Eine Einführung zum Horoskop des Michael Nostradamus (1565) für den späteren Kaiser Rudolf II. von Ludwig Dinzinger Stuttgart 2017 1 „Michael de Nostredam: La Nativité du prince Rudolphe fils ainé de l´Empereur Maximilian II. 1565.“ - „Michael von Notredame: Das Horoskop des Prinzen Rudolf des erstgeborenen Sohns des Kaisers Maximilian II. 1565.“ So steht der Titel auf Seite 1: dem folgen 107 Doppelseiten, das ergibt 214 Seiten eng beschriebenen Text. Viele werden vor der Fülle der Mitteilungen zurück schrecken. Es ist eine riesige Menge an Inhalt in einer verdichteten und „manieristisch“ verschlungenen Weise, hinzu tritt ein unberechenbares Maß an „poetischem Furor“, so der Visionär selbst. Und seine Mitteilungen erfordern eine souveräne Beherrschung der Astrologie auf dem Gipfelpunkt ihrer Weltgeltung: alleine schon diese Aufgabe bräuchte in der Überarbeitung der reduzierten heutigen Auffassungen dieser Wissenschaft ein Lebenswerk, müsste einen neuen kaum erforschten geistigen Kosmos enthüllen – wer kann das leisten? Der Text ist ein „Stiefkind“ der Wissenschaft: so ist ist der Stand 25 Jahre nach seiner Entdeckung. Eine Beschäftigung mit der heute „erledigten“ Hälfte der Astronomie ist kaum noch vorstellbar, dazu käme die Rekonstruktion eines umfassenden Weltbildes „verborgener Philosophie“. Vollends resigniert man nach dem mysteriösen „poetischen“ Wesen des Textes vor seinem „prophetischen“ Gestus, dieser ist heute genauso verworfen wie die Astrologie und kaum noch als „Präkognition“ kommunizierbar. Zugleich sind nicht wenige Inhalte des Horoskops „brisant“ in der Vermittlung des antiken Weltbildes. Der Mikrokosmos Mensch ist ins „All“ gebunden, dort ist er Glied hierarchischer Gesellschaft und überweltlicher Ordnung: bezeichnende Stichworte dazu sind „universelle Monarchie“, „christliche Welt“, „kommendes Reich des Geistes“ - alles der säkular gewordenen Erde unmögliche Begriffe. 2 Inhalt 1. Eine „Einführung“ Seite 5 2. Das Horoskop für den späteren Kaiser Rudolf II. Seite 9 3. Zur Entstehung des Werkes Seite 11 4. Geschichtliche Einbettungen der beiden Personen, des Prinzen und späteren Kaisers Rudolf, des Arztes und Astrologen Nostradamus Seite 15 5. Lebensdaten des Rudolf bis zu dem Horoskop Seite 55 6. Der Inhalt der Genitur Seite 57 7. Das kollektiv aufgefasste Bild zyklischer Astrologie in Kombination mit den individuellen oder aktuellen Gestirnen bei der Geburt Seite 77 8. Die hohe Qualität der Konstellation bei der Geburt, angezeigt durch die Signifikationen der oberen Planeten, Mars, Saturn und Jupiter Seite 87 9. Ein bedeutender Unterschied in langen historischen Perspektiven zwischen Michael Nostradamus und zeitgenössischer astrologischer Darstellung Seite 99 10. „Die Übertragung der universellen Monarchie der christlichen Welt“ Seite 111 3 11. Der Glückspunkt und neue andere Zeichen Seite 119 12. Der Regierungsantritt und andere solarische und jovialistische Bedeutungen Seite 127 13. Einige Hinweise auf die zukünftige Geschichte Deutschlands Seite 143 14. Abschließende Bemerkungen Seite 155 4 1. Eine „Einführung“ Zu dem Horoskop des Michael Nostradamus für den späteren Kaiser Rudolf II. kann nur eine „Einführung“ geschrieben werden: ein ausführlicher Kommentar, der jeden Satz verstehen und erläutern sollte, erforderte viele hunderte Seiten. Das Werk ist ein „gewaltiger Block“, in der Summe der ungeschminkten Darbietungen firmamentischer Zeichen ein völlig außergewöhnliches Gebilde. Die Unmenge an Signa und Urteilen wird in heute kaum zu verstehender Anordnung vorgestellt, in geradezu unaufhörlicher inhaltlicher Strecke. Dabei reicht der astrologische Inhalt von geradezu wörtlichen langen Zitaten aus den Lehrbüchern bis zu unverständlichen Häufungen von iudicia in kaum endenden und undurchschaubaren Satzstrukturen, dazu tritt ein ständiges Verlassen des Raumes individueller Astrologie zu Gunsten geschichtsastrologischer Hintergründe, und immer wieder bricht der Text in bildhafte Impressionen in kaum gezügelter Wucht aus: hat man nun einen Satz vor sich, der alle diese Ebene nicht nur streift, sondern entschieden durchschreitet, steht von vor nahezu unlösbarer interpretatorischer Aufgabe. So ist man gezwungen, einzelne Elemente des Textes herauszunehmen um zumindest diese zu verstehen. Man spürt die Anstrengung und die Mühe des Autors auf jeder Seite: und man wagt es in Anbetracht der Quantität kaum, sich die Bündelungen der Teile, der vielen Kapitel, und der Vielzahl von Unterteilungen der Kapitel in allen ihren Einzelheiten vorzustellen. 5 Man steht erschüttert, verharrt bedenklich, verliert den Glauben an die machbare Aufgabe. Wer spricht so? Heute am ehesten: der Zenmeister, früher: der barocke Künstler, der eine ungeheuerliche „Verzückung“ vorstellen will, in unendlicher Fülle und unüberschaubarer Häufung, und noch früher: der stammelnde mittelalterliche Mystiker, und schließlich sieht man einen Ursprung in den antiken Begeisterten, in den ekstatischen Weisen, in den sybillinischen Seherinnen. Man könnte diesen Weg bis in die religiöse Welt des Animismus und der vorgeschichtlichen Schamanen fortsetzen: doch dabei übersähe man erhebliche Differenzen und viele viele Neuerungen auf dem Weg der Evolution. Zu dem Erschauern vor der Sprache kommen einem leser, der verstehen will, manche Imaginationen über jene Zusammenhänge, in die das Werk eingebettet ist: das riesige und großenteils weitgehend unverstandene Werk des Nostradamus, die ebenso große und unverstandene Biographie des Rudolf, die bedeutenden Wirkungen der beiden Personen bis weit in eine Zukunft hinein. Im Allgemeinen sieht man auch das große historische Geheimnis der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer Phase der Zeit, die sich dem einfachen Verstehen zumeist entzieht, dieses gilt vor allen Dingen im kulturgeschichtlichen Bereich: denn gerade dort scheinen viele geistigen Strebungen immer deutlicher in eine Machtpolitik zu münden, die auf die Katastrophen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zutreiben muss – es gibt in dieser Zeit eigenartige Schicksale der geistig Führenden, wir nennen Rudolf II., Francis Bacon, Torquato Tasso, Fernando de Herrera – und nicht zuletzt auch Michael Nostradamus. 6 Es ist die Literatur zu dieser Zeit und ihre Quellen und Gegenstände wenig erforscht: dieses alles ist sicherlich kein Zufall. Es besteht gerade in diesen 50 Jahren der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Lücke im historischen Verständnis: wenn wir heute zurück blicken übergehen wir diesen „Spalt“ leicht. Er passt nicht zu den Auffassungen der „modernen Neuzeit“, die nach den Entwicklungen seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts diese 50 Jahre nahezu überspringend entstanden ist. Es fehlt die Identifikation des leitenden Schrifttums dieser Zeit, es sollten heute unbekannte Werke zu finden sein, die den Charakter dieser Zeit wie unter der Lupe aufleuchten lassen. Genau so wären Personen zu identifizieren, die dort die Entwicklung fortführen, d. i. die Impulse der Reformation und Renaissance aufgreifen, diese aber nicht sofort umsetzen in die weiteren Entwicklungen – z. B. der Literatur, mit Shakespeare, der Kunst, mit dem Barock, den philosophischen und theologischen Neuerungen, die so spezifisch für das 17. Jahrhundert sind –: hier begeht die historische Erklärung immer wieder eine Art des „Überspringens“. Was sind die Menschen, ihre Gedanken, ihre Intentionen in eben dieser Zeit? In wen muss man sich vertiefen? Wer ist die „Zierde seiner Zeit“, jene „Blüte“, um in Nostradamus Worten zu sprechen, die das Wesen dieser Zeitlichen Phase nahe brächte? Wo erblickt man die weiter führenden Schritte am „reinsten“? Wer liefert das evolutionäre Moment? Gibt es bestimmte Kreise, die hier „typisch“ sind oder „typisierend“ wirken? Was ist der „Charakter der Zeit“, die Stimmung der Epochen? Gibt es Länder, die hervor treten? Oder sind es bestimmte kleinere zeitliche Phasen, die hier klarer machen, was geschieht, Konzentrationen 7 wie im Brennpunkt weniger Jahre? Hinzu kommt die Lücke im Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaften, die der Autor und der Native teilten, namentlich die Theologie, die Medizin, die „Geheimwissenschaft“ der „verborgenen Philosophie“, und darin, als führende Wissenschaft, Astronomie und Astrologie. Große Schwierigkeiten bietet gerade die Sternenkunde. Es ist sicherlich so, dass es in der Geschichte der Astrologie – in der Vergangenheit wie in der Zukunft - kein ausführlicheres und fundierteres Werk von einer der besten Autoritäten dieses Faches geben wird. Zugleich ist dieses aber kein Werk im Sinne einer heutigen Astrologie: es folgt traditionelleren Linien, es greift unerforschte antike Quellen auf, und es „komponiert“ diese „astrophil“ in einer unerreichten Manier. Zugleich erfordert die spezifische Methode des Nostradamus – in der Verwendung seiner zyklischen Gestirnkunde, im Hinblick auf allgemeinere und kollektive historische Begleitungen und Synchronizitäten – eine intensive und jahrzehntelange Analyse und Übung. Hinzu kommt noch, dass Michael Nostradamus Werk neben der astrologisch-astronomischen und der enographisch-astrophilen Dimension einen weiteren Horizont erfordert: es ist dieses die „universelle“ Perspektive, eine Anforderung hoher Intellektualität und inniger Spiritualität. Diese kosmisch zu verstehende Qualität, die bis weit ins Unanschauliche reicht und höchsten Intuitionen verpflichtet ist, wirkt auf die beiden ersten Ebenen zurück und verleiht diesen eine souveräne Form, eine entschiedene „Meisterhaftigkeit“, zu deren Interpretation schon ein gerütteltes Maß an eigenem Können und nicht wenig Kühnheit gehören. 8 2. Das Horoskop für den späteren Kaiser Rudolf II. Die vorliegende Ausgabe1 der umfangreichen astrologischen Darstellung sucht dem originalen Zustand des Werkes möglichst nahe zu kommen. Übernommen wurden Seiteneinteilung, Schreibweise, Interpunktion und Gliederung. Die Gestaltungsweise soll einen "unmittelbaren" Eindruck des ursprünglichen Textes bewahren beispielsweise durch die Darstellung nur der deutlichen Satzzeichen und die Annäherung an das grafische Aussehen des Textes in der Verwendung verschiedener Schrifttypen nach dem Vorbild der Quelle. In Klammern (n) werden die Seitenzahlen des Originales angegeben; der Beginn der Rückseite des jeweiligen Blattes ist mit (_) gekennzeichnet. Die Seitenzahlen in dem Manuskript müssen später hinzugefügt worden sein, denn an einer Stelle folgt die Zählung nicht dem inhaltlichen Sinn. Dort wurde die Nummerierung korrigiert, gekennzeichnet mit (n*). Kürzel, die der Schreiber verwendete, werden ausgeschrieben, jedoch zwischen zwei Striche /.../ gesetzt. Unlesbare oder verdorbene Stellen werden mit ... gekennzeichnet. Es handelt sich dabei jeweils nur um wenige Buchstaben. Die Veröffentlichung erfolgte bis heute nicht: die Rechte liegen bei der Universitätsbibliothek Augsburg. Der erste Abschnitt dieser Einführung wird gültig, wenn eine Veröffentlichung des Dokumentes erfolgen kann. 1 9 Das Manuskript wurde im Jahr 1992 in der Oettingen-WallersteinBibliothek der Universitätsbibliothek Augsburg (Cod. I 4 4° 1) durch Dr. Paul-Berthold Rupp angetroffen2. Es handelte sich um die Urschrift der beiden anderen bereits bekannten Ausgaben des Horoskopes für den späteren Kaiser Rudolf II.: eine Übertragung der Genitur ins Lateinische befindet sich in der Herzog-AugustWilhelm-Bibliothek in Wolfenbüttel3, eine Übertragung ins Deutsche findet sich in der Königlichen Bibliothek in Stockholm4. Die Vorhaben einer Publikation mit Kommentierung und einer Ausstellung kamen nicht zu Stande. So liegt nun die fertige Transkription in der Schublade. Damit sind nunmehr 25 Jahre seit diesem Ereignis vergangen. Wie lange wird man noch auf eine Publikation des bedeutenden Dokumentes warten müssen? 3 Cod. Guelf. 208 Extrav.; mit 28 zusätzlichen kurzen Aphorismen. 4 Ms. D. 1343. 2 10 3. Zur Entstehung des Werkes Durch den (sicherlich nur zu geringem Teil) erhaltenen Briefwechsel des Michel Nostradamus5 sind wir über die Entstehungsgeschichte des Werkes gut informiert. In den Briefen sind die erste Anfrage, die späteren Mahnungen, die eintretende Lieferung astronomischer Berechnungen aus Deutschland, und schließlich das Procedere der Übermittlung durch Boten dokumentiert. Es steht der Fundort des Manuskriptes - Augsburg - in engen Zusammenhang mit dem Werden des Auftrages. Michael Nostradamus unterhielt seit Ende der 50er Jahre enge Verbindungen in diese Stadt, im zeitlichen Vorfeld der Arbeiten für das Horoskop suchten Personen aus der Augsburger Patrizierfamilie Rosenberger seine Beratung6. In diesem Zusammenhang fertigte er für mehrere Mitglieder der Familie ausführliche Horoskope. Diese gingen nach Fieberbrunn, denn die Familie hatte Augsburg nach einem Bankrott im Jahr 1560 verlassen müssen. In Tirol hatten die Rosenberger mehrere Bergwerke. Maßgebliche Berechnungen für diese Arbeiten ("directiones", astrologische Direktionen), zusätzlich auch einen Brief an Michael Nostradamus, lieferte der seit 1551 in Augsburg lebende und Dupebe, J., Nostradamus Lettres inedites, Geneve, 1983. Vgl. Lutzmann, I., Die Augsburger Handelsgesellschaft Hans und Marquard Rosenberger [1535-1560], Kallmünz, 1937. 5 6 11 später in Lauingen lehrende Mathematiker und Astronom Cyprianus Leovitius, ein Schüler von Philipp Melanchton7. Leovitius war einer der bedeutendsten Astronomen und Astrologen des damaligen Deutschland: nach Dillingen war er durch den Pfalzgraf Ottheinrich berufen worden. Leovitius, mit Geburtsnamen Cyprian Karasek8, fertigte mehrere umfangreiche astronomische Tafelwerke; unter umfangreichen Ephemeriden findet sich auch ein Buch mit vollständiger Darstellung der Astrologie, eines der besten Lehrbücher auf diesem Gebiet9. Leovitius verfasste auch eine Schrift über die Konjunktionen der großen Planeten10 und eine riesige Menge von Horoskopen11. Dieser Astronom nahm auch Einfluss auf den jungen Tycho de Brahe, der ihn in Lauingen für kurze Zeit aufsuchte. Für den Transport der Manuskripte für die Familie Rosenberger – und damit auch des Horoskopes für den „Prinzen Rudolf“ - wurden Beziehungen der Familie Rosenberger genutzt. Kurierdienste übernahmen Angestellte der Rosenbergischen Faktorei in Lyon. In dieser leitend tätig war Christoph Kraft12, der auch im Briefwechsel mit Nostradamus Erwähnung findet. Mayer, J., Der Astronom Cyprian Leovitius (1514-1574) und seine Schriften, in: Bibliotheca mathematica, 3, Bd. 4, Stockholm/Leipzig 1903, 134-159. 8 http://wiki.astro.com/astrowiki/de/Cyprian_Leowitz; dort auch ausführliche weitere Hinweise auf sein Werk. 9 http://www.stadtlexikon-augsburg.de/index.php?id=114&tx_ttnews%5Btt_news %5D=4608&tx_ttnews%5BbackPid%5D=113&cHash=36a50d1814; Ephemeridum novum atque insigne opus ab Anno Domini 1556 usque in 1606 accuratissime supputatum, Augsburg, Philipp Ulhard, 1557; vgl. "Cyprianus Leovitius: Lehre von der Beurteilung der Nativitäten", in: Strauch, Ä., Astrologische Aphorismen, Bad Tölz 1924, 45 – 226. 10 Universitätsbibliothek Augsburg: 02/VIII.3.2.35; 02/VIII.3.4.11; Dillingen, Studienbibliothek, IX 1499; s. Gelehrtes Schwaben, Austellungskatalog, 1990/1991, S. 91/92. 11 In der oben genannten Oettingen-Wallerstein-Bibliothek, Teil der UB. 12 S.a. Lutzmann, 20, u.a.a.O.. 7 12 Eine bemerkenswerte Beziehung, die ebenfalls nach Augsburg weist, ergab sich in dieser Zeit – und dieses ist die Hochphase des Schaffens des Michael Nostradamus - zwischen dem provenzalischen Arzt und Astrologen und dem Studenten der Rechte, Laurentius Tubbe, zu jener Zeit in Bourges. (Bourges galt zur damaligen Zeit als die Eliteuniversität für das Studium der Rechtswissenschaft). Die Augsburger Patrizier - bei den Fuggern ist dies mehrfach nachweisbar - ließen immer wieder junge begabte Leute auf ihre Kosten an den besten Universitäten studieren. Nostradamus und der junge Tubbe - der wiederum auch Botendienste nach Lyon erledigte - traten in einen ausführlichen Briefwechsel. Ihr Kontakt begann über das Horoskop von Tubbes "Herrn" Johannes Rosenberger, im Jahr 155913. Ab Mitte des Jahres 1565 steht der erhaltene Briefwechsel nahezu völlig im direkten Zusammenhang mit der vorliegenden Nativität von Rudolf II.. Der Anwalt Dr. Johannes Lobbetius14 treibt die Angelegenheit im Auftrag eines anderen Augsburger Patriziers, Daniel Rechlinger15 weiter. Am 13. Juni 1565 erfahren wir, Nostradamus möge doch die beiden Horoskope für Rudolf und dessen jüngeren Bruder Ernst, die "er im letzten Jahr machte", doch "möglichst bald an ihn schicken" und ihm "sofort antworten". Diese Nachricht wird ergänzt durch eine Mitteilung des französischen Arztes vom 5. August 1565 - das Horoskop selbst ist datiert auf den "7. August 1565" - er habe "mehr als 14 Monate an den Berechnungen und Erklärungen gearbeitet"16. Damit wird dieses Horoskop zu einem Hauptwerk der letzten Lebensjahre des Dupebe, a. a. O., Register, S. 183, gibt vierzig (!) Hinweise auf diese Person: sie ziehen sich durch den ganzen Briefwechsel. 14 Dupebe, a. a. O., S. 153. 15 Strieder, J., Zur Genesis des modernen Kapitalismus, Leipzig, 1904, S. 10 ff. 16 Dupebe, a. a. O., S. 166. 13 13 Michael Nostradamus: die Arbeit reichte nach dieser Aussage vom April/Mai 1564 bis Anfang August 1565. (Der Seher starb am 2. Juli 1566, also nicht einmal ein Jahr später.) In diesem Brief des Nostradamus an J. Lobbetius - der sich damals gerade in Lyon aufhielt - erfahren wir noch mehr über die Begleitumstände: Rechlinger habe ihm "80 lib." für beide Horoskope gegeben, und "6 escus" für den Schreiber. Der Schreiber habe das Horoskop für Rudolf geschrieben17, sei aber beim zweiten für Ernst "müde" geworden. Und so sei "der Rest" von ihm selbst geschrieben worden18. Hinzu gefügt wird das Übersenden der Manuskripte nach Deutschland solle "aufs Sorgfältigste" geschehen. Es folgt im Dezember 1565 noch ein weiterer Brief an Lobbetius, bezüglich mehrerer Horoskope für andere Augsburger Patrizier, namentlich Kaspar Flechamer, Anton Schorer und Konrad Schwarz19. Aus diesem geht hervor, daß Daniel Rechlinger, "der vielfältig gelehrte und gebildete Mann", selbst gerade dabei war, die "Nativität" Rudolfs "aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen". Diese drei Horoskope dürften zu den letzten Arbeiten des Nostradamus gehören und sind bis heute unbekannt: interessant ist, wie „nahtlos“ sich die Horoskope für die fürstlichen Prinzen in die astrologischen Arbeiten für die Augsburger Patrizier einfügen, vorher wie nachher. Das in Augsburg vorliegende Manuskript des Horoskopes für Rudolf II. ist also nicht eigenhändig von Michael Nostradamus geschrieben. 