichem
Weg gelöst werden, daher sollte das 21. Jahrhundert ein
Jahrhundert des Dialogs werden. Dazu brauchen wir Entschlossenheit, Geduld und eine umfassendere Sicht der
Dinge. Hierbei kommt dem Mitgefühl eine Schlüsselrolle
zu. Wie ich bereits sagte, gibt uns Mitgefühl Selbstvertrau17
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en und macht uns sensibler für die Rechte und Bedürfnisse anderer.Wenn wir uns in Mitgefühl üben, wird der Geist
ruhiger, und mit einem ruhigen Geist sehen wir die Wirklichkeit klarer. Wird unser Geist hingegen von leiderzeugenden Emotionen beherrscht, nehmen wir die Wirklichkeit nur verzerrt wahr und treffen falsche Entscheidungen.
Mitgefühl erweitert unsere Sicht der Dinge.
Ich empfinde Achtung vor Regierungschefs und Politikern, doch manchmal denke ich, sie sollten mehr Mitgefühl haben. Wenn auch nur einer dieser Politiker mehr
Mitgefühl entwickeln könnte, dann hieße dies Frieden für
Millionen unschuldiger Menschen. Vor vielen Jahren traf
ich aus offiziellem Anlass in Indien mit einem Politiker aus
dem Bundesstaat Bengalen zusammen.Wir sprachen unter
anderem über Fragen von Ethik und Spiritualität, wobei
er meinte: »Als Politiker verstehe ich nicht viel von diesen
Dingen.« Vielleicht wollte er nur bescheiden sein, doch
ich nahm diese Bemerkung zum Anlass für einen vorsichtigen Tadel. Gerade Politiker müssten sich doch um ethisches Verhalten und Spiritualität bemühen, erwiderte ich.
Wenn ein Mönch oder Einsiedler an einem abgeschiedenen Ort eine schädliche Handlung begeht, dann sind die
globalen Auswirkungen eher gering. Doch wenn Staatschefs beziehungsweise Politiker nicht achtsam oder mitfühlend handeln, kann das schwerwiegende Konsequenzen haben.
Für mich hat Mitgefühl nicht unbedingt mit Religion
zu tun. Ordnet man Mitgefühl oder Vergebung ausschließlich dem Bereich der Religion zu, dann lehnt jeder, der der
Religion negativ gegenüber steht, diese Qualitäten ab.
Doch das wäre falsch. Ob wir einer Religion folgen oder
nicht, ist eine individuelle Entscheidung, doch solange wir
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Menschen uns diesen Planeten teilen, kommt diesen inneren Qualitäten entscheidende Bedeutung zu. Sie dürfen
nicht vernachlässigt werden. Wir Menschen wenden viel
Energie auf, um materiellen Wohlstand zu schaffen. Das ist
gut, doch wenn wir gleichzeitig unser Innenleben, d. h.
unsere inneren Qualitäten, vernachlässigen, wird uns das
nicht dauerhaft glücklich machen. Unsere materielle Entwicklung muss mit der Entwicklung innerer, menschlicher
Werte Hand in Hand gehen. Wenn wir wollen, dass der
Einzelne, die Familie, die Gesellschaft, ja die ganze Welt
glücklich ist, dann müssen wir – wenn es uns mit diesem
Wunsch ernst ist – Qualitäten wie Achtung vor dem anderen, Liebe und Mitgefühl entwickeln. Dies sollte das oberste Ziel moderner Erziehung sein.
ÜBER DIESES BUCH
Um ethisches Verhalten und ein gutes Herz zu entwickeln,
ist es aus meiner Sicht nicht nötig, einer bestimmten Religion zu folgen, auch wenn die verschiedenen Weltreligionen im Laufe der Zeit zu diesem Zweck nützliche Methoden entwickelt haben. Dass ich diese Themen aus
buddhistischer Sicht darstelle, liegt daran, dass ich mit dieser Tradition am besten vertraut bin. Andererseits gibt es im
Buddhismus Aspekte wie Leerheit, Ichlosigkeit und Natur
des Geistes, die in anderen Religionen keine Gültigkeit
besitzen. Daher hat dieses Buch auch zum Ziel, dem Leser
ein Verständnis der buddhistischen Grundlehren zu vermitteln.
