Eine Einführung zum Horoskop des Michael Nostradamus (1565) für

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Eine Einführung zum
Horoskop des Michael Nostradamus (1565)
für den späteren Kaiser Rudolf II.
von
Ludwig Dinzinger
Stuttgart
2017
1
„Michael de Nostredam: La Nativité du prince Rudolphe fils
ainé de l´Empereur Maximilian II. 1565.“ - „Michael von
Notredame: Das Horoskop des Prinzen Rudolf des
erstgeborenen Sohns des Kaisers Maximilian II. 1565.“
So steht der Titel auf Seite 1: dem folgen 107 Doppelseiten, das
ergibt 214 Seiten eng beschriebenen Text. Viele werden vor der
Fülle der Mitteilungen zurück schrecken. Es ist eine riesige Menge
an Inhalt in einer verdichteten und „manieristisch“ verschlungenen
Weise, hinzu tritt ein unberechenbares Maß an „poetischem Furor“,
so der Visionär selbst. Und seine Mitteilungen erfordern eine
souveräne Beherrschung der Astrologie auf dem Gipfelpunkt ihrer
Weltgeltung: alleine schon diese Aufgabe bräuchte in der
Überarbeitung der reduzierten heutigen Auffassungen dieser
Wissenschaft ein Lebenswerk, müsste einen neuen kaum
erforschten geistigen Kosmos enthüllen – wer kann das leisten?
Der Text ist ein „Stiefkind“ der Wissenschaft: so ist ist der Stand 25
Jahre nach seiner Entdeckung. Eine Beschäftigung mit der heute
„erledigten“ Hälfte der Astronomie ist kaum noch vorstellbar, dazu
käme die Rekonstruktion eines umfassenden Weltbildes
„verborgener Philosophie“. Vollends resigniert man nach dem
mysteriösen „poetischen“ Wesen des Textes vor seinem
„prophetischen“ Gestus, dieser ist heute genauso verworfen wie
die Astrologie und kaum noch als „Präkognition“ kommunizierbar.
Zugleich sind nicht wenige Inhalte des Horoskops „brisant“ in der
Vermittlung des antiken Weltbildes. Der Mikrokosmos Mensch ist
ins „All“ gebunden, dort ist er Glied hierarchischer Gesellschaft und
überweltlicher Ordnung: bezeichnende Stichworte dazu sind
„universelle Monarchie“, „christliche Welt“, „kommendes Reich des
Geistes“ - alles der säkular gewordenen Erde unmögliche Begriffe.
2
Inhalt
1. Eine „Einführung“
Seite 5
2. Das Horoskop für den späteren Kaiser Rudolf II.
Seite 9
3. Zur Entstehung des Werkes
Seite 11
4. Geschichtliche Einbettungen der beiden Personen, des
Prinzen und späteren Kaisers Rudolf, des Arztes und
Astrologen Nostradamus
Seite 15
5. Lebensdaten des Rudolf bis zu dem Horoskop
Seite 55
6. Der Inhalt der Genitur
Seite 57
7. Das kollektiv aufgefasste Bild zyklischer Astrologie in
Kombination mit den individuellen oder aktuellen Gestirnen
bei der Geburt
Seite 77
8. Die hohe Qualität der Konstellation bei der Geburt,
angezeigt durch die Signifikationen der oberen Planeten,
Mars, Saturn und Jupiter
Seite 87
9. Ein bedeutender Unterschied in langen historischen
Perspektiven zwischen Michael Nostradamus und
zeitgenössischer astrologischer Darstellung
Seite 99
10. „Die Übertragung der universellen Monarchie der
christlichen Welt“
Seite 111
3
11. Der Glückspunkt und neue andere Zeichen
Seite 119
12. Der Regierungsantritt und andere solarische und
jovialistische Bedeutungen
Seite 127
13. Einige Hinweise auf die zukünftige Geschichte
Deutschlands
Seite 143
14. Abschließende Bemerkungen
Seite 155
4
1. Eine „Einführung“
Zu dem Horoskop des Michael Nostradamus für den späteren
Kaiser Rudolf II. kann nur eine „Einführung“ geschrieben werden:
ein ausführlicher Kommentar, der jeden Satz verstehen und
erläutern sollte, erforderte viele hunderte Seiten. Das Werk ist ein
„gewaltiger Block“, in der Summe der ungeschminkten
Darbietungen firmamentischer Zeichen ein völlig
außergewöhnliches Gebilde. Die Unmenge an Signa und Urteilen
wird in heute kaum zu verstehender Anordnung vorgestellt, in
geradezu unaufhörlicher inhaltlicher Strecke. Dabei reicht der
astrologische Inhalt von geradezu wörtlichen langen Zitaten aus
den Lehrbüchern bis zu unverständlichen Häufungen von iudicia in
kaum endenden und undurchschaubaren Satzstrukturen, dazu tritt
ein ständiges Verlassen des Raumes individueller Astrologie zu
Gunsten geschichtsastrologischer Hintergründe, und immer wieder
bricht der Text in bildhafte Impressionen in kaum gezügelter Wucht
aus: hat man nun einen Satz vor sich, der alle diese Ebene nicht
nur streift, sondern entschieden durchschreitet, steht von vor
nahezu unlösbarer interpretatorischer Aufgabe. So ist man
gezwungen, einzelne Elemente des Textes herauszunehmen um
zumindest diese zu verstehen.
Man spürt die Anstrengung und die Mühe des Autors auf jeder
Seite: und man wagt es in Anbetracht der Quantität kaum, sich die
Bündelungen der Teile, der vielen Kapitel, und der Vielzahl von
Unterteilungen der Kapitel in allen ihren Einzelheiten vorzustellen.
5
Man steht erschüttert, verharrt bedenklich, verliert den Glauben an
die machbare Aufgabe. Wer spricht so? Heute am ehesten: der
Zenmeister, früher: der barocke Künstler, der eine ungeheuerliche
„Verzückung“ vorstellen will, in unendlicher Fülle und
unüberschaubarer Häufung, und noch früher: der stammelnde
mittelalterliche Mystiker, und schließlich sieht man einen Ursprung
in den antiken Begeisterten, in den ekstatischen Weisen, in den
sybillinischen Seherinnen. Man könnte diesen Weg bis in die
religiöse Welt des Animismus und der vorgeschichtlichen
Schamanen fortsetzen: doch dabei übersähe man erhebliche
Differenzen und viele viele Neuerungen auf dem Weg der
Evolution.
Zu dem Erschauern vor der Sprache kommen einem leser, der
verstehen will, manche Imaginationen über jene Zusammenhänge,
in die das Werk eingebettet ist: das riesige und großenteils
weitgehend unverstandene Werk des Nostradamus, die ebenso
große und unverstandene Biographie des Rudolf, die bedeutenden
Wirkungen der beiden Personen bis weit in eine Zukunft hinein. Im
Allgemeinen sieht man auch das große historische Geheimnis der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer Phase der Zeit, die sich
dem einfachen Verstehen zumeist entzieht, dieses gilt vor allen
Dingen im kulturgeschichtlichen Bereich: denn gerade dort
scheinen viele geistigen Strebungen immer deutlicher in eine
Machtpolitik zu münden, die auf die Katastrophen der ersten Hälfte
des 17. Jahrhunderts zutreiben muss – es gibt in dieser Zeit
eigenartige Schicksale der geistig Führenden, wir nennen Rudolf
II., Francis Bacon, Torquato Tasso, Fernando de Herrera – und
nicht zuletzt auch Michael Nostradamus.
6
Es ist die Literatur zu dieser Zeit und ihre Quellen und
Gegenstände wenig erforscht: dieses alles ist sicherlich kein Zufall.
Es besteht gerade in diesen 50 Jahren der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts eine Lücke im historischen Verständnis: wenn wir
heute zurück blicken übergehen wir diesen „Spalt“ leicht. Er passt
nicht zu den Auffassungen der „modernen Neuzeit“, die nach den
Entwicklungen seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts diese 50
Jahre nahezu überspringend entstanden ist.
Es fehlt die Identifikation des leitenden Schrifttums dieser Zeit, es
sollten heute unbekannte Werke zu finden sein, die den Charakter
dieser Zeit wie unter der Lupe aufleuchten lassen. Genau so
wären Personen zu identifizieren, die dort die Entwicklung
fortführen, d. i. die Impulse der Reformation und Renaissance
aufgreifen, diese aber nicht sofort umsetzen in die weiteren
Entwicklungen – z. B. der Literatur, mit Shakespeare, der Kunst,
mit dem Barock, den philosophischen und theologischen
Neuerungen, die so spezifisch für das 17. Jahrhundert sind –: hier
begeht die historische Erklärung immer wieder eine Art des
„Überspringens“. Was sind die Menschen, ihre Gedanken, ihre
Intentionen in eben dieser Zeit? In wen muss man sich vertiefen?
Wer ist die „Zierde seiner Zeit“, jene „Blüte“, um in Nostradamus
Worten zu sprechen, die das Wesen dieser Zeitlichen Phase nahe
brächte?
Wo erblickt man die weiter führenden Schritte am „reinsten“? Wer
liefert das evolutionäre Moment? Gibt es bestimmte Kreise, die
hier „typisch“ sind oder „typisierend“ wirken? Was ist der
„Charakter der Zeit“, die Stimmung der Epochen? Gibt es Länder,
die hervor treten? Oder sind es bestimmte kleinere zeitliche
Phasen, die hier klarer machen, was geschieht, Konzentrationen
7
wie im Brennpunkt weniger Jahre? Hinzu kommt die Lücke im
Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaften, die der Autor
und der Native teilten, namentlich die Theologie, die Medizin, die
„Geheimwissenschaft“ der „verborgenen Philosophie“, und darin,
als führende Wissenschaft, Astronomie und Astrologie.
Große Schwierigkeiten bietet gerade die Sternenkunde. Es ist
sicherlich so, dass es in der Geschichte der Astrologie – in der
Vergangenheit wie in der Zukunft - kein ausführlicheres und
fundierteres Werk von einer der besten Autoritäten dieses Faches
geben wird. Zugleich ist dieses aber kein Werk im Sinne einer
heutigen Astrologie: es folgt traditionelleren Linien, es greift
unerforschte antike Quellen auf, und es „komponiert“ diese
„astrophil“ in einer unerreichten Manier. Zugleich erfordert die
spezifische Methode des Nostradamus – in der Verwendung seiner
zyklischen Gestirnkunde, im Hinblick auf allgemeinere und
kollektive historische Begleitungen und Synchronizitäten – eine
intensive und jahrzehntelange Analyse und Übung.
Hinzu kommt noch, dass Michael Nostradamus Werk neben der
astrologisch-astronomischen und der enographisch-astrophilen
Dimension einen weiteren Horizont erfordert: es ist dieses die
„universelle“ Perspektive, eine Anforderung hoher Intellektualität
und inniger Spiritualität. Diese kosmisch zu verstehende Qualität,
die bis weit ins Unanschauliche reicht und höchsten Intuitionen
verpflichtet ist, wirkt auf die beiden ersten Ebenen zurück und
verleiht diesen eine souveräne Form, eine entschiedene
„Meisterhaftigkeit“, zu deren Interpretation schon ein gerütteltes
Maß an eigenem Können und nicht wenig Kühnheit gehören.
8
2. Das Horoskop für den späteren Kaiser Rudolf II.
Die vorliegende Ausgabe1 der umfangreichen astrologischen
Darstellung sucht dem originalen Zustand des Werkes möglichst
nahe zu kommen.
Übernommen wurden Seiteneinteilung, Schreibweise,
Interpunktion und Gliederung. Die Gestaltungsweise soll einen
"unmittelbaren" Eindruck des ursprünglichen Textes bewahren beispielsweise durch die Darstellung nur der deutlichen
Satzzeichen und die Annäherung an das grafische Aussehen des
Textes in der Verwendung verschiedener Schrifttypen nach dem
Vorbild der Quelle.
In Klammern (n) werden die Seitenzahlen des Originales
angegeben; der Beginn der Rückseite des jeweiligen Blattes ist mit
(_) gekennzeichnet. Die Seitenzahlen in dem Manuskript müssen
später hinzugefügt worden sein, denn an einer Stelle folgt die
Zählung nicht dem inhaltlichen Sinn. Dort wurde die Nummerierung
korrigiert, gekennzeichnet mit (n*).
Kürzel, die der Schreiber verwendete, werden ausgeschrieben,
jedoch zwischen zwei Striche /.../ gesetzt. Unlesbare oder
verdorbene Stellen werden mit ... gekennzeichnet. Es handelt sich
dabei jeweils nur um wenige Buchstaben.
Die Veröffentlichung erfolgte bis heute nicht: die Rechte liegen bei der
Universitätsbibliothek Augsburg. Der erste Abschnitt dieser Einführung wird gültig,
wenn eine Veröffentlichung des Dokumentes erfolgen kann.
1
9
Das Manuskript wurde im Jahr 1992 in der Oettingen-WallersteinBibliothek der Universitätsbibliothek Augsburg (Cod. I 4 4° 1) durch
Dr. Paul-Berthold Rupp angetroffen2. Es handelte sich um die
Urschrift der beiden anderen bereits bekannten Ausgaben des
Horoskopes für den späteren Kaiser Rudolf II.: eine Übertragung
der Genitur ins Lateinische befindet sich in der Herzog-AugustWilhelm-Bibliothek in Wolfenbüttel3, eine Übertragung ins
Deutsche findet sich in der Königlichen Bibliothek in Stockholm4.
Die Vorhaben einer Publikation mit Kommentierung und einer
Ausstellung kamen nicht zu Stande. So liegt nun die fertige
Transkription in der Schublade.
Damit sind nunmehr 25 Jahre seit diesem Ereignis vergangen. Wie lange wird man
noch auf eine Publikation des bedeutenden Dokumentes warten müssen?
3
Cod. Guelf. 208 Extrav.; mit 28 zusätzlichen kurzen Aphorismen.
4
Ms. D. 1343.
2
10
3. Zur Entstehung des Werkes
Durch den (sicherlich nur zu geringem Teil) erhaltenen
Briefwechsel des Michel Nostradamus5 sind wir über die
Entstehungsgeschichte des Werkes gut informiert. In den Briefen
sind die erste Anfrage, die späteren Mahnungen, die eintretende
Lieferung astronomischer Berechnungen aus Deutschland, und
schließlich das Procedere der Übermittlung durch Boten
dokumentiert.
Es steht der Fundort des Manuskriptes - Augsburg - in engen
Zusammenhang mit dem Werden des Auftrages. Michael
Nostradamus unterhielt seit Ende der 50er Jahre enge
Verbindungen in diese Stadt, im zeitlichen Vorfeld der Arbeiten für
das Horoskop suchten Personen aus der Augsburger
Patrizierfamilie Rosenberger seine Beratung6. In diesem
Zusammenhang fertigte er für mehrere Mitglieder der Familie
ausführliche Horoskope. Diese gingen nach Fieberbrunn, denn die
Familie hatte Augsburg nach einem Bankrott im Jahr 1560
verlassen müssen. In Tirol hatten die Rosenberger mehrere
Bergwerke.
Maßgebliche Berechnungen für diese Arbeiten ("directiones",
astrologische Direktionen), zusätzlich auch einen Brief an Michael
Nostradamus, lieferte der seit 1551 in Augsburg lebende und
Dupebe, J., Nostradamus Lettres inedites, Geneve, 1983.
Vgl. Lutzmann, I., Die Augsburger Handelsgesellschaft Hans und Marquard
Rosenberger [1535-1560], Kallmünz, 1937.
5
6
11
später in Lauingen lehrende Mathematiker und Astronom
Cyprianus Leovitius, ein Schüler von Philipp Melanchton7. Leovitius
war einer der bedeutendsten Astronomen und Astrologen des
damaligen Deutschland: nach Dillingen war er durch den Pfalzgraf
Ottheinrich berufen worden. Leovitius, mit Geburtsnamen Cyprian
Karasek8, fertigte mehrere umfangreiche astronomische
Tafelwerke; unter umfangreichen Ephemeriden findet sich auch ein
Buch mit vollständiger Darstellung der Astrologie, eines der besten
Lehrbücher auf diesem Gebiet9. Leovitius verfasste auch eine
Schrift über die Konjunktionen der großen Planeten10 und eine
riesige Menge von Horoskopen11. Dieser Astronom nahm auch
Einfluss auf den jungen Tycho de Brahe, der ihn in Lauingen für
kurze Zeit aufsuchte.
Für den Transport der Manuskripte für die Familie Rosenberger –
und damit auch des Horoskopes für den „Prinzen Rudolf“ - wurden
Beziehungen der Familie Rosenberger genutzt. Kurierdienste
übernahmen Angestellte der Rosenbergischen Faktorei in Lyon. In
dieser leitend tätig war Christoph Kraft12, der auch im Briefwechsel
mit Nostradamus Erwähnung findet.
Mayer, J., Der Astronom Cyprian Leovitius (1514-1574) und seine Schriften, in:
Bibliotheca mathematica, 3, Bd. 4, Stockholm/Leipzig 1903, 134-159.
8
http://wiki.astro.com/astrowiki/de/Cyprian_Leowitz; dort auch ausführliche weitere
Hinweise auf sein Werk.
9
http://www.stadtlexikon-augsburg.de/index.php?id=114&tx_ttnews%5Btt_news
%5D=4608&tx_ttnews%5BbackPid%5D=113&cHash=36a50d1814; Ephemeridum
novum atque insigne opus ab Anno Domini 1556 usque in 1606 accuratissime
supputatum, Augsburg, Philipp Ulhard, 1557; vgl. "Cyprianus Leovitius: Lehre von der
Beurteilung der Nativitäten", in: Strauch, Ä., Astrologische Aphorismen, Bad Tölz 1924,
45 – 226.
10
Universitätsbibliothek Augsburg: 02/VIII.3.2.35; 02/VIII.3.4.11; Dillingen,
Studienbibliothek, IX 1499; s. Gelehrtes Schwaben, Austellungskatalog, 1990/1991, S.
91/92.
11
In der oben genannten Oettingen-Wallerstein-Bibliothek, Teil der UB.
12
S.a. Lutzmann, 20, u.a.a.O..
7
12
Eine bemerkenswerte Beziehung, die ebenfalls nach Augsburg
weist, ergab sich in dieser Zeit – und dieses ist die Hochphase des
Schaffens des Michael Nostradamus - zwischen dem
provenzalischen Arzt und Astrologen und dem Studenten der
Rechte, Laurentius Tubbe, zu jener Zeit in Bourges. (Bourges galt
zur damaligen Zeit als die Eliteuniversität für das Studium der
Rechtswissenschaft). Die Augsburger Patrizier - bei den Fuggern
ist dies mehrfach nachweisbar - ließen immer wieder junge
begabte Leute auf ihre Kosten an den besten Universitäten
studieren. Nostradamus und der junge Tubbe - der wiederum auch
Botendienste nach Lyon erledigte - traten in einen ausführlichen
Briefwechsel. Ihr Kontakt begann über das Horoskop von Tubbes
"Herrn" Johannes Rosenberger, im Jahr 155913.
Ab Mitte des Jahres 1565 steht der erhaltene Briefwechsel nahezu
völlig im direkten Zusammenhang mit der vorliegenden Nativität
von Rudolf II.. Der Anwalt Dr. Johannes Lobbetius14 treibt die
Angelegenheit im Auftrag eines anderen Augsburger Patriziers,
Daniel Rechlinger15 weiter. Am 13. Juni 1565 erfahren wir,
Nostradamus möge doch die beiden Horoskope für Rudolf und
dessen jüngeren Bruder Ernst, die "er im letzten Jahr machte",
doch "möglichst bald an ihn schicken" und ihm "sofort antworten".
Diese Nachricht wird ergänzt durch eine Mitteilung des
französischen Arztes vom 5. August 1565 - das Horoskop selbst ist
datiert auf den "7. August 1565" - er habe "mehr als 14 Monate an
den Berechnungen und Erklärungen gearbeitet"16. Damit wird
dieses Horoskop zu einem Hauptwerk der letzten Lebensjahre des
Dupebe, a. a. O., Register, S. 183, gibt vierzig (!) Hinweise auf diese Person: sie
ziehen sich durch den ganzen Briefwechsel.
14
Dupebe, a. a. O., S. 153.
15
Strieder, J., Zur Genesis des modernen Kapitalismus, Leipzig, 1904, S. 10 ff.
16
Dupebe, a. a. O., S. 166.
13
13
Michael Nostradamus: die Arbeit reichte nach dieser Aussage vom
April/Mai 1564 bis Anfang August 1565. (Der Seher starb am 2. Juli
1566, also nicht einmal ein Jahr später.)
In diesem Brief des Nostradamus an J. Lobbetius - der sich damals
gerade in Lyon aufhielt - erfahren wir noch mehr über die
Begleitumstände: Rechlinger habe ihm "80 lib." für beide
Horoskope gegeben, und "6 escus" für den Schreiber. Der
Schreiber habe das Horoskop für Rudolf geschrieben17, sei aber
beim zweiten für Ernst "müde" geworden. Und so sei "der Rest"
von ihm selbst geschrieben worden18. Hinzu gefügt wird das
Übersenden der Manuskripte nach Deutschland solle "aufs
Sorgfältigste" geschehen.
Es folgt im Dezember 1565 noch ein weiterer Brief an Lobbetius,
bezüglich mehrerer Horoskope für andere Augsburger Patrizier,
namentlich Kaspar Flechamer, Anton Schorer und Konrad
Schwarz19. Aus diesem geht hervor, daß Daniel Rechlinger, "der
vielfältig gelehrte und gebildete Mann", selbst gerade dabei war,
die "Nativität" Rudolfs "aus dem Französischen ins Deutsche zu
übersetzen". Diese drei Horoskope dürften zu den letzten Arbeiten
des Nostradamus gehören und sind bis heute unbekannt:
interessant ist, wie „nahtlos“ sich die Horoskope für die fürstlichen
Prinzen in die astrologischen Arbeiten für die Augsburger Patrizier
einfügen, vorher wie nachher.
Das in Augsburg vorliegende Manuskript des Horoskopes für Rudolf II. ist also nicht
eigenhändig von Michael Nostradamus geschrieben.
18
Es könnte also noch ein weiteres, bisher unbekanntes großes Werk von Nostradamus
in den deutschen Archiven liegen: die Genitur für Ernst, den zweitgeborenen Sohn des
Kaiser Maximilian. Ernst war der spätere Statthalter der Niederlande (1593 - 1595);
seine Lebenszeit ging von 1553 bis 1595. Und dieses zweite Manuskript wäre zu einem
großen Teil von Nostradamus selbst geschrieben. - Hier ergibt sich ein Widerspruch zu
seinen Äußerungen am Schluss des Textes des Horoskops für Rudolf, die direkt „An den
Kaiser“ gerichtet sind. 19
Dupebe, a. a. O., S. 167 u. S. 163.
17
14
4. Geschichtliche Einbettungen der beiden Personen,
des Prinzen und späteren Kaisers Rudolf, des
Arztes und Astrologen Nostradamus
Es ist sicherlich mehr als ein „Zufall der Geschichte“, dass sich
gerade diese beiden Personen des 16. Jahrhunderts - noch dazu
in dem spezifischen Unterfangen eines Horoskops – begegnen wie
in einem imaginären Dialog: Michael Nostradamus und Rudolf II.
von Habsburg. Einerseits sehen wir den „weisen Mann“, gereift, alt,
auf dem Gipfelpunkt seines Wirkens - vermutlich bereits von der
Krankheit gezeichnet, die seinen Tod nur wenig später herbei
führte: und ihm gegenüber richtet sich der junge Aspirant des
Thrones auf, kaum erwachsen, aber bereits außer der Erziehung
am spanischen Hof, und schon ein ungewöhnlicher Charakter mit
„sperrigen“ Zügen. Dieser zweite nun, zurückgekehrt nach
Deutschland, wird umgeben und umsorgt – u. a. auch mit
Prognostiken seiner Zukunft – durch eine große Gruppe
Augsburger Patrizier und ihrer „Angestellter“; jener nun musste vor
religiösem Aufruhr an seinem Heimatort Salon nach Avignon
fliehen, ist nun aber wieder zu Hause, seine Kinder sind geboren,
die jüngste von sechs lernt gerade sprechen. Wenn es auch eine
persönliche Begegnung der beiden Personen nicht gab, so
berühren sie sich doch in dem Horoskop in ganz ausgeprägter
Weise: das Aufeinandertreffen des allmählich von der Welt
Abschied nehmenden, gesundheitlich bereits angeschlagenen
„Propheten“ mit dem „zukünftigen Kaiser“ des römischen Reiches
deutscher Nation: dieser, gerade zwölfjährig bei der Abfassung des
15
Vorhersage, den der Hofmeister damals noch als langsam
begreifend beklagt, der aber bei Tanz und Turnier bereits Aufsehen
erregt. Es gibt Gemeinsamkeiten beider Personen: Rudolf schreibt
am 5. Februar 1583 an Kurfürst August von Sachsen "...daß mier
nits höchers angelegen als frid und ruehe im reich zu erhalten"20.
Und Jeremias Martius, ein Augsburger Arzt, der in Montpellier
studierte und Nostradamus an seinem Wohnort Salon (de
Provence) besuchte, eröffnet von jenem "...das er in der
beywonung gegen jederman freundlich/ holdselig gewesen/ und
mennigklich gern gedient hat"21.
Hinzu treten verwandte Züge der Charaktere, Rudolf, später
stehend im Zwielicht der Sternengläubigkeit, verdächtig, ein Adept
der Alchemie zu sein, Zeit seines Lebens zurück gezogen in seine
ausgeprägten künstlerischen Interessen, verbunden seiner
Sammelleidenschaft und seinen geheimen Bedürfnissen, meidend
den sozialen Kontakt und scheinbar erfüllt von Besorgnissen und
Ängsten, und Nostradamus, vormalig der gesuchte Pestarzt,
zugleich ein mit einem Schlag berühmter und überall zitierter
Visionär, bei den einen verhasst, bei den anderen verehrt, eine Art
touristische Attraktion, von der französischen Königsfamilie zum
Berater gewählt, ein Sanguiniker der sprachlichen Äußerung, völlig
selbstverständlich ruhend in seinen hochgradig vom Üblichen
differenten Sichtweisen - in ihrer beider Begegnung entsteht ein
Aufleuchten eines eigentümlich funkelnden, nur leise glimmenden
Seins, das zu überraschender Mitteilung fähig scheint, jedoch
manchmal abstrus, zeitweise auch „verdunkelt“, und immer wieder
auch „eigen“. Und ist dieses eigentümliche Wesen nicht eben das
gesuchte Phänomen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der
20
21
v. Schwarzenfeld, G., a. a.O., S. 10.
Dinzinger, L., Ordnung der Zeit, 1991, S. 21.
16
Ausdruck eines „Unerwarteten, Befremdlichen“? Neben einem
eher Stillen, Zurückgezogenen, Abwartenden? Und dabei auch
noch gewissen dissimulierten provokanten Untertönen?
Solches kann man auch an dem Thema erkennen, das diese
Quelle uns stellt: das Zusammenfinden zweier hochgradig
charakteristischer Exponenten ihrer Zeit findet ihre „synthetische“
und „glosende“ Resultante in einem „Horoskop“. Dieses ist - wie
Vieles aus dieser Zeit - heute wohl nicht verstanden, fast ist es ein
„Unding“, vielleicht auch ein kulturgeschichtlicher Affront: aber wie
war es zu seiner Zeit? Damals stand alles dieses doch in
Korrelationen höchsten sozialen Interesses, hier der zukünftige
Kaiser, der politisch erste Mann Europas, dort der „weltweit“
berühmte „Prophet“, eine geistesgeschichtliche Sensation: und
diese Valenzen „Durchdringen sich“ in dem Sektor der Astronomie
und Astrologie, der damals noch alle Lebensbereiche prägen
konnte, die Kirche, die Reformation, die Politik, die Wirtschaft, im
Suchen nach „Prognosis“, oft scheiternd, aber zuweilen auch
verblüffend treffend, und gepflegt von den gebildetsten: es lebt
Nikolaus Kopernikus parallel zu Philipp Melanchthon – einem
Herausgeber des „Tetrabiblos“ des Claudios Ptolemaios, der
genethlialogischen „Urschrift“ - es lebt Michael Nostradamus und
ihm parallel Michelangelo Buonarotti, Bramante und andere
Vorausverkündiger eines Kommenden, und bald kommen neue
Exponenten der Himmelskunde, Brahe und Kepler, und in der
bildenden Kunst folgen Vredemann de Vries, Arcimboldo, Zuccari.
Bald kommt in Deutschland eine bedeutende Gruppe
spiritualistischer Mystiker, bald wirkt als ihre Blüte Jakob Böhme.
Vielleicht zeigen gerade diese Zusammentreffen von Personen,
welche Themen die Zeit der ausgehenden Renaissance
17
beherrschten: und es wird deutlich, wie die Renaissance übergeht
in eine Zeit des sogenannten „Manierismus“. Doch es gibt kaum
eine kulturgeschichtliche Richtung, deren populäres und gängiges
Verständnis einer solchen Weiterung bedarf, wie gerade die Kultur
dieser Zeit. Sie ist wahrscheinlich in ihrem Oberbegriff nicht gut
definiert, in eine auf den ersten Blick für uns kaum noch
nachvollziehbare Haltung, Richtung und Intention – doch wer wagt
es, „dieses da“ neu zu benennen? Wo ist die neue, die bessere
Definition? Wo bleibt die Analyse? Und wer bildet das
Bewusstsein, diese Zeit anders wahr zu nehmen?
1550 stirbt Andrea Alciato, genau am Einschnitt in der Mitte des
Jahrhunderts, und doch beginnt sein Erbe zu wirken: die „Zeit“
sucht nun noch weiter nach Symbolen, Emblemen, darin nach
tiefen und vielschichtigen Bedeutungen, Anklängen, Intuitionen,
und sie wird ab 1600 über „Christian Rosenkreuz“ münden bei
Johann Valentin Andreä und Valentin Weigel, in William
Shakespeare, in Vermeer und Rubens. Doch wie ist der
vermittelnde Schritt dorthin zu deuten, zu verstehen? Welchen
Logiken, Typiken, Charakterzügen folgt er? Wo ist das gesuchte
„Zwischenstück“, das eine „durchgehende“ und einfach
verständliche historische Linie komplettieren sollte?
Man erkennt einen kulturgeschichtlichen Höhepunkt, eine
Fulguration der Zivilisation, in der ersten Hälfte des 16.
Jahrhunderts: diese gerät aber an ihrem Ende, zwischen 1550 und
1600, zu etwas Unverstandenem. Dort werden historische
Ereignisse „disparat“: für diese Zeit gibt es keine handfeste
Griffigkeit, keine Formel, die hilfreich wäre. Wer versteht, was sie
einerseits „vollendete“, wer begreift, was sie „neu einführte“?
Können politische Parallelen, der Freiheitskampf der Niederlande,
18
die Auseinandersetzung von Elisabeth I. mit Maria Stuart und mit
Philipp II., oder Personen wie ein Vater Maximilian II., sein Sohn
Rudolf II. oder ein Pfalzgraf wie Ottheinrich dieses eigentümliche
nun eintretende Phänomen erläutern? Wer weiß noch, wer
Reichard Streun von Schwarzenau war? Alles, was zuvor
geschieht, sollte nach der Vorstellung historischer Entwicklung
unter diesen Vertretern ihrer Zeit in ein neues Licht rücken. Doch in
welche gesteigerte Auffassungen ist es gewandelt? Und was
kommt dann, und wie ist dieses zu bestimmen – und wie kann
dieses auch das Vorherige erklären?
Wir stehen der Zeit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
deutlich „fremd“ gegenüber. Wir haben keinen Zugang, und wir
kennen keinen Ansatz dazu. Ist es nicht so, dass wir davon kaum
Sektoren – der Plastik, der Graphik, der neuen Rolle des
Bürgertums in Holland usw. - heraus greifen und verstehen
können? Pflegen wir nicht Vorlieben und Bewertungen, das heisst:
klammern wir uns an Elemente, nehmen wir ein „Ganzes“ gar nicht
wahr: wir benennen auch zu vorschnell, dieses als „schlecht“,
jenes als „gut“, das eine „weiterführend und fruchtbar“, das andere
„verdunkelt und in die Irre führend“? Und was wäre, wenn solches
gerade an der Person des Michael Nostradamus exemplarisch
deutlich würde? - Sein Umfang ist unbekannt, seine Inhalte sind
schief beurteilt, seine Wirkung verkannt. Hier, in diesem Thema, unter dem Titel „Michael Nostradamus
Horoskop für Rudolf II.“ verharren wir bei zwei historischen
Figuren, in denen sich das eigentümliche „Licht“ dieser Zeit treffen
und vereinen könnte. Beide sind geradezu Vorbilder der
Idiosynkrasie der Moderne, die mit ihnen „gar nichts“ anfangen
kann: Michael Nostradamus ist ähnlich umstritten wie Rudolf von
19
Habsburg, verwandt ist ihrer beider übler Leumund, sie können
gleichen Vorurteilen und gleichen „Verdächtigungen“ unterzogen
werden. Die Stereotype schiefer Beurteilung sind heute ubiquitär,
die Liste der Fehlinterpretationen – uns bekannt vor allem
bezüglich Nostradamus – ist endlos lang, und sie geht durch alle
Jahrhunderte der Moderne, nach Renaissance und Reformation:
und die Zukunft ist gewiss nicht gefeit, noch übler in die „Kiste des
Irrtums“ zu greifen.
Warum geschieht dieses gerade bei diesen zwei Personen? Zeigt
sich darin vielleicht auch eine Art „Ratlosigkeit“ gegenüber der zu
suchenden Zeitströmung im Allgemeinen, gegenüber der „Mode“
und dem Zuschnitt der geistigen Haltung? Soll man hier an Zufall
glauben: gerade in jner Zeit, die uns als „Lücke“ sich präsentiert,
als ein defizit historischer näherer Kenntnis. Dafür sprechen doch
gerade die Vorurteile, die Stereotype, zu denen hier die
Allgemeinbildung leicht greift: es gibt kein profunderes Wissen,
geschweige denn eine Empathie oder gar eine Zuneigung zu ihren
wesenhaften Inhalten. Sollte dieses doch als ein Exempel dieser
Zeit zu verstehen sein, als weit führendes Beispiel einer kollektiv
gewordenen Oberflächlichkeit? (Wir werden dafür später noch weit
mehr Beispiele anführen, vorerst aber im Gedankengang weiter.)
Beider Lebenszeit, des Rudolf, des Michael, überschneidet sich
nur um 14 Jahre, eigentlich wären sie so Vertreter verschiedener
Generationen: und doch wird in ihren Personen ein verwandter
Geist deutlich, eben jener Geist, den man heute nicht verstehen
kann, nicht verstehen will, den man freiweg und „sich schützend“
abwehrt. Jenes, was beide vertreten, der Junge wie der Alte, ist
wie „fremd“. Obwohl ihr Altersunterschied eine Art Lehrer- und
Schülerverhältnis ausdrücken könnte, ist dieses doch nicht
20
vorhanden, man gewinnt den Eindruck einer „nahtlosen“ Übergabe
von einer Zeit in die nächste, von einer Generation zur nächsten.