18 Es könnte also noch ein weiteres, bisher unbekanntes großes Werk von Nostradamus in den deutschen Archiven liegen: die Genitur für Ernst, den zweitgeborenen Sohn des Kaiser Maximilian. Ernst war der spätere Statthalter der Niederlande (1593 - 1595); seine Lebenszeit ging von 1553 bis 1595. Und dieses zweite Manuskript wäre zu einem großen Teil von Nostradamus selbst geschrieben. - Hier ergibt sich ein Widerspruch zu seinen Äußerungen am Schluss des Textes des Horoskops für Rudolf, die direkt „An den Kaiser“ gerichtet sind. 19 Dupebe, a. a. O., S. 167 u. S. 163. 17 14 4. Geschichtliche Einbettungen der beiden Personen, des Prinzen und späteren Kaisers Rudolf, des Arztes und Astrologen Nostradamus Es ist sicherlich mehr als ein „Zufall der Geschichte“, dass sich gerade diese beiden Personen des 16. Jahrhunderts - noch dazu in dem spezifischen Unterfangen eines Horoskops – begegnen wie in einem imaginären Dialog: Michael Nostradamus und Rudolf II. von Habsburg. Einerseits sehen wir den „weisen Mann“, gereift, alt, auf dem Gipfelpunkt seines Wirkens - vermutlich bereits von der Krankheit gezeichnet, die seinen Tod nur wenig später herbei führte: und ihm gegenüber richtet sich der junge Aspirant des Thrones auf, kaum erwachsen, aber bereits außer der Erziehung am spanischen Hof, und schon ein ungewöhnlicher Charakter mit „sperrigen“ Zügen. Dieser zweite nun, zurückgekehrt nach Deutschland, wird umgeben und umsorgt – u. a. auch mit Prognostiken seiner Zukunft – durch eine große Gruppe Augsburger Patrizier und ihrer „Angestellter“; jener nun musste vor religiösem Aufruhr an seinem Heimatort Salon nach Avignon fliehen, ist nun aber wieder zu Hause, seine Kinder sind geboren, die jüngste von sechs lernt gerade sprechen. Wenn es auch eine persönliche Begegnung der beiden Personen nicht gab, so berühren sie sich doch in dem Horoskop in ganz ausgeprägter Weise: das Aufeinandertreffen des allmählich von der Welt Abschied nehmenden, gesundheitlich bereits angeschlagenen „Propheten“ mit dem „zukünftigen Kaiser“ des römischen Reiches deutscher Nation: dieser, gerade zwölfjährig bei der Abfassung des 15 Vorhersage, den der Hofmeister damals noch als langsam begreifend beklagt, der aber bei Tanz und Turnier bereits Aufsehen erregt. Es gibt Gemeinsamkeiten beider Personen: Rudolf schreibt am 5. Februar 1583 an Kurfürst August von Sachsen "...daß mier nits höchers angelegen als frid und ruehe im reich zu erhalten"20. Und Jeremias Martius, ein Augsburger Arzt, der in Montpellier studierte und Nostradamus an seinem Wohnort Salon (de Provence) besuchte, eröffnet von jenem "...das er in der beywonung gegen jederman freundlich/ holdselig gewesen/ und mennigklich gern gedient hat"21. Hinzu treten verwandte Züge der Charaktere, Rudolf, später stehend im Zwielicht der Sternengläubigkeit, verdächtig, ein Adept der Alchemie zu sein, Zeit seines Lebens zurück gezogen in seine ausgeprägten künstlerischen Interessen, verbunden seiner Sammelleidenschaft und seinen geheimen Bedürfnissen, meidend den sozialen Kontakt und scheinbar erfüllt von Besorgnissen und Ängsten, und Nostradamus, vormalig der gesuchte Pestarzt, zugleich ein mit einem Schlag berühmter und überall zitierter Visionär, bei den einen verhasst, bei den anderen verehrt, eine Art touristische Attraktion, von der französischen Königsfamilie zum Berater gewählt, ein Sanguiniker der sprachlichen Äußerung, völlig selbstverständlich ruhend in seinen hochgradig vom Üblichen differenten Sichtweisen - in ihrer beider Begegnung entsteht ein Aufleuchten eines eigentümlich funkelnden, nur leise glimmenden Seins, das zu überraschender Mitteilung fähig scheint, jedoch manchmal abstrus, zeitweise auch „verdunkelt“, und immer wieder auch „eigen“. Und ist dieses eigentümliche Wesen nicht eben das gesuchte Phänomen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, der 20 21 v. Schwarzenfeld, G., a. a.O., S. 10. Dinzinger, L., Ordnung der Zeit, 1991, S. 21. 16 Ausdruck eines „Unerwarteten, Befremdlichen“? Neben einem eher Stillen, Zurückgezogenen, Abwartenden? Und dabei auch noch gewissen dissimulierten provokanten Untertönen? Solches kann man auch an dem Thema erkennen, das diese Quelle uns stellt: das Zusammenfinden zweier hochgradig charakteristischer Exponenten ihrer Zeit findet ihre „synthetische“ und „glosende“ Resultante in einem „Horoskop“. Dieses ist - wie Vieles aus dieser Zeit - heute wohl nicht verstanden, fast ist es ein „Unding“, vielleicht auch ein kulturgeschichtlicher Affront: aber wie war es zu seiner Zeit? Damals stand alles dieses doch in Korrelationen höchsten sozialen Interesses, hier der zukünftige Kaiser, der politisch erste Mann Europas, dort der „weltweit“ berühmte „Prophet“, eine geistesgeschichtliche Sensation: und diese Valenzen „Durchdringen sich“ in dem Sektor der Astronomie und Astrologie, der damals noch alle Lebensbereiche prägen konnte, die Kirche, die Reformation, die Politik, die Wirtschaft, im Suchen nach „Prognosis“, oft scheiternd, aber zuweilen auch verblüffend treffend, und gepflegt von den gebildetsten: es lebt Nikolaus Kopernikus parallel zu Philipp Melanchthon – einem Herausgeber des „Tetrabiblos“ des Claudios Ptolemaios, der genethlialogischen „Urschrift“ - es lebt Michael Nostradamus und ihm parallel Michelangelo Buonarotti, Bramante und andere Vorausverkündiger eines Kommenden, und bald kommen neue Exponenten der Himmelskunde, Brahe und Kepler, und in der bildenden Kunst folgen Vredemann de Vries, Arcimboldo, Zuccari. Bald kommt in Deutschland eine bedeutende Gruppe spiritualistischer Mystiker, bald wirkt als ihre Blüte Jakob Böhme. Vielleicht zeigen gerade diese Zusammentreffen von Personen, welche Themen die Zeit der ausgehenden Renaissance 17 beherrschten: und es wird deutlich, wie die Renaissance übergeht in eine Zeit des sogenannten „Manierismus“. Doch es gibt kaum eine kulturgeschichtliche Richtung, deren populäres und gängiges Verständnis einer solchen Weiterung bedarf, wie gerade die Kultur dieser Zeit. Sie ist wahrscheinlich in ihrem Oberbegriff nicht gut definiert, in eine auf den ersten Blick für uns kaum noch nachvollziehbare Haltung, Richtung und Intention – doch wer wagt es, „dieses da“ neu zu benennen? Wo ist die neue, die bessere Definition? Wo bleibt die Analyse? Und wer bildet das Bewusstsein, diese Zeit anders wahr zu nehmen? 1550 stirbt Andrea Alciato, genau am Einschnitt in der Mitte des Jahrhunderts, und doch beginnt sein Erbe zu wirken: die „Zeit“ sucht nun noch weiter nach Symbolen, Emblemen, darin nach tiefen und vielschichtigen Bedeutungen, Anklängen, Intuitionen, und sie wird ab 1600 über „Christian Rosenkreuz“ münden bei Johann Valentin Andreä und Valentin Weigel, in William Shakespeare, in Vermeer und Rubens. Doch wie ist der vermittelnde Schritt dorthin zu deuten, zu verstehen? Welchen Logiken, Typiken, Charakterzügen folgt er? Wo ist das gesuchte „Zwischenstück“, das eine „durchgehende“ und einfach verständliche historische Linie komplettieren sollte? Man erkennt einen kulturgeschichtlichen Höhepunkt, eine Fulguration der Zivilisation, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts: diese gerät aber an ihrem Ende, zwischen 1550 und 1600, zu etwas Unverstandenem. Dort werden historische Ereignisse „disparat“: für diese Zeit gibt es keine handfeste Griffigkeit, keine Formel, die hilfreich wäre. Wer versteht, was sie einerseits „vollendete“, wer begreift, was sie „neu einführte“? Können politische Parallelen, der Freiheitskampf der Niederlande, 18 die Auseinandersetzung von Elisabeth I. mit Maria Stuart und mit Philipp II., oder Personen wie ein Vater Maximilian II., sein Sohn Rudolf II. oder ein Pfalzgraf wie Ottheinrich dieses eigentümliche nun eintretende Phänomen erläutern? Wer weiß noch, wer Reichard Streun von Schwarzenau war? Alles, was zuvor geschieht, sollte nach der Vorstellung historischer Entwicklung unter diesen Vertretern ihrer Zeit in ein neues Licht rücken. Doch in welche gesteigerte Auffassungen ist es gewandelt? Und was kommt dann, und wie ist dieses zu bestimmen – und wie kann dieses auch das Vorherige erklären? Wir stehen der Zeit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts deutlich „fremd“ gegenüber. Wir haben keinen Zugang, und wir kennen keinen Ansatz dazu. Ist es nicht so, dass wir davon kaum Sektoren – der Plastik, der Graphik, der neuen Rolle des Bürgertums in Holland usw. - heraus greifen und verstehen können? Pflegen wir nicht Vorlieben und Bewertungen, das heisst: klammern wir uns an Elemente, nehmen wir ein „Ganzes“ gar nicht wahr: wir benennen auch zu vorschnell, dieses als „schlecht“, jenes als „gut“, das eine „weiterführend und fruchtbar“, das andere „verdunkelt und in die Irre führend“? Und was wäre, wenn solches gerade an der Person des Michael Nostradamus exemplarisch deutlich würde? - Sein Umfang ist unbekannt, seine Inhalte sind schief beurteilt, seine Wirkung verkannt. Hier, in diesem Thema, unter dem Titel „Michael Nostradamus Horoskop für Rudolf II.“ verharren wir bei zwei historischen Figuren, in denen sich das eigentümliche „Licht“ dieser Zeit treffen und vereinen könnte. Beide sind geradezu Vorbilder der Idiosynkrasie der Moderne, die mit ihnen „gar nichts“ anfangen kann: Michael Nostradamus ist ähnlich umstritten wie Rudolf von 19 Habsburg, verwandt ist ihrer beider übler Leumund, sie können gleichen Vorurteilen und gleichen „Verdächtigungen“ unterzogen werden. Die Stereotype schiefer Beurteilung sind heute ubiquitär, die Liste der Fehlinterpretationen – uns bekannt vor allem bezüglich Nostradamus – ist endlos lang, und sie geht durch alle Jahrhunderte der Moderne, nach Renaissance und Reformation: und die Zukunft ist gewiss nicht gefeit, noch übler in die „Kiste des Irrtums“ zu greifen. Warum geschieht dieses gerade bei diesen zwei Personen? Zeigt sich darin vielleicht auch eine Art „Ratlosigkeit“ gegenüber der zu suchenden Zeitströmung im Allgemeinen, gegenüber der „Mode“ und dem Zuschnitt der geistigen Haltung? Soll man hier an Zufall glauben: gerade in jner Zeit, die uns als „Lücke“ sich präsentiert, als ein defizit historischer näherer Kenntnis. Dafür sprechen doch gerade die Vorurteile, die Stereotype, zu denen hier die Allgemeinbildung leicht greift: es gibt kein profunderes Wissen, geschweige denn eine Empathie oder gar eine Zuneigung zu ihren wesenhaften Inhalten. Sollte dieses doch als ein Exempel dieser Zeit zu verstehen sein, als weit führendes Beispiel einer kollektiv gewordenen Oberflächlichkeit? (Wir werden dafür später noch weit mehr Beispiele anführen, vorerst aber im Gedankengang weiter.) Beider Lebenszeit, des Rudolf, des Michael, überschneidet sich nur um 14 Jahre, eigentlich wären sie so Vertreter verschiedener Generationen: und doch wird in ihren Personen ein verwandter Geist deutlich, eben jener Geist, den man heute nicht verstehen kann, nicht verstehen will, den man freiweg und „sich schützend“ abwehrt. Jenes, was beide vertreten, der Junge wie der Alte, ist wie „fremd“. Obwohl ihr Altersunterschied eine Art Lehrer- und Schülerverhältnis ausdrücken könnte, ist dieses doch nicht 20 vorhanden, man gewinnt den Eindruck einer „nahtlosen“ Übergabe von einer Zeit in die nächste, von einer Generation zur nächsten. Eine ähnliche Identität meint man auch historisch zwischen Maximilian II. und Rudolf II. zu bemerken. Doch was wird hier übergeben? Wie ist das zu bestimmen und zu verstehen? Erinnert sei an die klare Frische der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, das das Neue einer neuen Weltzeit22 in ungebrochener Naivität entwirft, in der Malerei etwa mit Fra Angelico, in der Architektur durch Brunelleschi, in der Plastik durch Donatello, in der Gestirnkunde durch Pierre d´ Ailly, in der Religion und Theologie durch Jan Hus. Danach, ein halbes Jahrhundert später, sieht man geschichtlich „logisch“ folgend die Erweiterung des Horizontes in der Entdeckung und Erschließung der neuen Welt, mit Christoph Kolumbus; in der Kunst streut sich die Bewegung über die Länder, man sieht Alberti, Mantegna, von der Goes, Dürer, oder Reuchlin, man sieht Erasmus von Rotterdam, man sieht Leonardo da Vinci. Auf dieser Grundlage entspringt nun in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Wirken der kulturgeschichtlichen Revolutionäre, in Deutschland, in der Schweiz, in Holland, in England. Luther, Zwingli, Menno, Heinrich VIII.: sie stürzen um, es fällt die alte Ordnung, es brechen sich neue „Körper“, neue „Posen“, neue „Muskeln“ Raum, auch in Michelangelo, in Bramante, in Giorgone. Und dann? Was tritt dann auf den Plan? Nach der confessio Augustana, nach der ersten Hälfte des Jahrhunderts, scheint „Ratlosigkeit“ einzutreten, zumindest bei In Begriffen der Geschichtskonstruktion des Michael Nostradamus gesprochen. Er unterscheidet den neun Sphären entsprechend neun Weltzeiten. 22 21 unserer heutigen Sicht, wir erleben einen „Abbruch“, eine „Wirrnis“, eine Lücke. Oder soll man es ein „Verharren“ nennen, vielleicht auch ein gewisses „Erschrecken“, eine Art von „Bann“, der die entstandenen Konsequenzen zu scheuen scheint? Werden nun Folgen bewusst? Oder ist dieses nicht schon wieder unsere heutige „Projektion“ in diese Zeit? Das bedeutet doch einfach: es ist uns unklar, wie man aus dem Entstandenen konsequent weiter fortzufahren hat. Wir greifen zu einer „Notlösung“, unserem „Vorurteil“: wir schützen uns vor der Konsequenz der in dieser Zeit sichtbar werdenden Weiterungen, wir werten sie mal schnell ab. Wir nun klar, in welche „Leere“ die Abstraktion gestiegen ist? Wäre es nicht sinnvoll, zuerst einmal dieser Zeit eine historische Logik der Fortführung des Begonnenen zuzugestehen? Und damit ihre Produkte zu rehabilitieren, ihre abstrakte Gültigkeit anzuerkennen? Denn hier treten an die Stelle der älteren und „tragenden“ Strukturen nun neue, in kühnen Schritten, aus der Theologie erwächst „prophetie“, aus dem hohen Wissen der Philosophie neue Abstraktionen der Wissenschaft, die Kunst erkennt aus ihrer Überschau der vorhandenen Lösungen völlig neue Konsequenzen? Und die Politik, was geschieht in ihr: sie definiert das, was „Macht“ ist, neu. Es kann das entstandene Neue in seinem „vierten Schritt“ sozusagen nur von den entschiedensten Willen weiter getragen werden, etwa Personen wie Elisabeth I.. Muss man hierbei auch Maximilian II. und Rudolf II. nennen? Hierher gehört sicher auch Johannes Kepler, und ebenso sicher auch Michael Nostradamus. Es ist eigentümlich: aber bei den einen sieht man die Leistung sofort, bei den anderen ist sie verborgener, vielleicht „abstrakter“? 22 Kann man sich in der entstandenen Zeit schon an die Klarheit des Palladio halten, an die Virtuosität des della Porta? Und es gibt literarische und kunst- und kulturgeschichtliche unbekannte Größen und missverstandene Personen, die uns die Entwicklung im Detail verhüllen. Besieht man sich die historischen Schriften, die Überlieferungen jener Zeit und ihre Verarbeitung, glaubt man immer wieder sofort jene Lücke zu erkennen, einen „hiatus“ in der Folge der Darstellung: darin ist die Zeit zwischen 1550 und 1600 wie übergangen, wie mit einem Tabu bedeckt – man setzt wieder an nach 1600. Was sind die Gründe? Helfen sie, das, was man heute „Manierismus“ nennt, neu zu definieren? Das große Hindernis, diese Lücke zu füllen, sind die historischen Vorurteile, gegenüber den Hauptvertretern, vor allem Philipp II., vor allem Rudolf II., und allgemeiner kulturgeschichtlich gegenüber Michael Nostradamus und einigen anderen, die wir später nenen werden. Wie soll man zu einem historischen Verständnis einer oder mehrerer Epochen kommen, wenn man die wesentlichen Ereignisse ausklammert? Sich in schematische Bewertungen „flüchtet“? Oder wenn man gar nicht nach den verlorenen Bestimmungsstücken sucht. Gehen wir von Deutschland aus. Die beiden bedeutendsten Architekturen dieser Zeit, der Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses und das Lusthaus in Stuttgart - sind zerstört. Das bedeutende Grabmal des Ottheinrich, vermutlich ein künstlerischer Brennpunkt seiner Zeit, soll nach einem lokalen Mythos im „heidelberger Untergrund“ verborgen sein; seine riesige Bibliothek, in Neuburg an der Donau gesammelt, ist zerstört. Man kann Österreich hinzunehmen: das Schloss Freidegg des Reichard Streun23 ist völlig ruiniert. Das Heidelberger Schloss wurde nach 23 Bei Ferschnitz in Niederösterreich. 