Der erste Teil des Buches beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die Lehren Buddhas anhand dreier aus19
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gewählter Kapitel aus Nagarjunas 27 Kapitel umfassenden
Mulamadhyamakakarika, den Grundlegenden Versen zum Mittleren Weg, einem klassischen philosophischen Text aus Indien. Meine Erläuterungen beziehen sich jeweils auf einzelne Abschnitte aus diesen drei Kapiteln. Im zweiten Teil
geht es darum, wie man diese Belehrungen in die Praxis
umsetzen kann. Dazu ziehe ich einen kurzen Verstraktakt
von Je Tsongkhapa heran: Drei Grundlegende Aspekte des Pfades. Je Tsongkhapa ist der Begründer der Gelug-Tradition
des tibetischen Buddhismus.
Wenn man Buddhist ist und Dharmabelehrungen hört
oder selbst gibt, sollte man dies mit reiner Motivation tun.
Der Lehrer darf keinerlei egoistische Ziele verfolgen, zum
Beispiel Ansehen, Ruhm oder Geld. Sein Bestreben sollte
dem Wohl aller Wesen gelten. Auch der Schüler muss sich
von egoistischen Motiven – wie etwa ein berühmter Gelehrter zu werden oder den eigenen Lebensunterhalt als
Dharmalehrer bestreiten zu können – freimachen. Der
Schüler sollte die Lehren im Wunsch hören, dass sein Geist
sich dem Dharma zuwenden möge, dass seine Dharmapraxis
erfolgreich sein und zur Ursache werden möge, dass er Befreiung und den Zustand der allwissenden Buddhaschaft erlangt.
Wie aber schafft man diese reine Motivation? Wir können zum Beispiel vor den Belehrungen entsprechende
Wunschgebete sprechen. Damit eine Belehrung tatsächlich
buddhistischen Charakter annimmt, nimmt man Zuflucht
zu den Drei Juwelen, nämlich Buddha, Dharma und Sangha, also die Gemeinschaft der Praktizierenden. Zur Mahayana-Tradition, dem Bodhisattva-Pfad, gehört eine Belehrung dann, wenn man vorher bodhichitta erzeugt, den
Erleuchtungsgeist, der zum Wohle anderer nach Erleuch20
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tung strebt. Vor jeder Beschäftigung mit den Lehren Buddhas stehen also die Zufluchtnahme und die Erzeugung
des Erleuchtungsgeistes. Zu diesem Zweck spricht man
gewöhnlich – laut oder leise – folgende Verse:
Zum Buddha, zum Dharma und zur Höchsten
Versammlung der Praktizierenden
Nehme ich Zuflucht, bis ich Erleuchtung erlangt habe.
Möge ich durch das Verdienst der Großzügigkeit
und der anderen Vollkommenen Tugenden,
Buddhaschaft zum Wohle der Wesen erlangen.
Wenn ich Erklärungen zu den Lehren Buddhas gebe, so
sind natürlich auch Nicht-Buddhisten als Zuhörer willkommen. Sollten Sie in meinen Ausführungen etwas finden, das Ihnen nützlich erscheint, dann machen Sie es zu
einem Teil Ihrer täglichen Praxis. Was Ihnen weniger nützlich erscheint, sortieren Sie einfach aus. Natürlich wird jemand, der kein Buddhist ist, meinen Ausführungen in vielen Punkten nicht zustimmen, denn ich spreche ja über
einen buddhistischen Text, der logischerweise eine buddhistische Sicht vertritt. Bitte verstehen Sie es nicht als Geringschätzung Ihrer spirituellen Tradition, wenn ich einen
anderen Standpunkt vertrete als Sie.