Eine ähnliche Identität meint man auch historisch zwischen
Maximilian II. und Rudolf II. zu bemerken. Doch was wird hier
übergeben? Wie ist das zu bestimmen und zu verstehen?
Erinnert sei an die klare Frische der ersten Hälfte des 15.
Jahrhunderts, das das Neue einer neuen Weltzeit22 in
ungebrochener Naivität entwirft, in der Malerei etwa mit Fra
Angelico, in der Architektur durch Brunelleschi, in der Plastik durch
Donatello, in der Gestirnkunde durch Pierre d´ Ailly, in der Religion
und Theologie durch Jan Hus.
Danach, ein halbes Jahrhundert später, sieht man geschichtlich
„logisch“ folgend die Erweiterung des Horizontes in der
Entdeckung und Erschließung der neuen Welt, mit Christoph
Kolumbus; in der Kunst streut sich die Bewegung über die Länder,
man sieht Alberti, Mantegna, von der Goes, Dürer, oder Reuchlin,
man sieht Erasmus von Rotterdam, man sieht Leonardo da Vinci.
Auf dieser Grundlage entspringt nun in der ersten Hälfte des 16.
Jahrhunderts das Wirken der kulturgeschichtlichen Revolutionäre,
in Deutschland, in der Schweiz, in Holland, in England. Luther,
Zwingli, Menno, Heinrich VIII.: sie stürzen um, es fällt die alte
Ordnung, es brechen sich neue „Körper“, neue „Posen“, neue
„Muskeln“ Raum, auch in Michelangelo, in Bramante, in Giorgone.
Und dann? Was tritt dann auf den Plan?
Nach der confessio Augustana, nach der ersten Hälfte des
Jahrhunderts, scheint „Ratlosigkeit“ einzutreten, zumindest bei
In Begriffen der Geschichtskonstruktion des Michael Nostradamus gesprochen. Er
unterscheidet den neun Sphären entsprechend neun Weltzeiten.
22
21
unserer heutigen Sicht, wir erleben einen „Abbruch“, eine „Wirrnis“,
eine Lücke. Oder soll man es ein „Verharren“ nennen, vielleicht
auch ein gewisses „Erschrecken“, eine Art von „Bann“, der die
entstandenen Konsequenzen zu scheuen scheint? Werden nun
Folgen bewusst? Oder ist dieses nicht schon wieder unsere
heutige „Projektion“ in diese Zeit? Das bedeutet doch einfach: es
ist uns unklar, wie man aus dem Entstandenen konsequent weiter
fortzufahren hat. Wir greifen zu einer „Notlösung“, unserem
„Vorurteil“: wir schützen uns vor der Konsequenz der in dieser Zeit
sichtbar werdenden Weiterungen, wir werten sie mal schnell ab.
Wir nun klar, in welche „Leere“ die Abstraktion gestiegen ist? Wäre
es nicht sinnvoll, zuerst einmal dieser Zeit eine historische Logik
der Fortführung des Begonnenen zuzugestehen? Und damit ihre
Produkte zu rehabilitieren, ihre abstrakte Gültigkeit anzuerkennen?
Denn hier treten an die Stelle der älteren und „tragenden“
Strukturen nun neue, in kühnen Schritten, aus der Theologie
erwächst „prophetie“, aus dem hohen Wissen der Philosophie
neue Abstraktionen der Wissenschaft, die Kunst erkennt aus ihrer
Überschau der vorhandenen Lösungen völlig neue
Konsequenzen? Und die Politik, was geschieht in ihr: sie definiert
das, was „Macht“ ist, neu.
Es kann das entstandene Neue in seinem „vierten Schritt“
sozusagen nur von den entschiedensten Willen weiter getragen
werden, etwa Personen wie Elisabeth I.. Muss man hierbei auch
Maximilian II. und Rudolf II. nennen? Hierher gehört sicher auch
Johannes Kepler, und ebenso sicher auch Michael Nostradamus.
Es ist eigentümlich: aber bei den einen sieht man die Leistung
sofort, bei den anderen ist sie verborgener, vielleicht „abstrakter“?
22
Kann man sich in der entstandenen Zeit schon an die Klarheit des
Palladio halten, an die Virtuosität des della Porta? Und es gibt
literarische und kunst- und kulturgeschichtliche unbekannte
Größen und missverstandene Personen, die uns die Entwicklung
im Detail verhüllen. Besieht man sich die historischen Schriften, die
Überlieferungen jener Zeit und ihre Verarbeitung, glaubt man
immer wieder sofort jene Lücke zu erkennen, einen „hiatus“ in der
Folge der Darstellung: darin ist die Zeit zwischen 1550 und 1600
wie übergangen, wie mit einem Tabu bedeckt – man setzt wieder
an nach 1600. Was sind die Gründe? Helfen sie, das, was man
heute „Manierismus“ nennt, neu zu definieren? Das große
Hindernis, diese Lücke zu füllen, sind die historischen Vorurteile,
gegenüber den Hauptvertretern, vor allem Philipp II., vor allem
Rudolf II., und allgemeiner kulturgeschichtlich gegenüber Michael
Nostradamus und einigen anderen, die wir später nenen werden.
Wie soll man zu einem historischen Verständnis einer oder
mehrerer Epochen kommen, wenn man die wesentlichen
Ereignisse ausklammert? Sich in schematische Bewertungen
„flüchtet“? Oder wenn man gar nicht nach den verlorenen
Bestimmungsstücken sucht.
Gehen wir von Deutschland aus. Die beiden bedeutendsten
Architekturen dieser Zeit, der Ottheinrichsbau des Heidelberger
Schlosses und das Lusthaus in Stuttgart - sind zerstört. Das
bedeutende Grabmal des Ottheinrich, vermutlich ein künstlerischer
Brennpunkt seiner Zeit, soll nach einem lokalen Mythos im
„heidelberger Untergrund“ verborgen sein; seine riesige Bibliothek,
in Neuburg an der Donau gesammelt, ist zerstört. Man kann
Österreich hinzunehmen: das Schloss Freidegg des Reichard
Streun23 ist völlig ruiniert. Das Heidelberger Schloss wurde nach
23
Bei Ferschnitz in Niederösterreich.
23
seiner Beschießung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
nicht wieder hergestellt: in allem diesen und damit fehlt das
Leitbilder liefernde Gesamtkunstwerk der führenden Künstler,
Flötner, Colin und anderer. Eigenartig ist auch die Entwicklung in
Stuttgart, bereits 1750 wurde die Innenausstattung des Lusthauses
bei einem Umbau völlig zerstört, 1811 umgab man nach weiterer
teilweiser Zerstörung die Reste der Architektur mit einem
mantelartigen Theaterbau – doch rettete man immerhin einige
wenige Teile der Plastik des Sem Schlör auf den Lichtenstein bei
Reutlingen. Freidegg aber, das bedeutendste Werk eines
hochgelehrten Mannes aus dem engsten Umfeld des Kaisers, es
verfiel nach einem Besitzübergang völlig ersatzlos. Was ging hier
vor? Und wie stellen wir uns dazu?
Würde man solche Ereignisse psychoanalytisch interpretieren,
müsste man von „Verdrängungsprozessen“ sprechen: hier zeigt
die kollektive Geschichte Parallelen zu individuellen
Abwehrmechanismen und Desorganisationen des psychischen
Apparates. Was wollte man nicht mehr „wahr-haben“? Und belegte
dieses schon bald mit der halb despektierlichen Vorstellung
„Manierismus“? Dieser war entwickelt aus einer völlig anders
gemeinten Idee, nämlich aus der Bezeichnung des Spätstiles des
Michelangelo als „maniera moderna“: „maniera“ ist letztlich
wertfrei, bedeutet eigentlich nur „Art und Weise“. Deutlicher in die
eigentlich gemeinte Richtung zeigt das Adjektiv: aber „modern“
wollte diese kulturhistorische Erscheinung, konzentriert in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, eben niemand nennen,
gewann sie doch oft gerade den Eindruck eines Atavistischen,
eines „Dunklen“ und abseits liegenden Kuriosen – eben
begegneten wir dem in den unmittelbaren Eindrücken, wenn
Michael Nostradamus und Rudolf II. erwähnt werden. Natürlich
24
waren das Vorurteile, Bildungen eines voreingenommenen
Verstandes späterer Zeit: wäre man aber konsequent, müsste man
dieses am ehesten „Moderne an ihrem Ursprung“ nennen.
Ich würde hier den Vorschlag wagen: ein Buch über neues
Verständnis dieser Zeit auf völlig anderer Grundlage als bisher
müsste geschrieben werden. Dabei müsste man sich vor der
Versuchung hüten, alllzu schnell in die Darstellung frühbarocker
Wesenheit einzugehen: damit würde man erneut die „Fremdheit“
und den eigentlichen Charakter dieser Epoche ignorieren, würde
sich ihrer Indifferenz und ihrer abstrakten Intelligenz entziehen:
sehr bedacht müsste man jene „Gegenstände“, Absichten,
Haltungen und Ziele identifizieren, die diese Zeit charakterisieren
und ein vollständigeres Bild ihrer Essenz liefern.
Setzen wir noch einmal an, etwas unbedacht. Kann man sagen: es
wäre diese Zeit der Versuch einer Synthese, einerseits in
Verkörperungen eines zeitweise „altertümlich“ wirkenden
Rückgriffs, andererseits aber auch getragen von einer spirituellen
und hoch reflektierten „Modernität“? Und dieses wäre etwas, was
man heute gar nicht verstehen kann, was vielleicht heute auch
tabuisiert ist? Leben wir in Zeiten, die den Kompromiss sucht, oder
gehen wir „lieber“ bedingungslos in neuen Horizonten auf?
Kennzeichnet sich das „Heute“ und seine geschichtlichen
Auffassungen nicht oft in einer hastigen „Flucht nach vorne“, d. h.
in einem „Abstreifen-Wollen“ und einem „Hinter-Sich-Werfen“ eines
Ererbten, eines Älteren, oft begleitet in Ausdrücken des Abscheus,
geradezu stereotyp, je nach Sozialisation? Letztlich ist Solches
aber Zeichen einer „ahistorischen“ Haltung: denn es geht zuerst
um eine sachliche Zuwendung zu Prozessen in der Zeit, um ein
25
Öffnen der Augen und ein unbeirrtes „Hinschauen“ auf die
„fremden Phänomene“.
Denn eigentlich ist es einfacher, den frischen Unbekümmertheiten
und den aufregenden Eröffnungen von Horizonten zu folgen, sich
dann auch kritisch zu gebärden, und auf das „Alte“ als Stufe zu
treten und weit woanders hin zu schauen: aber die vorgestellte
„vierte“ Bewegung, im Sinne der oben dargestellten vier Hälften
von Jahrhunderten, die kontemplative Integration des Vorherigen,
aber auch des Neuen, - solche vermag in einem motorisch
gewordenen „impetus“ leicht unterzugehen, sie kann
verschwinden, oder sie fällt der gängig gewordenen und hoch
verallgemeinerten Verachtung des Früheren zum Opfer. Dabei
läge doch gerade in der potenziellen oder versuchten „Synthese“ und diese wäre gültig in allen nur möglichen Nuancen und
Steigerungen! - eine große Chance, einerseits in der Bewahrung
„des guten Alten“, weiter in seiner Anreicherung mit „dem guten
Neuen“, schließlich einer Steigerung der beiden Vektoren, ganz im
Sinne der Farbenlehre von J. W. Von Goethe, hin zu „noch einmal
Neuem“. Aber in dieser Zeit erscheint doch gerade so, als wäre
eben dieses „Gesteigerte“ nicht akzeptiert, als sträubten sich
einerseits die „Alten“, das Neue anzuerkennen, und als
verweigerten die „Jungen“, einen Weg zurück zum Alten zu
machen, auch wenn es ihnen im Rahmen einer „Synthese“
angeboten wird. Vielleicht ist solche Vereinigung von Gegensätze,
solche „coniunctio oppositorum“24, ein riesiger Anspruch, eine
überfordernde Intention? Und doch gelingt einigen wenigen
Personen, vielleicht auch einigen wenigen Gruppen der
synthetische Schritt: erinnert sei an den Kardinal Gasparo
Ein Begriff C. G. Jungs, gewonnen aus eben den synkretistischen alchemistischen
Motiven auch dieser hier behandelten Epoche.
24
26
Contarini, an sein Wirken, oder an Erasmus von Rotterdam,
vielleicht auch an Michael Nostradamus? Oder an Rudolf II.? Und
vielleicht gehörte dazu auch schon an sein Vater Maximilian?
Ist dieses eines der Motive, sich einer neuen Analyse der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts zu verweigern? Wo aber kann ein
Ansatz liegen, in diese Zeit und in ihr Verständnis optimaler
einzusteigen? Muss man umdenken? Sich anders einstellen? Das
scheinbar gesicherte historische und kulturgeschichtliche Wissen
aufgeben? In der Postulierung eines weiteren Schrittes von
Renaissance und Reformation, entgegen der eintretenden
machtpolitischen Verhältnisse und ihrer neuen definition von
„Moderne“?
Müsste man in diesem Sinn nicht die Zeit des „Manierismus“, also
die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, plus/minus 20 Jahre, eine
Zeit des „Synkretismus“ nennen? Damit gewänne man neue
Assoziationen zu dieser Zeit: zugleich würde man sofort sehen,
wie dieses „synkretistische“ Moment in der geschichtlichen Realität
„scheitert“, und so aus seinem unvollendeten Abbruch die
politischen und militärischen Katastrophen der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts heraufbeschworen werden, mit der Absetzung
Rudolfs durch seinen Bruder, wenig später dem Dreißigjährigen
Krieg, parallel dazu die Schwächung der französischen Könige, die
staatstragende Rolle des Kardinal Richelieu, zugleich der
weitgehende Niedergang der spanischen Macht, auch das
Scheitern der katholischen Partei in England und danach die
englische Revolution. Dieser „Synkretismus“ gelingt nicht
allgemein, er gewinnt keine Breite, und erreicht überhaupt keine
Macht, sein geistiger Anspruch bleibt das Privileg weniger, diese
stehen am Rande: der von ihm verlangte geistige Einsatz ist zu
27
hoch, seine Spiritualität ist elitär, und ihm fehlt in seiner
Intellektualität die vitale Macht, sich durchzusetzen, er leistet
alleine vielleicht eine provokante Indifferenz, die aber „stößt vor
den Kopf“, sie verunsichert. Wenn ihr auch die Zustimmung der
Masse gleichgültig und „merchandising“ widerwärtig ist, so bleibt
damit doch auch ein riesiges Manko – Rudolfs Charakterbild zeigt
dieses, der „Elfenbeinturm“ wird der sozialen Wirklichkeit
vorgezogen, derjenige, der „handgreiflich Gesandte des Königs
aus dem Fenster zu stürzen“ vermag, bestimmt die Geschichte
weit deutlicher und eher als jener, der - mit Nostradamus Worten,
im Horoskop - „hinter einem Berg verborgen sitzt“.
Will man sich dieser Zeit empathisch nähern, braucht man einen
speziellen Zugang, möglicherweise in neuen Begriffen, zumindest
aber in gewandelten Vorstellungen. Hierfür reichen jene
historischen Linien nicht, die die gängig gewordenen „modernen“
Geschichtsauffassungen vorstellen, vielleicht auch nicht jene
scheinbaren Faktizitäten, die das kollektive Bewusstsein hier
vorschlägt: sie reduzieren, sie schreiben fest, sie bleiben stehen
bei jenem „Weltmächtigen“, das die Immanenz ab dieser fraglichen
Jahrhunderthälfte „regierte“ - zugleich ein Anderes Sublimeres
ablöste, vielleicht auch unterdrückte, zumindest bis heute. Jenes
Weltmächtige und vital Starke wird aber im Verlauf der
entstandenen „modernen Zeiten“ immer wieder kritisiert und
konterkariert, am deutlichsten in den letzten Jahrhunderten, dort
entstehen politische und künstlerische Präferenzen, ab der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher: und gegenwärtig ist
es weniger denn je – vor allem ab dem ausgehenden 20.
Jahrhundert, nach der „Postmoderne“ – absehbar, ob je eine
weltweit so breite Bildung eingetreten sein kann, um wirklich
geistig und intellektuell ermittelte Vorstellungen zur größeren
28
Wirkung zu bringen gegenüber dem Einfachen, Populären,
Mächtigen, körperlich Starken. Die politischen Regressionen
gerade im beginnenden 21. Jahrhundert sagen genug:
Ambivalenz, Unkenntnis, poetische Indifferenz zu ertragen ist nicht
mehr angesagt, das Beherrschbare, das Simplifizierende, das
physikalisch Greifbare hat wieder die Oberhand.
Demgegenüber ist die Interpenetration von Differentem und die
Verarbeitung von Fülle und Inhalt weitaus fordernder. Worauf muss
man sich in solchem „Synkretismus“, solcher „Synthese“
einstellen? Was in dieser herausfordernden Aufgabe schwierig
wird, sind die gesteigerten Möglichkeiten der miteinander
verbundenen Seiten: denn es geht nicht nur um die „Reinheit der
Pole“, sondern um Integration von Zweiheit zu neuer gesteigerter
Einheit, und es ist zu rechnen mit abgründigem „Alten“, zugleich
aber auch mit bestürzendem „Neuen“, und mit misslingenden
Stufen des Miteinander, mit Gefährdungen der intendierten Union,
zugleich bedeutet dieses auch Fort- und Rückschritt. Man verlässt
so in mehrfacher Hinsicht ein vertrautes Terrain, einerseits des
Hergebrachten, anderseits des Umstürzlerischen, und wiederum
auch vorläufiger „Er-Mittlungen“. Dafür ein Beispiel: El Greco, mit
den gewundenen Körpern, den gelängten Gesichtern, den
verstiegenen Gestiken, damals geradezu unerhört, und, wie heute
üblich, in einer Reduktion erklärt - begründet soll dieses gewesen
sein in einer krankhaften Verschrobenheit seiner visuellen
Wahrnehmung –, wer aber würde solches Urteil und solche
Bewertung anwenden wollen auf die heutige moderne Kunst des
20. und 21. Jahrhunderts? Die in ebensolchen „Abstraktionen“,
distant von den sogenannten „natürlichen Vorbildern“, operiert?
Wieso gehört El Greco zum „Manierismus“ und Giocometti zur
29
„modernen Kunst“? Ist etwa das Prinzip beider Schaffens
verschieden?
Oder muss man so formulieren: es ist den eben angesprochenen
„synkretistischen Künstlern“ möglich geworden, einen Schritt weiter
in das damals noch schwer fassbare „Moderne“ hinein zu gehen,
sie greifen wie El Greco weit in die Zukunft der malerischen und
plastischen Darstellung voraus. Der Schritt von Arcimboldo zum
Kubismus: ist der doch nicht so groß, sind beide nicht doch näher
verwandt, als man meint? Was wir hier zu fordern scheinen, ist
eine neue Bewertung der Kunst und der Kultur der zweiten Hälfte
des 16. Jahrhunderts, und zwar ihrer besten und unverstandenen
Exponenten. Gerade Solches trifft man bei Michael Nostradamus:
er treibt eine sprachliche Kühnheit, die alle Möglichkeiten des
Rhetorischen, des verbalen Spiels mit Ebene und der
Metakommunikation bis ins Letzte ausreizt. Er kommt zu
Bildungen, die in ihrer Modernität, ihrem Streifen an Neologismen
und ihren außerordentlichen Bildern und Verdichtungen an James
Joyce erinnern: erinnert sei etwa an einen der Zentralbegriffe der
Geschichtskonstruktion, das Wort „Pempotan“, aus dem
Griechischen, „fünf Flüsse“, bezeichnend einen, der mächtig ist
über die Sinnenwelt, den „Herrscher der Welt unter dem Monde“:
„Pempotan“ wird zum Begriff für die hegemoniale Macht eines
führenden Staates der Erde. Oder Nostradamus entwirft einen
Namen, „Mabuse“, übernommen in späten Horrorfilmen: es ist
einen Kombination von „M.“ und „abuse“, aus dem Französischen,
und bedeutet einen „Meister der Grauenhaften“, einen „Lehrer der
abscheulichen Verirrung“. An anderen Orten pflegt er eine so hohe
Ironie, dass man unsicher werden muss, was er ernstlich meint:
und vermutlich ist es Absicht, eine so deutliche Unentschiedenheit
des Gesagten zu erzeugen. Steht man vor modernen
30
Installationen, oder vor Werken von Joseph Beuys: befindet man
sich da anders? Gibt es irgendwo „Sicherheit“? Auf was als auf
sich selbst ist man verwiesen?
Nur: jetzt darf man diese „Modernität“ wieder nicht übertreiben. Es
ist nicht Joyce gleich Nostradamus und Lehmbruck oder
Giacometti nicht gleich El Greco. Es kommt für unsere Analyse zur
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nun noch das Moment des
„Alten“ - nicht zu vergessen! - bedeutsam hinzu, bei El Greco die
altmeisterliche Technik, die viele Jahrhunderte alte und gepflegte
Bildersprache der westlichen Kultur, bei Nostradamus die Reflexe
des antiken Christentums, der Kirchenväter, der alten
Gestirnkunde, und deren Entwicklungen große Weltzeiten lang,
das ganze Mittelalter hindurch, gipfelnd bei Joachim von Fiore, bei
den Mystikern, den Franziskaner-Spiritualen. In dem
synkretistischen Phänomen sind immer beiden Seiten – und damit
auch noch mehr – zu würdigen: dieses macht die Analyse in
modernem Sinn nahezu unmöglich: genau dieses ist der Schluss,
den man aus den Bemühungen der Nostradamus-Literatur ziehen
muss, oder aus den „Verdrängungen“ der synkretistischen
Architektur aus den Stadtbildern, oder aus der stiefmütterlichen
Behandlung der Philologie jener Zeit – wer wüsste auf Anhieb ein
bedeutendes Buch der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts?
Von allen Spaniern des siglo d´oro kennt man kaum Cervantes,
den „Don Quijote“. Wer hat dieses eigenartige Werk ganz gelesen?
Geschweige verstanden? Und bei Fernando de Herrera verbrannte
fast sein ganzes Werk kurz nach seinem Tod, es gibt nur
Fragmente, und sie sind erst viele Jahre nach seinem Tod
erschienen. Dieses ist ein Ereignis, das wir schon bei der
Architektur in Deutschland deuten konnten. Warum war das so?
31
Was passiert hier Bezeichnendes: nämlich „Zu-Verdrängendes“,
ein „Nicht-Wahr-Nehmen“ und „Wahr-Haben“? Warum wird
Torquato Tasso „geisteskrank“? Was nährt seine Paranoia?
Fragen wir nach der Theologie, mittelalterlich der „Mutter aller
Wissenschaften“. Wer war der bedeutende Theologe der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts? Was charakterisiert seine Lehre, in
ihren Wurzeln, und als Vorbild, und in iihrem Emporwachsen, und
schließlich als abstrakte Ebene? Wer kommt nach Luther? Wer
kommt nach Contarini? Wieder ist die gleiche Lücke zu sehen, zu
fühlen. Wo sind die Exponenten? Ist alles schon übergegangen an
die politisch Mächtigen, an die militärisch Wirkenden? Hier doch
noch nicht, aber vielleicht schon im Ansatz: man denke an die
Bürgerkriege in Frankreich, an ein Schweigen der Kultur dort, an
eintretende charakteristische Verbindungen des Religiösen mit den
militärischen Führern, gerade dort. Parallel dazu sieht man
ähnliche Dekadenzen in Holland, der Freiheitskampf der
Niederlande führt auf beiden Seiten zu einem Amalgam
ungewöhnlicher Fächer. Und dieses momentum scheint zu keinen
„Großleistungen“ - hier theologischer Art – die Ausgangsbasis zu
bieten25.
Eigentlich müsste man doch auf Anhieb wissen, wer damals in
diesem Fach bedeutend war – ich recherchiere im Internet, ich
finde nichts. Alles mögliche wird eingeblendet, aber nach Luther
kommt gleich der Pietismus, und nach Contarini kommt gleich die
Gegenreformation. Das kann doch nicht stimmen.
Ich sehe Johan Valentin Andreä, aber der ist zu spät, schon im 16.
Jahrhundert. Wir sehen in dieser Weise aber verdeutlicht die
Vermutlich kann Ähnliches für die Philosophie dieser Zeit gelten. Wo sind die Lehrer
des Descartes? Man muss seine Biographie heranziehen: er war bis zu seinem
vierundzwanzigsten Jahr (1620) Soldat.
25
32
Schwierigkeiten, die den derzeitigen „Synkretismus“ begleiten: bei
J. V. Andreä sogar in einem Verweis von der Universität und aus
dem Stift. Wo sind seine geistigen Väter?26 - Dazu ein Gedanke:
kann es nicht sein, dass wesentliche Ereignisse dieser Zeit sich
der üblich gewordenen Kategorisierung entziehen, damit vielleicht
auch dem „theologischen Fach“, um im Beispiel dieser
Wissenschaft weiter zu sprechen? Geht hier die die Entwicklung
etwa in Richtung einer geistlichen Laienfrömmigkeit, außerhalb der
gängigen Sektoren des geistlichen Feldes, damit auch außerhalb
der Schulen, der Institutionen? Und wird diese Strömung erst eine
Generation später wieder sichtbarer, in Publikation wie in
gesellschaftlicher Wirkung? Und nennt sich dann, gereift und
„versteift“, „Pietismus“27? - Und kann man dieses schließlich als
Modell anderer und verwandter Entwicklungen in manchen
Sektoren des Lebens und der Wissenschaft nehmen? Bleiben wir bei den geistlichen Vorstellungen. Sosehr diese Zeit
durch die religiösen Differenzen gekennzeichnet ist, so scheinen
gerade die überragenden Figuren etwas anderes als diese
Oberfläche zu leben: einerseits eine „reine“ lebenspraktische
Haltung, zugleich eine tiefe Spiritualität, beides in einer eben
gezeigten „synkretistischen“ Richtung. Bei dem Versuch der
geistesgeschichtlichen Einordnung des Michel Nostradamus wurde
vorgeschlagen28, Nostradamus keinem der beiden religiösen Lager
zuzuordnen, sondern ihn eher als einen Vertreter jener dritten
zeitlichen "Kraft" einzuschätzen, die als "humanistisch" zu
bezeichnen wäre und auf Grund ihrer geistigen Potenz - gehörten
Ich rate jedem Leser, sich ebenfalls diesem exercitium zu unterziehen: er wird deutlich
spüren und finden: hier ist eine Lücke.
27
Und wer kann auf Anhieb sagen, dass vielleicht Johann Arndt der gesuchte bedeutende
Theologe gewesen war?
28
Dinzinger, L., Nostradamus: Die Ordnung der Zeit, Aichach, 1991; 1992; 1993.
26
33
zu ihr doch die bedeutendsten Wissenschaftler, vorab Erasmus
von Rotterdam und Willibald Pirckheimer - überhaupt nicht
unterschätzt werden könne. Solches könnte auch mit den
Ergebnissen zu diesem Horoskop bestätigt werden: es geht mit
großer Wahrscheinlichkeit um eine religiöse Position, wie sie auch
von Rudolf II. oder dem französischen König Heinrich IV. in
verwandter Weise interpretiert wurden: sie ist einerseits
pragmatisch, andererseits irenisch, und so schließlich auch
„integrativ“. Solches bedeutet aber in dieser Zeit auch: spirituell,
mystisch, unabhängig, sozial außen vor, vielleicht auch nicht in
akademischen Graden. Es scheint die Person Michael
Nostradamus geradezu ein Exempel der in dieser Phase der
Geschichte aufkommenden Eigenheiten, Typiken und Topoi: und
diese Wesenszüge wären für ein Verständnis der Zeit umso
bedeutsamer, je weniger die damals entstehende geistige Welt
heute „geteilt“ wird: weil die entstandenen positivistischen
Deutungen der Welt so ziemlich genau diametral jenen
„synkretistischen“ (oder auch „quietistischen“) Impulsen
entgegengesetzt sind: dort wird Universalität angestrebt, hier
Fachwissen, dort Verbundenheit, hier Distanz, dort Integralität, hier
die Orientierung an „Elementen“.
In der weiteren Erläuterung dieser Vorstellungen folgen wir einer
Formel, die Gertrude von Schwarzenfeld für Rudolf II. gefunden
hat. Nach ihrer Rekonstruktion sei damals aus dem Boden des
"Humanistischen" bald etwas Neues erwachsen: und dieses sei
anders geworden als der Wurzelgrund, dem es entstamme. Sie
schreibt dazu und über Rudolf wörtlich: "Das Neue seines
Verhaltens lag in der Abkehr von den alten Antithesen und in der
Hinwendung zu neuen Inhalten der Kultur. Durch den Zwang der
Gegensätze geriet er oft in eine zwiespältige Lage, die seinem
34
inneren Zwiespalt entsprach. Aber seine Zwitterstellung brachte in
seinem Umkreis neue kulturelle Interessen zur Entfaltung, welche
die alten Gegensätze hinter sich ließen. Die Tatsache, daß er
mitten in der Gegenreformation - zu gleicher Zeit wurde Giordano
Bruno in Rom verbrannt - dem Calvinisten Tycho de Brahe und
den Lutheraner Johannes Kepler an seinen Hof berief, zeigt
deutlich, dass er sich über die Vorurteile seiner Zeitgenossen
hinwegsetzte, wenn es galt, dem Neuen zu dienen. Das Neue war
um das Jahr 1600 die selbständige wissenschaftliche
Forschung"29. Wenn man zu diesen Sätzen die Vorstellung des
„Synkretismus“ hinzu zieht, und statt „zwiespältig“ das Wort
„vielfältig“ setzt, dann kommt man einem Verständnis nahe, das wir
hier intendieren, aber nicht nur für Rudolf, sondern für eine ganze
Generation hoch gebildeter Personen, die heute großenteils im
Dunkel der Zeit verschwunden sind. Zugleich aber ist auch der
letzte Satz zu relativieren: das Neue ist wohl weniger die
„selbständige wissenschaftliche Forschung“ sondern der Impuls,
der solcher Tätigkeit und den mit ihr verbundenen Haltungen zu
Grunde liegt: dieser unterscheidet sich von der vormaligen „mittelalterlichen“ - Orientierung an antiken Autoritäten, wie etwa
die Kirchenväter, oder der mittelalterlichen Wiederentdeckung des
Aristoteles und seiner Pflege in der akademisch anerkannten
Scholastik: es ist dieses eine entschieden abstrakte Haltung
gegenüber den Gegebenheiten der Welt, das Vorbild der
„Abstraktion“ in der modernen Kunst, und es ist dieses ein Wissen
um die Gültigkeit vieler subjektiver Realitäten, selbst wenn sie von
einem Kaiser gepflegt werden: ein „Sich-Zurücknehmen-anMacht“, an Entscheidung, an „pädagogischem“ Einfluss, geradezu
„postmodern“, ein Opfern der „modernen Sicherheit und
Schwarzenfeld, G. v., Rudolf II., München, 1979, 13; vgl. a. Trunz, E., Wissenschaft
und Kunst im Kreise Kaiser Rudolfs II. 1576-1612, Neumünster, 1992.
29
35
Überlegenheit“. Uns scheint, hier ist G. v. Schwarzenfeld eine
geradezu einzigartige Verdichtung der vergangenen historischen
Impulse (erste Hälfte des 16. Jahrhunderts) und der aktuellen
geschichtlichen Valenzen (zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts) für
ein Nachvollziehen der Zeitumstände gelungen.
An dieser Stelle sollte man weiter nachdenken, um zu einer
klareren Bestimmung und zu einer geklärten Idee von
„Manierismus“ zu kommen: vermutlich ist dieser Begriff doch
besser als „Synkretismus“, letzterer wird in einem generelleren
Sinn auch für andere Phänomene verwendet, ersterer ist
zeitspezifischer und auf die individuelle Wesenhaftigkeit der
befragten synchronen Zeit besser zugeschnitten. Bei solcher neuer
Definition sollte aber im Auge behalten werden, dass auch andere
gute Begriffe vorhanden sind, etwa „Spätrenaissance“: leider
bestimmt dieses Wort aber keine Qualität dieser Zeit, in einem
subjektiv unmittelbar erlebbaren und ablesbaren Sinn, in parallel
entstandenen lebendigen und vielfältigen Konnotationen. Weiter
angesprochen werden muss auch noch einmal an die Vorstellung
des Giorgio Vasari von „maniera moderna“, und zwar in ihrem
zweiten Bestandteil – geben doch gewisse Hintergründe der
modernen Kunst, gemeint ist dabei vor allem das ausgehende 19.
und das 20. Jahrhundert, in Begriffen wie Impressionismus,
Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, Futurismus, Pop-Art,
Fauvismus usw., unserer Meinung nach eben jenes Moment und
jene charakteristische Eigenart, die „manieristisch“ benannt
werden kann, recht entschieden wider. Verwandtes geschieht auch
in neueren Kunstformen, etwa in der Fotographie, im Film30, oder –
mit am deutlichsten - in Installationen. Gerade in Installationen wird
jenes Gefühl der Indifferenz, der subjektiven „Ausgesetztheit“, der
30
Luis Bunuel.
36
stupenden Überwältigung, des Eintritts in eine vielfältig
imponierende Wahrnehmungswelt, das manieristischer Kunst zu
eigen sein kann, überwältigend präsent: man denke an die RaumLicht-Installationen von James Turell, Wahrnehmungswelten ohne
Figur, „reiner Grund“ - dieses gestaltpsychologisch angesprochen damit kaum beschreibbar, ein „Zwischen“, ein „wesendes Nichts“,
mit befreienden Wirkungen auf die Verfasstheit des betrachtenden
Subjekts, und der Lösung seiner Vorverfassung in neue Weite:
dieses noch deutlicher in seinen monumentalen Land-ArtInstallationen. Die Farbwelt, die James Turell erschlossen hat: sie
könnte man doch „manieriert“ nennen: es ist völlig anderes
„colour“, der Glanz und das Schimmern einer Zwischenwelt, einer
Innerlichkeit, einer ins Objektive gesteigerten Subjektivität, einer
Spiritualität31.