23 seiner Beschießung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht wieder hergestellt: in allem diesen und damit fehlt das Leitbilder liefernde Gesamtkunstwerk der führenden Künstler, Flötner, Colin und anderer. Eigenartig ist auch die Entwicklung in Stuttgart, bereits 1750 wurde die Innenausstattung des Lusthauses bei einem Umbau völlig zerstört, 1811 umgab man nach weiterer teilweiser Zerstörung die Reste der Architektur mit einem mantelartigen Theaterbau – doch rettete man immerhin einige wenige Teile der Plastik des Sem Schlör auf den Lichtenstein bei Reutlingen. Freidegg aber, das bedeutendste Werk eines hochgelehrten Mannes aus dem engsten Umfeld des Kaisers, es verfiel nach einem Besitzübergang völlig ersatzlos. Was ging hier vor? Und wie stellen wir uns dazu? Würde man solche Ereignisse psychoanalytisch interpretieren, müsste man von „Verdrängungsprozessen“ sprechen: hier zeigt die kollektive Geschichte Parallelen zu individuellen Abwehrmechanismen und Desorganisationen des psychischen Apparates. Was wollte man nicht mehr „wahr-haben“? Und belegte dieses schon bald mit der halb despektierlichen Vorstellung „Manierismus“? Dieser war entwickelt aus einer völlig anders gemeinten Idee, nämlich aus der Bezeichnung des Spätstiles des Michelangelo als „maniera moderna“: „maniera“ ist letztlich wertfrei, bedeutet eigentlich nur „Art und Weise“. Deutlicher in die eigentlich gemeinte Richtung zeigt das Adjektiv: aber „modern“ wollte diese kulturhistorische Erscheinung, konzentriert in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, eben niemand nennen, gewann sie doch oft gerade den Eindruck eines Atavistischen, eines „Dunklen“ und abseits liegenden Kuriosen – eben begegneten wir dem in den unmittelbaren Eindrücken, wenn Michael Nostradamus und Rudolf II. erwähnt werden. Natürlich 24 waren das Vorurteile, Bildungen eines voreingenommenen Verstandes späterer Zeit: wäre man aber konsequent, müsste man dieses am ehesten „Moderne an ihrem Ursprung“ nennen. Ich würde hier den Vorschlag wagen: ein Buch über neues Verständnis dieser Zeit auf völlig anderer Grundlage als bisher müsste geschrieben werden. Dabei müsste man sich vor der Versuchung hüten, alllzu schnell in die Darstellung frühbarocker Wesenheit einzugehen: damit würde man erneut die „Fremdheit“ und den eigentlichen Charakter dieser Epoche ignorieren, würde sich ihrer Indifferenz und ihrer abstrakten Intelligenz entziehen: sehr bedacht müsste man jene „Gegenstände“, Absichten, Haltungen und Ziele identifizieren, die diese Zeit charakterisieren und ein vollständigeres Bild ihrer Essenz liefern. Setzen wir noch einmal an, etwas unbedacht. Kann man sagen: es wäre diese Zeit der Versuch einer Synthese, einerseits in Verkörperungen eines zeitweise „altertümlich“ wirkenden Rückgriffs, andererseits aber auch getragen von einer spirituellen und hoch reflektierten „Modernität“? Und dieses wäre etwas, was man heute gar nicht verstehen kann, was vielleicht heute auch tabuisiert ist? Leben wir in Zeiten, die den Kompromiss sucht, oder gehen wir „lieber“ bedingungslos in neuen Horizonten auf? Kennzeichnet sich das „Heute“ und seine geschichtlichen Auffassungen nicht oft in einer hastigen „Flucht nach vorne“, d. h. in einem „Abstreifen-Wollen“ und einem „Hinter-Sich-Werfen“ eines Ererbten, eines Älteren, oft begleitet in Ausdrücken des Abscheus, geradezu stereotyp, je nach Sozialisation? Letztlich ist Solches aber Zeichen einer „ahistorischen“ Haltung: denn es geht zuerst um eine sachliche Zuwendung zu Prozessen in der Zeit, um ein 25 Öffnen der Augen und ein unbeirrtes „Hinschauen“ auf die „fremden Phänomene“. Denn eigentlich ist es einfacher, den frischen Unbekümmertheiten und den aufregenden Eröffnungen von Horizonten zu folgen, sich dann auch kritisch zu gebärden, und auf das „Alte“ als Stufe zu treten und weit woanders hin zu schauen: aber die vorgestellte „vierte“ Bewegung, im Sinne der oben dargestellten vier Hälften von Jahrhunderten, die kontemplative Integration des Vorherigen, aber auch des Neuen, - solche vermag in einem motorisch gewordenen „impetus“ leicht unterzugehen, sie kann verschwinden, oder sie fällt der gängig gewordenen und hoch verallgemeinerten Verachtung des Früheren zum Opfer. Dabei läge doch gerade in der potenziellen oder versuchten „Synthese“ und diese wäre gültig in allen nur möglichen Nuancen und Steigerungen! - eine große Chance, einerseits in der Bewahrung „des guten Alten“, weiter in seiner Anreicherung mit „dem guten Neuen“, schließlich einer Steigerung der beiden Vektoren, ganz im Sinne der Farbenlehre von J. W. Von Goethe, hin zu „noch einmal Neuem“. Aber in dieser Zeit erscheint doch gerade so, als wäre eben dieses „Gesteigerte“ nicht akzeptiert, als sträubten sich einerseits die „Alten“, das Neue anzuerkennen, und als verweigerten die „Jungen“, einen Weg zurück zum Alten zu machen, auch wenn es ihnen im Rahmen einer „Synthese“ angeboten wird. Vielleicht ist solche Vereinigung von Gegensätze, solche „coniunctio oppositorum“24, ein riesiger Anspruch, eine überfordernde Intention? Und doch gelingt einigen wenigen Personen, vielleicht auch einigen wenigen Gruppen der synthetische Schritt: erinnert sei an den Kardinal Gasparo Ein Begriff C. G. Jungs, gewonnen aus eben den synkretistischen alchemistischen Motiven auch dieser hier behandelten Epoche. 24 26 Contarini, an sein Wirken, oder an Erasmus von Rotterdam, vielleicht auch an Michael Nostradamus? Oder an Rudolf II.? Und vielleicht gehörte dazu auch schon an sein Vater Maximilian? Ist dieses eines der Motive, sich einer neuen Analyse der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu verweigern? Wo aber kann ein Ansatz liegen, in diese Zeit und in ihr Verständnis optimaler einzusteigen? Muss man umdenken? Sich anders einstellen? Das scheinbar gesicherte historische und kulturgeschichtliche Wissen aufgeben? In der Postulierung eines weiteren Schrittes von Renaissance und Reformation, entgegen der eintretenden machtpolitischen Verhältnisse und ihrer neuen definition von „Moderne“? Müsste man in diesem Sinn nicht die Zeit des „Manierismus“, also die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, plus/minus 20 Jahre, eine Zeit des „Synkretismus“ nennen? Damit gewänne man neue Assoziationen zu dieser Zeit: zugleich würde man sofort sehen, wie dieses „synkretistische“ Moment in der geschichtlichen Realität „scheitert“, und so aus seinem unvollendeten Abbruch die politischen und militärischen Katastrophen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts heraufbeschworen werden, mit der Absetzung Rudolfs durch seinen Bruder, wenig später dem Dreißigjährigen Krieg, parallel dazu die Schwächung der französischen Könige, die staatstragende Rolle des Kardinal Richelieu, zugleich der weitgehende Niedergang der spanischen Macht, auch das Scheitern der katholischen Partei in England und danach die englische Revolution. Dieser „Synkretismus“ gelingt nicht allgemein, er gewinnt keine Breite, und erreicht überhaupt keine Macht, sein geistiger Anspruch bleibt das Privileg weniger, diese stehen am Rande: der von ihm verlangte geistige Einsatz ist zu 27 hoch, seine Spiritualität ist elitär, und ihm fehlt in seiner Intellektualität die vitale Macht, sich durchzusetzen, er leistet alleine vielleicht eine provokante Indifferenz, die aber „stößt vor den Kopf“, sie verunsichert. Wenn ihr auch die Zustimmung der Masse gleichgültig und „merchandising“ widerwärtig ist, so bleibt damit doch auch ein riesiges Manko – Rudolfs Charakterbild zeigt dieses, der „Elfenbeinturm“ wird der sozialen Wirklichkeit vorgezogen, derjenige, der „handgreiflich Gesandte des Königs aus dem Fenster zu stürzen“ vermag, bestimmt die Geschichte weit deutlicher und eher als jener, der - mit Nostradamus Worten, im Horoskop - „hinter einem Berg verborgen sitzt“. Will man sich dieser Zeit empathisch nähern, braucht man einen speziellen Zugang, möglicherweise in neuen Begriffen, zumindest aber in gewandelten Vorstellungen. Hierfür reichen jene historischen Linien nicht, die die gängig gewordenen „modernen“ Geschichtsauffassungen vorstellen, vielleicht auch nicht jene scheinbaren Faktizitäten, die das kollektive Bewusstsein hier vorschlägt: sie reduzieren, sie schreiben fest, sie bleiben stehen bei jenem „Weltmächtigen“, das die Immanenz ab dieser fraglichen Jahrhunderthälfte „regierte“ - zugleich ein Anderes Sublimeres ablöste, vielleicht auch unterdrückte, zumindest bis heute. Jenes Weltmächtige und vital Starke wird aber im Verlauf der entstandenen „modernen Zeiten“ immer wieder kritisiert und konterkariert, am deutlichsten in den letzten Jahrhunderten, dort entstehen politische und künstlerische Präferenzen, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer deutlicher: und gegenwärtig ist es weniger denn je – vor allem ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert, nach der „Postmoderne“ – absehbar, ob je eine weltweit so breite Bildung eingetreten sein kann, um wirklich geistig und intellektuell ermittelte Vorstellungen zur größeren 28 Wirkung zu bringen gegenüber dem Einfachen, Populären, Mächtigen, körperlich Starken. Die politischen Regressionen gerade im beginnenden 21. Jahrhundert sagen genug: Ambivalenz, Unkenntnis, poetische Indifferenz zu ertragen ist nicht mehr angesagt, das Beherrschbare, das Simplifizierende, das physikalisch Greifbare hat wieder die Oberhand. Demgegenüber ist die Interpenetration von Differentem und die Verarbeitung von Fülle und Inhalt weitaus fordernder. Worauf muss man sich in solchem „Synkretismus“, solcher „Synthese“ einstellen? Was in dieser herausfordernden Aufgabe schwierig wird, sind die gesteigerten Möglichkeiten der miteinander verbundenen Seiten: denn es geht nicht nur um die „Reinheit der Pole“, sondern um Integration von Zweiheit zu neuer gesteigerter Einheit, und es ist zu rechnen mit abgründigem „Alten“, zugleich aber auch mit bestürzendem „Neuen“, und mit misslingenden Stufen des Miteinander, mit Gefährdungen der intendierten Union, zugleich bedeutet dieses auch Fort- und Rückschritt. Man verlässt so in mehrfacher Hinsicht ein vertrautes Terrain, einerseits des Hergebrachten, anderseits des Umstürzlerischen, und wiederum auch vorläufiger „Er-Mittlungen“. Dafür ein Beispiel: El Greco, mit den gewundenen Körpern, den gelängten Gesichtern, den verstiegenen Gestiken, damals geradezu unerhört, und, wie heute üblich, in einer Reduktion erklärt - begründet soll dieses gewesen sein in einer krankhaften Verschrobenheit seiner visuellen Wahrnehmung –, wer aber würde solches Urteil und solche Bewertung anwenden wollen auf die heutige moderne Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts? Die in ebensolchen „Abstraktionen“, distant von den sogenannten „natürlichen Vorbildern“, operiert? Wieso gehört El Greco zum „Manierismus“ und Giocometti zur 29 „modernen Kunst“? Ist etwa das Prinzip beider Schaffens verschieden? Oder muss man so formulieren: es ist den eben angesprochenen „synkretistischen Künstlern“ möglich geworden, einen Schritt weiter in das damals noch schwer fassbare „Moderne“ hinein zu gehen, sie greifen wie El Greco weit in die Zukunft der malerischen und plastischen Darstellung voraus. Der Schritt von Arcimboldo zum Kubismus: ist der doch nicht so groß, sind beide nicht doch näher verwandt, als man meint? Was wir hier zu fordern scheinen, ist eine neue Bewertung der Kunst und der Kultur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und zwar ihrer besten und unverstandenen Exponenten. Gerade Solches trifft man bei Michael Nostradamus: er treibt eine sprachliche Kühnheit, die alle Möglichkeiten des Rhetorischen, des verbalen Spiels mit Ebene und der Metakommunikation bis ins Letzte ausreizt. Er kommt zu Bildungen, die in ihrer Modernität, ihrem Streifen an Neologismen und ihren außerordentlichen Bildern und Verdichtungen an James Joyce erinnern: erinnert sei etwa an einen der Zentralbegriffe der Geschichtskonstruktion, das Wort „Pempotan“, aus dem Griechischen, „fünf Flüsse“, bezeichnend einen, der mächtig ist über die Sinnenwelt, den „Herrscher der Welt unter dem Monde“: „Pempotan“ wird zum Begriff für die hegemoniale Macht eines führenden Staates der Erde. Oder Nostradamus entwirft einen Namen, „Mabuse“, übernommen in späten Horrorfilmen: es ist einen Kombination von „M.“ und „abuse“, aus dem Französischen, und bedeutet einen „Meister der Grauenhaften“, einen „Lehrer der abscheulichen Verirrung“. An anderen Orten pflegt er eine so hohe Ironie, dass man unsicher werden muss, was er ernstlich meint: und vermutlich ist es Absicht, eine so deutliche Unentschiedenheit des Gesagten zu erzeugen. Steht man vor modernen 30 Installationen, oder vor Werken von Joseph Beuys: befindet man sich da anders? Gibt es irgendwo „Sicherheit“? Auf was als auf sich selbst ist man verwiesen? Nur: jetzt darf man diese „Modernität“ wieder nicht übertreiben. Es ist nicht Joyce gleich Nostradamus und Lehmbruck oder Giacometti nicht gleich El Greco. Es kommt für unsere Analyse zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nun noch das Moment des „Alten“ - nicht zu vergessen! - bedeutsam hinzu, bei El Greco die altmeisterliche Technik, die viele Jahrhunderte alte und gepflegte Bildersprache der westlichen Kultur, bei Nostradamus die Reflexe des antiken Christentums, der Kirchenväter, der alten Gestirnkunde, und deren Entwicklungen große Weltzeiten lang, das ganze Mittelalter hindurch, gipfelnd bei Joachim von Fiore, bei den Mystikern, den Franziskaner-Spiritualen. In dem synkretistischen Phänomen sind immer beiden Seiten – und damit auch noch mehr – zu würdigen: dieses macht die Analyse in modernem Sinn nahezu unmöglich: genau dieses ist der Schluss, den man aus den Bemühungen der Nostradamus-Literatur ziehen muss, oder aus den „Verdrängungen“ der synkretistischen Architektur aus den Stadtbildern, oder aus der stiefmütterlichen Behandlung der Philologie jener Zeit – wer wüsste auf Anhieb ein bedeutendes Buch der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts? Von allen Spaniern des siglo d´oro kennt man kaum Cervantes, den „Don Quijote“. Wer hat dieses eigenartige Werk ganz gelesen? Geschweige verstanden? Und bei Fernando de Herrera verbrannte fast sein ganzes Werk kurz nach seinem Tod, es gibt nur Fragmente, und sie sind erst viele Jahre nach seinem Tod erschienen. Dieses ist ein Ereignis, das wir schon bei der Architektur in Deutschland deuten konnten. Warum war das so? 31 Was passiert hier Bezeichnendes: nämlich „Zu-Verdrängendes“, ein „Nicht-Wahr-Nehmen“ und „Wahr-Haben“? Warum wird Torquato Tasso „geisteskrank“? Was nährt seine Paranoia? Fragen wir nach der Theologie, mittelalterlich der „Mutter aller Wissenschaften“. Wer war der bedeutende Theologe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts? Was charakterisiert seine Lehre, in ihren Wurzeln, und als Vorbild, und in iihrem Emporwachsen, und schließlich als abstrakte Ebene? Wer kommt nach Luther? Wer kommt nach Contarini? Wieder ist die gleiche Lücke zu sehen, zu fühlen. Wo sind die Exponenten? Ist alles schon übergegangen an die politisch Mächtigen, an die militärisch Wirkenden? Hier doch noch nicht, aber vielleicht schon im Ansatz: man denke an die Bürgerkriege in Frankreich, an ein Schweigen der Kultur dort, an eintretende charakteristische Verbindungen des Religiösen mit den militärischen Führern, gerade dort. Parallel dazu sieht man ähnliche Dekadenzen in Holland, der Freiheitskampf der Niederlande führt auf beiden Seiten zu einem Amalgam ungewöhnlicher Fächer. Und dieses momentum scheint zu keinen „Großleistungen“ - hier theologischer Art – die Ausgangsbasis zu bieten25. Eigentlich müsste man doch auf Anhieb wissen, wer damals in diesem Fach bedeutend war – ich recherchiere im Internet, ich finde nichts. Alles mögliche wird eingeblendet, aber nach Luther kommt gleich der Pietismus, und nach Contarini kommt gleich die Gegenreformation. Das kann doch nicht stimmen. Ich sehe Johan Valentin Andreä, aber der ist zu spät, schon im 16. Jahrhundert. Wir sehen in dieser Weise aber verdeutlicht die Vermutlich kann Ähnliches für die Philosophie dieser Zeit gelten. Wo sind die Lehrer des Descartes? Man muss seine Biographie heranziehen: er war bis zu seinem vierundzwanzigsten Jahr (1620) Soldat. 25 32 Schwierigkeiten, die den derzeitigen „Synkretismus“ begleiten: bei J. V. Andreä sogar in einem Verweis von der Universität und aus dem Stift. Wo sind seine geistigen Väter?26 - Dazu ein Gedanke: kann es nicht sein, dass wesentliche Ereignisse dieser Zeit sich der üblich gewordenen Kategorisierung entziehen, damit vielleicht auch dem „theologischen Fach“, um im Beispiel dieser Wissenschaft weiter zu sprechen? Geht hier die die Entwicklung etwa in Richtung einer geistlichen Laienfrömmigkeit, außerhalb der gängigen Sektoren des geistlichen Feldes, damit auch außerhalb der Schulen, der Institutionen? Und wird diese Strömung erst eine Generation später wieder sichtbarer, in Publikation wie in gesellschaftlicher Wirkung? Und nennt sich dann, gereift und „versteift“, „Pietismus“27? - Und kann man dieses schließlich als Modell anderer und verwandter Entwicklungen in manchen Sektoren des Lebens und der Wissenschaft nehmen? Bleiben wir bei den geistlichen Vorstellungen. Sosehr diese Zeit durch die religiösen Differenzen gekennzeichnet ist, so scheinen gerade die überragenden Figuren etwas anderes als diese Oberfläche zu leben: einerseits eine „reine“ lebenspraktische Haltung, zugleich eine tiefe Spiritualität, beides in einer eben gezeigten „synkretistischen“ Richtung. Bei dem Versuch der geistesgeschichtlichen Einordnung des Michel Nostradamus wurde vorgeschlagen28, Nostradamus keinem der beiden religiösen Lager zuzuordnen, sondern ihn eher als einen Vertreter jener dritten zeitlichen "Kraft" einzuschätzen, die als "humanistisch" zu bezeichnen wäre und auf Grund ihrer geistigen Potenz - gehörten Ich rate jedem Leser, sich ebenfalls diesem exercitium zu unterziehen: er wird deutlich spüren und finden: hier ist eine Lücke. 27 Und wer kann auf Anhieb sagen, dass vielleicht Johann Arndt der gesuchte bedeutende Theologe gewesen war? 28 Dinzinger, L., Nostradamus: Die Ordnung der Zeit, Aichach, 1991; 1992; 1993. 26 33 zu ihr doch die bedeutendsten Wissenschaftler, vorab Erasmus von Rotterdam und Willibald Pirckheimer - überhaupt nicht unterschätzt werden könne. Solches könnte auch mit den Ergebnissen zu diesem Horoskop bestätigt werden: es geht mit großer Wahrscheinlichkeit um eine religiöse Position, wie sie auch von Rudolf II. oder dem französischen König Heinrich IV. in verwandter Weise interpretiert wurden: sie ist einerseits pragmatisch, andererseits irenisch, und so schließlich auch „integrativ“. Solches bedeutet aber in dieser Zeit auch: spirituell, mystisch, unabhängig, sozial außen vor, vielleicht auch nicht in akademischen Graden. Es scheint die Person Michael Nostradamus geradezu ein Exempel der in dieser Phase der Geschichte aufkommenden Eigenheiten, Typiken und Topoi: und diese Wesenszüge wären für ein Verständnis der Zeit umso bedeutsamer, je weniger die damals entstehende geistige Welt heute „geteilt“ wird: weil die entstandenen positivistischen Deutungen der Welt so ziemlich genau diametral jenen „synkretistischen“ (oder auch „quietistischen“) Impulsen entgegengesetzt sind: dort wird Universalität angestrebt, hier Fachwissen, dort Verbundenheit, hier Distanz, dort Integralität, hier die Orientierung an „Elementen“. In der weiteren Erläuterung dieser Vorstellungen folgen wir einer Formel, die Gertrude von Schwarzenfeld für Rudolf II. gefunden hat. Nach ihrer Rekonstruktion sei damals aus dem Boden des "Humanistischen" bald etwas Neues erwachsen: und dieses sei anders geworden als der Wurzelgrund, dem es entstamme. Sie schreibt dazu und über Rudolf wörtlich: "Das Neue seines Verhaltens lag in der Abkehr von den alten Antithesen und in der Hinwendung zu neuen Inhalten der Kultur. Durch den Zwang der Gegensätze geriet er oft in eine zwiespältige Lage, die seinem 34 inneren Zwiespalt entsprach. Aber seine Zwitterstellung brachte in seinem Umkreis neue kulturelle Interessen zur Entfaltung, welche die alten Gegensätze hinter sich ließen. Die Tatsache, daß er mitten in der Gegenreformation - zu gleicher Zeit wurde Giordano Bruno in Rom verbrannt - dem Calvinisten Tycho de Brahe und den Lutheraner Johannes Kepler an seinen Hof berief, zeigt deutlich, dass er sich über die Vorurteile seiner Zeitgenossen hinwegsetzte, wenn es galt, dem Neuen zu dienen. Das Neue war um das Jahr 1600 die selbständige wissenschaftliche Forschung"29. Wenn man zu diesen Sätzen die Vorstellung des „Synkretismus“ hinzu zieht, und statt „zwiespältig“ das Wort „vielfältig“ setzt, dann kommt man einem Verständnis nahe, das wir hier intendieren, aber nicht nur für Rudolf, sondern für eine ganze Generation hoch gebildeter Personen, die heute großenteils im Dunkel der Zeit verschwunden sind. Zugleich aber ist auch der letzte Satz zu relativieren: das Neue ist wohl weniger die „selbständige wissenschaftliche Forschung“ sondern der Impuls, der solcher Tätigkeit und den mit ihr verbundenen Haltungen zu Grunde liegt: dieser unterscheidet sich von der vormaligen „mittelalterlichen“ - Orientierung an antiken Autoritäten, wie etwa die Kirchenväter, oder der mittelalterlichen Wiederentdeckung des Aristoteles und seiner Pflege in der akademisch anerkannten Scholastik: es ist dieses eine entschieden abstrakte Haltung gegenüber den Gegebenheiten der Welt, das Vorbild der „Abstraktion“ in der modernen Kunst, und es ist dieses ein Wissen um die Gültigkeit vieler subjektiver Realitäten, selbst wenn sie von einem Kaiser gepflegt werden: ein „Sich-Zurücknehmen-anMacht“, an Entscheidung, an „pädagogischem“ Einfluss, geradezu „postmodern“, ein Opfern der „modernen Sicherheit und Schwarzenfeld, G. v., Rudolf II., München, 1979, 13; vgl. a. Trunz, E., Wissenschaft und Kunst im Kreise Kaiser Rudolfs II. 1576-1612, Neumünster, 1992. 