Dazu muss man wissen, dass in der Geschichte des
Buddhismus die großen Gelehrten der buddhistischen Nalanda-Universität in Indien untereinander ausführliche
Debatten führten.Vertreter der Nur-Geist-Schule (Chittamatra), kritisierten den Standpunkt der Schule des Mittleren Weges (Madhyamaka) als »nihilistisch«, während die
Anhänger des Mittleren Weges der Nur-Geist-Schule vorwarfen, ins Extrem des »Ewigkeitsglaubens« zu verfallen.
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Vor diesem Hintergrund halte ich es mit Changkya Rinpoche, einem tibetischen Meister, der von 1717–1786 lebte:
Denke nicht, dass ich dich nicht respektiere.
Sollte ich dich beleidigt haben, so vergib mir bitte.1
Der tibetische Buddhismus ist eine umfassende Tradition.
Er versammelt alle Lehren des Großen und des Kleinen
Fahrzeugs und zusätzlich noch die tantrischen Lehren des
Vajrayana.
Was die Quellensprachen angeht, nahm der tibetische
Buddhismus viele Schlüsseltexte des Pali-Kanon auf, fußt
aber hauptsächlich auf der indischen Sanskrit-Tradition.
Betrachtet man hingegen den Ursprung seiner verschiedenen Überlieferungslinien, so ist der tibetische Buddhismus
zutiefst den Meistern der nordindischen Klosteruniversität
von Nalanda verpflichtet, deren Blütezeit ins erste Jahrtausend westlicher Zeitrechnung fällt. Alle Schlüsseltexte, die
an tibetischen Klosteruniversitäten studiert werden, wurden von den großen Lehrern von Nalanda beziehungsweise deren Schülern verfasst. Ich habe deswegen ein Gebet,
Lobpreis der Siebzehn Nalanda-Meister, geschrieben, das dem
Ursprung unserer Tradition Anerkennung zollen soll. Da
wir im tibetischen Buddhismus diesen Schriften so vieles
verdanken. Diesen Text finden Sie am Ende dieses Buches.
Doch den Schlusssatz möchte ich gleich zitieren.
Heute, wo Wissenschaft und Technik einen sehr hohen Stand
erreicht haben, kümmern wir uns fast ausschließlich um
weltliche Belange. Gerade in solchen Zeiten ist es wichtig,
dass wir, die wir dem Buddha folgen, ein auf echtes
Verständnis gegründetes Vertrauen in seine Lehren gewinnen.
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Da ich davon überzeugt bin, dass die alten Lehren des Buddhismus bis heute nichts an Bedeutsamkeit eingebüßt haben, lege ich Ihnen diese Einführung in die Tradition des
tibetischen Buddhismus vor.
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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Dalai Lama
Der mittlere Weg
Glaube und Vernunft in Harmonie
eBook
ISBN: 978-3-641-04245-5
Diederichs
Erscheinungstermin: Juni 2010
Das philosophische Manifest des Dalai Lama
In der ihm eigenen Klarheit stellt der Dalai Lama die Grundlagen seines Denkens auf eine Weise
dar, die es auch philosophisch ungeübten Lesern erlaubt, diese hochkomplexe Lehre geistig zu
durchdringen und praktisch umzusetzen.
In seinem neuen Grundlagenwerk erläutert der Dalai Lama die innere Architektur des tibetischen
Buddhismus, dessen Grundpfeiler Mitgefühl und Weisheit sind. Prägnant erläutert er die
Denkweise der „Leerheit“, die uns Zutritt zum Mittleren Weg, dem „Weg des vernünftigen
Menschen“, gewährt. Die entscheidenden Lebensfragen nach Sinn, Erfüllung und Erlösung vom
Leid werden aus einer Geisteshaltung beantwortet, die Glaube und Vernunft versöhnt. Eine
Einführung in den Buddhismus, geschrieben von seinem wichtigsten Vordenker.
Herunterladen