Wir setzen noch einmal neu an, um den Zugang zu dem
beschriebenen Phänomen näher zu eröffnen. Dabei gilt es nun, die
Beziehungen und den Zusammenhang eines Horoskops zu
berücksichtigen: wenn man dieses als „Kunst der Deutung“
auffasste, so wie gute Praxis der Medizin als „ärztliche Kunst“, so
sollte man danach suchen, was die Intentionen solcher
Darstellung, Information und Heilung ist. Die Ziele und Zwecke
sind wohl ganz allgemein gesprochen andragogische, auf alle
Fälle „bewusstseinsbildende“, vielleicht auch sozialisierende, es
sind herausfordernde und Entwicklungen individuell wie kollektiv
anregende. Wenn man also den Zusammenhang und den Sinn
und Zweck eines Horoskops erwägt, dann steht man plötzlich vor
Benachrichtigungen über das eigene Wesen, vor Verständigungen
über das existenzielle Befinden, man gerät miteinander in
Eine entschlossene Kritik an diesem „modernen Manierismus“ stellt Hans Sedlmayrs
„Verlust der Mitte“ dar: er vertritt darin eindeutig den „konservativen“ Aspekt.
31
37
„Vermittlungen von Weisheit“, und dieses sind zuerst
psychologische dann aber - noch mehr - philosophische
Dimensionen. Eben dieses ist aber doch ganz ähnlich der Kulisse
„manieristischer“ Kunstobjekte; solche haben unbestreitbar über
ihre sensuelle Qualität hinaus eine „abstrakte Ebene“, einen Sinn,
der in rätselhaftem Konglomerat verborgen sein kann. Und solcher
Sinn kann in „feuerigem Spiegel“32 - so Michael Nostradamus über
die Gestirnkunde – vervielfältigt, mehr als verdoppelt, in hohen
Graden schillernd sein: und wir wenden hier eine Metapher über
Astronomie und Astronomie auf alle Produktionen eines
„Manierismus“ an, in bildender Kunst, in der Literatur, in den
Geisteswissenschaften, in denen das changierende Moment bis
ins Beirrende und Unverdauliche gesteigert werden kann. Man
denke dabei, ausgehend von der Malerei, an Salvador Dali oder
Max Ernst, man nehme in der Literatur Arno Schmidt hinzu, und
dann beschäftige man sich mit den Manifesten des Surrealismus,
oder mit den Synästhesien Kandinskys und den Abstraktionen
seines Kunstbegriffes. Dann gehe man weiter, und
vergegenwärtige sich, wie solche Attitüde in der Vermittlung von
Information gehalten sein kann, und damit auch in einer Erklärung
einer Gestirnkonstelleation, die eine Geburt begleitete: nimmt man
hinzu, dass solches Horoskop von einer Person entworfen sein
kann, die für einen Propheten oder Seher gehalten wird, etwa wie
bei Michael Nostradamus, wird diese philosophische Dimension –
das nach seinen Worten „astrophile“ Moment - noch deutlicher. Es
tritt nun zu einigen abstrakten Ebenen noch ein Moment spiritueller
Reflexion hinzu, und die Ebenen der Konnotationen gewinnen an
weiterem Umfang und an gesteigerter Qualität, und dieses – sagen
wir mal - „spiritualistische“ Moment gibt eine sehr entschiedene
32
Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 18.
38
weitere synkretistische oder manieristische „Wiederspiegelung“
hinein: dabei kann man sehr gut an andere moderne Künstler
denken, die ihre Intentionen auch philosophisch überhöht
darstellten, erwähnt seien das („manieristische“) Spätwerk von Karl
May, Leo Tolstoi, Ernst Barlach, u. v. a. m.. Hier geht künstlerische
Produktion in philosophische Reflexion über: ein naives „Bilden“ nicht im pädagogischen Sinne hier gemeint, aber doch sehr
bezeichnend doppeldeutig – geht „hinüber“ in ein „Lehren“, und ein
„Mitteilen“ von oft nur intuitiv wahrgenommenen Inhalten. (Natürlich
gibt es dieses „naive Bilden“ in der Kunstgeschichte kaum, der
Begriff ist hier dialektisch eingesetzt, um die gemeinte Bedeutung
herauszuarbeiten.)
Könnte es nicht sein, dass so Michael Nostradamus bedeutende
Anhaltspunkte zu geben vermag, um jenes zu verstehen, das
„Manierismus“ genannt wird? Der Schluss ist möglich, wenn nicht
gar nahe liegend: und die Gewinne scheinen auf der Hand zu
liegen, denn zugleich werden gewisse Weisen von Texten des 19.,
20. und 21. Jahrhunderts klarer.
Doch wie konnte dieses so untergehen? Die genannten
Zusammenhänge, Korrelationen und Parallelen können für Michael
Nostradamus nicht nur in modifizierter Form gelten: er ist geradezu
ein Beispiel eines „manieristischen Synkretismus“, als Arzt, als
Astrologe, als Hersteller von Arzneimitteln, als Mitbegründer der
modernen Kosmetik, als visionärer Deuter der Zukunft, mit
theologischen und philosophischen Inspirationen; und es sei an
dieser Stelle nur an jene Tatsache erinnert, dass Nostradamus
enographische Rechenergebnisse in seiner spezifischen
Zyklenlehre nur in einer schnellen und bedingungslosen Rezeption
der Lehre des Kopernikus in den dreißiger und vierziger Jahren
39
des Jahrhunderts erklärbar sind33. Dabei ist Nostradamus - weitaus
stärker als der spätere Rudolf - auch bedeutend von den
Ursprüngen des neuen Denkens geprägt, vor allem von Erasmus
von Rotterdam, zudem von den protestantischen Denkern und
ihrer biblischen Orientiertheit (vor allem was die eschatologischen
Aussagen anbetrifft). Es ist aber nicht zu unterschätzen, dass
Nostradamus neben seiner Bevorzugung der Theologie der
Kirchenväter auch geprägt war von einer scholastischen, damit
traditionell philosophischen und religiösen Einstellung, die
wiederum dem Augustinusmus Bonaventuras und den Lehren des
Duns Scotus, damit der frühen und späten Franziskanerschule
nahe steht, und er darüber hinaus aber auch unleugbare
mystische Wurzeln aufweisen kann, in der Nutzung der
platonischen und neuplatonischen Philosophie, in kabbalistischen
Hintergründen, und vor allen Dingen in einer Rezeption des
Joachim von Fiore und seiner Nachfolger, der Spiritualen. Damit
sind die vielen (!) Kernthemen angeschnitten, die die Sozialisation
dieses historischen Exponenten bestimmen. Und vermutlich gilt
dieses in wenig modifizierter Weise auch für Rudolf: für ihn ist
ebenso anzunehmen, dass ihn die Fülle der im 15. und 16.
Jahrhundert entstandenen neuen Kenntnisse zu völlig neuen
Schlussfolgerungen über „Gott und die Welt“ getrieben haben,
ganz in dem Sinne, den wir aus G. v. Schwarzenfeld zitierten.
Doch wieso ist uns diese Zeit der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts so fremd geblieben? So fremd, obwohl sie vielleicht
„moderner“ ist, dazu auch „postmoderner“, als manches andere
weiterer Entwicklung? Und, wir nehmen hier jene Linie der
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass eine Schule der philologischen Forschung
zu Nostradamus zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommt, Gründe dafür in:
Brind´ Amour, P., Nostradamus Astrophile, Ottawa, 1993. Leider steht man diesen
Ergebnissen in weiten Kreisen der Forschung weitaus zu unkritisch gegenüber.
33
40
„Verdrängung“ auf, die uns an den bedeutendsten Architekturen
dieser Zeit in Deutschland und Österreich erschienen ist, oder an
den Problemen, mit denen die Literaten behaftet erscheinen, oder
an dem Mangel der Theologie, wieso sind beide Personen,
Nostradamus und Rudolf, so abgewertet, so „verachtet“, so
weitgehend fehlinterpretiert? Liegt hier erneut der gleiche Prozess
der Abwehr von Bedeutung vor, ein „Nicht-Wahrhaben-Wollen“
einer komplexen Entwicklung am Beginn der Moderne? Sind diese
Personen, viel mehr noch als diese beiden, ganz anders zu
verstehen? Es gibt Ansätze dazu: Franz Grillparzer hat viel später
versucht, Rudolf - in seinem "Bruderzwist im Hause Habsburg" als „Herrscher-Weisen“ zu rechtfertigen: doch trotzdem: der
Geschichtsschreibung galt er lange als geistig umnachteter
"Sonderling auf dem Kaiserthron". Heute sind wir hier kaum weiter:
anscheinend sind die „Schubladen“ psychiatrischer
Stigmatisierung verführerischer als die Besichtigung vielfältiger und
vielschichtiger Leistungen. Ähnliche Verhältnisse finden wir im
Nostradamus-Verständnis von Anfang an bis jetzt noch: manchen
seiner Zeitgenossen gilt er als „trunken“, bestimmte Kritiker
entwerfen schon zu seinen Lebzeiten Despektierliches, wer noch
„milde“ bleibt, nennt seine Erzeugnisse „dunkel, unverständlich,
orakelhaft vieldeutig“. Ein amerikanischer Interpret des 20.
Jahrhunderts deutet ihn als „alkoholkrank“; ein kanadischer
„Exeget“ der letzten Jahre des gleichen Jahrhunderts spricht ihm
alles astrologisches Können ab; neuere Deutungen rücken ihn in
die Nähe eines Schwindlers, dem seine Handlungen wie einem
durch Drogen stimulierten Schamanen unbewusst und
unverständlich blieben, und dieses verschleiert gehalten unter
bewusst indifferenter Sprache. Das alles reicht doch bei Weitem
nicht hin: würde jemand so mit den Produktionen moderner Kunst
41
umgehen, hätte er seine Teilhabe am Prozess der kulturellen und
künstlerischen Produktion verwirkt. Wir unterlassen es, auf die
verschiedenen Behinderungen, Abhängigkeiten oder
Verschrobenheiten moderner Künstler hinzuweisen: niemand
würde ihre Leistungen von solchen Faktoren kausal abhängig
darstellen.
Warum aber untersucht man diese hier – alle die genannten
Exponenten jener Schule der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
- nicht ebenso behutsam, sacht, verständnisvoll, nachdenklich,
dieses und jenes berücksichtigend, einbeziehend? Was ist
geschehen, das diese Äußerungen der Spätrenaissance so
unverstanden geblieben sind?
Wir versuchen dazu noch einmal eine einfache geschichtliche
Konstruktion, mit wenigen Mitteln. Man kann überlegen, welche
vier Personen – aus der Sicht von uns heutigen, in viel späterer
Bewertung – in den beiden Jahrhunderten zwischen 1400 und
1600 jeweils für fünfzig Jahre die bedeutendsten „Spuren“
hinterließen: mit der Serie dieser vier Personen, ihrer vier Berufe,
ihrer vier Handlungsweisen kann man eine historische Linie
konstruieren, die Gründe und Ziele bestimmter zeitlicher Phasen,
immer für fünfzig Jahren, deutlicher werden lässt. In der ersten
Hälfte des 15. Jahrhunderts bleibt einem wenig anderes übrig, als
an Fra Angelico und Brunelleschi zu denken: in ihnen äußert sich
das Neue am deutlichsten34. Zwischen 1450 und 1500 bleibt als
einzige denkbare Möglichkeit Christoph Kolumbus, mit der
bedeutendsten Entdeckung und den weitreichendsten
Man kann eventuell für die erste Phase andere Personen wählen, etwa Donatello oder
Mantegna, die Schlussfolgerung bleibt die Gleiche. Es ist auch gut möglich, andere
Personen, etwa Leonardo, oder Michelangelo, oder Nostradamus, auch Rudolf, in dieses
„System“ einzubeziehen: dann könnte man weitere Schlüsse und Evaluationen ableiten.
34
42
Folgerungen. Zwischen 1500 und 1550 legt Martin Luther die
theologischen Fundamente einer neuen Deutung des Religiösen,
d. i. hier des Christlichen, in riesigen Konsequenzen. Und 1550 bis
1600: die schwerwiegendsten Entwicklungen geschehen sicherlich
unter Elisabeth I. von England, im Gelingen ihrer Politik.
Was ist zu sehen? Die bildende Kunst entwirft in geradezu über
ihre Zeit hinaus greifender Weise eine Vorwegnahme des Neuen:
plötzlich steht neu geboren und jung ein anderer Ausdruck da, eine
neue Auffassung des Menschen, eine andere sinnliche Erfahrung,
ein neuer Kolorit, ein neuer Raum; und diese Weise mündet in der
zweiten Phase in einen Ausgriff regionaler Bewegung, in eine
Ausfahrt und ein Begreifen, die Welt könne anders verstanden
werden, sie sei viel größer, und dann kann sie tatsächlich weitaus
anders als vormals erfahren werden: es gewinnt das Handeln von
Seefahrern, Händlern, Eroberern plötzlich eine weit tragende
Komponente, es sind Menschen der Tat, schwer arbeitende
Pragmatiker, die mit einem Schlag den Radius der Welt nahezu
„verdoppeln“, in allen Weltteilen um Europa herum - es geht der
Impuls von der juvenilen Unberührtheit der Kunst zu diesen
unermüdlich Zupackenden, zu ihrem Ungestüm und ihren harten
Willen; danach aber reift ein Werden, nach dem Weitergang vom
Bild zur Welt, nach der Fortführung von Antizipation zu Realisation,
und nun gerät die Renaissance zur „Reformation“: Martin Luther
formuliert die Impulse des Neuen in philosophischer und
theologischer Weise: er eröffnet neue Horizonte von Freiheit und
Individualität, von Gnade und hingegebener Innerlichkeit, von
persönlicher Entscheidung und dezidierter Lehre: diese steigern
die vorherigen Dimensionen des Ästhetischen und des
Aktualisierten in eine „intelligible Form“ hinein, in neue Begriffe und
neue Ordnungen geistiger Vorstellungen - von dieser Person nun
43
hängen viele geistige Einflussnahmen ab, sie durchdringen die
Zeiten und Zonen, sie „befeuern“.
Danach nun käme die Zeit zwischen 1550 und 1600: nach dem
Modell wäre es nun an der Zeit, reflexive Distanz zu dem
Vorherigen zu gewinnen. Es wäre Zeit zu sichten, neu zu ordnen,
neu zu bewerten, in kontemplativer Sammlung und in
angestrengter Reflexion. Es wäre die Zeit zu wählen, es wäre eine
Zeit der Diskussion und der sozialen Übereinkünfte zu postulieren:
das erste Künstlerische und Sensuelle, das folgende
Welterfahrene und das Zupackende, das darauf entstandene
Religiöse und das Philosophische und Theologische: es sollte
„gesteigert“ werden, verarbeitet, in das Spirituelle und Kosmische
erhoben werden, es sollte zu neuem Staat, neuer Religion und
neuer Norm sich formen – was aber geschieht? Vielleicht ist die
Anforderung zu hoch, vielleicht sind die Kräfte erschöpft, vielleicht
ist der Respekt und Kniefall vor den entstandenen Autoritäten zu
groß, oder eventuell ist auch das Selbstbewusstsein und das
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gering. So gelingt die
neue (vierte) „moderne“ Qualität nur bedingt und vereinzelt35; und
wo sie gelingt, bleibt sie oft unverstanden, wird nach kurzer Zeit
dem Verfall und der Abwertung übergeben – warum?
Der Erfolg widerspricht: gemeint ist der politische Erfolg, in dem
Werden der neuen Weltmacht England, und in der spanischen
Niederlage, die die Habsburger und damit auch Deutschland und
Österreich an den Rand stellt, weil Kaiser und in spanischer König
mit im Verfall des in Spanien verwirklichten „goldenen Zeitalters“
leiden. Ja, es wendet sich die Geschichte ab von dem
„manieristischen“, von dem „synkretistischen“: sie vereinfacht, sie
35
Und vollends erst im Bruch der Moderne, an ihrem Gipfelpunkt, im 20. Jahrhundert?
44
reduziert, sie wird in großen Stücken materialistisch, utilitaristisch,
kapitalistisch, und sie geht in den Bereich des Machtpolitischen:
das Einverständnis von Staatenlenkern, Beamten und Philosophen
wird später geradewegs münden in positivistische
Naturwissenschaft und aufklärerische Philosophie, deutlich
sichtbar in den englischen Entwicklungen der nächsten 50 Jahre.
Und diese Entwicklung wird dort begleitet von in jenem zweiten
oder dritten Umsturz des traditionellen Königtums dort, es entsteht
ein Staat, der von Parteien und Parteiungen gekennzeichnet ist,
wurzelnd in einem „Konkurrenzkampf“, und bald beginnt sich die
„radikalste“ Richtung durchzusetzen, mit Oliver Cromwell. Und,
was was in diesen angesprochenen Regionen entsteht, im
Sprachlichen, Architektonischen – interessant ist, welche
Kunstgattungen ausgenommen werden36 – unterscheidet sich
dramatisch von jenen Produkten, die auf dem Kontinent unter dem
Einfluss der Gegenreformation oder in der Fortführung iberischer
Impulse geschaffen werden. Bezieht man nun ein, das gewisse
Mitteilungen barocker Kunst sehr wohl als inhaltliche wie
handwerkliche Fortsetzungen der manieristischen
Spätrenaissance zu betrachten sind, wird deutlich, wieso solche
Wesenheiten im Westen nicht erkennen sind: sie sind im Norden
der Neuen Welt völlig unvorstellbar, und sogar schon in
Norddeutschland unmöglich. Zugleich sieht man in westlicheren
Regionen eine wunderbare Fortführung des Palladio, gerade so,
als kennte man die erwähnte vierte Stufe, die „spiritualistische“ des
Manieristischen, nicht, genannt sei hier vor allen Dingen Inigo
Jones mit seinen großen Wirkungen für die Architektur
Nordamerikas. Im Sinne der hier unternommenen Konstruktion
könnte man nun sagen: es geht das Verständnis des
36
Man lese dazu Hans Sedlmayrs Darstellung des Mangels an Plastik in England.
45
„Manieristischen“ wegen der entstandenen Übermacht des
Politischen unter, es muss sozusagen verfallen und „verdrängt“
werden, es gewinnen neue Institutionen des Staates die
Oberhand, in anderen Ländern, mit anderen Institutionen: und wird
nicht gerade in England das frühmittelalterliche vermisst37?
Und so kann gerade die eigentümliche Form, die das Lebens des
Rudolf II. ausdrückt, ein Abbild eben dieser „an den Rand
rückenden“ Geistigkeit sein: es geht Bedeutung in mehrfachem
Sinn verloren – im deutschen Staat, in der deutschen Geschichte.
Ähnliches gilt für Frankreich, in Personen wie Heinrich II., Heinrich
IV., Nostradamus. Beispiele für Italien und Spanien haben wir auch
schon gegeben.
Um dieses zu komplettieren, kann man sich dem Versuch
unterwerfen, sich vorzustellen, was geschehen wäre, hätte nicht
England sondern die spanische Armada gesiegt: dann wäre die
künstlerische wie die politische Entwicklung „manieristischer,
synkretistischer“ geblieben, es hätte nicht das radikal Neue die
Oberhand gewonnen, sondern eine „Mischung aus
Mittelalterlichem und Neuem“, um es plakativ zu sagen: und wir
wären alle nun „allegorischer“ gestimmt, symbolkundlich gebildeter,
wissenschaftlich konservativer, rationalistisch vorsichtiger und
interpretativ polyvalenter. Man könnte nun zuweilen meinen, die
moderne Kunst hole nun diese Haltungen einige Jahrhunderte
später („verspätet“?) noch einmal nach, und zwar sehr
konzentriert, und wieder nach einer eher „naiv“ zu deutenden
Phase, mit Monet, Renoir, van Gogh: selbst in den einfachsten
Werken eines Hopper, Mondrian, Feininger, Lindner, Pollock
scheint plötzlich eine geistige Dimension durch, ein Geheimnis
37
Man schaue auf die bezeichnenden Rekonstruktionen bei J. R. R. Tolkien.
46
spiritualistischer Überhöhung, die Linien, die Farben, der Stil
gewinnen Ebenen an Konnotationen, zuweilen mengen sich dann,
vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, wieder auch alte
Bedeutungen hinein. Auf der anderen Seite kann man sich
vorstellen, welche langen Jahrhunderte von „Klärung“ nötig
gewesen wären, um von den komplexen und vielfältigen
Synkretismen des Manierismus zu jenen entschiedenen Schritten
der Abstraktion und des puren Reflexiven zu kommen: doch
enthalten scheinen diese auch dort, wenn auch „gewundener,
mysteriöser, ambivalenter anspielend“.
Was also nun ist „Manierismus“? Wie ist dieser Begriff
anzureichern, zu verändern, oder auszutauschen, um zu gültigeren
Vorstellungen über das zu kommen, was sich ab der Mitte des 16.
Jahrhunderts ereignet? Wie kann man jenes, was Michael
Nostradamus kreiert, nennen? Was tut er? Die „Manieristen“
erschaffen eine neue Vorstellung von „Gott und Welt“, von
Transzendenz und Immanenz, auf der Grundlage der neuen
Bewertung sinnlicher Erfahrung, ausgedrückt in der Kunst, auf der
Grundlage einer weiter gespannten Auffassung von Himmel und
Erde, in der Kugelgestalt und in dem heliozentrischen System, und
auf der Grundlage neuer theologischer Vorstellungen, die gerade
in der Abwehr des weiteren Ausbaus des mittelalterlichen
Paradigmas entstehen. Wie ist dieses dritte gemeint? Mit Le Goff
war der Fund der mittelalterlichen Periode das Fegefeuer. Es ist
dieses ein „Rand“, „limbus“, eine dünne Haut, die die Immanenz
überzieht: eine Art „Zwischenstadium“, das vermitteln soll zwischen
Physischem und Metaphysischem. Diese „Wand“ ist „porös“, ganz
im Sinne der diaphanen Architektur der Gotik, die der romanische
Bemalung des gänzlichen Kircheninneren folgt. Verstorbene
passieren diese „Wand“: und wenn sie nicht würdig sind, den
47
Himmel zu erreichen, oder noch nicht erlöst, wie die
alttestamentlichen Väter, dann müssen sie in dem
Zwischenzustand jener „Haut“ verharren, darauf warten, bis sie in
Gnade „befördert“ werden. Eine Lösung, diese Wartezeit zu
verringern oder aufzuheben, war der Ablass: er diente dazu die
„Sündenstrafen“ im Fegefeuer abzumildern, zu verkürzen, oder
ganz zu erledigen.
Gegen diese Vorstellung erhebt sich nun der geharnischte Protest
der Reformatoren: sie erkennen darin ein Übergewicht der
kirchlichen Macht und eine unangemessene Verringerung der
Verantwortung des Individuums, sie sehen darin die Forderung
einer irdischen Leistung, deren Bedeutung viel zu groß
aufgeblasen wird – und sie wollen folgerichtig die Bedeutung des
Glaubens des Subjektes voran gestellt sehen. Wir Heutigen
würden sagen: die „Materialisierung“ der Transzendenz (und des
Überganges dorthin) in der Vorstellung „Fegefeuer“ wird bei ihnen
zu Gunsten einer willentlichen Entscheidung, die unmittelbar mit
dem Göttlichen und Überwirklichen kommuniziert, zurück gestellt.
Dieses ist das neu gepredigte Verhältnis zwischen Gott und dem
Menschen: die alten Vermittlerrollen der Heiligen, der Kirche, der
Priesterschaft werden nicht mehr benötigt, der Laie übernimmt die
Verantwortung für sich selbst.38
Michael Nostradamus schreibt nun in der ersten Vorrede seiner
„Prophezeiungen“, seine Werk, sein Wort, seine Vorhersage sei
inspiriert „durch die Stimme, die entsteht am Rand“, „par la voix
faict au limbe“39. Das bedeutet: der Geist, der ihm zukommt, ist
„vermittelt“ – wie zuvor, in langer Weltzeit – durch ein
Dieses ergibt dann das spezifische protestantische/reformierte Erscheinungsbild
kleiner Gemeinschaften, Gemeinden, Freikirchen.
39
Die Prophezeiungen, 1555, Satz 18.
38
48
übermittelndes Glied. Dieses ist aber keine „körperliche Haut“,
sondern ein Klang, eine Art „Ton“, der vielleicht die Qualität einer
Stimme gewinnt. Damit aber ist „jenseits“ dieses „Hörens und
Gehorchens“ ein weiteres agens anzusetzen, ein unfassbares
Immaterielles. - Die heutige Physik operiert mit recht verwandten
Vorstellungen, erwägt, ob unsere Erfahrung nicht einem
Hologramm verwandt sei, erzeugt auf einem zweidimensionalen
Ereignishorizont – einem Dia, oder einem Film in einer laterna
magica vergleichbar -, und dieser Ereignishorizont wäre wiederum
im Zusammenhang „schwarzer Löcher“ zu verstehen. So findet
man zwar wieder einen „Grund“, verschiebt aber die weitere
Ursache in ein „mysterium“ hinaus. - Nostradamus hebt die
mittelalterliche Vorstellungswelt nicht auf: dieses ist das
konservative Moment; er fügt aber die überreich mögliche und das
Subjekt überwältigende Einflussnahme des Göttlichen hinzu, und
dieses auch in „privater“ Weise, ohne Vermittlung der kirchlichen
Institutionen: „der Geist weht wo er will“.
Dieses wirkt auf alle Fälle „synkretistisch“: es vereinigt die
mittelalterliche Vorstellung mit den aktuellen Ergebnissen der
Theologie, vermeidet die darin verborgene Polarität, die Anlass zu
Auseinandersetzung geben könnte, zu Gunsten einer geradezu
selbstverständlichen Zitierung beider Vorstellung. Diesem Faktum
hinzu fügt er nun seine vorhersagenden Bilder, Symboliken,
Aphorismen und zeitlichen Gliederungen: sozusagen als ein
„Drittes“, die beiden Aspekte vorher vervollständigendes,
ergänzendes und erfüllendes Wesen.
„Manierismus“ scheint am besten für jene Phänomene zu gelten,
die in bewusster Weise differente Materalien, Themen, Stile
miteinander zu kombinieren suchen, dabei zu neuen und
49
geplanten Zusammensetzungen und Gebilden kommen, und
dieses oft auch ohne eine „neue Einheit“ zu finden. Man denke
dabei an manche Disparatheit, die Elaborate des Historismus im
ausgehenden 19. Jahrhundert gewinnen, oder manche etwas
„künstlich“ wirkenden Versuche französischer
Revolutionsarchitektur, und ist auch nicht Arcimboldo ein wenig im
Verdacht, seine Kompositionen erreichten jenes Moment der Kunst
nicht, eine andere und völlig neue und außerordentliche und
abstrakte Wirklichkeit heraufzubeschwören? „Manierismus“ wäre
demnach eine Art Vorstadium in einem so vorgestellten
Kunstprozess, ein (allzu) bewusstes Suchen nach Neuem, in
beliebigen Rekombinationen aller möglicher Elemente, im
Zusammenfügen von Bedeutungen, die für dieses und jenes und
vieles „symbolisch“ sind: symbolisch, von griechisch „symballein“,
„zusammenwerfen“.
Führt man nun die Überlegungen zur Charakteristik der „Moderne“
weiter, in Abhebungen zu jenem „Limbus“ des Mittelalters, so meint
man in den neuen Auffassungen eine Dialektik zu erkennen. Eine
statische Annahme wird aufgehoben zu Gunsten einer
dynamischen. Solange nun dieses Suchen und Tasten nach dem
„Anderen“ noch in der Versatzstücken des Bekannten verweilt, so
lange ist das scheinbar „Manierismus“: tritt nun aber, wie bei den
besten Künstlern, wie Michelangelo, Nostradamus, Vredeman,
Breughel u. a. m., die „Inspiration“ hinzu, ein „Transzendieren“ im
existenzialphilosophischen Sinn, dann entstehen Transparenzen,
ganz andere, als im diaphanen Sinn des Mittelalter, nämlich neue,
dem Individuuum verwobene, damit nicht mehr traditionelle, alten
Autoritäten und der aristotelischen „Übereinstimmung der Besten“
und den immer gleichen Darstellungen und Stilformen
verpflichtete. Und damit wird das Individuum in eine völlig neue
50
schöpferische Bewertung gehoben: es vermag zu schaffen, es
erzeugt ein kreatives Produkt, dieses ist subjektiv, aber doch auch
allgemein gültig, wenn es gelingt, und dann erhebt es sich zu
kollektiver Bedeutung, mündet „hinüber“ in eine Allweisheit, ist ein
„Abglanz“ der Emanationen des Lichtes.
Und wie soll man nun jenes, was nach einem „Manierismus“
kommt, nennen? Es ist etwas Elitäres, nur wenigen Zugängliches:
es steht jenseits des Populären und der Moden, es hat
überindividuelle Bedeutung. Die moderne Psychologie kennt
neben der Psychoanalyse eine Methode der „Psychosynthesis“, im
Rahmen der „transpersonalen Psychologie“: es scheint, als
arbeitete die Moderne so immer noch an Begrifflichkeiten, die den
neuen Wert des Einzelnen und seiner Vision definieren sollen.
Verwandte Begrifflichkeiten suchen das Mittelalterlich-Mystische zu
überwinden, in Vorstellungen von „Transzendentalphilosophie“,
von „Zen“ und „Tao“, von Bewusstseinserweiterung und
Psychodelischem, von „Theosophie“ und „Anthroposophie“.
Während die mittelalterliche Weise „einbettet“ in die schillernden
Darstellungen der Schrift und der Heiligenlegende, versucht der
Barock – in konsequenter Fortführung des Manierismus – zur
„Ekstase“ zu erheben, zu überzeugen mit Füllen von quellender
überweltlicher Stimmung. Kann so etwas nicht auch für Michael
Nostradamus gelten?
Allerdings müssen wir dieses Moment für die Mitte des 16.
Jahrhunderts etwas geringer akzentuiert, human gemildert,
vorsichtiger tastend, und nicht gegenreformatorisch übersteigert
(„überkompensierend“) ansetzen. Wird nun erkennbar, welche
Möglichkeit diese Formel bildet, und wie es historisch geradezu
folgerichtig sein kann, dass nach der Reformation eine neue
51
Bedeutung von „Prophetie“ vorstellbar wird? Und diese geradezu
notwendig wird? Und in dieser neuen Form die „Rettung“ älterer
Bestände gelingen kann, zugleich mit der lebhaften Installation des
Neuen, des Erstaunlichen, des Wunderbaren?
Zugleich wird auch klar, wie gerade diese Valenzen nun der Politik
der Zeitgenossen unterliegen: der Beschränktheit der lokalen
Machthaber und jener, die nach Durchsetzung gieren; der
ängstlichen Befangenheit der mittleren „Beamtenschaft“, die nicht
wissen, wohin „sie ihr Mäntelchen hängen sollen“; und der Perfidie
der großen Hegemonialmächte, die stur ihren Weg einschlagen
und einhalten, ohne tiefere Kenntnis, wem das Schicksal sich
zuneigen wird, alleine vertrauend auf ihre immanenten Kräfte und
ihre Intrigen und Strategien?
Ist so verständlich geworden, was hier kurz aufleuchtet? Und
womit wir hier zu rechnen haben? Und was immer wieder und bis
in ferne Zukunft diskreditiert werden kann?
Michael Nostradamus missverstandene Worte liefern beliebige
Versatzstücke billiger Sensation, wenn es die Verkaufsziffern
fordern: aber wer schreibt von jenem geistigen Phänomen, für das
er steht, und zu dem er Wesentliches beigetragen hat? Heute ist er
nur noch brauchbar für Schlagzeilen, die die Angstlust des
modernen Menschen periodisch befriedigen, a la „Dritter Weltkrieg,
Grenzen des Wachstums, Ozonloch, Super-GAU,
Klimakatastrophe, Diktatoren, Überbevölkerung, Hungertod, clashof-nations“ usw. – und dieses ist so weit weg wie kaum vorstellbar
möglich von der dem Visionär zukommenden Position von hohem
wissenschaftlichen Rang und von ebensolcher geistig-abstrakter
und philosophisch-metaphysischer Stufe. Ja, es erscheint heute
geradezu als absurd, für diesen als völlig hoffnungslos
52
eingeschätzten "Fall" ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung
und Auseinandersetzung zu fordern. So blieb er viel zu oft einer
vorschnellen Subjektivität überlassen: und jeder Generation, die
ihn mit ihren allzu einfachen und immer reduzierter und simpler
werdenden Mitteln ausdeuten wollte, geriet er weiter ins Abstruse,
ins Erregte, ins Hysterische, zuletzt und abscheulich unserer Zeit
gar ins sogenannte "Okkultistische" und ins „Magische“. Weiter
daneben könnte ein Verständnis kaum liegen! Welches
Missverständnis ist hier entstanden, jener Person gegenüber, die
die Geistesgeschichte eines Tages rehabilitieren soll als "die
Zierde seiner Zeit"40, wie er selbst vorhersagt - und dieses
bedeutet bei Zeitgenossen wie Michelangelo oder Karl V. oder
Heinrich VIII. schon Einiges!
Es kann als ein unerhörter Glücksfall eingeschätzt werden, dass
dieses Original seines umfangreichen Horoskops für den späteren
Rudolf II. in Augsburg erhalten worden ist: ein Glücksfall für die
historische Kenntnis der davon berührten geschichtlichen Figuren,
ein Glücksfall für das Wissen um Astrologie und
Astrologiegeschichte, ein Glücksfall für die zukünftig daraus
erwachsenden Vorstellungen, Begriffsbildungen und
wissenschaftlichen Operationen. Wir haben in den zurück
liegenden Absätzen dieses Kapitels versucht, einen allgemeinen
Unterbau für ein Verständnis zu schaffen, und um so der künftigen
detaillierten Analyse vorzuarbeiten.
Besieht man sich den Text des Horoskops: worin unterscheidet
sich seine Struktur, sein vollgepackter Inhalt, seine Tendenz zu
Fussnoten – weiteren Ebenen des Dialogs – von moderner
wissenschaftlicher und belletristischer Literatur? Er scheint ganz in
40
Die Prophezeiungen, 1555, Vierzeiler III, 94.
53
„maniera moderna“ geschrieben, es sind Glättungen vermieden,
Diskrepanzen zugelassen, differente Meinungen hörbar geblieben.
Und es wird mit dem Erbe der Vergangenheit gearbeitet, davon
bleibt hier eine „Arabeske“, dort eine „Verzierung“, und schließlich
wirkt der ganze Inhalt zusammen wie „voll“, „reich“,
„unüberschaubar“, „großartig“.
54
5. Lebensdaten des Rudolf bis zu dem Horoskop
Rudolf wurde am 18. Juli 1552 (julian.) in Wien als erstes von 15
Kindern des späteren Kaisers Maximilian (*1527 – +1576; er
regiert 1564 bis 1576) und seiner Gemahlin Maria, einer Tochter
Karls V., geboren. Seine frühen Jahre sind gekennzeichnet durch
die Liberalität des aufgeschlossenen Vaters, die die streng
katholische Mutter von dem Kinde fernzuhalten suchte. Der Vater
war humanistisch gesinnt, sprach sieben Sprachen, er war
überaus kunstinteressiert; er pflegte in seinem Sohn diese
Interessen - und so waren die ersten starken Eindrücke des
Kindes die Schätze der "Kunst- und Wunderkammern" seines
Vaters, die wilden Tiere aus der ganzen Welt in ihren Gehegen und
die hoch geschätzte Gartenkunst.