29 35 Überlegenheit“. Uns scheint, hier ist G. v. Schwarzenfeld eine geradezu einzigartige Verdichtung der vergangenen historischen Impulse (erste Hälfte des 16. Jahrhunderts) und der aktuellen geschichtlichen Valenzen (zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts) für ein Nachvollziehen der Zeitumstände gelungen. An dieser Stelle sollte man weiter nachdenken, um zu einer klareren Bestimmung und zu einer geklärten Idee von „Manierismus“ zu kommen: vermutlich ist dieser Begriff doch besser als „Synkretismus“, letzterer wird in einem generelleren Sinn auch für andere Phänomene verwendet, ersterer ist zeitspezifischer und auf die individuelle Wesenhaftigkeit der befragten synchronen Zeit besser zugeschnitten. Bei solcher neuer Definition sollte aber im Auge behalten werden, dass auch andere gute Begriffe vorhanden sind, etwa „Spätrenaissance“: leider bestimmt dieses Wort aber keine Qualität dieser Zeit, in einem subjektiv unmittelbar erlebbaren und ablesbaren Sinn, in parallel entstandenen lebendigen und vielfältigen Konnotationen. Weiter angesprochen werden muss auch noch einmal an die Vorstellung des Giorgio Vasari von „maniera moderna“, und zwar in ihrem zweiten Bestandteil – geben doch gewisse Hintergründe der modernen Kunst, gemeint ist dabei vor allem das ausgehende 19. und das 20. Jahrhundert, in Begriffen wie Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, Futurismus, Pop-Art, Fauvismus usw., unserer Meinung nach eben jenes Moment und jene charakteristische Eigenart, die „manieristisch“ benannt werden kann, recht entschieden wider. Verwandtes geschieht auch in neueren Kunstformen, etwa in der Fotographie, im Film30, oder – mit am deutlichsten - in Installationen. Gerade in Installationen wird jenes Gefühl der Indifferenz, der subjektiven „Ausgesetztheit“, der 30 Luis Bunuel. 36 stupenden Überwältigung, des Eintritts in eine vielfältig imponierende Wahrnehmungswelt, das manieristischer Kunst zu eigen sein kann, überwältigend präsent: man denke an die RaumLicht-Installationen von James Turell, Wahrnehmungswelten ohne Figur, „reiner Grund“ - dieses gestaltpsychologisch angesprochen damit kaum beschreibbar, ein „Zwischen“, ein „wesendes Nichts“, mit befreienden Wirkungen auf die Verfasstheit des betrachtenden Subjekts, und der Lösung seiner Vorverfassung in neue Weite: dieses noch deutlicher in seinen monumentalen Land-ArtInstallationen. Die Farbwelt, die James Turell erschlossen hat: sie könnte man doch „manieriert“ nennen: es ist völlig anderes „colour“, der Glanz und das Schimmern einer Zwischenwelt, einer Innerlichkeit, einer ins Objektive gesteigerten Subjektivität, einer Spiritualität31. Wir setzen noch einmal neu an, um den Zugang zu dem beschriebenen Phänomen näher zu eröffnen. Dabei gilt es nun, die Beziehungen und den Zusammenhang eines Horoskops zu berücksichtigen: wenn man dieses als „Kunst der Deutung“ auffasste, so wie gute Praxis der Medizin als „ärztliche Kunst“, so sollte man danach suchen, was die Intentionen solcher Darstellung, Information und Heilung ist. Die Ziele und Zwecke sind wohl ganz allgemein gesprochen andragogische, auf alle Fälle „bewusstseinsbildende“, vielleicht auch sozialisierende, es sind herausfordernde und Entwicklungen individuell wie kollektiv anregende. Wenn man also den Zusammenhang und den Sinn und Zweck eines Horoskops erwägt, dann steht man plötzlich vor Benachrichtigungen über das eigene Wesen, vor Verständigungen über das existenzielle Befinden, man gerät miteinander in Eine entschlossene Kritik an diesem „modernen Manierismus“ stellt Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“ dar: er vertritt darin eindeutig den „konservativen“ Aspekt. 31 37 „Vermittlungen von Weisheit“, und dieses sind zuerst psychologische dann aber - noch mehr - philosophische Dimensionen. Eben dieses ist aber doch ganz ähnlich der Kulisse „manieristischer“ Kunstobjekte; solche haben unbestreitbar über ihre sensuelle Qualität hinaus eine „abstrakte Ebene“, einen Sinn, der in rätselhaftem Konglomerat verborgen sein kann. Und solcher Sinn kann in „feuerigem Spiegel“32 - so Michael Nostradamus über die Gestirnkunde – vervielfältigt, mehr als verdoppelt, in hohen Graden schillernd sein: und wir wenden hier eine Metapher über Astronomie und Astronomie auf alle Produktionen eines „Manierismus“ an, in bildender Kunst, in der Literatur, in den Geisteswissenschaften, in denen das changierende Moment bis ins Beirrende und Unverdauliche gesteigert werden kann. Man denke dabei, ausgehend von der Malerei, an Salvador Dali oder Max Ernst, man nehme in der Literatur Arno Schmidt hinzu, und dann beschäftige man sich mit den Manifesten des Surrealismus, oder mit den Synästhesien Kandinskys und den Abstraktionen seines Kunstbegriffes. Dann gehe man weiter, und vergegenwärtige sich, wie solche Attitüde in der Vermittlung von Information gehalten sein kann, und damit auch in einer Erklärung einer Gestirnkonstelleation, die eine Geburt begleitete: nimmt man hinzu, dass solches Horoskop von einer Person entworfen sein kann, die für einen Propheten oder Seher gehalten wird, etwa wie bei Michael Nostradamus, wird diese philosophische Dimension – das nach seinen Worten „astrophile“ Moment - noch deutlicher. Es tritt nun zu einigen abstrakten Ebenen noch ein Moment spiritueller Reflexion hinzu, und die Ebenen der Konnotationen gewinnen an weiterem Umfang und an gesteigerter Qualität, und dieses – sagen wir mal - „spiritualistische“ Moment gibt eine sehr entschiedene 32 Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 18. 38 weitere synkretistische oder manieristische „Wiederspiegelung“ hinein: dabei kann man sehr gut an andere moderne Künstler denken, die ihre Intentionen auch philosophisch überhöht darstellten, erwähnt seien das („manieristische“) Spätwerk von Karl May, Leo Tolstoi, Ernst Barlach, u. v. a. m.. Hier geht künstlerische Produktion in philosophische Reflexion über: ein naives „Bilden“ nicht im pädagogischen Sinne hier gemeint, aber doch sehr bezeichnend doppeldeutig – geht „hinüber“ in ein „Lehren“, und ein „Mitteilen“ von oft nur intuitiv wahrgenommenen Inhalten. (Natürlich gibt es dieses „naive Bilden“ in der Kunstgeschichte kaum, der Begriff ist hier dialektisch eingesetzt, um die gemeinte Bedeutung herauszuarbeiten.) Könnte es nicht sein, dass so Michael Nostradamus bedeutende Anhaltspunkte zu geben vermag, um jenes zu verstehen, das „Manierismus“ genannt wird? Der Schluss ist möglich, wenn nicht gar nahe liegend: und die Gewinne scheinen auf der Hand zu liegen, denn zugleich werden gewisse Weisen von Texten des 19., 20. und 21. Jahrhunderts klarer. Doch wie konnte dieses so untergehen? Die genannten Zusammenhänge, Korrelationen und Parallelen können für Michael Nostradamus nicht nur in modifizierter Form gelten: er ist geradezu ein Beispiel eines „manieristischen Synkretismus“, als Arzt, als Astrologe, als Hersteller von Arzneimitteln, als Mitbegründer der modernen Kosmetik, als visionärer Deuter der Zukunft, mit theologischen und philosophischen Inspirationen; und es sei an dieser Stelle nur an jene Tatsache erinnert, dass Nostradamus enographische Rechenergebnisse in seiner spezifischen Zyklenlehre nur in einer schnellen und bedingungslosen Rezeption der Lehre des Kopernikus in den dreißiger und vierziger Jahren 39 des Jahrhunderts erklärbar sind33. Dabei ist Nostradamus - weitaus stärker als der spätere Rudolf - auch bedeutend von den Ursprüngen des neuen Denkens geprägt, vor allem von Erasmus von Rotterdam, zudem von den protestantischen Denkern und ihrer biblischen Orientiertheit (vor allem was die eschatologischen Aussagen anbetrifft). Es ist aber nicht zu unterschätzen, dass Nostradamus neben seiner Bevorzugung der Theologie der Kirchenväter auch geprägt war von einer scholastischen, damit traditionell philosophischen und religiösen Einstellung, die wiederum dem Augustinusmus Bonaventuras und den Lehren des Duns Scotus, damit der frühen und späten Franziskanerschule nahe steht, und er darüber hinaus aber auch unleugbare mystische Wurzeln aufweisen kann, in der Nutzung der platonischen und neuplatonischen Philosophie, in kabbalistischen Hintergründen, und vor allen Dingen in einer Rezeption des Joachim von Fiore und seiner Nachfolger, der Spiritualen. Damit sind die vielen (!) Kernthemen angeschnitten, die die Sozialisation dieses historischen Exponenten bestimmen. Und vermutlich gilt dieses in wenig modifizierter Weise auch für Rudolf: für ihn ist ebenso anzunehmen, dass ihn die Fülle der im 15. und 16. Jahrhundert entstandenen neuen Kenntnisse zu völlig neuen Schlussfolgerungen über „Gott und die Welt“ getrieben haben, ganz in dem Sinne, den wir aus G. v. Schwarzenfeld zitierten. Doch wieso ist uns diese Zeit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts so fremd geblieben? So fremd, obwohl sie vielleicht „moderner“ ist, dazu auch „postmoderner“, als manches andere weiterer Entwicklung? Und, wir nehmen hier jene Linie der Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass eine Schule der philologischen Forschung zu Nostradamus zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommt, Gründe dafür in: Brind´ Amour, P., Nostradamus Astrophile, Ottawa, 1993. Leider steht man diesen Ergebnissen in weiten Kreisen der Forschung weitaus zu unkritisch gegenüber. 33 40 „Verdrängung“ auf, die uns an den bedeutendsten Architekturen dieser Zeit in Deutschland und Österreich erschienen ist, oder an den Problemen, mit denen die Literaten behaftet erscheinen, oder an dem Mangel der Theologie, wieso sind beide Personen, Nostradamus und Rudolf, so abgewertet, so „verachtet“, so weitgehend fehlinterpretiert? Liegt hier erneut der gleiche Prozess der Abwehr von Bedeutung vor, ein „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ einer komplexen Entwicklung am Beginn der Moderne? Sind diese Personen, viel mehr noch als diese beiden, ganz anders zu verstehen? Es gibt Ansätze dazu: Franz Grillparzer hat viel später versucht, Rudolf - in seinem "Bruderzwist im Hause Habsburg" als „Herrscher-Weisen“ zu rechtfertigen: doch trotzdem: der Geschichtsschreibung galt er lange als geistig umnachteter "Sonderling auf dem Kaiserthron". Heute sind wir hier kaum weiter: anscheinend sind die „Schubladen“ psychiatrischer Stigmatisierung verführerischer als die Besichtigung vielfältiger und vielschichtiger Leistungen. Ähnliche Verhältnisse finden wir im Nostradamus-Verständnis von Anfang an bis jetzt noch: manchen seiner Zeitgenossen gilt er als „trunken“, bestimmte Kritiker entwerfen schon zu seinen Lebzeiten Despektierliches, wer noch „milde“ bleibt, nennt seine Erzeugnisse „dunkel, unverständlich, orakelhaft vieldeutig“. Ein amerikanischer Interpret des 20. Jahrhunderts deutet ihn als „alkoholkrank“; ein kanadischer „Exeget“ der letzten Jahre des gleichen Jahrhunderts spricht ihm alles astrologisches Können ab; neuere Deutungen rücken ihn in die Nähe eines Schwindlers, dem seine Handlungen wie einem durch Drogen stimulierten Schamanen unbewusst und unverständlich blieben, und dieses verschleiert gehalten unter bewusst indifferenter Sprache. Das alles reicht doch bei Weitem nicht hin: würde jemand so mit den Produktionen moderner Kunst 41 umgehen, hätte er seine Teilhabe am Prozess der kulturellen und künstlerischen Produktion verwirkt. Wir unterlassen es, auf die verschiedenen Behinderungen, Abhängigkeiten oder Verschrobenheiten moderner Künstler hinzuweisen: niemand würde ihre Leistungen von solchen Faktoren kausal abhängig darstellen. Warum aber untersucht man diese hier – alle die genannten Exponenten jener Schule der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - nicht ebenso behutsam, sacht, verständnisvoll, nachdenklich, dieses und jenes berücksichtigend, einbeziehend? Was ist geschehen, das diese Äußerungen der Spätrenaissance so unverstanden geblieben sind? Wir versuchen dazu noch einmal eine einfache geschichtliche Konstruktion, mit wenigen Mitteln. Man kann überlegen, welche vier Personen – aus der Sicht von uns heutigen, in viel späterer Bewertung – in den beiden Jahrhunderten zwischen 1400 und 1600 jeweils für fünfzig Jahre die bedeutendsten „Spuren“ hinterließen: mit der Serie dieser vier Personen, ihrer vier Berufe, ihrer vier Handlungsweisen kann man eine historische Linie konstruieren, die Gründe und Ziele bestimmter zeitlicher Phasen, immer für fünfzig Jahren, deutlicher werden lässt. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bleibt einem wenig anderes übrig, als an Fra Angelico und Brunelleschi zu denken: in ihnen äußert sich das Neue am deutlichsten34. Zwischen 1450 und 1500 bleibt als einzige denkbare Möglichkeit Christoph Kolumbus, mit der bedeutendsten Entdeckung und den weitreichendsten Man kann eventuell für die erste Phase andere Personen wählen, etwa Donatello oder Mantegna, die Schlussfolgerung bleibt die Gleiche. Es ist auch gut möglich, andere Personen, etwa Leonardo, oder Michelangelo, oder Nostradamus, auch Rudolf, in dieses „System“ einzubeziehen: dann könnte man weitere Schlüsse und Evaluationen ableiten. 34 42 Folgerungen. Zwischen 1500 und 1550 legt Martin Luther die theologischen Fundamente einer neuen Deutung des Religiösen, d. i. hier des Christlichen, in riesigen Konsequenzen. Und 1550 bis 1600: die schwerwiegendsten Entwicklungen geschehen sicherlich unter Elisabeth I. von England, im Gelingen ihrer Politik. Was ist zu sehen? Die bildende Kunst entwirft in geradezu über ihre Zeit hinaus greifender Weise eine Vorwegnahme des Neuen: plötzlich steht neu geboren und jung ein anderer Ausdruck da, eine neue Auffassung des Menschen, eine andere sinnliche Erfahrung, ein neuer Kolorit, ein neuer Raum; und diese Weise mündet in der zweiten Phase in einen Ausgriff regionaler Bewegung, in eine Ausfahrt und ein Begreifen, die Welt könne anders verstanden werden, sie sei viel größer, und dann kann sie tatsächlich weitaus anders als vormals erfahren werden: es gewinnt das Handeln von Seefahrern, Händlern, Eroberern plötzlich eine weit tragende Komponente, es sind Menschen der Tat, schwer arbeitende Pragmatiker, die mit einem Schlag den Radius der Welt nahezu „verdoppeln“, in allen Weltteilen um Europa herum - es geht der Impuls von der juvenilen Unberührtheit der Kunst zu diesen unermüdlich Zupackenden, zu ihrem Ungestüm und ihren harten Willen; danach aber reift ein Werden, nach dem Weitergang vom Bild zur Welt, nach der Fortführung von Antizipation zu Realisation, und nun gerät die Renaissance zur „Reformation“: Martin Luther formuliert die Impulse des Neuen in philosophischer und theologischer Weise: er eröffnet neue Horizonte von Freiheit und Individualität, von Gnade und hingegebener Innerlichkeit, von persönlicher Entscheidung und dezidierter Lehre: diese steigern die vorherigen Dimensionen des Ästhetischen und des Aktualisierten in eine „intelligible Form“ hinein, in neue Begriffe und neue Ordnungen geistiger Vorstellungen - von dieser Person nun 43 hängen viele geistige Einflussnahmen ab, sie durchdringen die Zeiten und Zonen, sie „befeuern“. Danach nun käme die Zeit zwischen 1550 und 1600: nach dem Modell wäre es nun an der Zeit, reflexive Distanz zu dem Vorherigen zu gewinnen. Es wäre Zeit zu sichten, neu zu ordnen, neu zu bewerten, in kontemplativer Sammlung und in angestrengter Reflexion. Es wäre die Zeit zu wählen, es wäre eine Zeit der Diskussion und der sozialen Übereinkünfte zu postulieren: das erste Künstlerische und Sensuelle, das folgende Welterfahrene und das Zupackende, das darauf entstandene Religiöse und das Philosophische und Theologische: es sollte „gesteigert“ werden, verarbeitet, in das Spirituelle und Kosmische erhoben werden, es sollte zu neuem Staat, neuer Religion und neuer Norm sich formen – was aber geschieht? Vielleicht ist die Anforderung zu hoch, vielleicht sind die Kräfte erschöpft, vielleicht ist der Respekt und Kniefall vor den entstandenen Autoritäten zu groß, oder eventuell ist auch das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gering. So gelingt die neue (vierte) „moderne“ Qualität nur bedingt und vereinzelt35; und wo sie gelingt, bleibt sie oft unverstanden, wird nach kurzer Zeit dem Verfall und der Abwertung übergeben – warum? Der Erfolg widerspricht: gemeint ist der politische Erfolg, in dem Werden der neuen Weltmacht England, und in der spanischen Niederlage, die die Habsburger und damit auch Deutschland und Österreich an den Rand stellt, weil Kaiser und in spanischer König mit im Verfall des in Spanien verwirklichten „goldenen Zeitalters“ leiden. Ja, es wendet sich die Geschichte ab von dem „manieristischen“, von dem „synkretistischen“: sie vereinfacht, sie 35 Und vollends erst im Bruch der Moderne, an ihrem Gipfelpunkt, im 20. Jahrhundert? 44 reduziert, sie wird in großen Stücken materialistisch, utilitaristisch, kapitalistisch, und sie geht in den Bereich des Machtpolitischen: das Einverständnis von Staatenlenkern, Beamten und Philosophen wird später geradewegs münden in positivistische Naturwissenschaft und aufklärerische Philosophie, deutlich sichtbar in den englischen Entwicklungen der nächsten 50 Jahre. Und diese Entwicklung wird dort begleitet von in jenem zweiten oder dritten Umsturz des traditionellen Königtums dort, es entsteht ein Staat, der von Parteien und Parteiungen gekennzeichnet ist, wurzelnd in einem „Konkurrenzkampf“, und bald beginnt sich die „radikalste“ Richtung durchzusetzen, mit Oliver Cromwell. Und, was was in diesen angesprochenen Regionen entsteht, im Sprachlichen, Architektonischen – interessant ist, welche Kunstgattungen ausgenommen werden36 – unterscheidet sich dramatisch von jenen Produkten, die auf dem Kontinent unter dem Einfluss der Gegenreformation oder in der Fortführung iberischer Impulse geschaffen werden. Bezieht man nun ein, das gewisse Mitteilungen barocker Kunst sehr wohl als inhaltliche wie handwerkliche Fortsetzungen der manieristischen Spätrenaissance zu betrachten sind, wird deutlich, wieso solche Wesenheiten im Westen nicht erkennen sind: sie sind im Norden der Neuen Welt völlig unvorstellbar, und sogar schon in Norddeutschland unmöglich. Zugleich sieht man in westlicheren Regionen eine wunderbare Fortführung des Palladio, gerade so, als kennte man die erwähnte vierte Stufe, die „spiritualistische“ des Manieristischen, nicht, genannt sei hier vor allen Dingen Inigo Jones mit seinen großen Wirkungen für die Architektur Nordamerikas. Im Sinne der hier unternommenen Konstruktion könnte man nun sagen: es geht das Verständnis des 36 Man lese dazu Hans Sedlmayrs Darstellung des Mangels an Plastik in England. 45 „Manieristischen“ wegen der entstandenen Übermacht des Politischen unter, es muss sozusagen verfallen und „verdrängt“ werden, es gewinnen neue Institutionen des Staates die Oberhand, in anderen Ländern, mit anderen Institutionen: und wird nicht gerade in England das frühmittelalterliche vermisst37? Und so kann gerade die eigentümliche Form, die das Lebens des Rudolf II. ausdrückt, ein Abbild eben dieser „an den Rand rückenden“ Geistigkeit sein: es geht Bedeutung in mehrfachem Sinn verloren – im deutschen Staat, in der deutschen Geschichte. Ähnliches gilt für Frankreich, in Personen wie Heinrich II., Heinrich IV., Nostradamus. Beispiele für Italien und Spanien haben wir auch schon gegeben. Um dieses zu komplettieren, kann man sich dem Versuch unterwerfen, sich vorzustellen, was geschehen wäre, hätte nicht England sondern die spanische Armada gesiegt: dann wäre die künstlerische wie die politische Entwicklung „manieristischer, synkretistischer“ geblieben, es hätte nicht das radikal Neue die Oberhand gewonnen, sondern eine „Mischung aus Mittelalterlichem und Neuem“, um es plakativ zu sagen: und wir wären alle nun „allegorischer“ gestimmt, symbolkundlich gebildeter, wissenschaftlich konservativer, rationalistisch vorsichtiger und interpretativ polyvalenter. Man könnte nun zuweilen meinen, die moderne Kunst hole nun diese Haltungen einige Jahrhunderte später („verspätet“?) noch einmal nach, und zwar sehr konzentriert, und wieder nach einer eher „naiv“ zu deutenden Phase, mit Monet, Renoir, van Gogh: selbst in den einfachsten Werken eines Hopper, Mondrian, Feininger, Lindner, Pollock scheint plötzlich eine geistige Dimension durch, ein Geheimnis 37 Man schaue auf die bezeichnenden Rekonstruktionen bei J. R. R. Tolkien. 46 spiritualistischer Überhöhung, die Linien, die Farben, der Stil gewinnen Ebenen an Konnotationen, zuweilen mengen sich dann, vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, wieder auch alte Bedeutungen hinein. Auf der anderen Seite kann man sich vorstellen, welche langen Jahrhunderte von „Klärung“ nötig gewesen wären, um von den komplexen und vielfältigen Synkretismen des Manierismus zu jenen entschiedenen Schritten der Abstraktion und des puren Reflexiven zu kommen: doch enthalten scheinen diese auch dort, wenn auch „gewundener, mysteriöser, ambivalenter anspielend“. Was also nun ist „Manierismus“? Wie ist dieser Begriff anzureichern, zu verändern, oder auszutauschen, um zu gültigeren Vorstellungen über das zu kommen, was sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ereignet? Wie kann man jenes, was Michael Nostradamus kreiert, nennen? Was tut er? Die „Manieristen“ erschaffen eine neue Vorstellung von „Gott und Welt“, von Transzendenz und Immanenz, auf der Grundlage der neuen Bewertung sinnlicher Erfahrung, ausgedrückt in der Kunst, auf der Grundlage einer weiter gespannten Auffassung von Himmel und Erde, in der Kugelgestalt und in dem heliozentrischen System, und auf der Grundlage neuer theologischer Vorstellungen, die gerade in der Abwehr des weiteren Ausbaus des mittelalterlichen Paradigmas entstehen. Wie ist dieses dritte gemeint? Mit Le Goff war der Fund der mittelalterlichen Periode das Fegefeuer. Es ist dieses ein „Rand“, „limbus“, eine dünne Haut, die die Immanenz überzieht: eine Art „Zwischenstadium“, das vermitteln soll zwischen Physischem und Metaphysischem. Diese „Wand“ ist „porös“, ganz im Sinne der diaphanen Architektur der Gotik, die der romanische Bemalung des gänzlichen Kircheninneren folgt. Verstorbene passieren diese „Wand“: und wenn sie nicht würdig sind, den 47 Himmel zu erreichen, oder noch nicht erlöst, wie die alttestamentlichen Väter, dann müssen sie in dem Zwischenzustand jener „Haut“ verharren, darauf warten, bis sie in Gnade „befördert“ werden. Eine Lösung, diese Wartezeit zu verringern oder aufzuheben, war der Ablass: er diente dazu die „Sündenstrafen“ im Fegefeuer abzumildern, zu verkürzen, oder ganz zu erledigen. Gegen diese Vorstellung erhebt sich nun der geharnischte Protest der Reformatoren: sie erkennen darin ein Übergewicht der kirchlichen Macht und eine unangemessene Verringerung der Verantwortung des Individuums, sie sehen darin die Forderung einer irdischen Leistung, deren Bedeutung viel zu groß aufgeblasen wird – und sie wollen folgerichtig die Bedeutung des Glaubens des Subjektes voran gestellt sehen. Wir Heutigen würden sagen: die „Materialisierung“ der Transzendenz (und des Überganges dorthin) in der Vorstellung „Fegefeuer“ wird bei ihnen zu Gunsten einer willentlichen Entscheidung, die unmittelbar mit dem Göttlichen und Überwirklichen kommuniziert, zurück gestellt. Dieses ist das neu gepredigte Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen: die alten Vermittlerrollen der Heiligen, der Kirche, der Priesterschaft werden nicht mehr benötigt, der Laie übernimmt die Verantwortung für sich selbst.38 Michael Nostradamus schreibt nun in der ersten Vorrede seiner „Prophezeiungen“, seine Werk, sein Wort, seine Vorhersage sei inspiriert „durch die Stimme, die entsteht am Rand“, „par la voix faict au limbe“39. Das bedeutet: der Geist, der ihm zukommt, ist „vermittelt“ – wie zuvor, in langer Weltzeit – durch ein Dieses ergibt dann das spezifische protestantische/reformierte Erscheinungsbild kleiner Gemeinschaften, Gemeinden, Freikirchen. 39 Die Prophezeiungen, 1555, Satz 18. 38 48 übermittelndes Glied. Dieses ist aber keine „körperliche Haut“, sondern ein Klang, eine Art „Ton“, der vielleicht die Qualität einer Stimme gewinnt. Damit aber ist „jenseits“ dieses „Hörens und Gehorchens“ ein weiteres agens anzusetzen, ein unfassbares Immaterielles. - Die heutige Physik operiert mit recht verwandten Vorstellungen, erwägt, ob unsere Erfahrung nicht einem Hologramm verwandt sei, erzeugt auf einem zweidimensionalen Ereignishorizont – einem Dia, oder einem Film in einer laterna magica vergleichbar -, und dieser Ereignishorizont wäre wiederum im Zusammenhang „schwarzer Löcher“ zu verstehen. So findet man zwar wieder einen „Grund“, verschiebt aber die weitere Ursache in ein „mysterium“ hinaus. - Nostradamus hebt die mittelalterliche Vorstellungswelt nicht auf: dieses ist das konservative Moment; er fügt aber die überreich mögliche und das Subjekt überwältigende Einflussnahme des Göttlichen hinzu, und dieses auch in „privater“ Weise, ohne Vermittlung der kirchlichen Institutionen: „der Geist weht wo er will“. Dieses wirkt auf alle Fälle „synkretistisch“: es vereinigt die mittelalterliche Vorstellung mit den aktuellen Ergebnissen der Theologie, vermeidet die darin verborgene Polarität, die Anlass zu Auseinandersetzung geben könnte, zu Gunsten einer geradezu selbstverständlichen Zitierung beider Vorstellung. Diesem Faktum hinzu fügt er nun seine vorhersagenden Bilder, Symboliken, Aphorismen und zeitlichen Gliederungen: sozusagen als ein „Drittes“, die beiden Aspekte vorher vervollständigendes, ergänzendes und erfüllendes Wesen. „Manierismus“ scheint am besten für jene Phänomene zu gelten, die in bewusster Weise differente Materalien, Themen, Stile miteinander zu kombinieren suchen, dabei zu neuen und 49 geplanten Zusammensetzungen und Gebilden kommen, und dieses oft auch ohne eine „neue Einheit“ zu finden. Man denke dabei an manche Disparatheit, die Elaborate des Historismus im ausgehenden 19. Jahrhundert gewinnen, oder manche etwas „künstlich“ wirkenden Versuche französischer Revolutionsarchitektur, und ist auch nicht Arcimboldo ein wenig im Verdacht, seine Kompositionen erreichten jenes Moment der Kunst nicht, eine andere und völlig neue und außerordentliche und abstrakte Wirklichkeit heraufzubeschwören? „Manierismus“ wäre demnach eine Art Vorstadium in einem so vorgestellten Kunstprozess, ein (allzu) bewusstes Suchen nach Neuem, in beliebigen Rekombinationen aller möglicher Elemente, im Zusammenfügen von Bedeutungen, die für dieses und jenes und vieles „symbolisch“ sind: symbolisch, von griechisch „symballein“, „zusammenwerfen“. Führt man nun die Überlegungen zur Charakteristik der „Moderne“ weiter, in Abhebungen zu jenem „Limbus“ des Mittelalters, so meint man in den neuen Auffassungen eine Dialektik zu erkennen. Eine statische Annahme wird aufgehoben zu Gunsten einer dynamischen. Solange nun dieses Suchen und Tasten nach dem „Anderen“ noch in der Versatzstücken des Bekannten verweilt, so lange ist das scheinbar „Manierismus“: tritt nun aber, wie bei den besten Künstlern, wie Michelangelo, Nostradamus, Vredeman, Breughel u. a. m., die „Inspiration“ hinzu, ein „Transzendieren“ im existenzialphilosophischen Sinn, dann entstehen Transparenzen, ganz andere, als im diaphanen Sinn des Mittelalter, nämlich neue, dem Individuuum verwobene, damit nicht mehr traditionelle, alten Autoritäten und der aristotelischen „Übereinstimmung der Besten“ und den immer gleichen Darstellungen und Stilformen verpflichtete. Und damit wird das Individuum in eine völlig neue 50 schöpferische Bewertung gehoben: es vermag zu schaffen, es erzeugt ein kreatives Produkt, dieses ist subjektiv, aber doch auch allgemein gültig, wenn es gelingt, und dann erhebt es sich zu kollektiver Bedeutung, mündet „hinüber“ in eine Allweisheit, ist ein „Abglanz“ der Emanationen des Lichtes. Und wie soll man nun jenes, was nach einem „Manierismus“ kommt, nennen? Es ist etwas Elitäres, nur wenigen Zugängliches: es steht jenseits des Populären und der Moden, es hat überindividuelle Bedeutung. Die moderne Psychologie kennt neben der Psychoanalyse eine Methode der „Psychosynthesis“, im Rahmen der „transpersonalen Psychologie“: es scheint, als arbeitete die Moderne so immer noch an Begrifflichkeiten, die den neuen Wert des Einzelnen und seiner Vision definieren sollen. Verwandte Begrifflichkeiten suchen das Mittelalterlich-Mystische zu überwinden, in Vorstellungen von „Transzendentalphilosophie“, von „Zen“ und „Tao“, von Bewusstseinserweiterung und Psychodelischem, von „Theosophie“ und „Anthroposophie“. Während die mittelalterliche Weise „einbettet“ in die schillernden Darstellungen der Schrift und der Heiligenlegende, versucht der Barock – in konsequenter Fortführung des Manierismus – zur „Ekstase“ zu erheben, zu überzeugen mit Füllen von quellender überweltlicher Stimmung. Kann so etwas nicht auch für Michael Nostradamus gelten? Allerdings müssen wir dieses Moment für die Mitte des 16. Jahrhunderts etwas geringer akzentuiert, human gemildert, vorsichtiger tastend, und nicht gegenreformatorisch übersteigert („überkompensierend“) ansetzen. Wird nun erkennbar, welche Möglichkeit diese Formel bildet, und wie es historisch geradezu folgerichtig sein kann, dass nach der Reformation eine neue 51 Bedeutung von „Prophetie“ vorstellbar wird? Und diese geradezu notwendig wird? Und in dieser neuen Form die „Rettung“ älterer Bestände gelingen kann, zugleich mit der lebhaften Installation des Neuen, des Erstaunlichen, des Wunderbaren? Zugleich wird auch klar, wie gerade diese Valenzen nun der Politik der Zeitgenossen unterliegen: der Beschränktheit der lokalen Machthaber und jener, die nach Durchsetzung gieren; der ängstlichen Befangenheit der mittleren „Beamtenschaft“, die nicht wissen, wohin „sie ihr Mäntelchen hängen sollen“; und der Perfidie der großen Hegemonialmächte, die stur ihren Weg einschlagen und einhalten, ohne tiefere Kenntnis, wem das Schicksal sich zuneigen wird, alleine vertrauend auf ihre immanenten Kräfte und ihre Intrigen und Strategien? Ist so verständlich geworden, was hier kurz aufleuchtet? Und womit wir hier zu rechnen haben? Und was immer wieder und bis in ferne Zukunft diskreditiert werden kann? Michael Nostradamus missverstandene Worte liefern beliebige Versatzstücke billiger Sensation, wenn es die Verkaufsziffern fordern: aber wer schreibt von jenem geistigen Phänomen, für das er steht, und zu dem er Wesentliches beigetragen hat? Heute ist er nur noch brauchbar für Schlagzeilen, die die Angstlust des modernen Menschen periodisch befriedigen, a la „Dritter Weltkrieg, Grenzen des Wachstums, Ozonloch, Super-GAU, Klimakatastrophe, Diktatoren, Überbevölkerung, Hungertod, clashof-nations“ usw. – und dieses ist so weit weg wie kaum vorstellbar möglich von der dem Visionär zukommenden Position von hohem wissenschaftlichen Rang und von ebensolcher geistig-abstrakter und philosophisch-metaphysischer Stufe. Ja, es erscheint heute geradezu als absurd, für diesen als völlig hoffnungslos 52 eingeschätzten "Fall" ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung und Auseinandersetzung zu fordern. So blieb er viel zu oft einer vorschnellen Subjektivität überlassen: und jeder Generation, die ihn mit ihren allzu einfachen und immer reduzierter und simpler werdenden Mitteln ausdeuten wollte, geriet er weiter ins Abstruse, ins Erregte, ins Hysterische, zuletzt und abscheulich unserer Zeit gar ins sogenannte "Okkultistische" und ins „Magische“. Weiter daneben könnte ein Verständnis kaum liegen! Welches Missverständnis ist hier entstanden, jener Person gegenüber, die die Geistesgeschichte eines Tages rehabilitieren soll als "die Zierde seiner Zeit"40, wie er selbst vorhersagt - und dieses bedeutet bei Zeitgenossen wie Michelangelo oder Karl V. oder Heinrich VIII. schon Einiges! Es kann als ein unerhörter Glücksfall eingeschätzt werden, dass dieses Original seines umfangreichen Horoskops für den späteren Rudolf II. in Augsburg erhalten worden ist: ein Glücksfall für die historische Kenntnis der davon berührten geschichtlichen Figuren, ein Glücksfall für das Wissen um Astrologie und Astrologiegeschichte, ein Glücksfall für die zukünftig daraus erwachsenden Vorstellungen, Begriffsbildungen und wissenschaftlichen Operationen. Wir haben in den zurück liegenden Absätzen dieses Kapitels versucht, einen allgemeinen Unterbau für ein Verständnis zu schaffen, und um so der künftigen detaillierten Analyse vorzuarbeiten. Besieht man sich den Text des Horoskops: worin unterscheidet sich seine Struktur, sein vollgepackter Inhalt, seine Tendenz zu Fussnoten – weiteren Ebenen des Dialogs – von moderner wissenschaftlicher und belletristischer Literatur? Er scheint ganz in 40 Die Prophezeiungen, 1555, Vierzeiler III, 94. 53 „maniera moderna“ geschrieben, es sind Glättungen vermieden, Diskrepanzen zugelassen, differente Meinungen hörbar geblieben. Und es wird mit dem Erbe der Vergangenheit gearbeitet, davon bleibt hier eine „Arabeske“, dort eine „Verzierung“, und schließlich wirkt der ganze Inhalt zusammen wie „voll“, „reich“, „unüberschaubar“, „großartig“. 54 5. Lebensdaten des Rudolf bis zu dem Horoskop Rudolf wurde am 18. Juli 1552 (julian.) in Wien als erstes von 15 Kindern des späteren Kaisers Maximilian (*1527 – +1576; er regiert 1564 bis 1576) und seiner Gemahlin Maria, einer Tochter Karls V., geboren. Seine frühen Jahre sind gekennzeichnet durch die Liberalität des aufgeschlossenen Vaters, die die streng katholische Mutter von dem Kinde fernzuhalten suchte. Der Vater war humanistisch gesinnt, sprach sieben Sprachen, er war überaus kunstinteressiert; er pflegte in seinem Sohn diese Interessen - und so waren die ersten starken Eindrücke des Kindes die Schätze der "Kunst- und Wunderkammern" seines Vaters, die wilden Tiere aus der ganzen Welt in ihren Gehegen und die hoch geschätzte Gartenkunst. Ein nachgeholter "spanischer" Einfluss sollte diese Entwicklungen korrigieren. Ein Bruder der Mutter, Nachfolger von Karl V., und König der damals noch unbestrittenen Weltmacht Spanien, Philipp II. von Spanien (1556 - 1598), hatte im August 1561 seine beiden ältesten Neffen, Rudolf und Ernst, förmlich eingeladen, an seinen Hof nach Madrid zu kommen. Die beiden Prinzen zogen, nachdem ihr Vater die Abreise nicht mehr verzögern konnte, im Herbst 1563 mit Gefolge und Lehrern nach Spanien, und wurden am 17. März 1564 in Barcelona mit hohen Gunstbeweisen empfangen. In der Zeit dieser Reise muss der Auftrag für die Horoskope über Daniel Rechlinger an Nostradamus ergangen sein. 55 Der Vater Rudolfs, Maximilian, war 1562 zum römischen König gekrönt und zwei Jahre später, nach dem Tod Ferdinands I., am 25.7.1564, zum Kaiser gewählt worden. Damit steht der Auftrag auch mit diesem Datum im Zusammenhang. Die beiden Erzherzöge blieben sieben Jahre in Spanien, erlebten dort 1566 den Aufstand in Flandern, die Affäre und den Tod des Sohnes Philipps, Don Carlos, 1568, dann den Tod der Ehefrau Philipps, seine Wiederverheiratung mit Anna, einer Schwester der beiden, und schließlich Rudolfs erste Verlobung mit der Infantin Isabella. Im Mai 1571 aber nahmen sie Abschied von Spanien, sie fuhren die erste Etappe mit Galeeren von Barcelona nach Genua zurück. Bereits ein Jahr später, 1572, erhielt nun Rudolf schon die Krone Ungarns. Drei Jahre später, 1575, kam dazu die Krone Böhmens, die traditionelle Voraussetzung der römischen Krone. Und bereits im Jahr darauf starb der Vater in Regensburg (12.10.1576). Drei Wochen danach, am 1. November, wird Rudolf im Dom zu Regensburg feierlich zum Kaiser gekrönt41. Rudolf hat in seiner sechsunddreißigjährigen Regierungszeit dem Reich den Frieden erhalten können, in einer Zeit schwerster Spannungen zwischen den Konfessionen, die z. B. Frankreich in einem langen Bürgerkrieg führten. Sechs Jahre nach der durch seinen Bruder Mathias erzwungenen Machtablösung (1608) - der Rudolfs Tod bald folgte (1612) - begann 1618 der dreißigjährige Krieg in Deutschland. 41 Detaillierte Informationen greifbar in https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_II._(HRR) 56 6. Der Inhalt der Genitur Michel Nostradamus selbst fasst in einem Brief an Johannes Lobbetius (Dupebe, 166/167) den Inhalt der Genitur wie folgt zusammen: "...Ich habe Ihm (Rechlinger) die Nativität des Prinzen und zukünftigen Königs Rudolf geschickt, in der sind viele Gegenstände umfassend enthalten, zuerst betreffend sein Leben, die Gesundheit und die Disposition des Körpers <1.>, des Besitzes <2.>, der Reisen, der Religion, der Brüder, Schwestern <3.>, der Vorfahren väterlicherseits, des Onkels, der Großväter und Urgroßväter <4.>, der Kinder, von Freuden und Vergnügungen und Unternehmungen <5.>, von Krankheiten, über die Diener <6.>, die Heirat und aus welcher Familie und welchem Land die Frau stammt, und wann, und wieviele Frauen, über die offenbaren Feinde und andere <7.