Ein nachgeholter "spanischer" Einfluss sollte diese Entwicklungen
korrigieren. Ein Bruder der Mutter, Nachfolger von Karl V., und
König der damals noch unbestrittenen Weltmacht Spanien, Philipp
II. von Spanien (1556 - 1598), hatte im August 1561 seine beiden
ältesten Neffen, Rudolf und Ernst, förmlich eingeladen, an seinen
Hof nach Madrid zu kommen. Die beiden Prinzen zogen, nachdem
ihr Vater die Abreise nicht mehr verzögern konnte, im Herbst 1563
mit Gefolge und Lehrern nach Spanien, und wurden am 17. März
1564 in Barcelona mit hohen Gunstbeweisen empfangen. In der
Zeit dieser Reise muss der Auftrag für die Horoskope über Daniel
Rechlinger an Nostradamus ergangen sein.
55
Der Vater Rudolfs, Maximilian, war 1562 zum römischen König
gekrönt und zwei Jahre später, nach dem Tod Ferdinands I., am
25.7.1564, zum Kaiser gewählt worden. Damit steht der Auftrag
auch mit diesem Datum im Zusammenhang.
Die beiden Erzherzöge blieben sieben Jahre in Spanien, erlebten
dort 1566 den Aufstand in Flandern, die Affäre und den Tod des
Sohnes Philipps, Don Carlos, 1568, dann den Tod der Ehefrau
Philipps, seine Wiederverheiratung mit Anna, einer Schwester der
beiden, und schließlich Rudolfs erste Verlobung mit der Infantin
Isabella. Im Mai 1571 aber nahmen sie Abschied von Spanien, sie
fuhren die erste Etappe mit Galeeren von Barcelona nach Genua
zurück.
Bereits ein Jahr später, 1572, erhielt nun Rudolf schon die Krone
Ungarns. Drei Jahre später, 1575, kam dazu die Krone Böhmens,
die traditionelle Voraussetzung der römischen Krone. Und bereits
im Jahr darauf starb der Vater in Regensburg (12.10.1576).
Drei Wochen danach, am 1. November, wird Rudolf im Dom zu
Regensburg feierlich zum Kaiser gekrönt41.
Rudolf hat in seiner sechsunddreißigjährigen Regierungszeit dem
Reich den Frieden erhalten können, in einer Zeit schwerster
Spannungen zwischen den Konfessionen, die z. B. Frankreich in
einem langen Bürgerkrieg führten. Sechs Jahre nach der durch
seinen Bruder Mathias erzwungenen Machtablösung (1608) - der
Rudolfs Tod bald folgte (1612) - begann 1618 der dreißigjährige
Krieg in Deutschland.
41
Detaillierte Informationen greifbar in https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_II._(HRR)
56
6. Der Inhalt der Genitur
Michel Nostradamus selbst fasst in einem Brief an Johannes
Lobbetius (Dupebe, 166/167) den Inhalt der Genitur wie folgt
zusammen:
"...Ich habe Ihm (Rechlinger) die Nativität des Prinzen und
zukünftigen Königs Rudolf geschickt, in der sind viele
Gegenstände umfassend enthalten, zuerst betreffend sein Leben,
die Gesundheit und die Disposition des Körpers <1.>, des Besitzes
<2.>, der Reisen, der Religion, der Brüder, Schwestern <3.>, der
Vorfahren väterlicherseits, des Onkels, der Großväter und
Urgroßväter <4.>, der Kinder, von Freuden und Vergnügungen und
Unternehmungen <5.>, von Krankheiten, über die Diener <6.>, die
Heirat und aus welcher Familie und welchem Land die Frau
stammt, und wann, und wieviele Frauen, über die offenbaren
Feinde und andere <7.>, den Tod und die Art dieses, und wann,
und über das, was die Toten ihm hinterlassen werden an
Regierungen, Erbschaften, über Angst und Furcht, Gift <8.>, über
Reisen, Religionen, Wanderungen, und in welcher Zeit er die
Religion wechselt <9.>, über das Reich, das Amt, die öffentliche
Anerkennung, über die Erhöhung und die höchste Macht <10.>,
über die nicht verwandten Freunde, ihre große Zahl <11.>, über
die geheimen und verborgenen Feinde, Gefängnisse,
Verbannungen und Gefangenschaften durch Feindschaft <12.>.
Und alle diese und andere Signifikationen sind in der genannten
57
Nativität ausführlich erklärt und gemäß den Kapiteln und der
Bedeutung der Angelegenheit ausgebreitet".
Diese Darstellung folgt völlig dem bekannten System der zwölf
astrologischen Häuser (durch <Zahl. nach der Deskription>
gekennzeichnet). Dabei findet Nostradamus Weiterungen des
traditionellen Bedeutungssystems, in nahe liegende
Lebenssektoren, etwa für das 3. Haus die Hinzufügung „Religion“,
in Verwandtschaft zu 9. in der gleichen Achse, oder für 4. „Onkel,
Großväter, Urgroßväter“. Bei 7. kommen zu den öffentlich
gewordenen Feinden auch „andere“; zu 8. kommt völlig die
bekannte Bedeutung, geradezu in einem Zitat aus dem Lehrbuch
des C. Leovitius, das Nostradamus nachweisbar übermittelt
erhalten hat – in diesem Buch sind die Berechnungen der
Ephemeriden angefügt; das 9. Haus hat den Zusatz des „Wechsels
der Religion“, dieses erscheint für die Umstände gerade des 16.
Jahrhunderts weiterführend. Zum 10. Haus findet sich der
eigentümliche Begriff der „Reiches“: vermutlich hat dieses über die
machtpolitische Dimension hinaus auch weitere Bedeutungen,
Steigerungen im Sinne der Verantwortung für weltliche und für
überweltliche Korporationen und deren Zusammenwirken, gewiss
aber nicht im Sinne eines theologisch fundierten „Gottesreiches“,
eher im Sinne der augustinischen „civitas Dei“, „Bürgerschaft
Gottes“; zum 11. Haus ist eine erste Deutung angefügt, sie betrifft
die „große“ Zahl der Freunde Rudolfs, gewiss ein Hinweis auf die
allgemeine Stützung seines Königtums durch ihm freundlich
gesonnene „viele“ Personen; zu 12. erscheint wieder völlig die
bekannte Definition der gängigen Astrologie. Man erkennt, wie
Michael Nostradamus versucht, so den umfassenden Anspruch
dieses Horoskopes vorzustellen, zugleich die damit verbundene
umfangreiche Interpretationsarbeit zu betonen.
58
Diese Zusammenfassung weist im letzten Satz weiter auf die
Gliederung des Werkes in "Kapitel". Diese sollen hier im Überblick
vorgestellt werden. Schon die Überschriften der Kapitel bieten eine
gewaltige Fülle von Information, und bereits auf sie bezogen kann
jener Satz gelten, mit dem Nostradamus im Brief an Lobbetius
fortfährt: "Wenn durch Gottes Gnade diese meine kleine Arbeit in
die Hände des Kaisers, des Vaters gelangen könnte - ich wäre
sicher, er hätte nicht wenig Freude daran, und seine Majestät wäre
voller Bewunderung".
Der folgende Abschnitt zitiert die Kapitel des Horoskopes. Man
kann, den Inhalten folgend, die spezifische Technik der Erstellung
ablesen. Astrologische Fachbegriffe wie „Signifikation, Gesichter,
Haus, Drachenkopf, Drachenschwanz, Glückspunkt, Abfluss,
Hinfluss, Aspekte, Sternqualitäten“ werden vorausgesetzt. Eine
gesonderte Untersuchung verdiente der Ausdruck „nach dem
Beschluss des Tierkreises“: hier dürften neben dem traditionellen
Geburtsbild auch übergeordnete oder zyklische grundgelegte
Bedeutungen anklingen.
Die 46 Kapitel des Horoskopes
"Kap. I
Die Signifikationen der Gesichter Kap. II
Über den ersten Signifikator Eurer Genitur Kap. III
Über den zweiten Herren der Genitur Kap. III
Über den zweiten Herren der Genitur Kap. IV
59
Über den dritten Herren der Genitur Kap. V
Die Signifikationen des Horoskopos Kap. VI
Über Saturn den Herrn des Horoskopos Kap. VII
Die Signifikationen der zwölf Häuser nach dem Horoskop
Kap. VIII
Die Signifikationen der Planeten nach dem Horoskop Kap.
IX
Über Saturn im Haus von Venus und Jupiter Kap. X
Die Signifikationen von Jupiter im achten Haus vom
Horoskop aus Kap. XI
Die Signifikationen Jupiters im Haus des Mars und der
Sonne Kap. XII
Die Signifikationen des Mars im sechsten des Horoskops
Kap. XIII
Die Signifikationen von Mars im Haus des Merkur Kap.
XIIII
Die Signifikationen der Sonne im achten des Horoskops
Kap. XV
Die Signifikationen der Sonne im eigenen Haus und Haus
des Mars Kap. XVI
Die Signifikationen der Venus im siebten des Horoskops
Kap. XVII
Die Signifikationen der Venus im eigenen Haus und des
Mondes Kap. XVIII
Die Signifikationen des Merkur im siebten des Horoskops
Kap. XIX
60
Die Signifikationen des Merkur im Haus der Venus und
des Mondes Kap. XX
Die Signifikationen des Mondes im sechsten des
Horoskops Kap. XXI
Die Signifikationen des Mondes im Haus Merkurs Kap.
XXII
Die Signifikationen des Drachenkopfes im zweiten des
Horoskops Kap. XXIII
Die Signifikationen des Drachenschwanzes im zweiten
des Horoskops Kap. XXIIII
Die Signifikationen des Herren des Horoskops Saturn Kap.
XXV
Die Signifikationen des Glückspunktes nach dem
Horoskop Kap. XXVI
Die Signifikationen der Planeten nach dem Beschluss des
Tierkreises Kap. XXVII
Die Signifikationen Saturns im Haus des Jupiter nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXVIII
Die Signifikationen Jupiters im Löwen nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXIX
Die Signifikationen des Jupiter im Haus der Sonne nach
dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXX
Die Signifikationen des Mars in den Zwillingen nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXXI
Die Signifikationen des Mars im Haus des Merkur nach
dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXII
Die Signifikationen der Sonne im Löwen nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIII
61
Die Signifikationen der Sonne im eigenen Haus nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIIII
Die Signifikationen der Venus im Krebs nach dem
Beschluss des Tierkreises Kap. XXXV
Die Signifikationen der Venus im Haus des Mondes nach
dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXVI
Die Signifikationen Merkurs in den ersten Graden des
Löwen Kap. XXXVII
Die Signifikationen des Merkur im Haus des Mondes Kap.
XXXVIII
Die Signifikationen des Mondes in den Zwillingen nach
dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIX
Die Signifikationen des Mondes im Haus Merkurs nach
dem Beschluss des Tierkreises Kap. XL
Die Signifikationen des Abflusses des Mondes und des
Hinflusses auf Mars und weiter zu Sonne
Venus Merkur und Jupiter Kap. XLI
Die Signifikationen Merkurs mit Venus im Horoskop im
siebten Kap. XLII
Die Signifikationen der Venus, die die anderen Taten und
Wirkungen Eures Lebens zeigt Kap. XLIII
Die Signifikationen der Breite und Länge der fünf Planeten
Kap. XLIIII
Die Aspekte der Planeten und ihre Signifikationen (Kap.
XLV*)
Die Signifikationen von Sternen im Urteil Kap. XLVI
An den Kaiser"
62
Vermutlich ist dieses eines der längsten und ausführlichsten
Horoskope der gesamten Geschichte der Astrologie. Alleine schon
dieses hebt den Text weit heraus.
Dabei werden alle Charakteristiken scheinbar mehrfach
durchgesprochen, jeweils unter anderen Voraussetzungen.
Während die moderne Astrologie den größeren Wert auf die
Aspektierungen legt, also auf die Verbindungen der Gestirne in
gewissen Abständen von Graden, erscheint dieses Phänomen in
den Überschriften der Kapitel erst ganz am Ende. Statt dem gibt es
zuvor ausführliche Erörterungen des jeweiligen Platzes der
Gestirne im Tierkreis: wer das Lehrbuch von C. Leovitius dazu
liest, wird feststellen können, dass dort ganz ähnlich verfahren
wird. Anscheinend war in der spätmittelalterlichen und
frühmodernen Astrologie das Moment der Platzierung im Tierkreis
wesentlicher: so sucht Leovitius in einem recht ausgeklügeltem
System nach „Stärken“ und „Schwächen“ der Gestirne je nach
ihrer Platzierung im Tierkreis, er operiert mit Zahlenwerten, die
zusammengesetzt werden, um „Führungen“ zu bestimmen: und
dieses scheint im wesentlich für die Ermittlung von „Herren“ über
bestimmte bedeutsame Punkte, Abschnitte oder Gestirne selbst.
Die sehr lange Ausbreitung dieser technischen Form durch
Michael Nostradamus – nahezu durch das ganze Horoskop, die
erwähnten „Aspekte“ kommen erst im 45. Kapitel – und das
mehrmalige Eingehen auf die „Stärken“ und „Schwächen“ unter
differenter Perspektive lässt das Horoskop „altertümlich“ oder
„konservativ“ wirken, in seiner Art sogar die Weise des Leovitius
deutlich übertreffend. Zugleich erstaunt, wie wenig das
„weissagende, seherische“ Moment in den Überschriften erscheint:
man glaubt einen eng an astrologischen Auswertung orientierten
63
Text vor sich zu haben: diesem widerspricht aber der Text
schließlich ziemlich häufig, mit oft bestürzenden Kaskaden
visionärer Weiterung und ohne eindeutig zu bestimmenden
Zusammenhang mit der gestirnkundlichen Grundlage. So entsteht
ein intensiver Eindruck einer „freien“ und unabhängigen Nutzung
des astronomischen oder astrologischen Materials. Dabei
scheinen parallele Wissenschaften ungestörten Eingang zu finden,
Kenntnisse der antiken Geschichte und Philologie, Zitate alter
Gestirnkunde, medizinisches Wissen, symbolische Grundlagen der
Lehren der Sympathien usw..
Man kann die Deutung des Geburtsbildes grob in fünf Teile
gliedern: 1. Teil (Kap. I bis V): die "Herren" des Geburtsbildes; 2.
Teil (Kap. VI bis VIII): Aszendent, kardinale Punkte, die "Herrscher"
der zwölf Häuser; 3. Teil (Kap. IX bis XXVI): Planeten und Punkte
im Horoskop; 4. Teil (Kap. XXVII bis XLIIII): Bedeutung der
Planeten im Bezug zum "Tierkreis"; 5. Teil (Kap. XLV und XLVI):
die Aspekte der Planeten, die Erörterung der Bedeutung von
Fixsternen. Zwischen diesen Teilen vermitteln Kapitel, die die
bereits angesprochene Themen abrundend noch einmal
aufgreifen. Der einführende Teil (1.) verfolgt eine sehr allgemeine
Richtung; der zweite Teil bringt die klassische Astrologie; im 3., 4.
und 5. Teil spricht Nostradamus das gesamte Geburtsbild dreimal
durch.
Voraussetzungen der Beschäftigung mit dem Horoskop
Die Titel der Kapitel sind bewusst wörtlich übersetzt. Grund ist die
Vermutung einer deutlichen Unterscheidung der Begriffe "Genitur"
oder "Horoskop"; oder der Ausdrücke "Haus" oder "im sechsten",
64
oder "im sechsten nach dem Horoskop". Zu beachten ist in diesem
Zusammenhang auch die ungewöhnliche und enigmatische
Aussage "nach dem Beschluss des Tierkreises". Bewusst wurde
auch der alte Begriff der "Signifikation" aufgegriffen: er vermeidet
den irreführenden Begriff von der "Wirkung" von
Gestirnereignissen. Die Erscheinungen am Himmel sind
"zeichenhaft": Nostradamus bezeichnet sie in der Vorrede zu
seinem Hauptwerk, "Propheties", als "significatrices du cas
futures", „kennzeichnend die zukünftigen Dinge“42.
Um der Astrologie eines Michael Nostradamus gerecht zu werden,
muss man sich frei machen von den Verkürzungen üblicher moderner wie vormaliger - Astrologie. Es geht ihm um weitaus
mehr, als um ein schematisches Ablesen der „himmlischen“
Aussagen. Michael Nostradamus will – ganz in dem
„manieristischen, synkretistischen“ Sinn der späten Renaissance einen weiteren Kosmos von Bedeutung erschließen, er will hinein
leuchten in verschiedene Ebenen innerer wie äußerer
Entsprechungen der Welt und der Geschichte. Astrologie und
Astronomie bedeuten ihm im Grunde eine "universale"
Weisheitslehre, eine allumfassende Wissenschaft. (Fast möchte
man meinen, hier melde sich die „Pansophie“ des Kreises um
Rudolf II. an. Und vermutlich gibt es gerade von diesem Horoskop
aus nicht zu unterschätzende Einflüsse auf diese Entwicklungen.)
Im ersten Satz des Vorwortes der „Prophezeiungen“ (1555) spricht
er davon, er habe „durch göttliches Wesen Kenntnis zum
allgemeinen Nutzen der Menschheit in astronomischen
Revolutionen“ erhalten. Dabei ist der Begriff der „Revolution“
hauptsächlich: es handelt sich um zyklische „Umläufe“, die er
42
Vorrede A, 1555.
65
speziell auswertet, und solche sind ihm „astronomische
Zusicherungen“43. Diese „Revolutionen“ oder „Umläufe“ ermittelt er
in „langen Berechnungen“44, und diese sind ihm eine „natürliche
Anregung seines eigenen gottgegebenen Geistes durch Gott den
Schöpfer“45. Wir werden dazu einige Beispiele vorstellen: sie
führen weit über die gängige Genethlialogie seiner Zeit und ihrer
antiken Vorläufer hinaus.
Michael Nostradamus versteht sich dabei als „Empfänger einer
gesandten Flamme des Schöpfers“ und als „Diener der Boten
seines Lichtes“, jene aber wären die Gestirne46. Um solchen
Ansprüchen gerecht zu werden, sollte der Leser offen sein für
große Vielfalt und mehrere Ebenen von Bedeutung, auch für die
Stufen einer "prophetischen Schau", „wie in einem flammenden
Spiegel, aber wie in umwölkter Vision“47: in dem vorvorigen Kapitel
haben wir versucht, darauf vorzubereiten. Es geht im Verständnis
der Gestirnkunde des provenzalischen Arztes und Astrologen um
die „Transzendierung“ manieristischer, d. i. „gesuchter“, absichtlich
komponierter, und häufend zusammengezogener
Bedeutungselemente in eine holistische kosmogonischkabbalistisch gestimmte Schau von Stufen von Emanationen, von
abnehmenden Abglänzen, absteigend aus einem „All“, weiter in
den Gestirnen und Sphären, schließlich in den Elementen und
danach „unter dem Mond“. Das diese Ebenen verbindende
Element ist das himmlische „Licht“: es kommt aus dem
unermittelbaren „göttlichen Sein“48 über „Strahlen der Sonne“49
Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 4. „Revolutionen“ in Satz 3, nach den
Überschriften.
44
s. o., Satz 25.
45
s. o., Satz 28.
46
s. o., Satz 32.
47
Die Prophezeiungen, 1558, Vorrede B, Satz 18.
48
„divine essence“; s. o., 1555, Satz 3.
49
s. o., 1555, Satz 7.
43
66
herab bis zu jener „kleinen Flamme“, die den „Propheten inspiriert“.
Doch dieses geschieht wiederum nur, weil ein Funken des
göttlichen Geist bei der Schöpfung in ihn gelegt wurde - eben der
ihn jenen „Zufluss“ wieder erkennen hilft50. Der Weg zur Lehre der
Ideen des Plato oder zu den Vorstellungen des Plotin ist nicht weit.
Bereits in dieser Metaphorik des Lichtes wird deutlich, welche
ausführlichen Kenntnisse der antiken und mittelalterlichen
Philosophie und Theologie Michael Nostradamus zu nutzen
versteht. Er vereint viele Autoritäten der Vergangenheit in einem
überaus komplexen „synkretistischen“ System, das zuweilen an
eine kaum noch überschaubare Sammlung vieler Zitate,
Aphorismen oder Assoziationen gemahnt. - Eben das erscheint
uns als „maniera moderna“: hinzuzufügen ist, dass dabei die
Qualität eines „Zettelkastens“ weit überschritten wird – man erahnt
in den Zusammenstellungen neue Bedeutungsdimensionen, oft
unterstützt durch überraschende Bilder, auch durch provokante
Wendungen, oft auch durch Einstreuungen „sanguinisch“
wirkender Vorhersage. Dieses alles zeugt von einer souveränen
Beherrschung der Sprache und der Intellektualität seiner Zeit.
Michael Nostradamus nutzt alle Möglichkeiten und Vielfältigkeiten
des astrologischen Bedeutungssystems: sein sprachlicher
Umgang damit vermeidet immer eine vorschnelle "Akzentuierung"
sinnenfälliger und üblicher Strukturen. Dieses würde die
Bedeutung, die er umkreist, zu schnell in eine bestimmte Richtung
verflachen. Und so wird sich auch jenem, der sich ernsthaft auf
diese sprachliche Form und Redeweise einlassen will, und der es
zulassen kann, nicht sofort "Positives" fassen zu müssen - denn
die besprochenen Inhalte verweisen auf keine Gegenstände,
50
s. o., 1555, Satz 28.
67
sondern auf Verwobenheiten von "Schicksal und Gemüt"51 allmählich "astrophiles Wissen" erschließen. Der Text verlangt, mit
Karlfried Graf Dürckheim gesprochen, ein kontemplatives Erwägen
in einer "inständlichen" Balance, der "gegenständliche" Zugriff und
die allzu abgrenzende Definition würde in die Irre führen. Es geht
Michael Nostradamus nicht um simples und blankes Wissen: es
geht letztlich um die Vertiefung und die Vergegenwärtigung des
organischen Weltzusammenhangs, darin um das Einfühlen und
das Erleben von „Sympathie und Antipathie“ im Mikrokosmos wie
im Makrokosmos in einem Universum des Lichtes.
Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass sich Michael
Nostradamus als "Seher" versteht; aus Bescheidenheit vermeidet
er den Begriff "Prophet": "diese Vermessenheit würde Gott nicht
gefallen"52. Immer wieder beruft er sich auf einen "prophetischen
Impuls", eine „göttliche Inspiration“, die ihn leitet. Er benennt
diesen Impuls mit einem biblisch-metaphorischen Begriff als
"kleine Flamme"53. Diese übernatürliche Herkunft und "Schau"
bereichert die übliche astrologische Vorgehensweisen in immer
wieder überraschender Weise, fast wie in „Ausbrüchen“, in
feuerigen Begeisterungen.
Nur unter diesem Gesichtspunkt ist auch zu verstehen, warum sich
Michael Nostradamus selbst nicht primär für einen "Astrologen"
hält. Er mahnt sogar "alle blinden barbarischen Astrologen", sich
seinen weissagenden Schriften "fernzuhalten"54. In dem Satz ist
aber auch enthalten, es könne Astrologen anderer Qualität geben,
die sich sehr wohl mit seinen Schriften beschäftigen sollen, und er
Novalis: „Schicksal und Gemüt sind Namen eines Begriffs.“
Vorrede B der „Prophezeiungen“, 1568, Satz 17 und 18.
53
Gedicht I, 1, „Prophezeiungen“
54
Nachweisbar erst in der posthumen Ausgabe, „Les Propheties“, VI, 100, 1568.
51
52
68
sagt auch vorher, dieses werde „mehr in der Zukunft als zu meinen
Lebzeiten“55 geschehen. Diese Personen sind dann, wie gesagt,
astrophile „Diener der Boten des göttlichen Lichtes“, denen „die
Boshaftigkeit des bösen Geistes fremd bleibt“56
In solchen Differenzierungen stellt sich sein anderes
eigenständiges Verhältnis zur Gestirnkunde dar: damit ist auch das
Horoskop für Rudolf II. kein übliche Deutung eines Geburtsbildes
im herkömmlichen Sinn und überhaupt nicht im modernen Sinn
gegenwärtiger Astrologie. Bereits die Gliederung in Kapitel und das
Gewicht der dort enthaltenen Überschriften eröffnet in deutlicher
Weise das andere Herangehen des Michael Nostradamus an das
zeichenhafte Bild, in seiner archaisch anmutenden Technik.
Hinzu kommt nun noch der Beitrag einer geschichtsastrologischen
Perspektive – dieser wurde bisher überhaupt nicht berücksichtigt.
Der bisherigen Forschung zu Michael Nostradamus ist entgangen,
und dieses, obwohl der Arzt und Astrologe ständig und nicht zu
übersehen darauf hinweist57, dass seine Sternenkunde auch einen
überindividuellen Teil besitzt: er arbeitet nicht nur mit einem
ausgeprägten System von Zyklen der Gestirnen, sondern gründet
diese ganz entschieden auf eine umfassende Vorstellung von
geschichtlichen Ereignissen und deren Synchronizität mit
firmamentischen Vorgängen. Solches Verfahren und solche
Er nennt sich „für die Gegenwart nicht Prophet“, Vorrede A, Satz 12. Das zukünftige
Interesse steht wörtlich in Satz 12 der Ausgabe der „Prophezeiungen“ von 1568: dort
schreibt er, diese würde selbst dann eintreten, wenn er „sich in der Berechnung der
Zeitalter/Zyklen geirrt hätte oder solche dem Wunsch einiger nicht entspräche“.
56
Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 12.
57
Alleine in Vorrede B, 1568: Satz 6, „alles ist komponiert und stimmt überein mit
astronomischer Rechnung“; Satz 9, „der natürliche Verstand passt an und macht mit
meinen langen Berechnungen übereinstimmend“; Satz 12, „ich ziehe astronomische
Berechnungen heran“; Satz 42, „ich rechne die Jahre seit Erschaffung der Welt“; Satz 52,
; „die geordnete Serie hat in sich die Revolutionen, alles nach astronomischer Lehre“;
Satz 64, „alle diese Figuren sind genau adaptiert... an die himmlischen Vorgänge, und
das ist offenbar sichtlich durch Saturn Jupiter und Mars.“
55
69
Einstellung muss sich auch im Horoskop einer Einzelperson
niederschlagen: mehrere Aspekte werden darin dann auf
abstrakter Ebene miteinander verknüpft, die enthaltenen
Dimensionen von Bedeutung stützen sich gegenseitig, reichern
sich an, ergeben ein schillerndes Bild des poetischen Textes58 – wir
werden dazu einige Beispiele ganz im Sinne der komplex-reichen
schillernd-vielfältigen „maniera moderna“ zeigen, wie man sie am
ehesten in barocken Räumen und ihren überflutenden
Gestaltungen analogisieren kann59.
Begrifflich können sich manche angewandten Kommunikationen,
etwa „Genitur“ oder „Horoskop“, auf die eben angesprochenen
verschiedene Ebenen beziehen; hierher gehört auch das
ungewöhnliche „nach dem Beschluss des Tierkreises“. Gerade
Letzteres betont die allgemeine Grundlage der Deutung in der
„Bahn“ der Sonne durch die Ekliptik als für manches wegweisende
Wort bedeutsamer als den „Wandelstern“ darin selbst: der
Hintergrund, eine Komplexqualität, die über die „Binnenlage“
hinaus geht und weitere Kontexte stiftet, teilt Wesentliches und
Zusätzliches über die Deutung mit als das einzelne Element selbst.
solches knüpft sicherlich an hervorragende Traditionen der
ältesten Astrologie an: und wenn man sich nun vorstellt, dass in
der zyklischen Astrologie ein weitere allgemeines Moment
hinzutritt, ist ermessbar, welche interpretatorischen Differenzen
zum heute und auch damals üblichen astrologischen Vorhegen
möglich werden.
Satz 6, Vorrede B, 1568: „meine nächtlichen und prophetischen Berechnungen sind
mit natürlichem Verstand zusammen gefügt, aber begleitet von einem poetischen furor“ zur Lehre der furores ausführlich bei Agrippa von Nettesheim, III, 45, 46, 47, 48, 49, 50,
51; „furor“ in dem gemeinten Sinn bedeutet modern gesprochen „Erleuchtung,
Begeisterung, Ekstase“.
59
Die Analogie zu „Barock“ ist natürlich ein zeitgeschichtlicher Vorgriff: es wären für
die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts dazu die Ansätze und die neuen noch
gemäßigteren Formen und Stile zu identifizieren.
58
70
Das Bild des Horoskopes
Dem handgeschriebenen Text des Horoskops von 1565
vorangestellt ist eine Zeichnung des Geburtsbildes. Darin sind die
folgenden Data enthalten:
Aszendent 19°6´ (19°55´)60 Steinbock;
Saturn 3°10´ (2°21´) rückläufig Fische;
Jupiter 11°50´ (12°25´) Löwe;
Mars 14°25´ (14°16´) Zwillinge;
Sonne 4°53´ (5°15´) Löwe;
Venus 14°58´ (14°49´) Krebs;
Merkur 20°16´ (20°33´) rückläufig Krebs;
Mond 20°7 Zwillinge (2° Krebs);
Mondknoten 18°47 Wassermann (18°11);
Glückspunkt 17° Skorpion.
Unter der Zeichnung sind die wesentlichen Planeten und Punkte
angegeben. Links neben dem Schema befindet sich eine
Auflistung der wichtigsten Aspekte der Planeten untereinander,
darunter eine Charakterisierung des aktuellen Standes im
Verhältnis zur Ekliptik.
60
In Klammern eine moderne Berechnung, mit Dank an Konrad Gruber, Ingolstadt.
71
Das Häusersystem des Horoskopes geht nach Regiomontanus dieses System, damals sicher das Modernste, wendet
Nostradamus meistens an61. Zugleich liegen die anderen Häuser
bei 7°10´ Fische (2.), 24°46´Widder (3.), 20° Stier (4.), 7°46´
Zwillinge (5.), 23°45´ Zwillinge (6.); dem entsprechend liegen die
Häuser 7., 8., 9., 10., 11., 12..
Zum Glückspunkt erkennt man eine eher konservativ
aufzufassende Methodik: dieser Punkt markiert den Stand der
Sonne bei der Zeugung, eine kaum gebräuchliche Weise62 der
Bestimmung dieses "Loses". Dazu später ausführlich.
Am Aszendent steht hervorgehoben der Fixstern Atair, "Aquila seu
vultur volans", ein Stern zweiter Größe von Mars/Jupiter-Natur63.
Bedenkt man, wie bedeutsam das 1. Haus des Horoskopes in
Michael Nostradamus geschichtsastrologischen Überlegungen ist,
muss man diesem Fixstern in der Deutung eine außerordentliche
Bedeutung beimessen.
Der Stand des Mondes unterscheidet sich von anderen
zeitgenössischen Berechnungen: nach Pitatus64, einer damals in
Europa gängigen Ephemeride, ist die Position für Mittag 12 Uhr
29°7´ Zwillinge, und damit gegen Sonnenuntergang etwa 2° Krebs
- wie es auch die moderne Berechnung angibt. Die von
Nostradamus gewählte Gradzahl von 20°7´ in den Zwillingen dürfte
einen einfachen Grund haben: wie Brind´ Amour bemerkt hat,
interpoliert Nostradamus astronomische Stände nicht, sondern
Wir nehmen an nach: Leovitius, Ephemeridum novum ... 1556 usque ad 1606,
Augsburg 1557; vgl. Brind´Amour, (s.o.), 517, und 379.
62
Vgl. dazu die ausführlichen und komplizierten anderen Darstellungen in BoucheLeclercq, a. a. O..
63
Stadius, J., Ephemerides novae et exactae, Köln, 1554 [nachweisbar im Besitz des
Nostradamus].
64
Almanach novum...ab anno 1544 - 1556, Tübingen, 1544.
61
72
übernimmt sie aus dem ihm zur Verfügung stehenden
Ephemeriden65. Vermutlich stand in seiner Ephemeride der dort
angegebene Wert: nach modernen Berechnungen erreicht der
Mond um 0 Uhr 22°59´ Zwillinge, um 6 Uhr ca. 26°, um 12 Uhr
29°3´ Zwillinge; um 18 Uhr, nahe der Geburtszeit des Rudolf, ist er
bei 2° Krebs, um Mitternacht bei 5°9´ im Krebs.
Eigentlich liegt der Ort des Mondes während der Zeit der Geburt
bereits im nächsten Zeichen, in Krebs. Modernen Astrologen dürfte
die fehlende Interpolation als unverzeihliches Versäumnis
erscheinen: ein Schreibfehler kann es nicht sein, denn im Text,
beispielsweise auf Seite 84, wiederholt Nostradamus diese
Gradzahl ausdrücklich. Und er erwähnt im Horoskop mehrfach, der
Mond stünde in einem „Haus des Merkur“, das kann nur Zwillinge
sein.
Mehrere Gründe können nun für solche Darstellung – die sicherlich
einer „judiziellen Entscheidung“ folgt - sprechen: zuerst ist dabei
der Weg des Mondes an jedem Tag zu bedenken – dieser beträgt
im Durchschnitt an die 13 Grad täglich, demnach läuft der Mond an
die drei Tage im gleichen Zeichen des Tierkreises. Es ist also in
dieser bewegung immer eine gewisse Strecke zu berücksichtigen,
allerdings nicht, wenn man auf die Sekunde oder Minute der
Geburt blickt: bezieht man sich aber auf den Tag, kann der
Mondlauf – wie bei Rudolf – in zwei Zeichen angesichtig werden.
Es kann nun sein, dass sich Nostradamus mit dem Stand der
Sonne bei Tagesanbruch behilft, wie oft in älteren Ephemeriden auf
6 Uhr früh berechnet. So gesehen kann der Mond an diesem Tag,
seit Tagesanbruch – nach alten Vorstellungen beginnt der Tag nicht
um Mitternacht, sondern bei Sonnenaufgang - tatsächlich von 20°
65
Brind´Amour, P., a.a.O., 327 – 399.
73
Zwillinge seinen Ausgang genommen haben. (Sonnenaufgang an
diesem Tag im Juli (greg. 26. 7.) war um ca. 5 Uhr früh: nach
modernen Berechnungen mit einem Mond bei 24° Zwillinge.)
Da der Mond sich recht schnell im Tierkreis bewegt, kann jener
„Stand im Tierkreis“ angenommen werden, an dem er quantitativ
die längste Zeit am Tag verweilt: eventuell gibt aber auch der Mond
bei Sonnenaufgang oder bei einer Syzygie weiteren Hinweis – die
„Alten“ verfügten nicht über die exakten Rechengrundlagen der
Moderne, sie behalfen sich wohl gerade für die Platzierung des
Mondes mit gewissen vereinfachenden Methoden. - Hier setzte
auch die zeitgenössische Kritik erheblich an. - Zugleich wird die
moderne Astrologie sicherlich auch auf die mangelnde Genauigkeit
der Aspekte zum Mond verweisen, die aus solchem Vorgehen
folgen kann: dieses relativiert sich bei Nostradamus wiederum
dahin gehend, dass er die Aspekte erst ganz zum Schluss des
Horoskopes systematisch durchspricht, also lange nach ihm
weitaus wesentlicheren Signaturen, unter anderem der Herren der
Häuser, mehr aber noch der Herren der Geburt selbst.
Weiter ist solches Vorgehen auch aus dem Blickwinkel der
Geschichtsastrologie zu bewerten: Nostradamus Umgang mit den
Gestirnsymbolen wird auch im Umgang mit dem individuellen Bild
von den enographischen Ermittlungen angeregt. Diese zyklischen
Korrelationen führen immer die Anzeige des ganzen Zeichens des
Tierkreises – sie legen Symbole für längere oder kürzere Dauern
von Perioden fest66 und qualifizieren ihre weitere und nähere
Saturn 29,5 Jahre; Jupiter 12 Jahre; Mars meist 15 oder 17 Jahre, Venus meist 8 Jahre,
Merkur meist 7 Jahre. Sonne und Mond haben Zyklen, die über mehrere Jahrhunderte
gehen. So hat der Mond bei Rudolf eine „verborgene“ Komponente von formal Saturn,
in Konjunktion, und gleichzeitigem Quadrat zu „offenem“ Saturn. Die Anzeige in der
Saturnrevolution ist Zwillinge/Fische: u. a. Bedeutet dieses auch die Schwierigkeiten mit
den Geschwistern.
66
74
Umgebung immer durch ein ganzes Zeichen. - Ähnliches kann nun
auch bei Stand des Mondes in Rudolfs Geburtsbild gelten. Ist nun also gleichgültig, ob man bei Rudolf den Mondstand in den
Zwillingen oder in Krebs annimmt. Ja und nein. Dazu ist folgendes
zu bemerken: „ja“ deswegen, weil in einer eher philosophisch
orientierten Astrologie ein iudicium primär nicht aus der Häufung
und Summe von Rechenergebnissen besteht – das „astrophile“
Urteil entscheidet vielmehr auf Grund einer „Inspiration“ oder
„Intuition“; „nein“ deswegen, weil auch astrophil grundgelegte
Aussagen ohne mathematische Grundlage im „luftleeren Raum
hängen“, es muss eine Datenbasis geben, der man folgt. Der
Mensch aber ist dieser elementhaften Vorgabe nicht unterworfen,
sein Urteil generiert sich daraus nicht, sondern aus seiner
„Überschau“ wird eine geistige Entscheidung.
Ähnliches haben wir bereits bei der Unterscheidung von
„manieristischer Häufung“ und „maniera moderna“ angetroffen.
Dieses kann man unschwer auch bei den akademischen
Produktionen der letzten Jahrhunderte erkennen: sie sind
ausgezeichnet in der Sammlung und im Zusammentragen der
wissenschaftlichen „Geschichte“ zu einem Phänomen – und dieses
gilt sogar als Grundvoraussetzung aller weiterer Arbeit; erst
danach folgen Reihen von Untersuchungen aus der gegenwärtigen
Untersuchung, doch auch diese werden immer wieder im eben
genannten Zusammenhang der seriellen Reihung und Häufung
zitiert; und es gilt als riesiger fauxpas, solche Zitationen zu
unterlassen. Es wird aber niemand bestreiten, dass
Erkenntnisgewinn nicht unbedingt mit der großen Sorgfalt in dieser
Methodik einhergehen muss – wenn dem so wäre, wäre die
Menschheit schon viel weiter, müsste nicht immer und immer
75
wieder „alles Gleiche“ wiederholen. Anscheinend gibt es auch
konzisere und kürzere Wege der Gewinnung von Wissen, man
denke an Einsteins Dissertation und Habilitation.
Der wesentliche Unterschied aber im astrologischen Bereich ist:
„Meisterschaft“ geschieht dort nicht „im Rechnen“, denn dann
kämen die besten Horoskope von den Computern, in zigtausenden Seiten vorgestellt; astrophiles Können kommt aus
einem anderen Bereich, einem spezifisch menschlichen und
intelligiblen: und dazu kann am sich bezüglich der Gestirne und
ihrer Stände – solange nicht Grundprinzipien verletzt sind – doch
gewisse Unschärfen erlauben. Die wesentlichen Aussagen
entstehen nicht aus der Präzision der Rechnung, sondern, um mit
Michael Nostradamus zu sprechen: wer weissagt, „der tut dieses
zuallererst aus zwei Prinzipien, beide im Verstand: die eine ist
eingegossen... und prophezeit in inspirierter Enthüllung, das ist
eine gewisse Teilhabe an der göttlichen Ewigkeit, und die Aussage
wird wahr und ist ätherischer Herkunft; … und die andere ist
natürliche Klarheit und natürliches Licht, sie geschieht über die
natürliche Erregung der Sinne“67.
Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 28. Dieser Satz ist hier vereinfacht
wiedergegeben: seine manierierte Komplexität im Original erlaubt kaum Unterscheidung
zwischen dem „übernatürlichen“ und dem „natürlichen“ Licht, fast in dem Sinn, als wäre
beide Pole eins. Vermutlich ist dieser Satz einer der weitesten führenden, wenn man die
Sprache des Michael Nostradamus analysieren will: letztlich führt er in eine Indifferenz
der beiden Valenzen, im besten Sinne der „maniera moderna“: sie hebt letztlich die
Gegensätze der alten Schulphilosophie auf, aber nicht rational. Liest man ganz genau,
bleibt letztlich nur noch „übernatürliche Inspiration“, die „scheidet“.
67
76
7. Das kollektiv aufgefasste Bild zyklischer
Astrologie in Kombination mit den individuellen
oder aktuellen Gestirnen bei der Geburt
Will man von Anfang an angemessen und „richtig“ in die Art und
Weise der Astrologie des Michael Nostradamus einsteigen muss
man die zyklischen Hintergründe des Geburtszeitraumes
heranziehen. Der spätere Rudolf II. ist nach der Aufschrift auf dem
Horoskopbild und dem Text der Genitur an einem „Montag“, den
„18. Juli“, um „6 Uhr 45 nach Mittag“, auf der Breite von „48°22´“
geboren. Der Geburtsort ist Wien.
Dieser Zeitpunkt steht in der Ära des Marszyklus von 1542 bis
1557: der Marszyklus ist die grundlegende zeitliche Struktur, die
„Ära“ oder „Epoche“, von meist 15/17 Jahren. In dieser Phase der
Zeit gibt es nach dem enographischen System des Michael
Nostradamus folgende zyklischen Daten.
Sonne
Mond
Saturn Jupiter Mars
Venus
Merkur
690 n.
Chr.:
Schütze
1525/1526: 1541:
Zwillinge/ WasserFische
mann/
1451:
Löwe
1538/1539/
1540:
Wassermann/
Wassermann/
Fische
^
997 n.
Chr.:
Skorpion
1542:
Widder
77
1542:
Wassermann
1542:
/Zwillinge
1545/1546:
Steinbock/
Krebs
1550:
Waage
1552/1553:
Steinbock/
Waage
1553/1554:
Widder/
Wassermann
1555:
Krebs
1555:
Stier
1557:
Wassermann
Die „Spitze“ astrologischer Bedeutung liegt für wenige Monate im
Jahr 1555, darstellbar in folgender Figur:
Mond: Schütze
Saturn: Krebs
78
Dieses ergibt für diese Zeit den „höchsten Hügel“, mit zweiter
Ebene. In der ganzen Dauer der Ära gibt es keine „höheren“
Exaltationen: die Epoche beginnt mit einer kurzen Steigerung des
Löwen, ebenfalls auf zweite Ebene – es ist jedoch die Steigerung
von inhaltlich Jupiter höher anzusetzen als jene von inhaltlich
Sonne, nach der Hierarchie der Sphären; danach folt eine
gesättigte Präsenz von Fische und Schütze auf erster Ebene,
zusammen mit Zwillinge und Wassermann – bereits ein Zeichen
immenser Verheißung; erst von Februar 1552 bis November 1553
folgt eine Aspiration des Skorpion, zusammen mit Widder; danach
tritt wieder Schütze hervor, und führt zu der gezeigten Kulmination.
In dem Jahr 1555 sieht man die folgend gezeigte „Genitur der
Zeit“.
11. Waage
10. Jungfrau
9. Löwe
8. Krebs
Venus,
Merkur/1
Saturn
12. Skorpion
7. Zwillinge
Sonne
1555
Apside
1. Schütze
6. Stier
Mond
2. Steinbock
3. Wassermann
Merkur/2
Jupiter/1
4. Fische
5. Widder
Jupiter/2, Mars
Man kann dieses Bild allgemein für den gesamten Zeitraum der
Epoche anwenden, angepasst den jeweiligen zyklischen
„Ständen“: es ist sozusagen die „Dominante“, der „Grundton“
inhaltlicher Bestimmung.
79
Zu diesem Thema mit Führung durch Schütze kommen nun noch
nachgeordnet zu betrachtende „Aspirationen“: es sind dieses die
erwähnten anderen „Hügel“ an Steigerung, die die vorgestellte
Figur allerdings nicht übertreffen.
In diesem Sinne: gilt nun dieses obige Thema einer „Genitur der
Zeit“ bereits für das Jahr 1552, d. h. für das Geburtsjahr des
Rudolf? Dann wäre folgendes komposites Thema einschlägig:
10. Jungfrau 9. Löwe
Jupiter,
Sonne
11. Waage
11. Waage
10. Jungfrau
9. Löwe
8. Krebs
Merkur/1,
Venus
12. Skorpion 12. Skorpion
Glückspunkt
Sonne
1. Schütze
1. Schütze
8. Krebs
Venus,
Merkur,
Mond
7. Zwillinge 7. Zwillinge
Jupiter/1,
Zwei Ebenen an Bedeutung Saturn/2
für
6. Stier
Sommer 1552
Mars
6. Stier
Mond
2. Steinbock 2. Steinbock 3. Wasserm.
4. Fische
5. Widder
Aszendent
Jupiter/2
Saturn/1
Mars
3. Wasserm.
4. Fische
Merkur/2
5. Widder
Mondknoten Saturn
Ist nun aber die vorherige Aspiration des Skorpion, in dem
genannten Zeitraum zwischen 1552 und 1553 für Rudolf gültig?
Denn „in dieser“ wird er geboren? Dieses auch, weil die führende
Apside spät in der Ära 1542 bis 1557 erscheint und weil sich von
80
Februar 1552 bis November 1553 folgende „zyklisch-aktuelle“
Figur sich zeigt:
Sonne: Skorpion
Mars: Widder
Merkur: Steinbock/Waage
Jupiter: Zwillinge/Wassermann
Venus: Waage
Saturn: Zwillinge/Fische
Mond: Schütze
-
Dabei ist strittig, ob Skorpion wirklich diese „Höhe“ erreicht, denn
seine Erhöhung – Steinbock - ist auf einem „zweiten Himmel“
(formal Merkur) „verborgen“. Die Steigerung kann auch lediglich so
sein:
Sonne: Skorpion
Mars: Widder
Es zeigte sich so für die enographische „Gegenwart“ der Geburt
des Rudolf eine starke Aspiration der Zeichen Deutschlands, in
formal Sonne, und in inhaltlich und formal Mars.
Beschreibt man die erste Figur näher, dann wird diese in einer
„verborgenen“ Weise erhoben, über Fische, Waage, Steinbock,
und kommt auf vierte virtuelle Ebene. Und Waage, in ihren
„Sphären“ der Venus und des Merkur, kann sich gestützt durch
Fische, in formal Mond, dem Mondzyklus und damit entsprechend
der „niedersten“ Sphäre, auf die Stadt Wien beziehen: diese ist
eine Entsprechung von Libra im Klimat des Mondes. Dieser geht
nach den antiken Vorstellungen vom 47°15´ bis 50°30´ nördlicher
81
Breite; Wien liegt, wie die Daten des Horoskopbildes mitteilen, auf
der Höhe von 48°22´ N. - Man könnte die vorgestellte Figur so
beschreiben: aus inhaltlich jovialistischen und inhaltlich
venerischen Zeichen erhebt sich eine saturnine Anzeige – diese
wiederum bringt in einer „verborgenen“ Weise (denn Steinbock ist
unter Waage „auf dem zweiten Himmel“) - inhaltlich martialische
Anzeigen zu einer Kulmination. - Nun ist diese Ambivalenz
schwierig aufzulösen: am Besten ist, man hält sich an die sichere
Aussage. Und diese ist: zur Zeit der Geburt des Rudolf sieht man
eine Aspiration des Skorpion. Skorpion ist der zyklische Ort der
Sonne: die Sonne ist eine Entsprechung des Kaisertums. In dem
kompositen Bild erreichen nun die kollektiven wie individuellen
Präsenzen der Sonne bezeichnende Häuser.
10. Löwe
Jupiter,
Sonne
11. Jungfrau 11. Jungfrau 10. Löwe
12. Waage
9. Krebs
Venus,
Merkur,
Mond
9. Krebs
12. Waage
Venus,
Merkur/1
8. Zwillinge 8. Zwillinge
Saturn/2,
Jupiter/1
Mars
7. Stier
7. Stier
Zwei Ebenen an Bedeutung
für
6. Widder
Rudolfs Geburt
1. Skorpion
1. Skorpion
6. Widder
Glückspunkt
Sonne
2. Schütze
2. Schütze
3. Steinbock
4. Wasserm. 5. Fische
5. Fische
Mond
Merkur/2
Jupiter/2
Saturn
3. Steinbock
4. Wasserm.
Aszendent
Mondknoten
Mars
Saturn/1
82
Außen, fett, stehen die aktuellen Gestirne; innen, normal, stehen
die zyklischen Anzeigen. Und blickt man auf dieses Thema, wird
schlagartig klar, wieso Michael Nostradamus seine astrologische
Aussage sehr hoch ansetzt: denn gleich im ersten Satz eröffnet er
seinen Text mit der Bemerkung: "das ist eine überaus große
zukünftige Sache" - im Zusammenhang der weiteren Hinweise im
Text bedeutet dieser Satz auch: "das wird ein großer zukünftiger
König". Warum?
Skorpion, enographisch 1., ist genethlialogisch 10.. Löwe,
enographisch 10., ist genethlialogisch 8..
In beiden Felder steht die Sonne, das höchste Licht. In
individuellen Bild kommt zu Sonne noch Jupiter und der
aufsteigende Knoten.
Der persönliche Glückspunkt steht im Feld des Aszendenten der
allgemeinen Zeitsimmung, verbunden mit dem hellsten Gestirn, der
Sonne; Mond in 2. bedeutet maximale Mehrung des Besitzes;
Jupiter im Zusammenhang mit dem Mondknoten bedeutet sehr
gute Beziehung zu dem Vater und den Vorvätern – dieses kommt
später wörtlich im Horoskop; im Feld der Kinder und der
Vergnügungen zeigt sich – in Nostradamus Worten, allerdings
nicht im Text – eine „himmlische Kontradiktion“, Saturn, mehrfach,
zeigt Hemmungen und schwere Erfahrungen; Ähnliches gilt für
Mars in 6., bezüglich „Krankheit, Dienerschaft“ - dieses hier gibt
auch Erschwerungen in der philosophischen Achse, mit 3. und 9.,
und in 9. mit Quadrat auf Venus, Merkur, Mond; im 8. Haus sind
die oberen drei Planeten versammelt, „riesige, kaum zu
übertreffende Erbschaft, zugleich mit Trigon zu Jupiter aus dem
83
väterlichen Haus, 4., und mit Sextil zu der aktuellen Präsenz des
Jupiter, in 10. - dieser ist dort verbunden mit Sonne; in diesen
beiden Präsenzen hat das 10. Haus, Ort des „Königtums, des
Amtes, der Anerkennung und der Ehren“ eine maximale
Ausstattung: Sonne und Jupiter sind zugleich die Herren des
feuerigen Trigons, damit auch des Löwen, und die zyklische
Präsenz der Sonne steht zudem in 1., so formiert sich in 1. und 10.
das klassische Bild des Monarchen, der „Herr von 10. in 1., der
Herr von 1. in 10“, noch dazu in den höchsten möglichen
Signaturen.
Folgt man den hier angedeuteten astrologischen Linien, wird man
das Horoskop des Michael Nostradamus besser und profunder
verstehen können: bliebe man allein bei dem üblichen Geburtsbild,
wären manche Aussagen viel schwerer nachzuvollziehen, vor
allem durch den Aszendenten in Steinbock und die Himmelsmitte
bei 20° Skorpion: jedoch bringen diese und andere Hinweise aus
dem üblichen individuellen Horoskop zwar auch Hinweise auf
Bedeutendes, aber zumindest auch gleich viele Hinweise auf einen
schwierigen Lebensweg und nicht unerhebliche persönliche wie
soziale Problematiken. Vermutlich sind beide Geburtsbilder, je
nach Standpunkt, und je nach Blick auf kollektive oder individuelle
Phänomene, zu berücksichtigen und auszuwerten. Dabei geht es
aber nicht um die Ermittlung von akkuraten Elementen und ihrer
Zusammensetzung, sondern um das unmittelbare Erleben eines
„zusichernden Zeichens“ hoher Evidenz.
Wird so verständlich, welchen Nutzen die Einbeziehungen der
Enographie des Michael Nostradamus für ein Verständnis seiner
spezifischen Astrologie bringt? Wir hoffen, es ist zur Genüge
dargetan, wie diese Zusammenfügung zweier gestirnkundlicher
84
Perspektiven „mit einem Schlag“ die Art und Weise seines
„seherischen iudiciums“ erhellen kann. Deutlich wird an der
entstandenen und jedermann nachvollziehbaren Evidenz, wieso
Nostradamus mit einer solchen Sicherheit Aussagen treffen kann,
wie reich sich sein Wort dazu gestalten muss, wie es ihm möglich
wird, unvermutete Beziehungen für seine Mitteilungen
anzusprechen, zu würdigen, und in einen neuen Rahmen von
Bedeutung und Dignität zu stellen.
Hier ist nun das eindeutige Zeichen des Monarchen zu sehen:
zugleich im Zusammenhang der Sonne, des symbolischen
„Goldes“, damit als ein Zeichen eines „Königs der Könige“. Am
Ende des Horoskops nennt Nostradamus Rudolf als den „besten
seines Geschlechts“: woher anders als von solcher Konstellation
kann dieses Urteil kommen? Er erkennt für diese Person
dermaßen überragende Signifikationen, dass er zum Superlativ
greift: dieses umso mehr, da er eine Deszendenz von Philipp von
Makedonien ins Spiel bringt, damit auch eine Abstammung von
Alexander den Großen, dessen Sohn.
Was aber macht diese Person des 16. Jahrhunderts, Rudolf,
„groß“, und zwar neben ihren hervorragenden himmlischen
Begleitungen? Welches historische Handeln korrespondiert diesem
Zeichen? Welche Haltung? Welche realisierten Werte? Vielleicht
kann hier auch das Geburtsbild des Michael Nostradamus einen
Weg weisen, gültig auch für manche historische Einordnung68.
Geistig arbeitende „Herrscher“ - heute „Politiker“ - müssen in Deutschland (und
vielleicht auch anderswo) wie zwangsläufig scheitern: die Mentalität und
Lebensauffassung der Hiesigen widerspricht dem Kontemplativen. Nicht ganz
unschuldig daran ist die üblicherweise vertretene Auffassung von Geschichte, die einem
unbewussten Bild von „Macht“ huldigt: zu einem „Volk der Dichter und Denker“ passt
das nicht.
68
85
Im Text bringt Nostradamus weiter einige Bemerkungen zu den
Geburtsbildern der Vorfahren Rudolfs väterlicherseits, beginnend
mit Friedrich III. (1452 - 1493) und seiner Frau. Danach führt er
deren Sohn Maximilian I. (1493 - 1519) an - mit astronomischen
Angaben, die exakt mit dem Horoskop in Lucas Gauricus
"Tractatus astrologicus", Venedig, 1552, S. 51 übereinstimmen.
Sein Nachfolger, Karl V., hatte 1521 die habsburgischen Erblande
seinem Bruder Ferdinand, dem Großvater Rudolfs übergeben dessen Daten kommen danach69. Danach wird das Geburtsbild
des Vaters, Maximilian II., angesprochen70 (1564-1576).
Schließlich kommt dessen Bruder Ferdinand71 (1556-1564).
(Es fällt auf, daß das bekannte Horoskop Karls V. nicht genannt
wird; in Gauricus Werk werden zu seinem Geburtsbild drei
verschiedene Nativitäten dargestellt: man kannte wohl seinen
Geburtstermin nicht genau. Es ist augenscheinlich, dass dabei
eine Häufung Glück anzeigender Gestirne ins zweite Haus, dem
Ort der Signifikation von Besitz und Reichtum, geschoben ist; eine
ähnliche Praxis pflegte Gauricus auch beim Horoskop Luthers72,
indem er die Häufung der Planeten ins neunte Haus verlegte.)
Danach bezeichnet Michael Nostradamus noch einmal den
Prinzen Rudolf als "futurus rex", "zukünftigen König". Dieses auf
Grund der "Anzeigen in Summe". Er begründet die Aussage noch
einmal mit Details aus dem Horoskop. Dazu geht er das
Geburtsbild in der Reihenfolge Sonne, Mond, Saturn, Jupiter,
Mars, Venus, Merkur und einigen weiteren bemerkenswerten
Konstellationen durch.
Vgl. Gauricus, a. a. O., S. 41.
Gauricus, S. 41.
71
Gauricus, S. 43.
72
s. o., S. 70.
69
70
86
8. Die hohe Qualität der Geburtskonstellation,
angezeigt durch die Signifikationen der oberen
Planeten Mars, Saturn und Jupiter
Das zweite Kapitel des Textes des Horoskops befasst sich mit den
Anzeigen der "Gesichter"; dieses sind jeweils zehn Grade
umfassende Gliederungselemente des Tierkreises73. Nostradamus
zitiert innerhalb des Textes umfangreich aus Agrippa von
Nettesheims "De occulta philosophia", wobei er die Aussagen nicht
unbedingt auf Rudolf bezieht74.
Interessant sind die gängigen astrogeographischen Patronate des
Saturn am Ende des Kapitels75. Auf vielen Abbildungen innerhalb
seiner Schriften kommt zum Ausdruck, dass sich Michael
Nostradamus auch als Astrogeograph versteht: er wird in einer
ikonographisch kennzeichnenden Pose mit einem Zirkel am
Globus messend dargestellt. Dieser Vorgang erklärt sich damit:
eine überindividuelle Sternenkunde wird sich mehr auf Länder als
auf Einzelpersonen beziehen und daher sie muss über einen
ausgebauten Bestand astrologischer Geographie verfügen. Und
seit der Antike ist die astronomische Wissenschaft eng mit der
Geographie verbunden: z. B. wirkte gerade Claudios Ptolemaios in
Vgl. dazu Bouche-Leclercq (BL), L´astrologie grecque, Aalen, 1979, S. 215 ff.: der
Abschnitt über die "Dekane".
74
II, 37. Bei Agrippa findet sich auch eine zusammenfassende Darstellung der
Astrogeographie, I, 31.
75
Ähnlich bei Leovitius, a.a.O., S. 140 ff. BL, a. a. O., S. 328 – 347: „chorographie
zodiacale“.
73
87
bis in das späte Mittelalter gültigen Darstellungen der Regionen
der Erde.
Michael Nostradamus kennzeichnet diesen Teil seiner Arbeit mit
dem Begriff "Topographie": in ihr geht es auf allgemeinerer Ebene
um die Beziehungen zwischen den „Sphären“ und den
Klimazonen, spezieller dann um die Korrelationen der Abschnitte
des Tierkreises mit bestimmten Regionen innerhalb der Klimata.
Ein besonderer Teil hierbei ist auch die Gliederung der Welt in vier
Quadranten, den vier Elementen entsprechend, im Nordosten die
Luftzeichen, beherrscht von Saturn bei Tag und Merkur bei Nacht,
im Nordwesten die Feuerzeichen, zu Sonne und Jupiter, im
Südwesten die Entsprechungen des Wassers oder des
aquatischen Elementes, geführt von Mars, und in Kodomination
der beiden anderen Herrscher des Südens, im Südosten, der Erde,
Venus und Mond. Dieses System des Ptolemaios fasst die alten
Lehren in ausgezeichneter Weise zusammen: Michael
Nostradamus ergänzt dieses, komplettiert es, verändert es, im
Zusammenhang seiner Zyklen, vor allem Im Bezug Frankreichs zu
inhaltlich Saturn.
In Kap. III wird ein erster wesentlicher Signifikator genant: "nach
Hermes (Trismegistos)" wäre dieses der "Herr der Stunde", Mars76.
Es sind nun die Systeme der Zeitgliederung in Planetenanalogie
relativ spät anzusetzen: ein Bezug zu „Hermes“ ist nicht klärbar
und rästselhaft. Bei der Darstellung der Zeichnung des Horoskops
wurde erwähnt, die Geburt des Rudolf hätte an einem „Montag 6
Uhr 45 nachmittag“ statt gefunden. Der Montag ist der Tag des
Mondes; nach welcher Rechnung gehört nun die Zeit/Stunde kurz
nach 18 Uhr zu „Mars“? Dieses ist mit den üblichen
76
BL, a. a. O., S. 479 f..
88
Vorgehensweisen nicht ermittelbar, Mars beherrscht am Montag u.
a. die elfte Stunde nach Sonnenaufgang. Eventuell ist hier bereits
wieder ein enographischer Hintergrund des Satzes anzunehmen,
begründet in der vorgestellten Aspiration von inhaltlich Mars für
1552. Gerade dieser mundanastrologische Zusammenhang könnte
für die Erwähnung von „Hermes“ sprechen, im Hinweis auf eine
übergeordnete Autorität der Gestirnkunde. Es weisen die
mitgeteilten Bedeutungszusammenhänge - z.B. "Zorn", u.v.a.m. in die Richtung des Mars: vielleicht stellt der enographische
Zusammenhang mit metaphorischer Auffassung einer
weltgeschichtlichen „Stunde“ den allgemeinsten gestirnkundlichen
Hinweis für die Geburtszeit dar: und eventuell steht deswegen
gerade der Hinweis auf Mars (repräsentiert durch Skorpion in
mundan 1.) an erster Stelle und stellt das allgemeinste Fundament
der Aussage.
Nach der kollektiven oder enographischen Bedeutung eines
Aszendenten (Skorpion, Mars) folgt die Besprechung des
individuellen Aszendenten, im üblichen Horoskop mit Steinbock,
Saturn. Michael Nostradamus führt diese Diskussion des
Signifikators Saturn weit aus: er beginnt, dieser sei nach seiner
Meinung der "Herr des Aszendenten". - Dieses Wort nimmt seinen
Ursprung von dem individuellen Geburtsbild: dort zeigt Steinbock
den Aszendenten. Herr von Capricornus ist nach dem Haus
Saturn, nach der Erhöhung Mars, nach der Triplizität Venus:
Saturn hat mehrfache Anwartschaft, aktuell/individuell wie
zyklisch/kollektiv mehrfach, doch es hat auch Venus nicht zu
unterschätzende Aspiration. - Doch wie zuvor bei Mars wird auch
hier einfach Saturn abgelesen: es sind die allgemeineren
Bestimmungen der Zuordnung der Häuser angesprochen. -
89
Für diese Bedeutung des Saturn spricht auch seine individuelle
Platzierung in 1., in Fische. Auch zyklisch bestätigt Saturn/1 diesen
Ort. Dieses ist trotzdem keine einfache Entscheidung des
Nostradamus, liegt doch der Aszendent in Steinbock, und Saturn
steht im dritten Zeichen des Tierkreises vom Aszendenten aus: so
steht er zwar dem aufgehenden Grad nicht fremd, hat aber doch
eine eher „verborgene“ Teilhabe am Aszendenten. Für
Nostradamus nun scheint der „saturnine Charakter“ dieses
künftigen Monarchen unabweisbar: damit schlägt er die
individuelle Stellung in 1. selbst an der Spitze zu 2. hoch an. In
seiner geschichtsastrologisch geprägten Bewertung der Zeichen
ist im „Saturn der höchste Planet“: er steht für die eingehendste
Beziehung zur Übernatur, symbolisiert das „goldene Zeitalter“,
spricht für „hohe Konzentration, Bedacht, Überlegung,
kontemplative Haltung, melancholisches Temperament,
Langsamkeit, Beharrlichkeit, Unbeirrbarkeit, Festigkeit“. Unschwer
kann man in dieser Favorisierung charakterliche Zuschreibungen
an Rudolf erkennen.
Dann werden die Bedeutungen der Sonne ausgeführt: jedoch
bedeutet Sonne hier eine innige Konjunktion mit Jupiter – Sol hat
„jovialistische Züge“. Die Konjunktion der Sonne mit Jupiter wird
leitend: dieses wurde bereits im vorigen Kapitel als das „Zeichen
des Monarchen“ charakterisiert. Sonne, wie Merkur, "verbinden
ihren Einfluß mit denen anderer Planeten, mit denen sie assoziiert
sind"77. Jupiter weiter gilt auch als Signifikator der religiösen
Dinge78 - deswegen folgt danach die Erörterung dieser
77
78
Ptolemy, Tetrabiblos, Cambridge/London, 1971, S. 38/39.
Leovitius, a. a. O., S. 144.
90
Zusammenhänge. Michael Nostradamus spricht von einem Ort der
Sonne bei Fixsternen in "den Nüstern des Löwen"79.
Am Anfang des nächsten Textteiles steht, Sonne sei - mit "Jupiter"
- "Herr der Genitur": die Konjunktion Jupiter/Sonne, im 10. Haus
der kompositen Genitur, im 7. Haus der Genethlialogie80, wird der
wesentliche auch überindividuelle Bedeutungsträger des
Horoskops. In der Kombination von Sonne und Jupiter ist dieses
nach der astrologischen Lehre ein wahrhaft fürstliches, ja
kaiserliches Zeichen, was auch der Text betont. Überhaupt
erschienen in den bisherigen Ausführungen nur Signifikationen der
"oberen" Planeten; auch solche verweisen auf den überragenden
und „adeligen“ Stand der Person.
Das Kapitel IV beginnt mit der expliziten Erwähnung der
angesprochenen "Herren" des Horoskops und mit der Aussage,
der Native werde "sein heiß und feucht aber so gemäßigt, dass
durch die Art und Weise seiner Natur belegt wird er sei vom
Himmel geschickt um die Sterblichen dieser Welt völlig
wiederherzustellen...<er sei ein> Verbreiter der halb gefallenen
universellen Christenheit". Dabei beruht das Urteil über das
"gemäßigte Temperament" wohl auf der Vielfalt und der
überragenden Stellung der Signifikatoren, d. i. der drei/vier
genannten Gestirne, die bereits in den vorhergehenden
astrologischen Überlegungen des Kapitels vorgestellt wurden. Der
weitergehende Schluss, diese "Mischung" bedinge eine
Epsilon leonis, südlich im Löwen; in der modernen Astrologie weist diese
Signifikation auf "Depression, fiebrige Erkrankungen, Unfallgefahren", vgl. Ebertin
R./Hoffmann G., Die Bedeutung der Fixsterne, Freiburg, 1988, S. 40.
80
Dazu gibt es in dem Horoskopbild vor dem Text der Genitur einen beirrenden „Fehler“
(?): dort wird Sonne, Jupiter und Knoten in das 8. Haus platziert: dieses beginnt aber
faktisch (nach Regiomontanus) bei 7°10´ Jungfrau: dabei stehen nun die drei genannten
Zeichen, zugleich angezeigt im Löwen. Eigentlich sind sind Merkur, Jupiter, Sonne und
Knoten als in 7. befindlich aufzufassen.
79
91
Harmonisierung, die sogar imstande sei, auf die ganze Welt
auszustrahlen, eröffnet erneut die bereits angesprochene
geschichtsastrologische Dimension der Deutung. Sie greift die alte
Vorstellung über das „heilsame“ Wirken der höchsten Exponenten
einer Zeit auf, wenn ihre firmamentischen Hintergründe
harmonisch oder „sympathisch“ sind: es bilden solche Personen
eine gelungene Komplexion geschichtlicher und sozialer
Verhältnisse sozusagen vor, wie in einer „Idee“, und ihre wohl
geordnete und „wahre/gute/schöne“ Qualität gestaltet die Welt mit,
in einer „gesunden“ und „vorzüglichen“ Weise.
Offensichtlich werden hier auch Vorstellungen der
humoralpathologischen Medizin einschlägig: wie im Körper
Gesundheit angezeigt wird, wenn die verschiedenen Säfte in
ausgewogener Mischung stehen, so scheint gesellschaftliches und
humanes Gedeihen angezeigt, wenn in der "Komplexion" des
Königs eine gelungenen Fülle von einander "sympathischen"
Anzeigen Einseitigkeit und Enge vermeiden und Vielfalt und
Harmonie „erklingen“. Ein solches Temperament "diene"
schließlich dem Geist einer "universellen Christenheit". Dieses sind
Aussagen, die in der Dichte ihres Inhaltes gegenwärtig noch gar
nicht ganz auszuloten sind: es ist aber implizit ausgesagt, es
gehöre die christliche Religion zu einer kosmisch harmonischen
Figuration und Konstitution, und diese kann damit „erlösend“,
„heilend“, „froh machend“ wirken. Zugleich kommt zum Ausdruck,
dass Michael Nostradamus in den Spitzenaussagen seiner
Prophetie am Gedeihen dieser geistigen Richtung und an dem Tun
und Handeln ihrer „Vikare“ Christi hohe Interessen hat: seine
Geschichtskonstruktion bezieht sich eindeutig auf die ihren
Exponenten entworfene Mitte aller Zeit: und er versteht davon
ausgehend ein „Reich“, augustinisch die „civitas Dei“. Hier schreibt
92
er nun auf Grund seiner astrologischen Einsicht dem späteren
Kaiser Rudolf ein solches Selbstverständnis und eine
Aufforderung, in dieser Richtung tätig zu werden, zu.
Der so zum Ausdruck kommende Zusammenhang steht zentral für
die astrologisch gestützte und metaphysisch überhöhte
Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung
(„Geschichtskonstruktion“) des Michel Nostradamus. In ihr stehen
die politischen Leitfiguren - in seinen Worten "les principaux
culteurs"81 - zentral. Ihr Wesen scheint nicht nur völlig der
zeitlichen Qualität zu entsprechen, in der sie geboren werden und
leben, sie bestimmen den Charakter und die Art ihrer Epoche
sogar in ausschlaggebender Weise mit. Solche Vorstellungen trifft
man am ehesten in alten Vorstellungen über das
(fränkische/französische) Königtum, seit Karl dem Großen noch
deutlicher, aber auch in manchen Begründungen späterer
absoluter Regierungsführung, dort auch angemaßt und
unangebracht. Dem modernen Verständnis stellt diese archaische
und archetypische Vorstellung eine erhebliche Schwierigkeit dar,
vor allem wenn eine Verknüpfung mit gewissen religiösen Inhalten
hinzu kommt – und man muss hier deutlich unterscheiden
zwischen dem menschlichen Königtum und seinem Staat und dem
totalitaristisch anmutenden Gottesstaat.