>, den Tod und die Art dieses, und wann, und über das, was die Toten ihm hinterlassen werden an Regierungen, Erbschaften, über Angst und Furcht, Gift <8.>, über Reisen, Religionen, Wanderungen, und in welcher Zeit er die Religion wechselt <9.>, über das Reich, das Amt, die öffentliche Anerkennung, über die Erhöhung und die höchste Macht <10.>, über die nicht verwandten Freunde, ihre große Zahl <11.>, über die geheimen und verborgenen Feinde, Gefängnisse, Verbannungen und Gefangenschaften durch Feindschaft <12.>. Und alle diese und andere Signifikationen sind in der genannten 57 Nativität ausführlich erklärt und gemäß den Kapiteln und der Bedeutung der Angelegenheit ausgebreitet". Diese Darstellung folgt völlig dem bekannten System der zwölf astrologischen Häuser (durch <Zahl. nach der Deskription> gekennzeichnet). Dabei findet Nostradamus Weiterungen des traditionellen Bedeutungssystems, in nahe liegende Lebenssektoren, etwa für das 3. Haus die Hinzufügung „Religion“, in Verwandtschaft zu 9. in der gleichen Achse, oder für 4. „Onkel, Großväter, Urgroßväter“. Bei 7. kommen zu den öffentlich gewordenen Feinden auch „andere“; zu 8. kommt völlig die bekannte Bedeutung, geradezu in einem Zitat aus dem Lehrbuch des C. Leovitius, das Nostradamus nachweisbar übermittelt erhalten hat – in diesem Buch sind die Berechnungen der Ephemeriden angefügt; das 9. Haus hat den Zusatz des „Wechsels der Religion“, dieses erscheint für die Umstände gerade des 16. Jahrhunderts weiterführend. Zum 10. Haus findet sich der eigentümliche Begriff der „Reiches“: vermutlich hat dieses über die machtpolitische Dimension hinaus auch weitere Bedeutungen, Steigerungen im Sinne der Verantwortung für weltliche und für überweltliche Korporationen und deren Zusammenwirken, gewiss aber nicht im Sinne eines theologisch fundierten „Gottesreiches“, eher im Sinne der augustinischen „civitas Dei“, „Bürgerschaft Gottes“; zum 11. Haus ist eine erste Deutung angefügt, sie betrifft die „große“ Zahl der Freunde Rudolfs, gewiss ein Hinweis auf die allgemeine Stützung seines Königtums durch ihm freundlich gesonnene „viele“ Personen; zu 12. erscheint wieder völlig die bekannte Definition der gängigen Astrologie. Man erkennt, wie Michael Nostradamus versucht, so den umfassenden Anspruch dieses Horoskopes vorzustellen, zugleich die damit verbundene umfangreiche Interpretationsarbeit zu betonen. 58 Diese Zusammenfassung weist im letzten Satz weiter auf die Gliederung des Werkes in "Kapitel". Diese sollen hier im Überblick vorgestellt werden. Schon die Überschriften der Kapitel bieten eine gewaltige Fülle von Information, und bereits auf sie bezogen kann jener Satz gelten, mit dem Nostradamus im Brief an Lobbetius fortfährt: "Wenn durch Gottes Gnade diese meine kleine Arbeit in die Hände des Kaisers, des Vaters gelangen könnte - ich wäre sicher, er hätte nicht wenig Freude daran, und seine Majestät wäre voller Bewunderung". Der folgende Abschnitt zitiert die Kapitel des Horoskopes. Man kann, den Inhalten folgend, die spezifische Technik der Erstellung ablesen. Astrologische Fachbegriffe wie „Signifikation, Gesichter, Haus, Drachenkopf, Drachenschwanz, Glückspunkt, Abfluss, Hinfluss, Aspekte, Sternqualitäten“ werden vorausgesetzt. Eine gesonderte Untersuchung verdiente der Ausdruck „nach dem Beschluss des Tierkreises“: hier dürften neben dem traditionellen Geburtsbild auch übergeordnete oder zyklische grundgelegte Bedeutungen anklingen. Die 46 Kapitel des Horoskopes "Kap. I Die Signifikationen der Gesichter Kap. II Über den ersten Signifikator Eurer Genitur Kap. III Über den zweiten Herren der Genitur Kap. III Über den zweiten Herren der Genitur Kap. IV 59 Über den dritten Herren der Genitur Kap. V Die Signifikationen des Horoskopos Kap. VI Über Saturn den Herrn des Horoskopos Kap. VII Die Signifikationen der zwölf Häuser nach dem Horoskop Kap. VIII Die Signifikationen der Planeten nach dem Horoskop Kap. IX Über Saturn im Haus von Venus und Jupiter Kap. X Die Signifikationen von Jupiter im achten Haus vom Horoskop aus Kap. XI Die Signifikationen Jupiters im Haus des Mars und der Sonne Kap. XII Die Signifikationen des Mars im sechsten des Horoskops Kap. XIII Die Signifikationen von Mars im Haus des Merkur Kap. XIIII Die Signifikationen der Sonne im achten des Horoskops Kap. XV Die Signifikationen der Sonne im eigenen Haus und Haus des Mars Kap. XVI Die Signifikationen der Venus im siebten des Horoskops Kap. XVII Die Signifikationen der Venus im eigenen Haus und des Mondes Kap. XVIII Die Signifikationen des Merkur im siebten des Horoskops Kap. XIX 60 Die Signifikationen des Merkur im Haus der Venus und des Mondes Kap. XX Die Signifikationen des Mondes im sechsten des Horoskops Kap. XXI Die Signifikationen des Mondes im Haus Merkurs Kap. XXII Die Signifikationen des Drachenkopfes im zweiten des Horoskops Kap. XXIII Die Signifikationen des Drachenschwanzes im zweiten des Horoskops Kap. XXIIII Die Signifikationen des Herren des Horoskops Saturn Kap. XXV Die Signifikationen des Glückspunktes nach dem Horoskop Kap. XXVI Die Signifikationen der Planeten nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXVII Die Signifikationen Saturns im Haus des Jupiter nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXVIII Die Signifikationen Jupiters im Löwen nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXIX Die Signifikationen des Jupiter im Haus der Sonne nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXX Die Signifikationen des Mars in den Zwillingen nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXI Die Signifikationen des Mars im Haus des Merkur nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXII Die Signifikationen der Sonne im Löwen nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIII 61 Die Signifikationen der Sonne im eigenen Haus nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIIII Die Signifikationen der Venus im Krebs nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXV Die Signifikationen der Venus im Haus des Mondes nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXVI Die Signifikationen Merkurs in den ersten Graden des Löwen Kap. XXXVII Die Signifikationen des Merkur im Haus des Mondes Kap. XXXVIII Die Signifikationen des Mondes in den Zwillingen nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XXXIX Die Signifikationen des Mondes im Haus Merkurs nach dem Beschluss des Tierkreises Kap. XL Die Signifikationen des Abflusses des Mondes und des Hinflusses auf Mars und weiter zu Sonne Venus Merkur und Jupiter Kap. XLI Die Signifikationen Merkurs mit Venus im Horoskop im siebten Kap. XLII Die Signifikationen der Venus, die die anderen Taten und Wirkungen Eures Lebens zeigt Kap. XLIII Die Signifikationen der Breite und Länge der fünf Planeten Kap. XLIIII Die Aspekte der Planeten und ihre Signifikationen (Kap. XLV*) Die Signifikationen von Sternen im Urteil Kap. XLVI An den Kaiser" 62 Vermutlich ist dieses eines der längsten und ausführlichsten Horoskope der gesamten Geschichte der Astrologie. Alleine schon dieses hebt den Text weit heraus. Dabei werden alle Charakteristiken scheinbar mehrfach durchgesprochen, jeweils unter anderen Voraussetzungen. Während die moderne Astrologie den größeren Wert auf die Aspektierungen legt, also auf die Verbindungen der Gestirne in gewissen Abständen von Graden, erscheint dieses Phänomen in den Überschriften der Kapitel erst ganz am Ende. Statt dem gibt es zuvor ausführliche Erörterungen des jeweiligen Platzes der Gestirne im Tierkreis: wer das Lehrbuch von C. Leovitius dazu liest, wird feststellen können, dass dort ganz ähnlich verfahren wird. Anscheinend war in der spätmittelalterlichen und frühmodernen Astrologie das Moment der Platzierung im Tierkreis wesentlicher: so sucht Leovitius in einem recht ausgeklügeltem System nach „Stärken“ und „Schwächen“ der Gestirne je nach ihrer Platzierung im Tierkreis, er operiert mit Zahlenwerten, die zusammengesetzt werden, um „Führungen“ zu bestimmen: und dieses scheint im wesentlich für die Ermittlung von „Herren“ über bestimmte bedeutsame Punkte, Abschnitte oder Gestirne selbst. Die sehr lange Ausbreitung dieser technischen Form durch Michael Nostradamus – nahezu durch das ganze Horoskop, die erwähnten „Aspekte“ kommen erst im 45. Kapitel – und das mehrmalige Eingehen auf die „Stärken“ und „Schwächen“ unter differenter Perspektive lässt das Horoskop „altertümlich“ oder „konservativ“ wirken, in seiner Art sogar die Weise des Leovitius deutlich übertreffend. Zugleich erstaunt, wie wenig das „weissagende, seherische“ Moment in den Überschriften erscheint: man glaubt einen eng an astrologischen Auswertung orientierten 63 Text vor sich zu haben: diesem widerspricht aber der Text schließlich ziemlich häufig, mit oft bestürzenden Kaskaden visionärer Weiterung und ohne eindeutig zu bestimmenden Zusammenhang mit der gestirnkundlichen Grundlage. So entsteht ein intensiver Eindruck einer „freien“ und unabhängigen Nutzung des astronomischen oder astrologischen Materials. Dabei scheinen parallele Wissenschaften ungestörten Eingang zu finden, Kenntnisse der antiken Geschichte und Philologie, Zitate alter Gestirnkunde, medizinisches Wissen, symbolische Grundlagen der Lehren der Sympathien usw.. Man kann die Deutung des Geburtsbildes grob in fünf Teile gliedern: 1. Teil (Kap. I bis V): die "Herren" des Geburtsbildes; 2. Teil (Kap. VI bis VIII): Aszendent, kardinale Punkte, die "Herrscher" der zwölf Häuser; 3. Teil (Kap. IX bis XXVI): Planeten und Punkte im Horoskop; 4. Teil (Kap. XXVII bis XLIIII): Bedeutung der Planeten im Bezug zum "Tierkreis"; 5. Teil (Kap. XLV und XLVI): die Aspekte der Planeten, die Erörterung der Bedeutung von Fixsternen. Zwischen diesen Teilen vermitteln Kapitel, die die bereits angesprochene Themen abrundend noch einmal aufgreifen. Der einführende Teil (1.) verfolgt eine sehr allgemeine Richtung; der zweite Teil bringt die klassische Astrologie; im 3., 4. und 5. Teil spricht Nostradamus das gesamte Geburtsbild dreimal durch. Voraussetzungen der Beschäftigung mit dem Horoskop Die Titel der Kapitel sind bewusst wörtlich übersetzt. Grund ist die Vermutung einer deutlichen Unterscheidung der Begriffe "Genitur" oder "Horoskop"; oder der Ausdrücke "Haus" oder "im sechsten", 64 oder "im sechsten nach dem Horoskop". Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die ungewöhnliche und enigmatische Aussage "nach dem Beschluss des Tierkreises". Bewusst wurde auch der alte Begriff der "Signifikation" aufgegriffen: er vermeidet den irreführenden Begriff von der "Wirkung" von Gestirnereignissen. Die Erscheinungen am Himmel sind "zeichenhaft": Nostradamus bezeichnet sie in der Vorrede zu seinem Hauptwerk, "Propheties", als "significatrices du cas futures", „kennzeichnend die zukünftigen Dinge“42. Um der Astrologie eines Michael Nostradamus gerecht zu werden, muss man sich frei machen von den Verkürzungen üblicher moderner wie vormaliger - Astrologie. Es geht ihm um weitaus mehr, als um ein schematisches Ablesen der „himmlischen“ Aussagen. Michael Nostradamus will – ganz in dem „manieristischen, synkretistischen“ Sinn der späten Renaissance einen weiteren Kosmos von Bedeutung erschließen, er will hinein leuchten in verschiedene Ebenen innerer wie äußerer Entsprechungen der Welt und der Geschichte. Astrologie und Astronomie bedeuten ihm im Grunde eine "universale" Weisheitslehre, eine allumfassende Wissenschaft. (Fast möchte man meinen, hier melde sich die „Pansophie“ des Kreises um Rudolf II. an. Und vermutlich gibt es gerade von diesem Horoskop aus nicht zu unterschätzende Einflüsse auf diese Entwicklungen.) Im ersten Satz des Vorwortes der „Prophezeiungen“ (1555) spricht er davon, er habe „durch göttliches Wesen Kenntnis zum allgemeinen Nutzen der Menschheit in astronomischen Revolutionen“ erhalten. Dabei ist der Begriff der „Revolution“ hauptsächlich: es handelt sich um zyklische „Umläufe“, die er 42 Vorrede A, 1555. 65 speziell auswertet, und solche sind ihm „astronomische Zusicherungen“43. Diese „Revolutionen“ oder „Umläufe“ ermittelt er in „langen Berechnungen“44, und diese sind ihm eine „natürliche Anregung seines eigenen gottgegebenen Geistes durch Gott den Schöpfer“45. Wir werden dazu einige Beispiele vorstellen: sie führen weit über die gängige Genethlialogie seiner Zeit und ihrer antiken Vorläufer hinaus. Michael Nostradamus versteht sich dabei als „Empfänger einer gesandten Flamme des Schöpfers“ und als „Diener der Boten seines Lichtes“, jene aber wären die Gestirne46. Um solchen Ansprüchen gerecht zu werden, sollte der Leser offen sein für große Vielfalt und mehrere Ebenen von Bedeutung, auch für die Stufen einer "prophetischen Schau", „wie in einem flammenden Spiegel, aber wie in umwölkter Vision“47: in dem vorvorigen Kapitel haben wir versucht, darauf vorzubereiten. Es geht im Verständnis der Gestirnkunde des provenzalischen Arztes und Astrologen um die „Transzendierung“ manieristischer, d. i. „gesuchter“, absichtlich komponierter, und häufend zusammengezogener Bedeutungselemente in eine holistische kosmogonischkabbalistisch gestimmte Schau von Stufen von Emanationen, von abnehmenden Abglänzen, absteigend aus einem „All“, weiter in den Gestirnen und Sphären, schließlich in den Elementen und danach „unter dem Mond“. Das diese Ebenen verbindende Element ist das himmlische „Licht“: es kommt aus dem unermittelbaren „göttlichen Sein“48 über „Strahlen der Sonne“49 Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 4. „Revolutionen“ in Satz 3, nach den Überschriften. 44 s. o., Satz 25. 45 s. o., Satz 28. 46 s. o., Satz 32. 47 Die Prophezeiungen, 1558, Vorrede B, Satz 18. 48 „divine essence“; s. o., 1555, Satz 3. 49 s. o., 1555, Satz 7. 43 66 herab bis zu jener „kleinen Flamme“, die den „Propheten inspiriert“. Doch dieses geschieht wiederum nur, weil ein Funken des göttlichen Geist bei der Schöpfung in ihn gelegt wurde - eben der ihn jenen „Zufluss“ wieder erkennen hilft50. Der Weg zur Lehre der Ideen des Plato oder zu den Vorstellungen des Plotin ist nicht weit. Bereits in dieser Metaphorik des Lichtes wird deutlich, welche ausführlichen Kenntnisse der antiken und mittelalterlichen Philosophie und Theologie Michael Nostradamus zu nutzen versteht. Er vereint viele Autoritäten der Vergangenheit in einem überaus komplexen „synkretistischen“ System, das zuweilen an eine kaum noch überschaubare Sammlung vieler Zitate, Aphorismen oder Assoziationen gemahnt. - Eben das erscheint uns als „maniera moderna“: hinzuzufügen ist, dass dabei die Qualität eines „Zettelkastens“ weit überschritten wird – man erahnt in den Zusammenstellungen neue Bedeutungsdimensionen, oft unterstützt durch überraschende Bilder, auch durch provokante Wendungen, oft auch durch Einstreuungen „sanguinisch“ wirkender Vorhersage. Dieses alles zeugt von einer souveränen Beherrschung der Sprache und der Intellektualität seiner Zeit. Michael Nostradamus nutzt alle Möglichkeiten und Vielfältigkeiten des astrologischen Bedeutungssystems: sein sprachlicher Umgang damit vermeidet immer eine vorschnelle "Akzentuierung" sinnenfälliger und üblicher Strukturen. Dieses würde die Bedeutung, die er umkreist, zu schnell in eine bestimmte Richtung verflachen. Und so wird sich auch jenem, der sich ernsthaft auf diese sprachliche Form und Redeweise einlassen will, und der es zulassen kann, nicht sofort "Positives" fassen zu müssen - denn die besprochenen Inhalte verweisen auf keine Gegenstände, 50 s. o., 1555, Satz 28. 67 sondern auf Verwobenheiten von "Schicksal und Gemüt"51 allmählich "astrophiles Wissen" erschließen. Der Text verlangt, mit Karlfried Graf Dürckheim gesprochen, ein kontemplatives Erwägen in einer "inständlichen" Balance, der "gegenständliche" Zugriff und die allzu abgrenzende Definition würde in die Irre führen. Es geht Michael Nostradamus nicht um simples und blankes Wissen: es geht letztlich um die Vertiefung und die Vergegenwärtigung des organischen Weltzusammenhangs, darin um das Einfühlen und das Erleben von „Sympathie und Antipathie“ im Mikrokosmos wie im Makrokosmos in einem Universum des Lichtes. Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass sich Michael Nostradamus als "Seher" versteht; aus Bescheidenheit vermeidet er den Begriff "Prophet": "diese Vermessenheit würde Gott nicht gefallen"52. Immer wieder beruft er sich auf einen "prophetischen Impuls", eine „göttliche Inspiration“, die ihn leitet. Er benennt diesen Impuls mit einem biblisch-metaphorischen Begriff als "kleine Flamme"53. Diese übernatürliche Herkunft und "Schau" bereichert die übliche astrologische Vorgehensweisen in immer wieder überraschender Weise, fast wie in „Ausbrüchen“, in feuerigen Begeisterungen. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist auch zu verstehen, warum sich Michael Nostradamus selbst nicht primär für einen "Astrologen" hält. Er mahnt sogar "alle blinden barbarischen Astrologen", sich seinen weissagenden Schriften "fernzuhalten"54. In dem Satz ist aber auch enthalten, es könne Astrologen anderer Qualität geben, die sich sehr wohl mit seinen Schriften beschäftigen sollen, und er Novalis: „Schicksal und Gemüt sind Namen eines Begriffs.“ Vorrede B der „Prophezeiungen“, 1568, Satz 17 und 18. 53 Gedicht I, 1, „Prophezeiungen“ 54 Nachweisbar erst in der posthumen Ausgabe, „Les Propheties“, VI, 100, 1568. 51 52 68 sagt auch vorher, dieses werde „mehr in der Zukunft als zu meinen Lebzeiten“55 geschehen. Diese Personen sind dann, wie gesagt, astrophile „Diener der Boten des göttlichen Lichtes“, denen „die Boshaftigkeit des bösen Geistes fremd bleibt“56 In solchen Differenzierungen stellt sich sein anderes eigenständiges Verhältnis zur Gestirnkunde dar: damit ist auch das Horoskop für Rudolf II. kein übliche Deutung eines Geburtsbildes im herkömmlichen Sinn und überhaupt nicht im modernen Sinn gegenwärtiger Astrologie. Bereits die Gliederung in Kapitel und das Gewicht der dort enthaltenen Überschriften eröffnet in deutlicher Weise das andere Herangehen des Michael Nostradamus an das zeichenhafte Bild, in seiner archaisch anmutenden Technik. Hinzu kommt nun noch der Beitrag einer geschichtsastrologischen Perspektive – dieser wurde bisher überhaupt nicht berücksichtigt. Der bisherigen Forschung zu Michael Nostradamus ist entgangen, und dieses, obwohl der Arzt und Astrologe ständig und nicht zu übersehen darauf hinweist57, dass seine Sternenkunde auch einen überindividuellen Teil besitzt: er arbeitet nicht nur mit einem ausgeprägten System von Zyklen der Gestirnen, sondern gründet diese ganz entschieden auf eine umfassende Vorstellung von geschichtlichen Ereignissen und deren Synchronizität mit firmamentischen Vorgängen. Solches Verfahren und solche Er nennt sich „für die Gegenwart nicht Prophet“, Vorrede A, Satz 12. Das zukünftige Interesse steht wörtlich in Satz 12 der Ausgabe der „Prophezeiungen“ von 1568: dort schreibt er, diese würde selbst dann eintreten, wenn er „sich in der Berechnung der Zeitalter/Zyklen geirrt hätte oder solche dem Wunsch einiger nicht entspräche“. 