Doch hier ist auch noch eine prophetische Aussage zu
kommentieren: die "universelle Christenheit" ist nach seherischer
Wahrnehmung bereits "halb gefallen". Welche konkreten
historischen Umstände mit diesem Fall zu verknüpfen wären, und
welcher Teil der "gefallene" ist, bleibt in typischer orakelhafter
Redeweise im Dunkel. Man weiß nicht, soll man dieses auf die
81
Die Prophezeiungen, 1568, Satz 18.
93
Zeitumstände des 16. Jahrhunderts beziehen, oder auf die
Vorgänge innerhalb der Kirche im Mittelalter: eventuell sollte man
die Aussage nicht allzu wörtlich deuten, sie kann auch meinen, es
wäre eine „universelle Christenheit“ zu oft auf ihrem Weg in ein
Defizit geraten, gerade so, wie jeder Mensch „zur Hälfte“ dem
Irdischen unterlegen ist und immer nur hoffen kann, einmal für
kurze Zeit den Schritt in eine zu wünschende Vollständigkeit zu
finden: eventuell geht es hier um eine ähnliche Unterscheidung
und Polarität, die C. G. Jung in seinen Begriffen von seelischer
„Vollkommenheit“ und individuierter „Vollständigkeit“ trifft.
Obwohl noch niemand "außer Ascletation" sich an der Vorhersage
des Todes eines römischen Kaisers versucht habe, beschäftigt sich
Michel Nostradamus in der Folge des Kapitels mit der Frage, wann
das Reich vom Vater Maximilian an den Sohn Rudolf übergehen
könne. Er schreibt von einer großen Todesgefahr für den Vater:
"1589 im letzten Monat des Mondes abnehmend sein Licht".
Im Kapitel V geht die Erörterung der Signifikatoren Jupiter und
Mars weiter, erst gegen Ende des Kapitels wird über den "dritten
Herren" des Horoskops, Venus (Thema "Heirat") gesprochen.
Dabei geht es in Saturn, Mars und Venus um die durch Steinbock
mitgeteilten potenziellen Herren; Jupiter/Sonne tritt hinzu als
positioniert in kollektiv 10..
Die dortige Vorhersage über die Eheschließung ist im Allgemeinen
und in den Details - die im Laufe der Darstellung des
Geburtsbildes weiter ausgebaut werden - nicht eingetreten. Es gab
mehrere Pläne zur Eheschließung Rudolf II.; sie wurden nicht
verwirklicht. (Zu erwägen ist dazu, dass der Kaiser in einem
eheähnlichen Verhältnis mit der Tochter seines Antiquars Jacopo
della Strada, Katharina, lebte. Aus der Verbindung gingen sechs
94
Kinder hervor; der älteste Sohn war, wie es auch das Horoskop
erwähnt, Zeit seines Lebens krank82. - Man erwäge dazu auch die
Hintergründe von Saturn in 5, in beiden Dimensionen des
komposites Bildes des Horoskops. -)
Vom Standpunkt prophetischer Geschichtsbetrachtung
beachtenswert ist die Aussage, dass die "Vorfahren" des Kaisers
von "Philipp, König von Mazedonien, Vater Alexanders des
Großen abstammen" sollen. Dazu kann die Astrogeographie
Hintergründe liefern: Mazedonien gehört zu den Patronaten des
Steinbockes. Steinbock aber ist im individuellen und aktuellen Bild
als Hintergrund der physischen und psychischen Konstitution,
repräsentiert in Haus 1., gewählt. Erwähnt wurden bereits
mehrfach die inhaltlich saturnine, die martialisch gesteigerte und
der venerische Hintergrund – bei Tag – dieses Zeichens. Welchen
dieser Signa nun geht Michael Nostradamus nach? Eventuell hilft
hier die spezifische astrologische Zyklenlehre des Michael
Nostradamus und die in ihr enthaltene und kommunizierbare
Beurteilung von Zeiten und Personen weiter. Wir müssen damit
nach den zyklischen Hintergründen des Wirkens des Philipp, König
von Mazedonien, suchen: Rudolf ist wie Alexander ein
Nachkomme dieser Deszendenzlinie, die im vierten Weltalter der
Geschichtskonstruktion des Nostradamus ihren Anfang nimmt. Zu
berücksichtigen sind die zyklischen Koinzidenzen der Ära 350 bis
3335 vor Christus.
Sonne
Mond
Saturn Jupiter Mars
Venus
651:
Schütze
-824:
Zwillinge
-358:
Schütze
-354: Stier -350:
Wassermann/
82
-356/-355:
Löwe/
Skorpion
Merkur
v. Schwarzenfeld, a. a. O., S. 60.
95
-350:
Stier
-349:
/Krebs
-346:
Widder
-344:
Löwe/
-343:
Wassermann/
-343:
/Zwillinge
-342:
/Skorpion
Schütze
Zwillinge
Schütze
Löwe/
Zwillinge
Stier
Widder
Wassermann/
Skorpion
-338:
Wassermann
-337/-336:
Wassermann/
Zwillinge
-335:
Wassermann
Grau markiert ist die Zeitspanne der Exaltation, hier des Widder:
dieses ist auch eine martialische Entsprechung. Das ungestörte
Zeichen Aries auf erster Ebene ist in dieser Epoche die stärkste
96
Erhöhung: die astrologische „Führung“, d. i. das 1. Haus des
zeitlichen Themas ist zwischen 346 und 338 vor Christus bei
Widder. Widder hier steht im Venuszyklus; Mazedonien liegt im
Klimat der Venus, zwischen 39° N und 43°30´ N. - Man findet hier
eine Modifikation der traditionellen Astrogeographie: Mazedonien
wird von Nostradamus zu Widder gerechnet, damit zu inhaltlich
Mars. Mars aber ist in Steinbock erhöht. Der topographische
Hinweis mit Widder in formal Venus ist das entscheidende
Kriterium für die Begründung einer neuen Dynastie in den Breiten
dieser Sphäre. Zugleich ist zu bedenken, dass im individuellen Geburtsbild von
Rudolf das vierte Haus, der „Väter und Vorväter“, im Zeichen
Widder steht. So erklärt sich diese Aussage im Text des
Horoskops: seine Vorfahren stehen im Zeichen des Widder, sie
entsprechen feuerigen und martialischen Qualitäten, sind
verbunden der Erhöhung des Sonne, und der Herrschaft der
Sonne über die Feuerzeichen bei Tag, des Jupiter bei Nacht.
Philipps Sohn Alexander regiert unter Zeichen des inhaltlichen
Saturn, diese sind aber verbunden mit martialischen Anzeigen in
Kodomination, dabei auch Widder. - Erneut ist an dieser Stelle ein
weiterführender Schluss über gewisse geschichtsastrologischen
Auffassungen in den Urteilen des Nostradamus möglich; sie
werden in ihren Anwendungen auf das individuelle Horoskop sogar
recht deutlich. Exaltationen oder Kulminationen, Apsiden, die
führenden Zeichen eines Marszyklus sprechen für wesentliche
historische Neuerungen; sie beziehen sich auch den Signaturen
entsprechende Regionen, abgebildet in den Sphären;
„Verwandtschaften“ - innerlicher wie äußerlicher Art – zeigen sich
in gleichen oder ähnlichen Signa, selbst wenn sie über weite
97
Zeiträume voneinander distant sind. Neue topographische
Vorstellungen können mit Hilfe der Geschichtskonstruktion
entwickelt werden: sie verlassen selten die grundsätzlichen Urteile,
die bereits die antiken astrologischen Schriften nahe legen, sie
gehen aber doch neue Wege, wenn die „himmlischen Symbole“
solches „mitteilen“. Doch in allen diesen Bestimmungsstücken
handelt Michael Nostradamus nicht „gebunden“ und eineindeutig
immer wieder gleich: seine „judizielle Astrologie“ behält sich vor,
„frei und intuitiv“ über ihre Urteile zu befinden. Mit dem Kapitel V endet die Besprechung der "Herren" des
Horoskops, damit der erste Teil des Geburtsbildes. Er wurde hier
ausführlicher behandelt, da gerade die Handhabung der
allgemeineren und übergeordneten Signaturen ein in der
modernen Astrologie kaum noch übliches Vorgehen darstellt. Vielleicht sollte man aber wieder überlegen, ob die Ermittlung
„führender Zeichen“ in ihrem Bezug zu örtlichen Qualitäten des
Tierkreises nicht doch wesentliche Hinweise geben kann,
zumindest zusätzlich zu dem gängigen Schema der Deutung der
Aspekte und Häuser. Vermutlich benötigt die astrologische
Methode mittlerweile eine größere methodische Vielseitigkeit, um
allzu eingefahrenen Schemata und positivistisch besetzten
„Vorurteilen“ vorzubeugen: solche müssen zwangsläufig auch zu
relativ eindimensionalen Aussagen führen. So geht es z. B. in dem
vorgeschlagenen kompositen Geburtsbild wohl nicht um eine
mehrfältigere und komplexere Grundlage der Deutung eines
Geburtsbildes, sondern auch und primär um die Herstellung einer
nicht „eingefahrenen“ Perzeption der vorhandenen Daten, damit
um die Möglichkeit der Apperzeption intuitiverer und inspirierter
Momente, im Durchschreiten polyvalenter Andeutungen,
Metaphoriken, Sätzen. 98
9. Ein bedeutender Unterschied in langen
historischen Perspektiven zwischen Michael
Nostradamus und zeitgenössischer
astrologischer Darstellung
Der im letzten Kapitel vorgestellte Konnex der Bedeutungen
Saturns könnten eine Quelle sein, Rudolf bis in die Neuzeit herauf
als "saturninen Kaiser"83 zu charakterisieren. Saturn gilt der
Geschichtsastrologie als Herrscher des "goldenen Zeitalters"84.
Octavian und Karl der Große wurden ebenfalls für „saturnine
Kaiser“ gehalten; dass Octavianus Augustus für sich selbst einen
besonderen Bezug zu Steinbock - dem zodiakalen Aspekt Saturns
- in Anspruch nahm, ist bekannt85.
Während aber nun Michael Nostradamus auch andere
Zusammenhänge betont – wie eben erwähnt in einer
metaphorischen oder wörtlich aufzufassenden Deszendenz von
Philipp von Makedonien, wie vorgestellt in Koinzidenzen des
martialischen Widder – bleiben anscheinend zeitgenössische
Astrologen deutlicher und einseitiger bei inhaltlich saturninen
Zusammenhängen. Die inhaltlich martialischen Begleitungen
werden in der Öffentlichkeit nicht aufgegriffen, man übergeht diese
doch erhebliche Aussage des Nostradamus; statt dem
unterstreicht man die inhaltlich saturnine Zeichenhaftigkeit: und
v. Schwarzenfeld, S. 9; s. v. a. S. 60.
Peuckert, W.E., Astrologie, Stuttgart, 1960, S. 74.
85
Chadraba, R., Gemma Augustea und rudolfinische Allegorie, in: Umeni 3, 1970, 289
ff.; vgl. Knappich, W., Geschichte der Astrologie, 82 f..
83
84
99
dieses Letztere kann geradezu als ein Belastung erscheinen,
„überlädt“ sie doch den Nativen und seine Aufgaben mit geradezu
millenialen Bedeutungen und Anforderungen.
Aus einer psychologischen Sicht können solche Überforderungen
und unangebrachten Überhöhungen eines Individuums geradezu
lähmend wirken, sie erzeugen „Spontanparadoxien“ und
„Hyperreflexionen“, die an den persönlichen Stärken und Vorlieben
des Nativen vorbei gehen müssen. Damit hat man zwar einerseits
dem Adressaten geschmeichelt, ihm aber auch – wenn er
sublimerer Natur wäre – eine Last aufgebürdet, die er kaum tragen
kann. In solchen Sinne wirkt Michael Nostradamus Horoskop, auch
wenn es ambivalenter darstellt, doch „heilsamer“ und „ärztlicher“,
als solche allzu vertraulichen Plumpheiten: das Geburtsbild des
Franzosen bleibt so weitaus einfühlsamer. Es ist aber zu fürchten,
dass die Rezeptionen (und Übersetzungen) in andere Sprache
solche Differenziertheiten kaum noch transportieren und die
Aussagen vergröbern.
Die überzogenen Attribuierungen an Rudolf kommen sehr deutlich
in einem Kupferstich von Matheus Greuter zum Ausdruck. Die
Graphik stellt Rudolf neben die beiden genannten Kaiser Oktavian
und Karl. Die drei Kaiser regieren in etwa achthundertjährigem
Abstand: ihr Geburtsbild soll bei allen "denselben Aszendenten",
"horoscopus idem", getragen haben. Dabei erscheint die
Zuschreiben des Steinbocks als Aszendent an Karl den großen
aus unbekannter Quelle zu stammen.
Auf verwandte Aufgaben auf Grund der gleichen inhaltlich
saturninen Konstitution bezieht sich die Umschrift auf dem
äußeren Ring des Stiches: das Reich, das Augustus begründete,
100
und Karl fortführte, werde Rudolf II. neuerlich "aufrichten", im Jahr
"1600".
In einem mittleren Kreis stellt Greuter das Horoskop Rudolf II.
bildhaft vor: am "Aszendenten", links, steigt der Steinbock mit
seinem Fischschwanz auf, über ihm schwingt sich ein Adler auf,
mit gestirnter Brust, ein Sternbild, das bereits im Text des
Nostradamus als "vultur volans" genannt wurde. Gegenüber, am
"Deszendenten", im Zeichen des Löwen, steht das andere
bedeutsame Zeichen, im achten Haus ("vom Aszendenten aus"),
zugleich im Sextil zum 10.; ihm verknüpft sich zugleich ein
doppeltes Sextil zu Mars und Mond in den Zwillingen. Es bedeutet
das Erbe eines riesigen Reiches, in der Ballung der
konjugierenden Zeichen Sonne, Jupiter und Drachenkopf und ihrer
Aspekte. Dieses folgt ganz der gängigen Astrologie.
Die kreisrunden Embleme links und rechts unten zeigen das
"Schicksal" - einen Greis mit den sieben Sternen: mit der
Umschrift: "Fata regunt orbem: fieri iubet omnia FATUM". Auf der
anderen Seite steht die "Zeit" – man sieht Saturn mit Sichel und
Sanduhr, und der Umschrift "Et qua fata iubent, ea perficit omnia
TEMPUS". („Schicksale bestimmen auf der Erde: alles, was sich
ereignet, geschieht im Auftrag des FATUM.“ „Und was das
Schicksal befiehlt, das vollbringt schließlich die ZEIT.“)
Das Bild wurde von "Raym. Urso, seiner Kaiserlichen Majestät
Mathematiker" erfunden86, und von "Matheus Greuter 1594"
gestochen.
Wie gesagt: es sind in diesem Bild nur schwache Einflüsse des
Michael Nostradamus deutlich, eigentlich nur in der Betonung des
86
Mathematiker bedeutet aber zu dieser Zeit auch „Astrologe und Astronom“.
101
Saturn als Herrn des Aszendenten. Die Parallelisierung der drei
historischen Personen kommt bei ihm gar nicht vor: wie gesagt,
spricht er eher für einen allgemeinen martialischen Hintergrund, im
Zusammenhang der beiden bedeutenden Makedonier. Und es hat
die einschlägige Ära der Geburt des Rudolf zwei lange
martialische Zeichen, Skorpion in formal Sonne, Widder in formal
Mars: dabei hat Widder ab 1550 (formal Venus) Vernichtung durch
Waage – so sind astrosemiotische Parallelitäten auf allgemeinster
Ebene mit solchen Zeichen übergeordnet, und das saturnine
Moment des individuellen Horoskop ist weniger generell und
„verborgener“.
Hinzu kommt wohl als wesentliches Argument gegen diese
historische Parallelisierung der drei Personen: der schematische
achthundertjährige Abstand widerspricht Michael Nostradamus
durchgehend an den beobachtbaren Gestirnständen orientierten
Aussagen. Seine spezifische Neuerung in der
Geschichtsastrologie verlässt alle Schematismen, z. B. Die im
Mittelalter noch lange übliche Gliederung der Zeitalter nach der
Zählung in Jahrtausenden: statt dem entwickelt er eine kreative
Methode, die Zeitalter, die nur noch metaphorisch aufzufassende
Millenien sind, nach konkreten Vorgängen am Sternenhimmel
einzuleiten, in langen Bezügen zu den längsten Zyklen, dem der
Sonne und dem des Mondes, mit Eröffnungen der Weltzeiten: in
diesem Sinne würde er nie eine astrologische Aussage treffen, die
alleine auf einem gleichen Abstand von Jahren beruhte – vielmehr
würde er nach gleichsinnigen Zeichen Ausschau halten, und
Personen parallelisieren, die von gleichen Koinzidenzen begleitet
sind.
102
So spricht er in der zweiten Vorrede der Prophezeiungen z. B. von
einem „zweiten Thrasybul“87: das bedeutet, es gibt zu der mit
dieser Person ausgestatteten Zeit historische und enographische
Äquivalente zu dem attischen Staatsmann Thrasybul. Eine
verwandte Äquivalenz gibt es zwischen Philipp und Rudolf.
Für die weitere kritische Betrachtung ist anzufügen, dass die
Nachrichten über das Geburtsbild des Karl unsicher sind: wenn,
dann würde Nostradamus sicherlich die Enographie zu Karl den
Großen heranziehen: dort sieht man Steigerungen von formal
Saturn mit Waage, mit Kodominationen der inhaltlichen Lichter –
dieses sind aber erhebliche Differenzen zu den Koinzidenzen bei
Philipp wie bei Rudolf: nach der Zyklenlehre des provenzalischen
Arztes und Visionärs kann Karl der Große zwar mit Rudolf II.
Verglichen werden, dabei würde sich aber zeigen, dass sie nahezu
diametral entgegengesetzten Symboliken entsprechen.
Und Ähnliches gilt für Oktavianus, begleitet von hoch exaltierten
Zeichen des Krebs.
Hier zuerst näher nun zu Karl dem Großen:
Sonne
Mond
Saturn Jupiter Mars
Venus
Merkur
760:
Löwe
690:
Schütze
760/761:
Waage/
Zwillinge
698:
Stier
769:
Jungfrau/
759:
Steinbock
769:
Krebs
770:
/Stier
87
„Les Propheties“, Vorrede B, 1568, Satz 29.
103
771:
Schütze
775/776/
777:
Löwe/
Schütze/
Jungfrau
782/783:
Krebs/
Widder
783:
Waage
788/789:
Jungfrau/
Skorpion/
789:
Jungfrau
790:
/Löwe
790:
Waage
795:
Löwe/
795:
Löwe
796:
/Fische
797:
Stier
Löwe
Schütze
Waage
Löwe
Krebs
Stier
Löwe/
104
Fische
801:
Jungfrau
Die Kulmination zeigt ein unermüdliches Zeichen, in dem
universalen Zusammenwirken aller Sphären, die alle hoch
gesteigert sind. In dem Sinne der „astronomischen und zyklischen
Übereinstimmungen“ gibt es eher Verwandtschaften zwischen karl
dem Großen und Oktavianus als beider mit Rudolf.)
Saturn: Waage
Venus: Stier
Mond: Schütze
Merkur: Löwe/Fische
Sonne: Löwe
Jupiter: Löwe
Mars: Krebs
-
Oktavianus Augustus hat folgende Astrosemiotik:
Sonne
Mond
Saturn Jupiter Mars
Venus
Merkur
-34:
Fische
-824:
Zwillinge
-34:
Krebs
-55:
Steinbock
-21/-20:
Widder/
Jungfrau
-24/-23:
Widder/
Schütze
-19:
Löwe
105
-14/-13:
Widder/
Steinbock
-12/-11:
Jungfrau/
Krebs
-8/-9:
Widder/
Löwe
-5/-4:
Löwe/
Steinbock
Fische
Zwillinge
Löwe/
Jungfrau/ Löwe
Steinbock Krebs
Steinbock Widder/
Löwe
-4:
Jungfrau
Zurück zu dem Geburtsbild des Michael Nostradamus für den
späteren Kaiser Rudolf II.. Nun folgt der zweite Teil des Horoskops:
die Darstellung der klassischen Elemente der Astrologie.
In Kapitel VI werden die wesentlichen Anzeigen der "kardinalen"
Punkte der Nativität - die Signifikationen des Aszendenten (griech.
„horoskopos“), und die anderen wesentlichen Punkte im Zenith,
am Deszendenten und in "imo coeli" - angesprochen. Die
genannten Punkte berühren die Komplexion des Nativen, seine
Partnerin, seine Mutter, seinen Vater. Bezüglich des Vaters ist die
106
Aussage der hohen Zuneigung von Vater und Sohn bedeutsam;
zeichenhafte Gründe dafür sind bereits angeführt worden.
Im Text findet sich manches sehr bildhafte Wort – beispielsweise:
"Eure Majestät wird sich finden auf einem hohen Thron hinter
einem großen hohen Berg, es wird ein Sturm entstehen, der mit
aller Macht versucht, Euch schwerwiegend zu belästigen und zu
schädigen und Euch von Eurem so sehr hohen Thron
herabstolpern zu lassen aber wird vergeblich sein...". Solche
Darstellungen gemahnen an einen seherischen Ursprung. Es
können auch Symboliken der zyklischen Astrologie angesprochen
sein, „hoher Thron“ entspräche einem 10. Haus, „großer hoher
Berg“ starken Präsenzen der Erdzeichen, „Sturm“ stünde für Signa
der luftigen Triplizität.
Nachdem das Thema "Saturn als Herr des Aszendenten" bereits
mehrmals aufgegriffen wurde, kommt dieser Punkt nach den
allgemeinen Erörterungen der vier kardinalen Orte in Kapitel VII
noch einmal zum Tragen. Die Betrachtung der Genitur scheint von
den allgemeineren Beständen zu den spezielleren zu schreiten;
zuerst erschien Saturn als Bestandteil zyklischer Inhalte, dann als
wesentliches Zeichen des kardinalen Kreuzes; jetzt geht es um
den Planeten Saturn, individuell platziert noch im 1. Haus, an der
Häuserspitze des zweiten, aus kollektiver Sicht aber in 5..
Im Blick auf diesen Planeten wird auch der Fortgang dieses kurzen
Kapitels verständlich: es werden sozusagen alle Verknüpfungen,
die dieses Zeichen besitzt, der Reihe nach durchgesprochen. Der
auffallendste Akzent dabei ist die Anzeige des
Geschwisterkonfliktes: Quadrat Saturn auf Zwillinge - Gemini ist
mundan drittes Zeichen des Tierkreises - diese Bedeutung wird
erweitert durch die aktuellen und zyklischen Hintergründe. In
107
Zwillinge findet sich der aktuelle Mars: innerhalb firmamentischer
Entsprechungen der Geschwisterreihe ist damit ein älterer Bruder
nahe der Mitte der der Geschwisterreihe angesprochen – Saturn,
im Quadrat dazu, kann für den ältesten Sohn sprechen. Matthias,
der Anführer der Opposition gegen Rudolf, war der dritte Sohn,
und dieser könnte an dieser Position ein Analogon des Mars
darstellen (*1557); Rudolf war der erste Sohn, Ernst (*1553) der
zweite.
Dann wird erneut die "vollkommene Übereinstimmung mit dem
Vater" (Trigon Saturn und Venus, aus 1. auf IV.) erwähnt; in diesem
Zusammenhang wird auch die Opposition mit Sonne (in 7.)
erwähnt, daraus werden Auseinandersetzungen über die
Eheschließung gefolgert. Die Technik der astrologischen Deutung
folgt hier den üblichen Methoden.
Es folgt das längste Kapitel der gesamten Prognostik, das Kapitel
VIII. In ihm werden die Herren der zwölf Häuser des Horoskops
besprochen. Dieses ist die hohe Schule der alten Astrologie.
Es zeigt sich jedoch ein bedeutsamer Unterschied in der Ermittlung
der leitenden Planeten: die Entscheidung, welches Gestirn die
Aussage trägt, wird mit überindividuellen und enographischen
Hintergründen verwoben. Diesen Umständen ist es zuzurechnen,
dass die Ermittlung der jeweiligen "Herren" der Anzeige etwas
anders ausfällt als erwartet. Diese Vorgehensweise soll nun
beispielhaft dargestellt werden, stellvertretend für die Gewinnung
der Aussagen zu den anderen Häusern.
Aufgegriffen werden soll die bedeutsamste Signifikation des
Horoskops, die Anzeige des Königtums. Michael Nostradamus
schreibt zu Beginn des achten Kapitels: "le seigneur de la
108
premiere maison, dans la premiere maison, dans la dixiesme...".
Diese Anwesenheit des Herren des zehnten Hauses im ersten und
umgekehrt ist das überlieferte Zeichen des Königtums.
Dieses trifft nicht ohne Weiteres für das Horoskop Rudolfs zu:
Saturn steht von Nostradamus selbst in das zweite Haus platziert,
in Fische; doch eigentlich ist Saturn rechnerisch noch im ersten, 4°
vor der Häusergrenze. Der Planet ist aber durch Erhöhung und
Zusammenstirnung88 Herr der Himmelsmitte, individuell des
Zeichens Skorpion. Aber Saturn steht keineswegs, wie
Nostradamus formuliert „im zehnten“, wenn auch doch „im ersten“.
Im zehnten Haus befinden sich in Rudolfs Geburtsbild keine
Planeten; das erweiterte Wort des provenzalischen Arztes muss
andere Gründe haben, vor allem bezüglich eines Gestirns im 10.
Haus. Zieht man nun Zyklisches bei, sieht man Skorpion individuell
bei 10. und Skorpion kollektiv bei 1..
Geht man enographisch weiter, erkennt man das kulminierende
Gestirn der Zeit zwischen 1542 und 1557, Sonne in Skorpion, im
10. Haus des individuellen Bildes. Skorpion ist nun auch der Ort
des kollektiven 1. Hauses: und nimmt man die Reihe der
Tierkreiszeichen so vor, dann rückt Löwe in 10.: in Löwe aber steht
wiederum die individuelle Sonne, zugleich in Konjunktion mit
Jupiter.
Diese Konjunktion hat einen größeren Abstand als 5°, „orbis“: aber
in der astrophilen Gestirnkunde ist dieses vernachlässigbar,
wesentlicher ist der Ort des Tierkreises, der beide Signa
zusammen fasst. Nostradamus wird nicht müde, im Verlauf des
Horoskops immer wieder diese verdichtete und in sich gesteigerte
Ptolemy, Tetrabiblos, Cambridge/London, 1971, 5. Aufl., S. 237, genauer 233; oder:
Tetrabiblos, übers. v. Pfaff, J. W., Astrologisches Jahrbuch, Erlangen, 1822/1823,
Nachdruck Hannover, o.J., S. 19 - 22, S. 38 – 39.
88
109
Signatur anzusprechen: sie wurde bereits mehrfach vorgestellt und
sie ist sicherlich das beeindruckendste Zeichen innerhalb dieses
Horoskops.
110
10. „Die Übertragung der universellen Monarchie der
christlichen Welt“
Zuerst zusammengefasst die wesentlichen anderen Aussagen des
Kapitels VIII: Gesundheit und langes Leben (1. Haus), riesiger
Besitz, große Schätze und Reiche (2.), große Rivalitäten und
Auseinandersetzungen mit den Brüdern (3.); Rudolf wird große
Besitztümer erwerben, zugleich ist er der "Beste seines Stammes"
(4.); er wird viele Freuden erleben, reiche Kinder haben (5.); er
wird über eine überaus gute Dienerschaft verfügen, jedoch an
Melancholie leiden (6.); er wird mehrere kriegerische
Auseinandersetzungen bestehen und eine königliche Gattin
heimführen (7.); ihm droht der Tod von mehreren Kindern, und er
wird an Krankheit sterben (8.); er wird zuerst "unterrichtet sein in
guter Lehre", dann aber von dieser abfallen: "achten Sie, Sire, daß
Gott sie nicht verlässt" (9.); die königlichen Ziele sind bedroht
durch die Brüder, das Kaisertum Rudolfs ist gekennzeichnet durch
die persönliche Schwäche, Zorn und Wildheit (10.); er wird viele
Freunde besitzen, die ihm nicht ebenbürtig sind; zwischen 45 und
52 Jahren wird ihm auf Grund seiner religiösen Haltung "die
universelle Monarchie der christlichen Welt übertragen"89.
Die letzte Aussage - „pource quil demonstre que p/ar/ Religion &
Jusques a le age v/ot/re De 45. ans a 52. tiendres fort vo/tr/e
opinion Des Dieux qui sera cause pricipalle que la universelle
Dieses steht bei der sehr umfangreichen Besprechung der Signifikationen des 11.
Hauses, auf Seite 50 der Handschrift.
89
111
monarchie du monde Des chrestiens vous seront conferez“ verlässt das Schema der 12 Häuser des Geburtsbildes: sie kann
zwar in gewisser Weise auf Aspekte des 12. Hauses bezogen sein,
in der Umkreisung von dessen Bedeutung „guter Geist“, denn
dieses wird umfangreich darin angesprochen. Vermutlich aber ist
dieses wiederum eine bedeutsame geschichtsastrologische
Einfügung, an passendem Ort, das „Oberhaupt der christlichen
Welt“ sollte schon in „gutem Geist“ regieren – und Grund der
„Übertragung“ ist auch die „starke Haltung zu der Religion“.
Vermutlich ist diese Aussage ohne enographischen Hintergrund
gar nicht denkbar. Hervorzuheben sind dabei zwei Begriffe: die
„universelle Monarchie“ und die „Welt der Christen“. „Universell“
steht sicherlich in einem firmamentischen Zusammenhang: die
Gestirnkonstellationen bilden ein Zeichen, aus dem ablesbar wird,
welche Person ein „Oberhaupt“ der so begleiteten Zeiten und
Zonen wird. „Universell“ bedeutet hier am ehesten „allumfassend“
oder „von oben, von den Sphären und ihrer prästabilisierten
Harmonie“ angekündigt: dieses muss eine bedeutende Würde
darstellen, man scheut sich aber, diesen astrologisch
grundgelegten begriff in den Zusammenhang eines
„Gottesgnadentums“ zu stellen: diese nicht nur leicht
„abgegriffene“ Vorstellung hat nicht jene symbolische Qualität, die
das signum im Munde des provenzalischen Propheten gewinnt:
ihm fehlt auch die geistliche und spirituelle Dimension völlig, die
Michael Nostradamus als wesentliche Voraussetzung solcher
„Übertragung“ heraus stellt. Hinzu tritt der Zusammenhang des 11.
Hauses, der „Freunde, der guten Beziehungen“, die dieses
augurium von allem Machtpolitischen scheidet: 10. und 11. Haus
sind im Horoskop nicht miteinander verbunden, geistliche und
spirituelle Leitung geschieht in einem „freundschaftlichen guten
112
Geist“. Dem Urteil entsprechend, es fänden sich „die Herren von
11. in 8. und 9.“ sind hier die die Präsenzen in Zwillinge und Krebs
in dem kollektiven Bild der Enographie zu berücksichtigen, dieses
sind Mars und Mond und Venus und Merkur. Nach Claudios
Ptolemaios gehört zu Mars das „42ste bis 57ste Jahr“: Mars ist in
den genannten Präsenzen die hervorragende Anzeige, sie
bestimmt den allgemeinen Zeitraum der Aussage. Zugleich zeigen
sich Sextile von Jupiter/Sonne auf Mars, und Trigone von
Merkur/Venus auf Saturn: eigentlich positive Zeichen. Nur mengt
sich dann auch noch ein Quadrat des Saturn auf Mars hinein, das
bekannte Zeichen der Konflikte mit den Geschwistern, zugleich ein
Erschwernis der Religion in den Jahres des Mars90: aus letzterem
Quadrat wird die Warnung, die „Religion zu verlieren“, deutlich.
Der zweite zu erörternde Begriff ist „die Welt der Christen“: auch
hierin zeigt sich ein umfassender Anspruch, der weit über die
Spaltung in Konfessionen, Gemeinden und „Sekten“ hinaus geht.
Wieder befinden wir uns in jener Sichtweise, die Lehrweisen im
Detail zu Gunsten einer allgemeineren Einheit zurück stellt.
Zugleich hat der Begriff „Welt“ eine säkulare Komponente, äußert
eine bestimmte leitende Funktion innerhalb der Immanenz. Man
könnte meinen, hier die frühmittelalterlichen Vorstellungen eines
Einhard für Karl den Großen zu erkennen, einen Sinn der
Monarchie, der gerade in der fränkischen und später in der
französischen Geschichte immer wieder betont wird. Zugleich fehlt
hier der Begriff „Kirche“: die Vorstellung ist allgemeiner und
säkularer gefasst. In diesem Sinne muss man davon ausgehen, es
wäre im Zusammenhang der Geschichtskonstruktion des Michael
Jedes Mal, wenn man in eine nähere Analyse der zeichenhaften Struktur und mehr
noch des Geburtsbildes eintritt, merkt man, welche ausgeklügelte Fülle in jedem
einzelnen Detail der textlichen Mitteilung eintritt. Alle diese Signaturen im Ansatz zu
besprechen, erforderte einen immensen, jahrzehntelangen Aufwand.
90
113
Nostradamus eine Entscheidung über mögliche Führungsrollen
innerhalb der „christlichen Welt“ - nicht „Christenheit“ - ermöglicht:
dieses kann mit den Exaltation bestimmter Symbole zusammen
hängen, und mit aus solchen „Apsiden“ ableitbaren
topographischen und „sympathischen“ Vorstellungen.
Rudolfs „45. bis 52. Jahr“ ereignet sich 1597/1598 und 1604/1605.
Man kann dieses überprüfen mit den Koinzidenzen der
Enographie: was ereignet sich in den genannten Jahren in den
Zyklen? Zu berücksichtigen ist der Marszyklus von 1589 bis 1606.
Sonne
Mond
Saturn
Jupiter Mars
Venus
Merkur
1582:
Jungfrau
1584/1585/
1586:
Fische/
Wassermann/
Schütze
^
1555:
Stier
1574:
1584/1584: 1577:
Zwillinge Jungfrau/
Löwe
Wassermann
1589:
Stier
1589:
Krebs
1590:
Stier
1591/1592
/1593:
Steinbock/
Zwillinge/
Fische
1598:
Skorpion
1598:
Steinbock/
114
1599:
/Waage
1601:
Stier
Stier
Zwillinge Jungfrau/
Wassermann
Stier
Stier
Skorpion
Steinbock/
Waage
1604/1605/
1606:
Wassermann/
Stier/
Wassermann
1606:
Jungfrau
1606:
Zwillinge
Die Hervorhebung durch grauen Hintergrund zeigt: es ist hier die
Kulmination des Stier, mit mehreren Kodominationen.