56 Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 12. 57 Alleine in Vorrede B, 1568: Satz 6, „alles ist komponiert und stimmt überein mit astronomischer Rechnung“; Satz 9, „der natürliche Verstand passt an und macht mit meinen langen Berechnungen übereinstimmend“; Satz 12, „ich ziehe astronomische Berechnungen heran“; Satz 42, „ich rechne die Jahre seit Erschaffung der Welt“; Satz 52, ; „die geordnete Serie hat in sich die Revolutionen, alles nach astronomischer Lehre“; Satz 64, „alle diese Figuren sind genau adaptiert... an die himmlischen Vorgänge, und das ist offenbar sichtlich durch Saturn Jupiter und Mars.“ 55 69 Einstellung muss sich auch im Horoskop einer Einzelperson niederschlagen: mehrere Aspekte werden darin dann auf abstrakter Ebene miteinander verknüpft, die enthaltenen Dimensionen von Bedeutung stützen sich gegenseitig, reichern sich an, ergeben ein schillerndes Bild des poetischen Textes58 – wir werden dazu einige Beispiele ganz im Sinne der komplex-reichen schillernd-vielfältigen „maniera moderna“ zeigen, wie man sie am ehesten in barocken Räumen und ihren überflutenden Gestaltungen analogisieren kann59. Begrifflich können sich manche angewandten Kommunikationen, etwa „Genitur“ oder „Horoskop“, auf die eben angesprochenen verschiedene Ebenen beziehen; hierher gehört auch das ungewöhnliche „nach dem Beschluss des Tierkreises“. Gerade Letzteres betont die allgemeine Grundlage der Deutung in der „Bahn“ der Sonne durch die Ekliptik als für manches wegweisende Wort bedeutsamer als den „Wandelstern“ darin selbst: der Hintergrund, eine Komplexqualität, die über die „Binnenlage“ hinaus geht und weitere Kontexte stiftet, teilt Wesentliches und Zusätzliches über die Deutung mit als das einzelne Element selbst. solches knüpft sicherlich an hervorragende Traditionen der ältesten Astrologie an: und wenn man sich nun vorstellt, dass in der zyklischen Astrologie ein weitere allgemeines Moment hinzutritt, ist ermessbar, welche interpretatorischen Differenzen zum heute und auch damals üblichen astrologischen Vorhegen möglich werden. Satz 6, Vorrede B, 1568: „meine nächtlichen und prophetischen Berechnungen sind mit natürlichem Verstand zusammen gefügt, aber begleitet von einem poetischen furor“ zur Lehre der furores ausführlich bei Agrippa von Nettesheim, III, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51; „furor“ in dem gemeinten Sinn bedeutet modern gesprochen „Erleuchtung, Begeisterung, Ekstase“. 59 Die Analogie zu „Barock“ ist natürlich ein zeitgeschichtlicher Vorgriff: es wären für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts dazu die Ansätze und die neuen noch gemäßigteren Formen und Stile zu identifizieren. 58 70 Das Bild des Horoskopes Dem handgeschriebenen Text des Horoskops von 1565 vorangestellt ist eine Zeichnung des Geburtsbildes. Darin sind die folgenden Data enthalten: Aszendent 19°6´ (19°55´)60 Steinbock; Saturn 3°10´ (2°21´) rückläufig Fische; Jupiter 11°50´ (12°25´) Löwe; Mars 14°25´ (14°16´) Zwillinge; Sonne 4°53´ (5°15´) Löwe; Venus 14°58´ (14°49´) Krebs; Merkur 20°16´ (20°33´) rückläufig Krebs; Mond 20°7 Zwillinge (2° Krebs); Mondknoten 18°47 Wassermann (18°11); Glückspunkt 17° Skorpion. Unter der Zeichnung sind die wesentlichen Planeten und Punkte angegeben. Links neben dem Schema befindet sich eine Auflistung der wichtigsten Aspekte der Planeten untereinander, darunter eine Charakterisierung des aktuellen Standes im Verhältnis zur Ekliptik. 60 In Klammern eine moderne Berechnung, mit Dank an Konrad Gruber, Ingolstadt. 71 Das Häusersystem des Horoskopes geht nach Regiomontanus dieses System, damals sicher das Modernste, wendet Nostradamus meistens an61. Zugleich liegen die anderen Häuser bei 7°10´ Fische (2.), 24°46´Widder (3.), 20° Stier (4.), 7°46´ Zwillinge (5.), 23°45´ Zwillinge (6.); dem entsprechend liegen die Häuser 7., 8., 9., 10., 11., 12.. Zum Glückspunkt erkennt man eine eher konservativ aufzufassende Methodik: dieser Punkt markiert den Stand der Sonne bei der Zeugung, eine kaum gebräuchliche Weise62 der Bestimmung dieses "Loses". Dazu später ausführlich. Am Aszendent steht hervorgehoben der Fixstern Atair, "Aquila seu vultur volans", ein Stern zweiter Größe von Mars/Jupiter-Natur63. Bedenkt man, wie bedeutsam das 1. Haus des Horoskopes in Michael Nostradamus geschichtsastrologischen Überlegungen ist, muss man diesem Fixstern in der Deutung eine außerordentliche Bedeutung beimessen. Der Stand des Mondes unterscheidet sich von anderen zeitgenössischen Berechnungen: nach Pitatus64, einer damals in Europa gängigen Ephemeride, ist die Position für Mittag 12 Uhr 29°7´ Zwillinge, und damit gegen Sonnenuntergang etwa 2° Krebs - wie es auch die moderne Berechnung angibt. Die von Nostradamus gewählte Gradzahl von 20°7´ in den Zwillingen dürfte einen einfachen Grund haben: wie Brind´ Amour bemerkt hat, interpoliert Nostradamus astronomische Stände nicht, sondern Wir nehmen an nach: Leovitius, Ephemeridum novum ... 1556 usque ad 1606, Augsburg 1557; vgl. Brind´Amour, (s.o.), 517, und 379. 62 Vgl. dazu die ausführlichen und komplizierten anderen Darstellungen in BoucheLeclercq, a. a. O.. 63 Stadius, J., Ephemerides novae et exactae, Köln, 1554 [nachweisbar im Besitz des Nostradamus]. 64 Almanach novum...ab anno 1544 - 1556, Tübingen, 1544. 61 72 übernimmt sie aus dem ihm zur Verfügung stehenden Ephemeriden65. Vermutlich stand in seiner Ephemeride der dort angegebene Wert: nach modernen Berechnungen erreicht der Mond um 0 Uhr 22°59´ Zwillinge, um 6 Uhr ca. 26°, um 12 Uhr 29°3´ Zwillinge; um 18 Uhr, nahe der Geburtszeit des Rudolf, ist er bei 2° Krebs, um Mitternacht bei 5°9´ im Krebs. Eigentlich liegt der Ort des Mondes während der Zeit der Geburt bereits im nächsten Zeichen, in Krebs. Modernen Astrologen dürfte die fehlende Interpolation als unverzeihliches Versäumnis erscheinen: ein Schreibfehler kann es nicht sein, denn im Text, beispielsweise auf Seite 84, wiederholt Nostradamus diese Gradzahl ausdrücklich. Und er erwähnt im Horoskop mehrfach, der Mond stünde in einem „Haus des Merkur“, das kann nur Zwillinge sein. Mehrere Gründe können nun für solche Darstellung – die sicherlich einer „judiziellen Entscheidung“ folgt - sprechen: zuerst ist dabei der Weg des Mondes an jedem Tag zu bedenken – dieser beträgt im Durchschnitt an die 13 Grad täglich, demnach läuft der Mond an die drei Tage im gleichen Zeichen des Tierkreises. Es ist also in dieser bewegung immer eine gewisse Strecke zu berücksichtigen, allerdings nicht, wenn man auf die Sekunde oder Minute der Geburt blickt: bezieht man sich aber auf den Tag, kann der Mondlauf – wie bei Rudolf – in zwei Zeichen angesichtig werden. Es kann nun sein, dass sich Nostradamus mit dem Stand der Sonne bei Tagesanbruch behilft, wie oft in älteren Ephemeriden auf 6 Uhr früh berechnet. So gesehen kann der Mond an diesem Tag, seit Tagesanbruch – nach alten Vorstellungen beginnt der Tag nicht um Mitternacht, sondern bei Sonnenaufgang - tatsächlich von 20° 65 Brind´Amour, P., a.a.O., 327 – 399. 73 Zwillinge seinen Ausgang genommen haben. (Sonnenaufgang an diesem Tag im Juli (greg. 26. 7.) war um ca. 5 Uhr früh: nach modernen Berechnungen mit einem Mond bei 24° Zwillinge.) Da der Mond sich recht schnell im Tierkreis bewegt, kann jener „Stand im Tierkreis“ angenommen werden, an dem er quantitativ die längste Zeit am Tag verweilt: eventuell gibt aber auch der Mond bei Sonnenaufgang oder bei einer Syzygie weiteren Hinweis – die „Alten“ verfügten nicht über die exakten Rechengrundlagen der Moderne, sie behalfen sich wohl gerade für die Platzierung des Mondes mit gewissen vereinfachenden Methoden. - Hier setzte auch die zeitgenössische Kritik erheblich an. - Zugleich wird die moderne Astrologie sicherlich auch auf die mangelnde Genauigkeit der Aspekte zum Mond verweisen, die aus solchem Vorgehen folgen kann: dieses relativiert sich bei Nostradamus wiederum dahin gehend, dass er die Aspekte erst ganz zum Schluss des Horoskopes systematisch durchspricht, also lange nach ihm weitaus wesentlicheren Signaturen, unter anderem der Herren der Häuser, mehr aber noch der Herren der Geburt selbst. Weiter ist solches Vorgehen auch aus dem Blickwinkel der Geschichtsastrologie zu bewerten: Nostradamus Umgang mit den Gestirnsymbolen wird auch im Umgang mit dem individuellen Bild von den enographischen Ermittlungen angeregt. Diese zyklischen Korrelationen führen immer die Anzeige des ganzen Zeichens des Tierkreises – sie legen Symbole für längere oder kürzere Dauern von Perioden fest66 und qualifizieren ihre weitere und nähere Saturn 29,5 Jahre; Jupiter 12 Jahre; Mars meist 15 oder 17 Jahre, Venus meist 8 Jahre, Merkur meist 7 Jahre. Sonne und Mond haben Zyklen, die über mehrere Jahrhunderte gehen. So hat der Mond bei Rudolf eine „verborgene“ Komponente von formal Saturn, in Konjunktion, und gleichzeitigem Quadrat zu „offenem“ Saturn. Die Anzeige in der Saturnrevolution ist Zwillinge/Fische: u. a. Bedeutet dieses auch die Schwierigkeiten mit den Geschwistern. 66 74 Umgebung immer durch ein ganzes Zeichen. - Ähnliches kann nun auch bei Stand des Mondes in Rudolfs Geburtsbild gelten. Ist nun also gleichgültig, ob man bei Rudolf den Mondstand in den Zwillingen oder in Krebs annimmt. Ja und nein. Dazu ist folgendes zu bemerken: „ja“ deswegen, weil in einer eher philosophisch orientierten Astrologie ein iudicium primär nicht aus der Häufung und Summe von Rechenergebnissen besteht – das „astrophile“ Urteil entscheidet vielmehr auf Grund einer „Inspiration“ oder „Intuition“; „nein“ deswegen, weil auch astrophil grundgelegte Aussagen ohne mathematische Grundlage im „luftleeren Raum hängen“, es muss eine Datenbasis geben, der man folgt. Der Mensch aber ist dieser elementhaften Vorgabe nicht unterworfen, sein Urteil generiert sich daraus nicht, sondern aus seiner „Überschau“ wird eine geistige Entscheidung. Ähnliches haben wir bereits bei der Unterscheidung von „manieristischer Häufung“ und „maniera moderna“ angetroffen. Dieses kann man unschwer auch bei den akademischen Produktionen der letzten Jahrhunderte erkennen: sie sind ausgezeichnet in der Sammlung und im Zusammentragen der wissenschaftlichen „Geschichte“ zu einem Phänomen – und dieses gilt sogar als Grundvoraussetzung aller weiterer Arbeit; erst danach folgen Reihen von Untersuchungen aus der gegenwärtigen Untersuchung, doch auch diese werden immer wieder im eben genannten Zusammenhang der seriellen Reihung und Häufung zitiert; und es gilt als riesiger fauxpas, solche Zitationen zu unterlassen. Es wird aber niemand bestreiten, dass Erkenntnisgewinn nicht unbedingt mit der großen Sorgfalt in dieser Methodik einhergehen muss – wenn dem so wäre, wäre die Menschheit schon viel weiter, müsste nicht immer und immer 75 wieder „alles Gleiche“ wiederholen. Anscheinend gibt es auch konzisere und kürzere Wege der Gewinnung von Wissen, man denke an Einsteins Dissertation und Habilitation. Der wesentliche Unterschied aber im astrologischen Bereich ist: „Meisterschaft“ geschieht dort nicht „im Rechnen“, denn dann kämen die besten Horoskope von den Computern, in zigtausenden Seiten vorgestellt; astrophiles Können kommt aus einem anderen Bereich, einem spezifisch menschlichen und intelligiblen: und dazu kann am sich bezüglich der Gestirne und ihrer Stände – solange nicht Grundprinzipien verletzt sind – doch gewisse Unschärfen erlauben. Die wesentlichen Aussagen entstehen nicht aus der Präzision der Rechnung, sondern, um mit Michael Nostradamus zu sprechen: wer weissagt, „der tut dieses zuallererst aus zwei Prinzipien, beide im Verstand: die eine ist eingegossen... und prophezeit in inspirierter Enthüllung, das ist eine gewisse Teilhabe an der göttlichen Ewigkeit, und die Aussage wird wahr und ist ätherischer Herkunft; … und die andere ist natürliche Klarheit und natürliches Licht, sie geschieht über die natürliche Erregung der Sinne“67. Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 28. Dieser Satz ist hier vereinfacht wiedergegeben: seine manierierte Komplexität im Original erlaubt kaum Unterscheidung zwischen dem „übernatürlichen“ und dem „natürlichen“ Licht, fast in dem Sinn, als wäre beide Pole eins. Vermutlich ist dieser Satz einer der weitesten führenden, wenn man die Sprache des Michael Nostradamus analysieren will: letztlich führt er in eine Indifferenz der beiden Valenzen, im besten Sinne der „maniera moderna“: sie hebt letztlich die Gegensätze der alten Schulphilosophie auf, aber nicht rational. Liest man ganz genau, bleibt letztlich nur noch „übernatürliche Inspiration“, die „scheidet“. 67 76 7. Das kollektiv aufgefasste Bild zyklischer Astrologie in Kombination mit den individuellen oder aktuellen Gestirnen bei der Geburt Will man von Anfang an angemessen und „richtig“ in die Art und Weise der Astrologie des Michael Nostradamus einsteigen muss man die zyklischen Hintergründe des Geburtszeitraumes heranziehen. Der spätere Rudolf II. ist nach der Aufschrift auf dem Horoskopbild und dem Text der Genitur an einem „Montag“, den „18. Juli“, um „6 Uhr 45 nach Mittag“, auf der Breite von „48°22´“ geboren. Der Geburtsort ist Wien. Dieser Zeitpunkt steht in der Ära des Marszyklus von 1542 bis 1557: der Marszyklus ist die grundlegende zeitliche Struktur, die „Ära“ oder „Epoche“, von meist 15/17 Jahren. In dieser Phase der Zeit gibt es nach dem enographischen System des Michael Nostradamus folgende zyklischen Daten. Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur 690 n. Chr.: Schütze 1525/1526: 1541: Zwillinge/ WasserFische mann/ 1451: Löwe 1538/1539/ 1540: Wassermann/ Wassermann/ Fische ^ 997 n. Chr.: Skorpion 1542: Widder 77 1542: Wassermann 1542: /Zwillinge 1545/1546: Steinbock/ Krebs 1550: Waage 1552/1553: Steinbock/ Waage 1553/1554: Widder/ Wassermann 1555: Krebs 1555: Stier 1557: Wassermann Die „Spitze“ astrologischer Bedeutung liegt für wenige Monate im Jahr 1555, darstellbar in folgender Figur: Mond: Schütze Saturn: Krebs 78 Dieses ergibt für diese Zeit den „höchsten Hügel“, mit zweiter Ebene. In der ganzen Dauer der Ära gibt es keine „höheren“ Exaltationen: die Epoche beginnt mit einer kurzen Steigerung des Löwen, ebenfalls auf zweite Ebene – es ist jedoch die Steigerung von inhaltlich Jupiter höher anzusetzen als jene von inhaltlich Sonne, nach der Hierarchie der Sphären; danach folt eine gesättigte Präsenz von Fische und Schütze auf erster Ebene, zusammen mit Zwillinge und Wassermann – bereits ein Zeichen immenser Verheißung; erst von Februar 1552 bis November 1553 folgt eine Aspiration des Skorpion, zusammen mit Widder; danach tritt wieder Schütze hervor, und führt zu der gezeigten Kulmination. In dem Jahr 1555 sieht man die folgend gezeigte „Genitur der Zeit“. 11. Waage 10. Jungfrau 9. Löwe 8. Krebs Venus, Merkur/1 Saturn 12. Skorpion 7. Zwillinge Sonne 1555 Apside 1. Schütze 6. Stier Mond 2. Steinbock 3. Wassermann Merkur/2 Jupiter/1 4. Fische 5. Widder Jupiter/2, Mars Man kann dieses Bild allgemein für den gesamten Zeitraum der Epoche anwenden, angepasst den jeweiligen zyklischen „Ständen“: es ist sozusagen die „Dominante“, der „Grundton“ inhaltlicher Bestimmung. 79 Zu diesem Thema mit Führung durch Schütze kommen nun noch nachgeordnet zu betrachtende „Aspirationen“: es sind dieses die erwähnten anderen „Hügel“ an Steigerung, die die vorgestellte Figur allerdings nicht übertreffen. In diesem Sinne: gilt nun dieses obige Thema einer „Genitur der Zeit“ bereits für das Jahr 1552, d. h. für das Geburtsjahr des Rudolf? Dann wäre folgendes komposites Thema einschlägig: 10. Jungfrau 9. Löwe Jupiter, Sonne 11. Waage 11. Waage 10. Jungfrau 9. Löwe 8. Krebs Merkur/1, Venus 12. Skorpion 12. Skorpion Glückspunkt Sonne 1. Schütze 1. Schütze 8. Krebs Venus, Merkur, Mond 7. Zwillinge 7. Zwillinge Jupiter/1, Zwei Ebenen an Bedeutung Saturn/2 für 6. Stier Sommer 1552 Mars 6. Stier Mond 2. Steinbock 2. Steinbock 3. Wasserm. 4. Fische 5. Widder Aszendent Jupiter/2 Saturn/1 Mars 3. Wasserm. 4. Fische Merkur/2 5. Widder Mondknoten Saturn Ist nun aber die vorherige Aspiration des Skorpion, in dem genannten Zeitraum zwischen 1552 und 1553 für Rudolf gültig? Denn „in dieser“ wird er geboren? Dieses auch, weil die führende Apside spät in der Ära 1542 bis 1557 erscheint und weil sich von 80 Februar 1552 bis November 1553 folgende „zyklisch-aktuelle“ Figur sich zeigt: Sonne: Skorpion Mars: Widder Merkur: Steinbock/Waage Jupiter: Zwillinge/Wassermann Venus: Waage Saturn: Zwillinge/Fische Mond: Schütze - Dabei ist strittig, ob Skorpion wirklich diese „Höhe“ erreicht, denn seine Erhöhung – Steinbock - ist auf einem „zweiten Himmel“ (formal Merkur) „verborgen“. Die Steigerung kann auch lediglich so sein: Sonne: Skorpion Mars: Widder Es zeigte sich so für die enographische „Gegenwart“ der Geburt des Rudolf eine starke Aspiration der Zeichen Deutschlands, in formal Sonne, und in inhaltlich und formal Mars. Beschreibt man die erste Figur näher, dann wird diese in einer „verborgenen“ Weise erhoben, über Fische, Waage, Steinbock, und kommt auf vierte virtuelle Ebene. Und Waage, in ihren „Sphären“ der Venus und des Merkur, kann sich gestützt durch Fische, in formal Mond, dem Mondzyklus und damit entsprechend der „niedersten“ Sphäre, auf die Stadt Wien beziehen: diese ist eine Entsprechung von Libra im Klimat des Mondes. Dieser geht nach den antiken Vorstellungen vom 47°15´ bis 50°30´ nördlicher 81 Breite; Wien liegt, wie die Daten des Horoskopbildes mitteilen, auf der Höhe von 48°22´ N. - Man könnte die vorgestellte Figur so beschreiben: aus inhaltlich jovialistischen und inhaltlich venerischen Zeichen erhebt sich eine saturnine Anzeige – diese wiederum bringt in einer „verborgenen“ Weise (denn Steinbock ist unter Waage „auf dem zweiten Himmel“) - inhaltlich martialische Anzeigen zu einer Kulmination. - Nun ist diese Ambivalenz schwierig aufzulösen: am Besten ist, man hält sich an die sichere Aussage. Und diese ist: zur Zeit der Geburt des Rudolf sieht man eine Aspiration des Skorpion. Skorpion ist der zyklische Ort der Sonne: die Sonne ist eine Entsprechung des Kaisertums. In dem kompositen Bild erreichen nun die kollektiven wie individuellen Präsenzen der Sonne bezeichnende Häuser. 10. Löwe Jupiter, Sonne 11. Jungfrau 11. Jungfrau 10. Löwe 12. Waage 9. Krebs Venus, Merkur, Mond 9. Krebs 12. Waage Venus, Merkur/1 8. Zwillinge 8. Zwillinge Saturn/2, Jupiter/1 Mars 7. Stier 7. Stier Zwei Ebenen an Bedeutung für 6. Widder Rudolfs Geburt 1. Skorpion 1. Skorpion 6. Widder Glückspunkt Sonne 2. Schütze 2. Schütze 3. Steinbock 4. Wasserm. 