Sonne: Stier
Jupiter: Stier
Mars: Stier
Merkur: Steinbock/Waage
Saturn: Jungfrau/Wassermann
Mond: Zwillinge
Venus: Skorpion
115
Dieses Zeichen ist widrig: d. h. Signa, die „vorne“ stehen, bei
doppelter Eröffnung von Zyklen, sind in Fall oder Vernichtung, hier
Stier in Fall und Vernichtung durch Jungfrau und Skorpion, und
Wage in Fall durch Jungfrau. Diese Widrigkeit ist hier gemildert
durch die vierfache Präsenz von inhaltlich Venus, Stier hat
„gesättigte“ dreifache Anwesenheit. Diese Adversität lässt nun die
saturninen „Hintergründe“ der inhaltlich venerischen Zeichen
„sichtbar“ werden, Waage hebt Steinbock und Wassermann,
Saturn ist in Waage in Erhöhung.
Dieser „höchste Hügel“ der genannten Epoche oder Ära am
deutlichsten sichtbar im Merkurzyklus, und zwar von 1598 bis
1604: und dieses deckt sich wiederum genau mit der zeitlichen
Angabe im Horoskop. In dem Merkurzyklus hat inhaltlich Saturn
die Erhöhung bei sich, in der Anzeige Steinbock/Waage: dort wird
Capricornus hervor gehoben. Und zugleich ist der erhöhte
Steinbock das 1. Haus der individuellen Genitur Rudolfs, und
Wassermann, die andere Präsenz des inhaltlichen Saturn, ist völlig
in dem ersten Haus nach dem System des Regiomontanus
enthalten.
Man sieht hier also starke Präsenzen der Zeichen des Winters
verbunden mit den venerischen Signa Österreichs und der
Schweiz, die wiederum dem Haus Habsburg entsprechen können.
Zugleich gehört Wien zu Waage, „Pannonien“ zu Stier. Dieses
dürfte die „stärkste“ Zeit des Kaiser Rudolf II. bedeuten; zugleich
ist visionär angesagt, es werde zu dieser Zeit eine wesentliche
(saturnine) Macht in topographische Zusammenhänge der
inhaltlichen Venus übertragen, „die weit reichend ist, bis über das
All hinaus, zugleich eine Herrschaft der harmonischen geistigen
Komplexion in der Immanenz darstellt“. Zugleich ist das enthaltene
116
Zeichen Jungfrau verbunden mit dem 11. Haus der kompositen
Darstellung: hier zeigt sich also auch der zyklische Saturn in dem
11. Abschnitt des kompositen Bildes, gleichzeitig wiederum
verbunden mit dem mundanen elften Haus, Wassermann. So zeigt
sich hier plötzlich wieder die sehr intensiv miteinander verwobene
Bedeutungsstruktur, die anscheinend Michael Nostradamus zu
seinen akzentuierten Vorhersagen verhilft: „hier kann man in seine
Werkstatt blicken“, hier werden Signa und Symbole visionär
anordenbar und auswertbar. Zu den allgemeinen astrophilen
Parallelitäten tritt hier das Wort über die Bedeutung zyklischer
„Spitzen, Hügel, Kulminationen oder Exaltationen“ für eine
„christliche Welt“. Vermutlich hängt dieses Adjektiv mit dem
harmonischen Charakter des zeitlichen Themas zusammen.
11. Schütze
10. Skorpion 9. Waage
8. Jungfrau
Venus
Saturn/2
Merkur/1
12. Steinbock
7. Löwe
Merkur/2
1. Wassermann
Apside des Wassermann
Saturn/1
2. Fische
6. Krebs
(Jupiter)
3. Widder
4. Stier
5. Zwillinge
Sonne, Jupiter, Mond
Mars
Man beachte hier die Stellung der Venus in 10.. Sie hat zu beiden
Aspekten des Saturn Sextil. - Jedoch ist Venus in 10. auch ein
kritisch zu bedenkendes Zeichen. - Es sind zwei gefüllte
117
Triplizitäten vorhanden, der Luft und der Erde: bereits dieses bietet
eine Vielzahl an Trigonen.
11. Skorpion
10. Waage
9. Jungfrau
Venus
Merkur/1
Saturn/2
12. Schütze
8. Löwe
7. Krebs
(Jupiter)
1. Steinbock
Andere Möglichkeit der
Führung durch inhaltlich
Saturn
Merkur/2
2. Wassermann 3. Fische
Saturn/1
6. Zwillinge
Mond
4. Widder
5. Stier
Sonne, Jupiter,
Mars
Es zeigt sich wieder eine mehrfache konzentrierte symbolische
Mitteilung. Man kann auch Stier oder Waage oder Jungfrau oder
Zwillinge zum Aszendenten machen: in dieser Zeit sind die
topographischen Entsprechungen dieser Signa begünstigt,
darunter auch England („London“, zu Gemini). Der Vorrang der
„Leitung“ aller Entsprechungen gebührt aber nach dem
seherischen Wort Rudolf und seinen Ländern: für ihn spricht
anscheinend die Mehrzahl der „himmlischen Mitteilungen“.
Danach geht der Arzt und Astrologe noch auf das 12. Haus ein:
Rudolfs Feinde werden schwach sein (12.). Schließlich folgt der
zusammenfassende Satz: "dieses alles sind sehr sichere Zeichen".
Man kann sich fragen, wie eine Vorhersage wie „die Übertragung
der universellen Monarchie der christlichen Welt“ dazu gehören
kann: und dieses ist nur eine Aussage unter sehr vielen.
118
11. Kapitel: Der Glückspunkt und neue andere
Zeichen
Es beginnt nun der dritte Teil des Horoskops. Die Kapitel IX bis
XXVI besprechen die entwickelten Aussagen in allen Details. Das
Vorgehen wandelt sich: ausgehend von den Planeten und Punkten
in der Reihe ihrer Würde folgt eine Durchnahme des gesamten
Geburtsbildes: dabei ergeben sich Modifikationen bereits
gefallener Aussagen.
Dazu Beispiele: durch Saturn im zweiten Haus sei eine Mäßigung
des materiellen Erfolges zu erwarten (Kap. IX); durch "Mars in 6"
würden viele Krankheiten angezeigt (Kap. XIII) - in dieser
Signifikation befänden sich viele Anzeigen, "die nicht königlich
wären". Bereits diese zwei Deutungen zeigen eine Nähe zu der
gängigen Astrologie: es ist zu fragen, warum Solches erst ab dem
IX. Kapitel erfolgt – daraus ist ablesbar, wie weitgehend anders
aufgefasst die Gestirnkunde in den ersten acht Einheiten ist.
Der Tod des Nativen werde unter großen Ehrungen geschehen
(Kap. XV); es werde ein Verlangen nach der Magie angezeigt
(Kap. XVI); der Native werde viel Freude mit Frauen haben (Kap.
XVII); er verfüge über eine große Sprachbegabung, die sich erst
langsam entwickele (Kap. XIX); sein Geist sei beweglich, und er
besitze viele Freunde (Kap. XX); der Native verfüge über ein
großes Können in der Zähmung von Tieren (Kap. XXI); er habe
eine Vorliebe für "kleine Mädchen" (Kap. XXII). Diese Mitteilungen
119
folgen nicht der gängigen Ordnung der Häuser: sie hängen wohl
mit den jeweiligen Signifikatoren und deren Durchsprechen
zusammen.
Diese Passage abschließend geht Michel Nostradamus noch
einmal auf das wesentliche Zeichen "Saturn als Herr des
Aszendenten" ein. Er rahmt die detaillierenden Aussagen noch
einmal durch das Aufgreifen der bereits besprochenen
allgemeineren und guten Anzeigen dieses Planeten.
Den Schlusspunkt dieses Teiles setzt die Besprechung der Lage
des Glückspunktes. Michael Nostradamus führt aus, er habe ihn
nach den "ältesten Methoden der Chaldäer, Babylonier und
Ägypter" berechnet, und nicht, wie es Claudios Ptolemaios
vorschlägt. Er kommt noch einmal zu einer entschiedenen
Vorhersage des Königtums für "diesen Knaben" - "das ist ein
zukünftiger König" - "er wird nichts ohne großen Belang tun". Und
da der Native so sehr von Glück begleitet sei, werde sich "sein
Reich von Tag zu Tag mehren" und er werde in den "Chroniken
einen großen Namen besitzen".
Das Zitieren der antiken Schulen der Gestirnkunde erinnert an das
Zitieren des „Hermes“, einige Kapitel vorher. Es ist nicht zu
eruieren, welche speziellen antiken Bücher oder Autoren damit
angesprochen sind. A. Bouche-Leclerq91 erwähnt solche Quellen
nicht, er zeigt ausgeführt die Methode des Manilius und des
Ptolemaios zur Bestimmung dieses Punktes: dabei werden der
Abstand der Sonne und des Mondes je nach Tages- oder Nachtzeit
von Aszendenten her angetragen. Wendet man nun diese Methode
auf die Zyklen des Michael Nostradamus an, dann erreicht man mit
„Sonne in Skorpion“ und „Mond in Schütze“ für eine Taggeburt
91
a. a. O., S. 288 -294.
120
einen Abstand von 30°. Vom kollektiven Aszendenten Scorpio
angetragen erreicht man damit auch wieder das Zeichen Skorpion,
d. h. eben den Ort, den Nostradamus auch für das Horoskop des
Rudolf wählt. Ist es damit nötig, so ausführlich auf alte Autoritäten,
die kaum zugänglich sind, zu verweisen?
Zu fragen ist weiterhin, wie Michael Nostradamus auf die von ihm
angegeben „17° Skorpion“ des Glückspunktes kommt. Am ehesten
hängt dieses vielleicht auch mit der Dauer der Schwangerschaft
zusammen. Man kann dabei vom Zeitpunkt des Zyklusbeginns aus
rechnen, dann hat man 280 bis 282 Tage, oder man rechnet vom
Zeitpunkt der Empfängnis aus, dann hat man 266 oder 267 Tage.
Die Sonne steht am 31. Oktober 1551 bei 17° Skorpion: man
kommt bis zum Tag der Geburt des Rudolf, dem 18. Juli 1552, auf
261 Tage. Ganz befriedigen kann diese Annäherung nicht: gibt es
nicht doch noch ältere und relativ sichere Annäherungen an diesen
Punkt?
Untersuchen wir zuerst den Ort des Glückspunktes nach der
gängigen Methode, z. B. nach Manilius. Zur Zeit der Geburt des
Rudolf steht die Sonne bei 4°53´ im Löwen, der Mond bei 20°7´ in
den Zwillingen. Von der Sonne bis zum Mond sind 315°14´: vom
Aszendenten an gerechnet erreicht man 4°23´ Schütze. Damit läge
der Glückspunkt an einem eigentlich otimalen Platz, in 11. „in
gutem Geist“, bei „Freunden“, im recht genauen Trigon zu
Jupiter/Sonne: doch die weiteren Aspektierungen sind nicht gut, es
gibt ein nahezu exaktes Quadrat zu Saturn und eine doch
deutliche Opposition zu Mars/Mond. Hat Michael Nostradamus hier
die Aussage „geschönt“, in dem er einen begünstigteren Punkt in
der aquatischen Triplizität wählte? Suchte er die Bedeutung des
enographischen Mondes in Schütze zu meiden – vielleicht weil ab
121
1574 der Mondzyklus die Koinzidenz Zwillinge gewinnt, damit eine
„Opposition des Volkes“ anzeigt? Und ab 1584 träte der zyklische
Saturn in seiner „verborgenen Präsenz“, mit Jungfrau, in eine
Quadratur zum Glückspunkt, aus dem 8. Haus, aus dem Haus der
„Furchtanwandlungen“? Und ab 1606 tritt der zyklische Mars in
eine Qualität der Zwillinge, mit weiterer Opposition durch Mars?
Suchte Nostradamus sich vor den Konsequenzen dieser Zeichen
zu schütze, indem er diesen Punkt um ein halbes Zeichen
„verlegte“?
Berücksichtigt man dieses, wird umso erstaunlicher, wieso er
gerade mit seiner alternativen Methode der Bestimmung des „Sort
de la Fortune“ zu so entschiedenen Aussagen kommt wie: "das ist
ein zukünftiger König" - "er wird nichts ohne großen Belang tun" und da der Native so sehr von Glück begleitet sei, werde sich "sein
Reich von Tag zu Tag mehren" und er werde in den "Chroniken
einen großen Namen besitzen". Wird hier eine positive Zukunft
geradezu heraufbeschworen, in der Installierung einer
„selbsterfüllenden Prophezeiung“ im Glauben des Nativen an sich
selbst?
Und nun eine zweite Überlegung zum Ort des Glückspunktes bei
Rudolf, im Bezug zu zu dem bereits ermittelten Zeitpunkt einer
vermuteten Empfängnis des Nativen. Dabei sieht man, wie Michael
Nostradamus bei unsicheren individuellen Bedingungen zu
sicheren allgemeinen Umständen „greift“. Es gibt eine seit alters
bedeutende astronomische Methode92, um auf 17° Skorpion zu
kommen: am 31. Oktober erreicht die Sonne 17° Skorpion. Die
vorausgehende Syzygie, ein Neumond, findet in einer Begegnung
von Sonne und Mond am 29. Oktober statt. Der Neumond ereignet
Dargestellt in einem Artikel von O. Schrader: Die Sichtbarkeit der schmalen
Mondsichel bald nach Neumond; http://adsabs.harvard.edu/full/1905AN....168..319S
92
122
sich nach moderner Berechnung an dem genannten Tag um 7 Uhr
30 morgens, der Ort des Tierkreises ist 225°5´ - dieses ist der 16.
Grad des Skorpion. Für die Alten war aber die rechnerisch
ermittelte Zeit der Begegnung von Sonne und Mond nicht so
bedeutsam wie die erste Sichtbarkeit der Mondsichel nach dieser
Begegnung: denn mit dieser ersten Sichtbarkeit des Erdtrabanten
begann der Monat. Es begann also dieser Monat nach alter
Vorstellung nicht am 29. Oktober, sondern am 30.: denn es besagt
eine Faustregel, dass der Mond einen Tag nach dem
Neumondereignis wieder sichtbar wird. (Allerdings schwankt der
Zeitraum der Sichtbarkeit, je nach Bedingungen im Jahreslauf, von
knapp unter einem Tag bis etwa eineinhalb Tage.) Es beginnt also
das wesentliche allgemeine Zeichen „bei der Empfängnis“ am 30.
Oktober 1551, der Monatsbeginn, gleichzeitig der „Beginn eines
individuellen Lebens“ – und an diesem Tag steht die Sonne bei 17°
Skorpion93. Michael Nostradamus scheint hier neuzeitliches
medizinisches Wissen mit der alten Methode der Eröffnung des
Monats zu verbinden.
Allgemein ist zu diesem dritten Teil des Horoskops für Rudolf zu
bemerken: gerade in der Wiederholung des Durchganges durch
das Geburtsbild erstaunt das „iterative“ Verfahren: denn wieder
werden die Signifikationen durchgesprochen, dieses Mal aber in
konventionelleren Deutungen der Astrologie. Dabei geht es
weniger um eine Wiederholung von Inhalten: die Methode wirkt
eher wie ein erneutes und sich „zuspitzendes“ Tasten, auch wie ein
unermüdliches und hartnäckiges Insistieren, trotz immer wieder
unterbrochener Intentionalität. Dieses ist geradezu eine Metapher
In diesem Sinn kann man der Empfängnis und damit dem Glückspunkt jeweils die
nächstgelegene Mondphase zuordnen – Neumond, zunehmender Halbmond, Vollmond,
abnehmender Halbmond; für den Ort ist auch der Abstand von 266/267 Tagen zur
Geburt einzubeziehen.
93
123
für alles menschliche Bemühen: es scheint diese oft und oft
scheiternde Bemühen parallel zu stehen Beschränkungen der
Körperlichkeit, gehemmten Verfassungen des Verstandes,
Unvollkommenheiten des Ethischen und Unvollständigkeiten des
Handelns, und dieses lebenslang. Es gibt eine Ähnlichkeit der
Ansätze des Verstehens und des Worte suchenden Ausdrucks in
dem „Hinter-die-Oberfläche-der- firmamentischen-Figuren-Dringen“
mit den Defiziten menschlichen Schicksals, mit persönlicher
hinfälliger Verfassung und deren emotionaler und affektiver
Entsprechung, in Ermüdung, Verzweiflung, im Aufgeben und
Abfallen. In solchen Anmutungen „bewegt“ sich der Text zuweilen:
und als Leser fragt man sich ebenfalls immer wieder, warum noch
einmal angesetzt wird, und wieder, und erneut, und oft und oft, und
schließlich noch einmal, gerade so, als wäre keine hindernde
Erfahrung vorhanden, als bliebe der sanguinische Impuls trotz
alles gegenteilig Eingetretenen ungebrochen. Und letztlich entsteht
dann doch wieder jener Moment, den anscheinend diese
astrologische Methodik sucht: ihr Ziel und ihr anfänglich kaum
nachvollziehbarer Zweck scheint der „Gestaltschluss“, d. i. das
plötzliche Moment des Aufleuchtens einer umfassenden und auf
mehreren Reflexionsebenen sich zusammen findenden sinnhaften
Einheit, mit blitzartiger Einsicht in einem „Zusammen-Fall des
Ganzen“, im Formieren der zuvor unvollendeten und
fragmentierten symbolischen „Stücke“ im Sinne des „AhaErlebnisses“: „so muss es sein und nicht anders kann es sein –
das ist es“.
Unvermutet springt einen dann das Zusammenkommen der
Elemente in einem beglückenden „Erlebnistotal“ an, es kommt eine
hohe Evidenz, sie ist „kristallklar“, „die Schuppen fallen einem von
den Augen“, man „schaut“, und wie von selbst entsteht die dazu
124
notwendige Kommunikation der „gesehenen Idee“, es „murmeln
die Intuitionen“. Solche Momente kommen im Verlauf des Textes
des Horoskopes immer wieder vor: dann verändert sich plötzlich
auch der Ton, gerade so, als sähe man eine Person in ihrem
selbstbewussterem Gestus sprechen - es treten Anmutungen von
„Durchlichtung“ und „Transparenz“ ein.
Fühlt man, sieht man, begreift man dieses, rücken die zuvor
angerissenen und ansatzweise mitgeteilten üblichen
astrologischen Bedeutungen einige Ränge tiefer: dieses „Wort“
relativiert sich, und es wird zu einer „Stufe“, einem „Versuch“,
wesentlich zwar im Verlauf des Ganzen, darum nicht
vernachlässigbar, aber doch nur „vorläufiges Puzzleteil“, das in
dem Moment der „großen Einsicht“ zurücktritt, zu „Grund“ wird, und
Hintergrund ergibt für das Hervortreten „luzider Einsicht“ in den
größeren Zusammenhang. Wir werden in den nächsten Kapiteln
noch weitere Beispiele für diese Art und Weise „Astrologie“ zu
betreiben geben: dabei immer wieder die einzelnen Elemente der
Deutung benennen, aber schließlich dann doch auch jenen
anderen Sinn finden und entdecken, der alle die vorherigen
Elemente evident zusammen bringt und „erleuchtet“.
Und wie anders soll man es sich erklären, dass bestimmte
historische Faktizitäten, die mit den Gestirnen übereinstimmen,
hier zurückgestellt und zu Gunsten einer „andragogischen
Beratung und Begleitung“ des Rudolf umgedeutet werden? Warum
spricht Michael Nostradamus nicht über die so deutlichen
„Bedrphungen“ des Glückspunktes, wieso macht er sich die Mühe,
zu einem anderen Ort seiner Wahl zu kommen, und diesen auch
noch astronomisch tiefgründig zu sicher? Geschieht dieses
vielleicht doch aus jener höheren seherischen Kenntnis? Die bei
125
dem Provenzalen nicht, wie bei uns, mühsam in Iterationen
erworben werden muss, sondern „gleichzeitig“ mit „ersten
Eindrücken“ schon zu allgemein Gültigem vordringt? Im Sinne
einer großen Erfahrenheit in der Astrologie, der Astronomie, der
Medizin und der Lehre von Sympathie und Antipathie des All?
Oder genügen Nostradamus, wie uns, dafür auch allgemeine
ethische Erwägungen, die schließlich nur noch „hilfreiche“
Attributionen und Kommunikationen erlauben wollen?
126
12. Der Regierungsantritt und andere solarische und
jovialistische Bedeutungen
Ich bin mir nicht sicher, selbst wenn jemand die 1000 Seiten
Kommentar, die am Anfang dieser Einführung als nötig erachtet
wurden, geschrieben hätte, ob dann in ihm das Gefühl und die
Genugtuung entstehen könnte, er habe damit alle möglichen
Bedeutungen ausgeschöpft. Man kann dafür wieder jene Formel
anwenden, die wir für das Verständnis des Manierismus und der
„maniera moderna“ vorgeschlagen haben: es geht hier um
künstlerische und wissenschaftliche Produkte, die die komplexe
Vielfalt im schöpferischen Akt präsentieren wollen, zugleich ein
„Undurchschaubares“, ein „unendlich Reiches“, eine perplex
machende Fülle in „Identität der Polaritäten“ vor Augen führen
wollen, eine Art Abbild des polyvalenten Kosmos, der zur Suche
provoziert, der Antworten fordert, aber nicht gibt, der persönliche
Stellungsnahme und Steigerung des Bewusstseins erreichen will.
Alles dieses erkennen wir auch in der sogenannten „modernen
Kunst“.
Man kann in der Moderne, unserer siebten Weltzeit, seit der
Reformation und seit der Renaissance zwei Arten und Weisen der
„Information, Bildung, Sozialisation“ erkennen: auf der einen Seite
eine „technische“, wissenschaftlich eineindeutige, „utilitaristische“,
mit hoher Orientierung an dem „Machbaren“ in der materiellen
Welt: in diese Richtung entwickelt sich die akademische Forschung
Lehre immer weiter, und diese Haltung bestimmt Vieles in der Welt
127
in zunehmendem Maße – ja man könnte meinen, mit diesen
Attitüden versicherten sich Wissenschaftler, Politiker, ganze
Staaten und Staatsformen ihrer „Weltmächtigkeit“. Sie benehmen
sich dabei so, als wäre die andere Richtung „an die Wand zu
drücken“, „hinaus zu ellenbögeln“. Diese Richtung hat sich die
Bestimmung über die materiellen Ressourcen gesichert: sie
bestimmt die Wirtschaft, damit die Steuerung der Vermögen, sie
dirigiert die Finanzen, sie verfügt über die Etats. Ihr fürchterlicher
Satz ist: „wer zahlt schafft an“.
In der anderen Richtung ist wenig Geld vorhanden. Der Großteil
der Künstler und der Produzierenden bleibt „arm“: nur wenige
gewinnen Anteil an den Strömen, die den zuvor beschriebenen
Komplex „befeuchten und fruchtbar machen“. Die Verunsicherung,
die von Joseph Beuys oder von Dali oder von Nostradamus oder
von Dickens oder von Tolstoi ausgehen kann, d. h. in jenen
Momente, in denen das Individuum „befragt“ wird und
„herausgefordert wird“, im Fühlen der hohen Ambivalenz des Seins
oder in der Konfrontation mit der undurchschaubaren Fülle und
Rätselhaftigkeit des Erlebten oder in den gerne verschwiegenen
Momenten des Scheiterns, lässt man lieber „ungeschehen“ stehen,
man entzieht sich. Und die höchsten Möglichkeiten verwirklichte
jener, der beiden Aspekte leben könnte: das sind aber die
sogenannten „Genies“: und doch ist es unserer Zeit sehr
notwendig, gerade diese beiden Möglichkeiten im Auge zu
behalten, einerseits die rationale Suche, andererseits das
metaphysische Interesse, einerseits das technokratisch
formulierbare Axiom, andererseits die spiritualistische Indifferenz.
Es folgt in dem vierten thematischen Komplex des Geburtsbildes
nun ein weiterer Durchgang durch das gesamte Horoskop. Der
128
erste und zweite Teil, in dem die Bestimmung der "Herren" im
Mittelpunkt stand, entwarf ein allgemeines positives Bild; dabei
richtete sich der zweite Teil völlig nach dem bekannten
astrologischen Deutungssystem. Der dritte, eben behandelte Teil,
vertiefte diese Aussagen, ging jedoch – mehr im Detail - von
einzelnen Planeten und Orten aus; er fügte manches
Bedenkenswerte und auch Bedenkliches den Vorhersagen hinzu –
zugleich eröffnete er dem Kundigen einen kritischen und
reflektierten Umgang mit dem weissagenden Wort: denn es wird
sich doch niemand nehmen lassen, hinter die Fassade der
rätselhaften Aussagen zu dringen und nach eigenständigen
Lösungen zu fahnden. Der vierte Teil nun versucht die Zeichen
noch tiefer zu deuten: er wird dabei enigmatischer und dunkler. Die
Sprache wird assoziativer, streckenweise inhaltlich sprunghaft:
jedoch scheint (?) dieses alles geleitet von den Symbolen der
Gestirne.
Wie soll man Solches verstehen? Warum kam man zuvor ins
Gängige, nun wieder ins Enigmatische? Und wieder davor, in
einem Allgemeinen, konnte man kaum Hintergründe der
Gestirnkunde wahrnehmen? Wird allgemein, in diesen
„Lokomotionen“ des reflektierenden Verstandes, „Indifferenz“
gesucht, ein Auswiegen der Bedeutungspole, eine Verstärkung des
Mysteriösen, des Rätselhaften?
So berührt die Signifikation "Saturn im 2. Haus" (Kap. XXVII)
solche disparaten Themen wie: „riesiges Reich, schwierige
Eroberungen, Aufstände, Hindernisse bei der Eheschließung,
große Krankheiten, ein Schaden im Aussehen der Gattin,
Verschwörungen, Veränderung der Regierung in einem Teil des
Reiches“. Dazwischen wird geradezu ermutigend eingeschoben,
129
auch graphisch hervorgehoben: "Du wirst das römische Volk
regieren!"
Folgend unternimmt Michel Nostradamus erneut eine Vorhersage
des Regierungsantrittes Rudolfs. Er werde regieren, und zwar "mit
26 und 27 Jahren" ab "1577 oder 1578". Dazu sind folgende
historische Daten relevant: 1572 erhält Rudolf die Krone von
Ungarn, 1575, als übliche Voraussetzung der Kaiserkrone, das
Königtum über Böhmen; 1576 stirbt der Vater Maximilian – im
gleichen Jahr wird Rudolf zum Kaiser gewählt und gekrönt. - So
muss man sagen: es ist die Vorhersage des Michael Nostradamus
hier geradezu „brillant“, jeder Mathematiker und Astronom, der
dieses leistete, hätte damit allein schon riesige Repuation
gewonnen. Und im Zusammenhang der anderen eingetretenen
Vorhersagen ist damit schon eine recht überzeugende Fülle von
„Richtigkeiten“ erreicht: warum aber behandelt man dieses
Horoskop aber gerade so, als steckte es voller Irrtümer? Das
Gegenteil ist der Fall. (Wir vermuten aber, dahinter stecke die zu
starke Identifikation mit jener zuvor genannten „positivistischen
und utilitaristischen“ Weltsicht. Im Versuch der Gewinnung von
Teilhabe an immanenter Macht.)
Nun zu der Analyse wie Michael Nostradamus zu seiner stimmigen
Vorhersage gekommen ist. Es folgen nun jene Möglichkeiten, die
die Vorhersage „Regierungsantritt 1577 oder 1578“ möglich
machen können.
1. Es ist zu untersuchen, welche Gestirne in einem Abstand
von „26 oder 27 Grad“ voneinander stehen. Dieses wäre
eine Methode der einfachen Direktion. Dabei ist der Abstand
des Mondes zu Venus ähnlich, an die 25°, und der Abstand
des Jupiter zu Venus, 26° oder fast 27°.
130
2. Besieht man dieses, fällt auf, es befindet sich die
Konjunktion von Merkur und Venus exakt am
Deszendenten: beide Planeten umfassen diesen kardinalen
Ort, die venerische Bedeutung ist durch den neutralen
Merkur gemehrt, vielleicht mehr als „verdoppelt“. Venus ist
zudem Koherrin über Krebs bei Tag.
3. Löwe ist das kollektive 10. Haus: nach den Zyklen der
Gestirne steht Skorpion am Aszendenten, Löwe damit in der
Himmelsmitte, damit bei den Mitteilungen über „Königtum,
hohes Amt, Erfolg“. Löwe ist auch das Zeichen Roms, im
Klimat der Venus. Über Löwe herrscht bei Tag die Sonne,
bei Nacht der Jupiter.
4. Beide Herren der feuerigen Triplizität stehen in Löwe:
Jupiter und Sonne stehen in Konjunktion. Man muss so
unbedingt beide Planeten als Einheit nehmen, man muss
sie „zusammen verstehen“. So erkennt man erneut eine Art
„Verdoppelung“, wie zuvor bei der Konjunktion
Venus/Merkur.
5. Man kann nun auch die Sonne zu Venus dirigieren: sie
steht im Abstand von 20°: das bedeutet „hohe Würden“
bereits ab dem 20. Lebensjahr, d. i. konkret ab dem Jahr
1572. (In diesem Jahr erhält Rudolf die Krone von Ungarn:
damit beginnt der Einstieg in die höchsten Ämter.)
6. Zu der Konjunktion des Jupiter und der Sonne fügt sich
der Drachenkopf: das bedeutet „beste Beziehungen,
höchste soziale Anerkennung“ als weitere Aussage der
gesamten Konstellation in Krebs. Dieses sagt gleichzeitig
weitere große Erfolge für das 33./34. Jahr vorher, wenn man
131
wieder die einfache Direktion verwendet. (Man kommt damit
auf 1576/1577).
7. Löwe ist zugleich das 8. Haus vom Aszendenten aus:
man kann daraus ermitteln, als wären die eben genannten
Erfolge mit „gewaltiger Erbschaft“ verbunden, zugleich
natürlich mit einem Todesfall.
7. Man kann nun die Enographie für den Zeitraum des
Marszyklus 1574 bis 1589 heranziehen.
Sonne
Mond
Saturn
Jupiter Mars
Venus
Merkur
690:
Schütze
1555:
Krebs
1565/1566:
Skorpion/
Widder
1566:
Fische
1571/1572/
1573:
Steinbock/
Widder/
Steinbock
^
1555:
Stier
1574:
Krebs
1574:
Schütze
1574:
Zwillinge
1577:
Löwe
1578/1579:
Steinbock/
Krebs
1582:
Jungfrau
132
1584:
Fische/
1584/1584:
Jungfrau/
Wassermann
1585/1586:
/Wassermann
/Schütze
1589:
Stier
Man sieht nun, dass der zyklische Jupiter - „das große
Glück“ - ab 1577 für zwölf Jahre in Löwe „Platz nimmt“.
Löwe und Krebs, Krebs zugleich als Zielort der Direktion,
bei Venus, sind wiederum die führenden Zeichen dieser
Epoche. (Dieses bedeutet eine große Prosperität des
Römischen.) Zugleich findet die Steigerung des Löwen
genau ab 1577 statt: dort liegt die Exaltation der gesamten
Ära. - Für saturnine Entsprechungen bedeuten aber
Dominationen der inhaltlichen Lichter, Löwe und Krebs,
abträgliche Entwicklungen, in beiden Zeichen ist Saturn in
Vernichtung. - Man kann also für jovialistische Hintergründe
im Jahr 1577 einen Gipfelpunkt an „Vermehrung“ erkennen:
dieses dürfte Erhebliches zum Urteil des Sehers beitragen.
8. Man kann nun auch Saturn dirigieren, als den oftmals
genannten „Hauptsignifikator“ der Genitur: einerseits zu der
Opposition zu Sonne, Jupiter, Knoten, in der ersten Hälfte
des Zeichens Wassermann, andererseits aber aus seiner
133
Unverbundenheit mit diesem genannten Zeichen in eine
Verbundenheit, also aus Fische heraus in das
anschließende Zeichen Widder: Saturn „betritt“ diesen
Abschnitt des Tierkreises im „26. oder 27 Jahr“ des Nativen,
der Abstand zu Widder beträgt 26°50´. Dort gerät Saturn „in
Fall“, gewinnt aber im Trigon zu Löwe die maximale
Begünstigung für die eben entwickelten jovialistischen
Gipfelpunkte. Und dieses gilt individuell wie kollektiv, auf
genethlialogischer wie enographischer Ebene.
Aus allem diesen kann evident werden, wieso die Aussagen durch
Michael Nostradamus so entschieden vorgebracht werden.
Es folgen weitere Bedeutungen immer noch dieses Zeichens: um
1590 "große Bedrängnis durch die Barbaren, größer als je zuvor",
Tod der Gattin, Verluste durch "Mittelmaß". Auch dieses müsste
man nun wieder unter vielfältiger Perspektive untersuchen.
Wir bleiben dabei, die Enographie des folgenden Marszyklus
heranzuziehen: es steht z. B. die Gattin im Horoskop des Rudolf im
Zusammenhang des Zeichens Krebs. Rudolf hat 1590 das 38.
Jahr erreicht, der dirigierte Saturn gewinnt in Widder das Quadrat
zu Venus im Krebs. - Wir gehen der Signifikation nicht näher nach,
da sie faktisch nicht eingetreten ist. Es genügt ein Ansatz des
Verstehens. - Wesentlicher erscheint aber der Hinweis auf
„Mittelmaß“: es gehen die überragenden Anzeigen in dieser Zeit
nicht weiter, firmamentisch zeigen sich „Hemmungen“, einerseits
durch Direktionen des Saturn, andererseits durch neue kollektive
Bedeutungen, die die jovialistischen und solarischen Präferenzen
einengen, auch in „Bedrängnissen durch Barbaren“: dieses können
„Ungebildete“ der Umgebung sein, oder auch feindliche Völker, die
„barbarisch“ sich gebärden. 134
Dazu noch einmal und als einfache Lösung die Zyklen der Ära
1589 bis 1606.
Sonne
Mond
Saturn
Jupiter Mars
Venus
Merkur
1582:
Jungfrau
1584/1585/
1586:
Fische/
Wassermann/
Schütze
^
1555:
Stier
1574:
1584/1584: 1577:
Zwillinge Jungfrau/
Löwe
Wassermann
1589:
Stier
1589:
Krebs
1590:
Stier
1591/1592
/1593:
Steinbock/
Zwillinge/
Fische
1598:
Skorpion
1598:
Steinbock/
1599:
/Waage
1601:
Stier
1604/1605/
135
1606:
Wassermann/
Stier/
Wassermann
1606:
Jungfrau
1606:
Zwillinge
Das Profil für 1590 sieht so aus:
Stier
Zwillinge Jungfrau/
Wassermann
Krebs
Stier
Stier
Fische/
Wassermann/
Schütze
das ergibt für dieses Jahr folgende astrologische Architektur.
Merkur: Fische/Wassermann/Schütze
Saturn: Jungfrau/Wassermann
Mond: Zwillinge
Jupiter: Krebs
Sonne: Stier
Mars: Stier
Venus: Stier
-
Man sieht eine Steigerung von inhaltlich Jupiter: Schütze und
Fische sind aber widrig durch Jungfrau und Zwillinge. Virgo
mindert auch Stier, „unten“. Wassermann bleibt verdeckt durch
Schütze; „darunter steckt“ auch noch Fische, und erhöht Stier nur
noch bedingt. Damit geht die Führung zu Krebs.
136
Krebs ist im individuellen Horoskop Rudolfs das 7. Haus, das Haus
der „offenen Feinde“. Diese gewinnen hier Aspiration. Zugleich ist
Schütze im Horoskop das 12. Haus, der „verborgenen Feinde“. Es
sind damit in der Figur des astrologischen Aufbaus bede
Präsenzen der „Feinde“ im Horoskop akzentuiert.
Zu der gleichen Bedeutung von 5. gehört auch die Anzeige „Ehe“.
Jupiter in Krebs, ab 1589, gehört dazu. Dieses ergibt folgendes
Thema für 1590:
11. Stier
10. Widder
Sonne, Mars,
Venus
9. Fische
8. Wassermann
Merkur/3
Saturn/1,
Merkur/2
12. Zwillinge
7. Steinbock
Mond
1. Krebs
Thema für das Jahr 1590
Jupiter
2. Löwe
6. Schütze
Merkur/1
3. Jungfrau
4. Waage
5. Skorpion
Saturn/2
Vermutlich muss man nun die Signifikationen des individuellen
Horoskops in Beziehung zu der kollektiven Genitur der Zeit stellen.
Damit käme der Aszendent in 7., die bedeutende Konstellation in
7., mit Jupiter/Sonne, käme in 2. - und dort in Opposition zu
gemehrtem Saturn in 8., ein Aspekt von „Lähmung“; die Anzeige
für die Geschwister, mit Zwillinge, Mars/Mond, käme in 12., mit
„verborgenem“ Quadrat zu Saturn. „Mittelmaß“ kann nun auch eine
Hemmung in der Erreichung von „Zielen und Anerkennung“ (10.)
bedeuten, mehr aber noch ein „konstitutionelles abbaissement“: es
137
liegen die Aspekte von Rudolf 1. Haus, mit Steinbock,
Wassermann und Fische, gruppiert um kollektiv 8.. Über das
allgemeine 1. Haus regiert zwar weiter Jupiter, aber bald folgen
Anzeigen des Falles von Jupiter, mit Steinbock und weiteren
hemmenden Andeutungen (formal Merkur, in umfassenden
inhaltlich jovialistischen und merkurialischen
Zusammenspannungen).
Dazu gezogen werden müssen eine Menge zeitlicher Angaben,
gestützt auf den Lauf Saturns durch den Tierkreis: es geht um
Transite dieses Planeten über individuelle und allgemeine
astrosemiotische Punkte. Sie bedeuten eine genaue Kenntnis der
Gestirnstände mindestens bis zum Jahr "1593".
Einen bemerkenswerten Einblick in die medizinischen
Auffassungen des Nostradamus liefert die Opposition Saturns mit
der Sonne beginnend am "29. März 1584": sie "droht bis in den
September". Um sich vor ihrer Kraft zu schützen, rät der
französische Arzt dem Kaiser zu "einem Bett aus Lorbeer".
1. Ein Merkurzyklus beginnt am 28. 3. 1584 (Fische):
Nostradamus bringt für dieses Jahr also einen
enographischen Hinweis, nahezu identisch mit dem von ihm
genannten Datum, „29. März 1584“. Die Abweichung ist
charakteristisch: sie kommt auch bei anderen zyklischen
Hinweisen vor. (Begründet kann diese Abweichung werden
durch den Lauf des Mondes, dem die Anzeige entnommen
wird: am 28. 3. läuft Luna noch in den letzten Graden des
Wassermann, und der Trabant tritt erst im Laufe des Tages
in das Zeichen Fische. Damit gibt das Datum „29. 3. 1584“
die Anzeige Pisces unzweideutig wieder: den ganzen Tag
bewegt sich der Anzeiger der kosmischen Symbolik, der
138
Mond, durch Fische94.) Fische ist aber der Ort des Saturn im
individuellen Geburtsbild.
2. Im Jahr 1584 eröffnet auch eine neue Saturnrevolution,
am 18. 4. und am 31. 12.: die Koinzidenzen sind Jungfrau/
Wassermann. Saturn in Jungfrau, ab dem Frühjahr, zeigt
nun eine Opposition zu dem Saturn in den Fischen. Erst im
Dezember wird dieses Zeichen Jungfrau „verdeckt“ durch
die zweite Anzeige, die den 29,5-jährigen Umlauf des
Saturn begleitet: Saturn überschreitet ja in diesem Jahr zwei
Mal 0° Widder, er „eröffnet seine Periode“ zwei Mal. Das
Zusammenwirken von Positionen des Saturn im
Geburtsbild, mit Hinzutritt des zyklischen Merkur (Fische),
und mit dem zyklischen Saturn, der für ein Dreivierteljahr
dazu eine „Opposition bildet“, kann ein Hinweis auf eine
Krisenzeit sein.
3. Betroffen sind dabei deutlich die Analogien des Merkur:
weiteres Quadrat und Opposition zeigen sich zyklisch in
formal Mond und formal Venus.
4. Fische wiederum steht im individuellen Horoskop zu
kleinem Teil „eingeschlossen“ in 1.. Es wird eine Nachricht
über einen „verborgenen“ Makel der Konstitution und der
Gesundheit gegeben.
5. Das Jahr 1584 ist das 32. Jahr des Rudolf. Man kann nun
nach der Methode der Direktionen nach einem Abstand von
32° schauen. Diesen sieht man am deutlichsten, wenn man
die Sonne 32° Grad von ihrem Ort bei 4°53´ Löwe „bewegt“
zu 7°10´ in Jungfrau: auf diesem Weg passiert die dirigierte
Dieses ist eine der Bestätigungen der ermittelten Zyklenlehre: es dürfte das genannte
Datum kaum anders zu erklären sein.
94
139
Sol bei 3°10´ Jungfrau die Opposition zu Saturn; sie erreicht
bei 7°10´ die Häuserspitze des 8. Hauses: dieses kann ein
Zeichen von „Furchtanwandlungen“, vielleicht vor
„Vergiftung“, sein.
6. „Ausgelöst“ wird die so entstandene virtuelle Konstellation
durch den Eintritt des zyklischen Saturn in Jungfrau: und
vorher und eben hier werden dem Nativen die Begleitungen
der „Opposition von Sonne und Saturn“ merklich.
7. Diese Opposition erscheint auch in der anderen
zyklischen Präsenz des Saturn, Wassermann. Ab 1584 hat
so die Sonne im Geburtsbild in Löwe eine lange
„Kontradiktion“ aus dem Aquarius, der völlig im ersten Haus
„eingeschlossen“ ist. Löwe und Wassermann stehen sich im
Tierkreis gegenüber: die grundsätzliche Antipathie zwischen
Saturn, mit Steinbock und Wassermann, und den Lichtern,
mit Löwe und Krebs, ist angesprochen.
8. Dort zeigen sich auch in der Konjunktion mit dem
Drachenkopf misslungene soziale Aktivitäten.
Hilfreich in der entstandenen Situation erscheint nun - aus der
medizinischen Sicht des 16. Jahrhunderts - ein "Bett" von
solarischer Qualität: "Lorbeer" gehört nach Agrippa zu den
Entsprechungen der Sonne95. Zu Sonne gehört alles, „was Gifte
und Blitze vertreibt und in dauerndem Grün nicht die Strenge des
Winters fürchtet“. Zur Sonne gehört auch das Metall Gold, „mit
herzstärkenden Wirkungen“, und unter den „humores das reine
Blut und der Lebensgeist“. Agrippa erwähnt auch Mittel, die
„Engbrüstigkeit beheben, die melancholischen Schrecken und die
95
I, 23.
140
Narrheit vertreiben“: man sieht hier deutlich, in welche Richtung
diese solarisch orientierte Therapie geht: dabei ist sicherlich das
Wort „Bett aus Lorbeer“ auch metaphorisch aufzufassen, im
Hinweis auf Stätten der Erholung in solarischen Analoga: eventuell
hat ein kundiger Arzt Rudolf auch zum Aufenthalt im Böhmen,
Entsprechung des Löwen und der Sonne, geraten, um das
melancholisch-saturnine Naturell aufzuhellen.- Dieser Abschnitt
vermag mit seinen Grundgedanken einen Zugang zu den an den
Sympathien orientierten Heilweisen der alten Humoralpathologie
zu eröffnen: man verwendete analoge Mittel, die Gefahr des
Ungleichgewichtes und der Dyskrasie aufzuheben. Erneut kann man hier erkennen, welcher hohe Aufwand betrieben
werden muss, um nur kurze Mitteilungen zu verstehen. Zugleich
erläutert sich noch einmal die Praxis der Vorhersage: diese wird
entschieden und greift zum Urteil, wenn auf mehreren Ebene der
Gestirnkunde Hinweise zusammen fallen, die gleichsinnig und
relevant zu den jeweiligen Orten und „Sternen“ befunden werden
können. So ergänzen sich die beiden Techniken, der
Genethlialogie, der Enographie, sie korrigieren sich, sie bereichern
sich, und es kann in ihrem „Zwiespalt“ ein Moment der Inspiration
gefordert werden und aufscheinen. - Daraus kann man nicht
unerhebliche Maßgaben für deine Theorie der Prädiktion ableiten:
ihre Grundverfassung ist keine positivistisch gerichtete sondern
eine mehrseitig offene. Ein Training des Intellektes im Sinne einer
„einzigen materiell fassbaren Wahrheit“ verunmöglicht die Intuition:
wir erblicken die Wirkungen nunmehr auf allen Ebenen der Person,
ihrer Beziehungen, der Gesellschaft und der Staaten
untereinander. Und wo bleibt der Ruf nach zumindest versuchter
„Universalität“, oder einem „Dialog der Wissenschaften“? -
141
Ein weiteres langes Kapitel berührt die "Signifikation Jupiter im
Löwen" (Kap. XXIX). Beispielhaft seien noch einmal die berührten
Themen aufgezählt: viele Arbeit und Bedrängnisse "von allen
Seiten", Triumphe in den achtziger Jahren, Sexualität; dann folgen
Deutungen von Direktionen über Auseinandersetzungen innerhalb
des Reiches. - Es wird bereits an diesen beispielhaften
Ausschnitten deutlich, welche Fülle an Information in diesem
vierten Teil des Horoskops verborgen ist. In den folgenden Kapiteln werden teils bekannte Zusammenhänge,
z.B. die königliche Konstitution durch die Sonne im Löwen (Kap.
XXXI), das Erbe des großen Reiches im Zusammenhang der
Signifikation der Sonne (Kap. XXXIV), die Vorliebe für Kunst und
Luxus (Kap. XXXV) angesprochen. Hinzu kommen aber auch
neue, z.B. ungehemmte Libido und Wankelmut (Kap. XXXVI),
vermutlich eine Hypothese der zeitgenössischen Psychologie,
weiter Strenge und Vorliebe für das Militär (Kap. XXXVII),
schließlich auch noch die "Begleitung durch viele Kurtisanen"
(XXXVII). Doch ist hier die Aussage zuweilen so allgemein, dass
man sich fragen muss, ob hier noch über die Person des Nativen
gesprochen wird: diese Praxis des Verlassens des Individuellen
und des Einstiegs in Allgemeine und übergeordnete Aussagen
kehrt auch in anderen Prognostiken des provenzalischen Visionärs
wieder: es ist ein Verhüllungspraxis, die hohe Anforderungen an
eine scheidende Vernunft stellt, um die verschiedenen Ebenen
voneinander zu trennen.
142
13. Einige Hinweise auf die zukünftige Geschichte
Deutschlands?
Verfasst man solche „Einführungen“ in die Werke des Michael
Nostradamus – und dieses geschieht dem Autor nunmehr seit über
30 Jahren – hat man nach einiger Zeit immer wieder den Eindruck,
als habe man sich von den Texten der Quelle entfernt, als sei man
in eine im Lauf der Arbeit in immer größere Distanz zu ihren
Inhalten geraten, und dieses oft noch mehr, je intensiver man sich
auf scheinbar nahe liegende parallele philologische oder
historische Erklärungen eingelassen hat. Es erscheint der
eigentliche Inhalt der Dokumente immer wieder wie „entglitten“,
und selbst wenn man sich vergewissert, es gehöre dieses zu
derem eigentlichen geistigen Wesen „unfassbar, ungreifbar,
unergründlich“ zu bleiben, bleibt doch ein uneinfühlbares
Mysterium zurück, eine Rätselhaftigkeit, vor der man resignieren
könnte. Geht man aber nach einiger Zeit solcher „entfremdeter“
Arbeit zurück zu den Quellen, dann erscheinen sie plötzlich
„vertrauter, stimmiger, selbstverständlicher“.
Man kann daraus folgenden Schluss ziehen: es gibt kein
Weiterkommen im Verständnis der Texte in den abgeleiteten
Darstellungen, in einer Art „Sekundärliteratur“, es gibt aber ein
eindeutiges Fortschreiten im Verständnis der Urtexte selbst, auch
wenn dieses nicht unbedingt – über die genannte „zweite
Schiene“, also schriftliche Niederlegungen eines nachfolgenden
Autors – authentisch dokumentierbar ist. Man muss sich dabei nun
143
fragen: ist das vielleicht so gewünscht? Gibt es nicht doch auch
andere Literaturen, die sich einem abgeleiteten Verständnis
entziehen, letztlich aber doch zur Person des Lesers und seinem
Wesen sprechen? Und ist dies nicht bei der meisten künstlerischen
Produktion so? Und gerade in der modernen Kunst? Wobei man
sich bei dieser eher damit bescheiden kann, die Intentionen des
Produzenten gar nicht ausschöpfen zu können. Und würde einem
der Künstler selbst sein Werk erklären, wendete man sich nicht
unwillig ab, gerade wie in einem Wissen, er könne ja selbst gar
nicht wissen, aus welchen Motiven, inneren Strukturen und
unbewussten Intuitionen und Inspirationen sein „Gebilde“
entstanden ist... .
Wenn nun dieses bei einem Michael Nostradamus Absicht ist?
Jeden Ansatz einer Interpretation, jeden „Haken“, den ihm die
Intelligenz zuwirft, aus dem weg zu gehen? Und so einem Gesetz
des Geistes zu folgen, das jenseits allen Positivismus und aller
aufklärerischer Reflexivität stehen kann, und einem quellenden
Kosmos universellen Wissens entspringt? Anscheinend begegnen
so erneut die beiden Pole, die unser gegenwärtiges Welt- und
Wissenschaftsverständnis begleiten: einerseits jener Haltung, die
alles erklären kann, alles technisch bewerkstelligen kann, wenn
man nur alle Elemente richtig zusammen setzt – und andererseits
jenem Anspruch, der Mensch stehe in einer unendlichen und
unerschöpflichen Fülle, in abertausenden ungelöster Fragen, vor
einem mit seinen „kleinen“ Mitteln kaum begreifbaren Kosmos. In
der Wissenschaftstheorie begegnen sich so Popper und
Feyerabend, einerseits die rationalistischen Logiker, andererseits
die chaotisch arbeitenden Kreativen: nun muss man weiter
überlegen, wo die Wurzeln dieser Haltungen stehen, was sie
bedeuten, und wie diese in die Zukunft zu extrapolieren sind. Ringt
144
unsere Zeit tatsächlich so um die mystische und metaphysische
Dimension und andererseits um die technische und materielle?
Und was hat sich nun im Verlauf der letzten 500 Jahre in diesen
Belangen geändert, haben sich die Gewichte verschoben?
Zurückgekehrt zu Michael Nostradamus kann man folgende
Phänomenologie beschreiben:
1. Er schöpft aus einem geistigen Bestand, der nicht
unbedingt erschließbar ist.
2. Er trägt selbst dazu bei, seine Kenntnis zu „verhüllen“,
weniger aus Angst (vor der Inquisition u. a.), sondern in der
Abbildung einer wesenhaften Struktur des Seins.
3. Die Texte sind so gestaltet - „indifferent“ - dass sie
positives Wissen verhindern: und doch haben sie einen
eindeutigen „andragogischen“ Sinn, nämlich das
Individuum, das sich mit ihnen beschäftigt, von Frage zu
Frage weiter zu führen.
4. Die Antwort auf die Fragen liegt nicht in irgendeiner
Erkenntnis, sondern in dem eingeschlagenen Weg des
Selbsts – also völlig individuell, ohne allgemeine
Verbindlichkeit, aber in hoher Verantwortung für das
Entstehende.
5. Ist dieses ein anderer Weltentwurf? Sehr
individualistisch? Geradezu gegensätzlich zu jenen
pädagogischen Impulsen, die unsere Zeit leiten, alle
bestimmen wollen, Macht gewinnen, Reichtümer, und
Völker unterjochen? Ist es tatsächlich so, dass hier
„Freiheit“ entsteht, abseits von aller Institutionalisierung, von
145
allem Gruppendruck, von vielen verbindlichen Normen der
Gesellschaft, aber doch hoher Ethik verpflichtet?
6. Wie anders sol sich ein „Reich des Geistes“ voraus
bilden? Es darf doch nirgendwo für Macht plädieren, für
geistiges und emotionales bestimmen, für sogenannte
Führung und Sozialisation?
7. Müssen wir hier ganz anders denken und deuten lernen?
Es folgt der letzte Teil des Horoskopes, beginnend im Kapitel XLV.
Erneut wird das gesamte Geburtsbild durchgenommen: und hier
wird nun erstmals von den Aspekten der Planeten untereinander
ausgegangen.
Dazu Beispiele: das Sextil Mars/Merkur bedeute "Klugheit,
Schläue, überlegene Feinheit des Geistes, Interesse an den
Wissenschaften, an der Kunst der Strategie, an der Reitkunst, an
den verborgenen Wissenschaften, Beredsamkeit, vor allem in der
aufmunternden Rede an die Soldaten".
Oder das Quadrat Saturn/Mars bedeute "alles vorher Gesagte
werde gemindert, es drohen große Verluste, es gibt Widrigkeiten,
Hinderungen, Krankheiten" usw.. Solche Mitteilungen stehen ganz
in gängigen Kontexten der Astrologie.
Und noch einmal kommt die ganze Fülle des Horoskops und aller
seiner Signaturen in geradezu erschöpfender Ausführlichkeit zum
Tragen. Stellenweise scheinen Sätze eingestreut, die den Rahmen
des individuellen Horoskops verlassen: und vollends erreicht wird
vielleicht in Teilen „prophetische“ und allgemeingeschichtliche
Ebene im letzten Kapitel, Nummer XLVI. Michael Nostradamus
nutzt die Beziehung der Planeten und einiger Punkte zu gewissen
146
Fixsternen zwar noch für individualastrologische Aussagen, doch
er behandelt eventuell auch die zukünftige deutsche (und damit
auch europäische) Geschichte.
Vermutlich bedacht ausgewählte Sterne und Konstellationen des
Horoskops werden nun zur Folie für weit führende Vorhersagen.
Dieses Vorgehen ist dem bekannt, der mit seinen Texten vertraut
ist: er verwendet solche Textgestaltungen in ähnlicher Weise an
anderen Orten seines Werkes, z. B. in Relationen von
vorhersagenden Texten zu astronomischen Vorgängen in den
Horoskopen für Vierteljahre, oder in „Einschreibungen“ von
stenographischen Notizen aus seinen längeren Vorhersagen in die
Monatstage seiner Kalender. Oder auch Gedicht, die über
bestimmte Monaten seiner Lebenszeit zu stehen kommen,
gehören wohl eher zukünftigen Ereignissen, die mit verwandten
astronomischen Daten zusammen gehören. Man muss davon
ausgehen, dass alle solche „Adaptationen“ - also „Anpassungen“
von Texten an Vorgänge am Himmel96 - nicht zufällig geschehen,
sondern dass sie astronomischen Ereignissen korrelieren, und
diese astronomischen Vorgänge auf aktueller Ebene wiederum
den zyklisch ermittelten Daten der Geschichtskonstruktion der
Zukunft entsprechen.
Am Beginn des 45. Kapitels erwähnt Nostradamus einen "Stern
vierter Größe von der Natur Saturns und Merkurs". Dieser treffe
sich unter bestimmten Bedingungen mit einem "Stand der Sonne
Auch in den „Die Prophezeiungen“, 1568, Vorrede B: dort sind lange Reihen von
Vorhersagen in Prosa möglicherweise an die Schritte der Saturn- und der
Jupiterrevolution angepasst. Die weissagenden Gedichte der „Prophezeiungen“ können
dazu im Zusammenhang der Marszyklen gegliedert sein. Alles dieses kann der Satz 64
der besagten Vorrede B meinen: „Wie alle diese Figuren durch göttliche Wissenschaft
genau angepasst sind an die himmlischen Vorgänge, wird deutlich sichtbar durch
Saturn, Jupiter und Mars, verbunden mit den anderen: und dieses kann man in einigen
Vierzeilern mehr als offenkundig erkennen.“
96
147
im Zenith". Er zeige "Nachdenklichkeit, Melancholie, und zugleich
wunderbaren Fleiß, Einfallsreichtum, Gelehrsamkeit, Weisheit,
Wahrheitsliebe" an. - Dieses kann sich noch auf die Person des
Rudolf beziehen, es ist aber auch möglich, dass andere und
zukünftige Ereignisse gemeint sind: es sind die Bedingungen
dieser Mitteilung im Unklaren gelassen. - Der gesuchte Stern ist
am ehesten Delta Cancri, ein Stern vierter Größe, im Sternbild
Krebs. Dieser Stern befindet sich exakt auf der Ekliptik, damit mit
besonderem Bezug zum Lauf der Sonne im Jahr. Die Sonne
berührt diesen Stern am 7. August des Jahres; er steht heute bei
ca. 10° im Tierkreiszeichen Löwe. - Die Weissagung kann sich auf
eine Person beziehen, in derem Geburtsbild individuell oder
kollektiv die Sonne im Löwen findet; in dem überindividuellen Bild
befindet sich dann der Aszendent in Skorpion. Dann geht das Wort über in einen allgemeineren und eher
entfernteren zukünftigen Zusammenhang: es werde im "Königreich
Böhmen einen religiösen Streit geben", begleitet von "großer Dürre
und extremer Hitze". Es ist sogar ein Jahr angegeben, aber es ist
offen, wie dieses zu deuten ist, denn dieses ganze Kapitel ist
hochgradig rätselhaft: vermutlich folgt der Visionär unbekannten
Strukturen einer „Adaptation“. - Anscheinend liegt die Region
Böhmen „zwischen“ topographischen Konzentrationen künftiger
religiöser Entwicklung, vielleicht einerseits „konservativer und alter“
andererseits „fortschrittlicher und neuer“ Auffassungen. Dieses
kann mit den geschichtlichen Synchronizitäten der langen „achten
Sphäre“, in der der zyklische Mond im Zeichen Widder steht, einer
Entsprechung des östlichen Europa, zusammen kommen: dort
sind in der so sehr langen lunatischen Weltzeit immense
Begünstigungen vorhanden. Es kann jedoch sein, dass diese
148
Auseinandersetzung noch vor dem im nächsten Absatz erwähnten
Zeitpunkt geschieht. In solcher rätselhaftes Weise geht es nun über viele Seiten weiter.
Einige Abschnitte weiter heisst es für eine Zeit, in der "Mond im
Aufgang stehe" – das bedeutet nach der Geschichtskonstruktion
ab dem 23. Jahrhundert nach Christus -: es gebe viele
"Wanderungen... der Feind ist noch nicht gekommen, hat aber
eine riesige Zahl von Menschen geschickt. Es kommt der völlige
Ruin, die Zerstörung der Edelsten, der Vornehmsten und
Herausragendsten... es entsteht großer Verrat und Hinterlist... man
macht eine endlose Chose von Neuheiten, Gesetzen, neuen
Proklamationen, neuen Edikten und dann überhaupt nichts mehr,
die Zeit ist sehr schlecht, trügerisch und wirr". – Das bezieht sich
mit Sicherheit nicht mehr auf die Zeit Rudolfs: das Wort führt recht
weit in die Zukunft der geschichtlichen Vorstellungen des
Visionärs, an die achthundert Jahre nach seiner Lebenszeit, in
jene beginnende Endzeit „des achten Zeitalters“, die nach Michael
Nostradamus durchgehend eine Zeit der Instabilität und des
Verlustes der Orientierung und der militärischen
Auseinandersetzung ist, die zugleich aber an ihrem Ende eine
Reinstallation bewährter Institutionen bringt, für die nächste, die 9.
Weltzeit, ein „Zeitalter des Saturn“, die „Tausendjährige
Friedenszeit“ der Geheimen Offenbarung: dieses sind von Michael
Nostradamus in seine astrologisch bestimmte Geschichtsschau
hinein gearbeitete Vorstellungen des Joachim von Fiore („Reich
des Geistes“) und der Franziskaner-Spiritualen. Vor allem die
Herausgabe von „Edikten“ ist charakteristisch für die eingetretene
Endzeit, Ähnliches bringen auch andere weissagende Gedichte:
wollte man von heutigen Erfahrungen ausgehen, müsste man
zugespitzt sagen, es entstünde ein Verlust des Rechtsempfindens
149
mit der Auflösung der von einem Grundgesetz formulierter
Normen, wenn man zu einem Rechtssystem von „juridischen
Fällen“ übergehe, die letztlich dazu führen müssen, für jeden
neuen Straftatbestand ein „neues Gesetz“ herausgeben zu
müssen. Gerade im Bereich der Religion hat man mit
Gesetzhaftigkeiten, die christlichem Geist überhaupt abträglich
sein können, keine guten Erfahrungen gemacht. - Alles diese kann
dann Symptom einer Zeit sein, die zuerst „alles regeln“ will, dieses
aber nicht schafft und durchhält, weil zu viel im Argen liegt und das
allgemeine ideelle Fundament abgeschmolzen ist, alles dieses
kann Vorausverkündigung einer Zeit sein, die dann resigniert, „gar
nichts mehr tut“.
Der letzte der 13 Absätze dieses Kapitels bringt eine Vorausschau
auf den "völligen Ruin und den Niedergang der römischen
Religion, genannt papistisch oder evangelisch"; "niemand ergreife
mehr einen religiösen Beruf"; "es sei eine sehr schlechte Zeit";
"der Stier stehe in sechs". Aber nach "Pest, Hunger und
Täuschung werde der Teufel des Westens und Nordens ein wenig
befriedet". - Dieses geht noch weiter in die Zukunft und in eine
baschätzige Bewertung der danach folgenden Zeiten hinein. Die
Auflösung der christlichen Grundlagen des Nordwestens der Welt
thematisiert Michael Nostradamus auch an anderen Stellen: er
spricht davon, in dem kommenden achten Zeitalter „würden sich
die Feinde Jesu Christi stark vermehren“97. In dieser kommenden
„Endzeit“ sieht er „Finsternis“ und „Abstieg“, nahezu als wäre die
„Schwerkraft der Erde verloren gegangen“98.
Das Wort von der „römischen Religion... genannt papistisch oder
evangelisch“ eröffnet wieder auch einen geweiteten Horizont für
97
98
Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 7.
s. o., Satz 63.
150
eine Klärung der Einstellung des Michael Nostradamus zu den
religiösen Fragen und Auseinandersetzungen seiner Zeit. Indem er
weit in die Zukunft blickt, werden ihm die Auseinandersetzungen
seiner Gegenwart vernachlässigbar, er vereint die „papistischen
und evangelischen“ Kontrahenten in einer „römischen Religion“.
Das sind wahrlich bedeutsame und ungewöhnliche
Begriffsbildungen, die weit hinein leuchten in eine Zukunft, in der
das „Religiöse“ unter einem Diktat des Mittelmaßes, „des
Gemeinen“99, des Antipathischen, sich einen könnte und der
Nordwesten der Welt seine vormaligen Antagonismen vielleicht in
schwerer Prüfung überwinden kann.
Es sei nun noch einmal und abschließend vorgestellt, wie
ausführlich und vertieft die Vorstellung „Stier in sechs“ zu
behandeln wäre, um zu einer gültigen Interpretation zu kommen.
1. Die Symbolzahl „sechs“100 wird von Michael Nostradamus
an den bedeutendsten Stellen seiner
Geschichtskonstruktion verwendet. So ist ihm gerade die
Zeit nach Jesus Christus bis zu jenem erwähnten „Reich der
dritten göttlichen Person“ von solchen Hintergründen
gezeichnet, die Offb 13, 18 entwirft.
2. Im astrologischen Zusammenhang ist der sechste Tag der
Schöpfung, an dem der Mensch erschaffen wird, Venus
zugehörig101. Das sechste Zeichen des mundanen
Tierkreises ist Jungfrau; Virgo wiederum ist topographische
Entsprechung „Babylons“ (Offb 18). Über das erdige Signum
Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 7.
Agrippa v. Nettesheim, a. a. O., II, 22. „666, Sorath, übler Geist der Sonne.“ - Es
unterscheiden sich die beiden Geschichtskonstruktionen, die Michael Nostradamus in
Vorrede B, erste Gesamtausgabe (?) von „Les Propheties“, 1568, vorstellt, in „666“
Jahren.
101
Agrippa II, 21.
99
100
151
Jungfrau herrscht bei Tag Venus, bei Nacht der Mond. Dieses sind niedrige Sphären. 3. Agrippa von Nettesheim bringt in II, 9 eine
Zusammenstellung der Symboliken der „Zahl Sechs“. „Die
Pythagoräer eigneten diese Zahl der Zeugung und dem
Heiraten zu; auch nennt man sie Siegel der Welt... die Zahl
Sechs heißt auch die Zahl des Menschen, denn am
sechsten Tage wurde der Mensch erschaffen. Desgleichen
ist sie auch Zahl der Erlösung, weil Christus am sechsten
Wochentag zu unserer Erlösung gelitten hat – und daher
kommt ihre nahe Verwandtschaft mit dem Kreuz.“
4. Der letzte von Michael Nostradamus in seiner
Geschichtskonstruktion berücksichtigte Sonnenzyklus steht
ab 3380 (bis 3938) nach Christus im Zeichen des Stier.
Zyklisch bedeutet das: es steht Sonne im Stier. Stier ist ein
Zeichen des erdigen Quadranten, im Trigon zu Jungfrau, mit
gleichen Herrschern.
5. Steht nun „Stier in 6.“, dann bedeutet das in der Zeit des
eben genannten Sonnenzyklus einen Platz des höchsten
und größten Lebensimpulses in einem „6. Haus“. Steht Stier
in 6. ist nach dem Thema der betreffenden Zeit Schütze im
Aszendenten, Steinbock in 2., usw., Stier in 6., Zwillinge in
7., Jungfrau in 10.. Mit Virgo im MC erblickt man die
beherrschende Stellung eines „Babylon“, sei dieses
astrogeographisch oder geistig zu verstehen. - Michael
Nostradamus verweist hier verschlüsselt auf die „Endzeit“,
das große Thema seiner Weissagung, und die dort statt
findenden vergeblichen und niederrangigen Versuche, die
Problematiken der Welt zu lösen. Die Initiation der neunten
152
Weltzeit aber findet einige Zeit vor dem Ende dieses
Sonnenzyklus des Stier bis 3938 statt: sie steht wohl im
Zusammenhang des Endpunktes der „Prophezeiungen“,
den Michael Nostradamus mit dem Jahr „3797“102 benennt. 6. Die angesprochene Konstellation von Führungen des
Schützen gibt es in der besagten Zeit tatsächlich nicht
selten. Schütze bedeutet nun eine Führung des mundan
neunten Hauses, damit der „Philosophie und Religion“. Nun
steht aber zu solcher Zeit Sonne in 6., damit im Quadrat zu
der „philosophischen Achse“, 3./9.: das Quadrat spricht aber
hier von grundsätzlich „antipathischen Lebensimpulsen“. Die
religiöse Dimension gewinnt hier „gewalttätige“ Züge, sie
wird „militant“, sie scheut die Anwendung von Gewalt nicht,
sondern empfiehlt sie gar: Nostradamus spricht für diese
Zeit von einer „streitenden Kirche“, einem „neuen Babylon“,
in dem der „Antichrist“ herrscht103.
Gerade durch solche Weisen, ein Geburtsbild zu vervollständigen,
kann noch einmal deutlich werden, wie es sich in der Astrologie
des Michel Nostradamus um eine andere und gesteigerte
Sternenkunde handelt: sie zielt primär nicht nur auf die korrekte
Aussage für ein "Schicksal" des Einzelnen, sondern sie will das
Individuum „ins Ganze“ einbetten, sie kann über die
makrokosmischen Entsprechungen klarer und entschiedner zur
Person zurückfinden, sie kann über das "Universelle" einen Weg
zum Verstehen des Menschen finden, und in ihm jenes Bild
erkennen, das seine höhere Abstammung in ihm angelegt hat.
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103
Erste Vorrede der „Prophezeiungen“, 1555: Vorrede A.
Vorrede B, „Les Propheties“, 1568, Satz 63.
153
Nun kann man wieder zu jener geistigen Freiheit zurückkehren, in
der dieses gesamte Geburtsbild verfasst ist: und dann stellt man
wieder fest, wie man das Eigentliche gar nicht erfasste, und wie
sich jede Deutung weiter von jenem Wesen der riesigen Fülle und
unermesslichen Komplexität entfernte: und dann will man es
lassen, kann es aber nicht, und versucht es von Neuem.
Doch unabweisbar ist der Eindruck: wieder einmal ist das Thema
verfehlt. Nun denn: bis zum nächsten Mal... .
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14. Abschließende Bemerkungen
Die Darstellung endet mit einem kurzen Schreiben des Arztes und
Astrologen an den Vater Rudolfs, Maximilian II.. Michael
Nostradamus erwähnt, dass er vieles, was er jetzt nicht erkläre, im
Horoskop für Rudolfs Bruder Ernst darlegen werde104.
Er schließt das Horoskop, er habe "nicht 100 oder 200 Fußnoten
einfügen wollen", in denen er seine Aussagen an Hand der
astrologischen Autoritäten hätte erläutern können.
Abschließend unterzeichnet er als "medizinischer und
mathematischer Berater des französischen Königs, am 7. August
1565, Eurer Milde ergebenster Michael de Nostredam".
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Dieses Horoskop für den Prinzen Ernst wird hier möglicherweise erst als künftige
Arbeit erwähnt. Eventuell ist es in Anbetracht der gesundheitlichen Situation und des
letzten Lebensjahres nur noch fragmentarisch (?) entstanden und gar nicht nach
Deutschland geschickt worden.
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