5. Fische 5. Fische Mond Merkur/2 Jupiter/2 Saturn 3. Steinbock 4. Wasserm. Aszendent Mondknoten Mars Saturn/1 82 Außen, fett, stehen die aktuellen Gestirne; innen, normal, stehen die zyklischen Anzeigen. Und blickt man auf dieses Thema, wird schlagartig klar, wieso Michael Nostradamus seine astrologische Aussage sehr hoch ansetzt: denn gleich im ersten Satz eröffnet er seinen Text mit der Bemerkung: "das ist eine überaus große zukünftige Sache" - im Zusammenhang der weiteren Hinweise im Text bedeutet dieser Satz auch: "das wird ein großer zukünftiger König". Warum? Skorpion, enographisch 1., ist genethlialogisch 10.. Löwe, enographisch 10., ist genethlialogisch 8.. In beiden Felder steht die Sonne, das höchste Licht. In individuellen Bild kommt zu Sonne noch Jupiter und der aufsteigende Knoten. Der persönliche Glückspunkt steht im Feld des Aszendenten der allgemeinen Zeitsimmung, verbunden mit dem hellsten Gestirn, der Sonne; Mond in 2. bedeutet maximale Mehrung des Besitzes; Jupiter im Zusammenhang mit dem Mondknoten bedeutet sehr gute Beziehung zu dem Vater und den Vorvätern – dieses kommt später wörtlich im Horoskop; im Feld der Kinder und der Vergnügungen zeigt sich – in Nostradamus Worten, allerdings nicht im Text – eine „himmlische Kontradiktion“, Saturn, mehrfach, zeigt Hemmungen und schwere Erfahrungen; Ähnliches gilt für Mars in 6., bezüglich „Krankheit, Dienerschaft“ - dieses hier gibt auch Erschwerungen in der philosophischen Achse, mit 3. und 9., und in 9. mit Quadrat auf Venus, Merkur, Mond; im 8. Haus sind die oberen drei Planeten versammelt, „riesige, kaum zu übertreffende Erbschaft, zugleich mit Trigon zu Jupiter aus dem 83 väterlichen Haus, 4., und mit Sextil zu der aktuellen Präsenz des Jupiter, in 10. - dieser ist dort verbunden mit Sonne; in diesen beiden Präsenzen hat das 10. Haus, Ort des „Königtums, des Amtes, der Anerkennung und der Ehren“ eine maximale Ausstattung: Sonne und Jupiter sind zugleich die Herren des feuerigen Trigons, damit auch des Löwen, und die zyklische Präsenz der Sonne steht zudem in 1., so formiert sich in 1. und 10. das klassische Bild des Monarchen, der „Herr von 10. in 1., der Herr von 1. in 10“, noch dazu in den höchsten möglichen Signaturen. Folgt man den hier angedeuteten astrologischen Linien, wird man das Horoskop des Michael Nostradamus besser und profunder verstehen können: bliebe man allein bei dem üblichen Geburtsbild, wären manche Aussagen viel schwerer nachzuvollziehen, vor allem durch den Aszendenten in Steinbock und die Himmelsmitte bei 20° Skorpion: jedoch bringen diese und andere Hinweise aus dem üblichen individuellen Horoskop zwar auch Hinweise auf Bedeutendes, aber zumindest auch gleich viele Hinweise auf einen schwierigen Lebensweg und nicht unerhebliche persönliche wie soziale Problematiken. Vermutlich sind beide Geburtsbilder, je nach Standpunkt, und je nach Blick auf kollektive oder individuelle Phänomene, zu berücksichtigen und auszuwerten. Dabei geht es aber nicht um die Ermittlung von akkuraten Elementen und ihrer Zusammensetzung, sondern um das unmittelbare Erleben eines „zusichernden Zeichens“ hoher Evidenz. Wird so verständlich, welchen Nutzen die Einbeziehungen der Enographie des Michael Nostradamus für ein Verständnis seiner spezifischen Astrologie bringt? Wir hoffen, es ist zur Genüge dargetan, wie diese Zusammenfügung zweier gestirnkundlicher 84 Perspektiven „mit einem Schlag“ die Art und Weise seines „seherischen iudiciums“ erhellen kann. Deutlich wird an der entstandenen und jedermann nachvollziehbaren Evidenz, wieso Nostradamus mit einer solchen Sicherheit Aussagen treffen kann, wie reich sich sein Wort dazu gestalten muss, wie es ihm möglich wird, unvermutete Beziehungen für seine Mitteilungen anzusprechen, zu würdigen, und in einen neuen Rahmen von Bedeutung und Dignität zu stellen. Hier ist nun das eindeutige Zeichen des Monarchen zu sehen: zugleich im Zusammenhang der Sonne, des symbolischen „Goldes“, damit als ein Zeichen eines „Königs der Könige“. Am Ende des Horoskops nennt Nostradamus Rudolf als den „besten seines Geschlechts“: woher anders als von solcher Konstellation kann dieses Urteil kommen? Er erkennt für diese Person dermaßen überragende Signifikationen, dass er zum Superlativ greift: dieses umso mehr, da er eine Deszendenz von Philipp von Makedonien ins Spiel bringt, damit auch eine Abstammung von Alexander den Großen, dessen Sohn. Was aber macht diese Person des 16. Jahrhunderts, Rudolf, „groß“, und zwar neben ihren hervorragenden himmlischen Begleitungen? Welches historische Handeln korrespondiert diesem Zeichen? Welche Haltung? Welche realisierten Werte? Vielleicht kann hier auch das Geburtsbild des Michael Nostradamus einen Weg weisen, gültig auch für manche historische Einordnung68. Geistig arbeitende „Herrscher“ - heute „Politiker“ - müssen in Deutschland (und vielleicht auch anderswo) wie zwangsläufig scheitern: die Mentalität und Lebensauffassung der Hiesigen widerspricht dem Kontemplativen. Nicht ganz unschuldig daran ist die üblicherweise vertretene Auffassung von Geschichte, die einem unbewussten Bild von „Macht“ huldigt: zu einem „Volk der Dichter und Denker“ passt das nicht. 68 85 Im Text bringt Nostradamus weiter einige Bemerkungen zu den Geburtsbildern der Vorfahren Rudolfs väterlicherseits, beginnend mit Friedrich III. (1452 - 1493) und seiner Frau. Danach führt er deren Sohn Maximilian I. (1493 - 1519) an - mit astronomischen Angaben, die exakt mit dem Horoskop in Lucas Gauricus "Tractatus astrologicus", Venedig, 1552, S. 51 übereinstimmen. Sein Nachfolger, Karl V., hatte 1521 die habsburgischen Erblande seinem Bruder Ferdinand, dem Großvater Rudolfs übergeben dessen Daten kommen danach69. Danach wird das Geburtsbild des Vaters, Maximilian II., angesprochen70 (1564-1576). Schließlich kommt dessen Bruder Ferdinand71 (1556-1564). (Es fällt auf, daß das bekannte Horoskop Karls V. nicht genannt wird; in Gauricus Werk werden zu seinem Geburtsbild drei verschiedene Nativitäten dargestellt: man kannte wohl seinen Geburtstermin nicht genau. Es ist augenscheinlich, dass dabei eine Häufung Glück anzeigender Gestirne ins zweite Haus, dem Ort der Signifikation von Besitz und Reichtum, geschoben ist; eine ähnliche Praxis pflegte Gauricus auch beim Horoskop Luthers72, indem er die Häufung der Planeten ins neunte Haus verlegte.) Danach bezeichnet Michael Nostradamus noch einmal den Prinzen Rudolf als "futurus rex", "zukünftigen König". Dieses auf Grund der "Anzeigen in Summe". Er begründet die Aussage noch einmal mit Details aus dem Horoskop. Dazu geht er das Geburtsbild in der Reihenfolge Sonne, Mond, Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur und einigen weiteren bemerkenswerten Konstellationen durch. Vgl. Gauricus, a. a. O., S. 41. Gauricus, S. 41. 71 Gauricus, S. 43. 72 s. o., S. 70. 69 70 86 8. Die hohe Qualität der Geburtskonstellation, angezeigt durch die Signifikationen der oberen Planeten Mars, Saturn und Jupiter Das zweite Kapitel des Textes des Horoskops befasst sich mit den Anzeigen der "Gesichter"; dieses sind jeweils zehn Grade umfassende Gliederungselemente des Tierkreises73. Nostradamus zitiert innerhalb des Textes umfangreich aus Agrippa von Nettesheims "De occulta philosophia", wobei er die Aussagen nicht unbedingt auf Rudolf bezieht74. Interessant sind die gängigen astrogeographischen Patronate des Saturn am Ende des Kapitels75. Auf vielen Abbildungen innerhalb seiner Schriften kommt zum Ausdruck, dass sich Michael Nostradamus auch als Astrogeograph versteht: er wird in einer ikonographisch kennzeichnenden Pose mit einem Zirkel am Globus messend dargestellt. Dieser Vorgang erklärt sich damit: eine überindividuelle Sternenkunde wird sich mehr auf Länder als auf Einzelpersonen beziehen und daher sie muss über einen ausgebauten Bestand astrologischer Geographie verfügen. Und seit der Antike ist die astronomische Wissenschaft eng mit der Geographie verbunden: z. B. wirkte gerade Claudios Ptolemaios in Vgl. dazu Bouche-Leclercq (BL), L´astrologie grecque, Aalen, 1979, S. 215 ff.: der Abschnitt über die "Dekane". 74 II, 37. Bei Agrippa findet sich auch eine zusammenfassende Darstellung der Astrogeographie, I, 31. 75 Ähnlich bei Leovitius, a.a.O., S. 140 ff. BL, a. a. O., S. 328 – 347: „chorographie zodiacale“. 73 87 bis in das späte Mittelalter gültigen Darstellungen der Regionen der Erde. Michael Nostradamus kennzeichnet diesen Teil seiner Arbeit mit dem Begriff "Topographie": in ihr geht es auf allgemeinerer Ebene um die Beziehungen zwischen den „Sphären“ und den Klimazonen, spezieller dann um die Korrelationen der Abschnitte des Tierkreises mit bestimmten Regionen innerhalb der Klimata. Ein besonderer Teil hierbei ist auch die Gliederung der Welt in vier Quadranten, den vier Elementen entsprechend, im Nordosten die Luftzeichen, beherrscht von Saturn bei Tag und Merkur bei Nacht, im Nordwesten die Feuerzeichen, zu Sonne und Jupiter, im Südwesten die Entsprechungen des Wassers oder des aquatischen Elementes, geführt von Mars, und in Kodomination der beiden anderen Herrscher des Südens, im Südosten, der Erde, Venus und Mond. Dieses System des Ptolemaios fasst die alten Lehren in ausgezeichneter Weise zusammen: Michael Nostradamus ergänzt dieses, komplettiert es, verändert es, im Zusammenhang seiner Zyklen, vor allem Im Bezug Frankreichs zu inhaltlich Saturn. In Kap. III wird ein erster wesentlicher Signifikator genant: "nach Hermes (Trismegistos)" wäre dieses der "Herr der Stunde", Mars76. Es sind nun die Systeme der Zeitgliederung in Planetenanalogie relativ spät anzusetzen: ein Bezug zu „Hermes“ ist nicht klärbar und rästselhaft. Bei der Darstellung der Zeichnung des Horoskops wurde erwähnt, die Geburt des Rudolf hätte an einem „Montag 6 Uhr 45 nachmittag“ statt gefunden. Der Montag ist der Tag des Mondes; nach welcher Rechnung gehört nun die Zeit/Stunde kurz nach 18 Uhr zu „Mars“? Dieses ist mit den üblichen 76 BL, a. a. O., S. 479 f.. 88 Vorgehensweisen nicht ermittelbar, Mars beherrscht am Montag u. a. die elfte Stunde nach Sonnenaufgang. Eventuell ist hier bereits wieder ein enographischer Hintergrund des Satzes anzunehmen, begründet in der vorgestellten Aspiration von inhaltlich Mars für 1552. Gerade dieser mundanastrologische Zusammenhang könnte für die Erwähnung von „Hermes“ sprechen, im Hinweis auf eine übergeordnete Autorität der Gestirnkunde. Es weisen die mitgeteilten Bedeutungszusammenhänge - z.B. "Zorn", u.v.a.m. in die Richtung des Mars: vielleicht stellt der enographische Zusammenhang mit metaphorischer Auffassung einer weltgeschichtlichen „Stunde“ den allgemeinsten gestirnkundlichen Hinweis für die Geburtszeit dar: und eventuell steht deswegen gerade der Hinweis auf Mars (repräsentiert durch Skorpion in mundan 1.) an erster Stelle und stellt das allgemeinste Fundament der Aussage. Nach der kollektiven oder enographischen Bedeutung eines Aszendenten (Skorpion, Mars) folgt die Besprechung des individuellen Aszendenten, im üblichen Horoskop mit Steinbock, Saturn. Michael Nostradamus führt diese Diskussion des Signifikators Saturn weit aus: er beginnt, dieser sei nach seiner Meinung der "Herr des Aszendenten". - Dieses Wort nimmt seinen Ursprung von dem individuellen Geburtsbild: dort zeigt Steinbock den Aszendenten. Herr von Capricornus ist nach dem Haus Saturn, nach der Erhöhung Mars, nach der Triplizität Venus: Saturn hat mehrfache Anwartschaft, aktuell/individuell wie zyklisch/kollektiv mehrfach, doch es hat auch Venus nicht zu unterschätzende Aspiration. - Doch wie zuvor bei Mars wird auch hier einfach Saturn abgelesen: es sind die allgemeineren Bestimmungen der Zuordnung der Häuser angesprochen. - 89 Für diese Bedeutung des Saturn spricht auch seine individuelle Platzierung in 1., in Fische. Auch zyklisch bestätigt Saturn/1 diesen Ort. Dieses ist trotzdem keine einfache Entscheidung des Nostradamus, liegt doch der Aszendent in Steinbock, und Saturn steht im dritten Zeichen des Tierkreises vom Aszendenten aus: so steht er zwar dem aufgehenden Grad nicht fremd, hat aber doch eine eher „verborgene“ Teilhabe am Aszendenten. Für Nostradamus nun scheint der „saturnine Charakter“ dieses künftigen Monarchen unabweisbar: damit schlägt er die individuelle Stellung in 1. selbst an der Spitze zu 2. hoch an. In seiner geschichtsastrologisch geprägten Bewertung der Zeichen ist im „Saturn der höchste Planet“: er steht für die eingehendste Beziehung zur Übernatur, symbolisiert das „goldene Zeitalter“, spricht für „hohe Konzentration, Bedacht, Überlegung, kontemplative Haltung, melancholisches Temperament, Langsamkeit, Beharrlichkeit, Unbeirrbarkeit, Festigkeit“. Unschwer kann man in dieser Favorisierung charakterliche Zuschreibungen an Rudolf erkennen. Dann werden die Bedeutungen der Sonne ausgeführt: jedoch bedeutet Sonne hier eine innige Konjunktion mit Jupiter – Sol hat „jovialistische Züge“. Die Konjunktion der Sonne mit Jupiter wird leitend: dieses wurde bereits im vorigen Kapitel als das „Zeichen des Monarchen“ charakterisiert. Sonne, wie Merkur, "verbinden ihren Einfluß mit denen anderer Planeten, mit denen sie assoziiert sind"77. Jupiter weiter gilt auch als Signifikator der religiösen Dinge78 - deswegen folgt danach die Erörterung dieser 77 78 Ptolemy, Tetrabiblos, Cambridge/London, 1971, S. 38/39. Leovitius, a. a. O., S. 144. 90 Zusammenhänge. Michael Nostradamus spricht von einem Ort der Sonne bei Fixsternen in "den Nüstern des Löwen"79. Am Anfang des nächsten Textteiles steht, Sonne sei - mit "Jupiter" - "Herr der Genitur": die Konjunktion Jupiter/Sonne, im 10. Haus der kompositen Genitur, im 7. Haus der Genethlialogie80, wird der wesentliche auch überindividuelle Bedeutungsträger des Horoskops. In der Kombination von Sonne und Jupiter ist dieses nach der astrologischen Lehre ein wahrhaft fürstliches, ja kaiserliches Zeichen, was auch der Text betont. Überhaupt erschienen in den bisherigen Ausführungen nur Signifikationen der "oberen" Planeten; auch solche verweisen auf den überragenden und „adeligen“ Stand der Person. Das Kapitel IV beginnt mit der expliziten Erwähnung der angesprochenen "Herren" des Horoskops und mit der Aussage, der Native werde "sein heiß und feucht aber so gemäßigt, dass durch die Art und Weise seiner Natur belegt wird er sei vom Himmel geschickt um die Sterblichen dieser Welt völlig wiederherzustellen...<er sei ein> Verbreiter der halb gefallenen universellen Christenheit". Dabei beruht das Urteil über das "gemäßigte Temperament" wohl auf der Vielfalt und der überragenden Stellung der Signifikatoren, d. i. der drei/vier genannten Gestirne, die bereits in den vorhergehenden astrologischen Überlegungen des Kapitels vorgestellt wurden. Der weitergehende Schluss, diese "Mischung" bedinge eine Epsilon leonis, südlich im Löwen; in der modernen Astrologie weist diese Signifikation auf "Depression, fiebrige Erkrankungen, Unfallgefahren", vgl. Ebertin R./Hoffmann G., Die Bedeutung der Fixsterne, Freiburg, 1988, S. 40. 80 Dazu gibt es in dem Horoskopbild vor dem Text der Genitur einen beirrenden „Fehler“ (?): dort wird Sonne, Jupiter und Knoten in das 8. Haus platziert: dieses beginnt aber faktisch (nach Regiomontanus) bei 7°10´ Jungfrau: dabei stehen nun die drei genannten Zeichen, zugleich angezeigt im Löwen. Eigentlich sind sind Merkur, Jupiter, Sonne und Knoten als in 7. befindlich aufzufassen. 79 91 Harmonisierung, die sogar imstande sei, auf die ganze Welt auszustrahlen, eröffnet erneut die bereits angesprochene geschichtsastrologische Dimension der Deutung. Sie greift die alte Vorstellung über das „heilsame“ Wirken der höchsten Exponenten einer Zeit auf, wenn ihre firmamentischen Hintergründe harmonisch oder „sympathisch“ sind: es bilden solche Personen eine gelungene Komplexion geschichtlicher und sozialer Verhältnisse sozusagen vor, wie in einer „Idee“, und ihre wohl geordnete und „wahre/gute/schöne“ Qualität gestaltet die Welt mit, in einer „gesunden“ und „vorzüglichen“ Weise. Offensichtlich werden hier auch Vorstellungen der humoralpathologischen Medizin einschlägig: wie im Körper Gesundheit angezeigt wird, wenn die verschiedenen Säfte in ausgewogener Mischung stehen, so scheint gesellschaftliches und humanes Gedeihen angezeigt, wenn in der "Komplexion" des Königs eine gelungenen Fülle von einander "sympathischen" Anzeigen Einseitigkeit und Enge vermeiden und Vielfalt und Harmonie „erklingen“. Ein solches Temperament "diene" schließlich dem Geist einer "universellen Christenheit". Dieses sind Aussagen, die in der Dichte ihres Inhaltes gegenwärtig noch gar nicht ganz auszuloten sind: es ist aber implizit ausgesagt, es gehöre die christliche Religion zu einer kosmisch harmonischen Figuration und Konstitution, und diese kann damit „erlösend“, „heilend“, „froh machend“ wirken. Zugleich kommt zum Ausdruck, dass Michael Nostradamus in den Spitzenaussagen seiner Prophetie am Gedeihen dieser geistigen Richtung und an dem Tun und Handeln ihrer „Vikare“ Christi hohe Interessen hat: seine Geschichtskonstruktion bezieht sich eindeutig auf die ihren Exponenten entworfene Mitte aller Zeit: und er versteht davon ausgehend ein „Reich“, augustinisch die „civitas Dei“. Hier schreibt 92 er nun auf Grund seiner astrologischen Einsicht dem späteren Kaiser Rudolf ein solches Selbstverständnis und eine Aufforderung, in dieser Richtung tätig zu werden, zu. Der so zum Ausdruck kommende Zusammenhang steht zentral für die astrologisch gestützte und metaphysisch überhöhte Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung („Geschichtskonstruktion“) des Michel Nostradamus. In ihr stehen die politischen Leitfiguren - in seinen Worten "les principaux culteurs"81 - zentral. Ihr Wesen scheint nicht nur völlig der zeitlichen Qualität zu entsprechen, in der sie geboren werden und leben, sie bestimmen den Charakter und die Art ihrer Epoche sogar in ausschlaggebender Weise mit. Solche Vorstellungen trifft man am ehesten in alten Vorstellungen über das (fränkische/französische) Königtum, seit Karl dem Großen noch deutlicher, aber auch in manchen Begründungen späterer absoluter Regierungsführung, dort auch angemaßt und unangebracht. Dem modernen Verständnis stellt diese archaische und archetypische Vorstellung eine erhebliche Schwierigkeit dar, vor allem wenn eine Verknüpfung mit gewissen religiösen Inhalten hinzu kommt – und man muss hier deutlich unterscheiden zwischen dem menschlichen Königtum und seinem Staat und dem totalitaristisch anmutenden Gottesstaat. Doch hier ist auch noch eine prophetische Aussage zu kommentieren: die "universelle Christenheit" ist nach seherischer Wahrnehmung bereits "halb gefallen". Welche konkreten historischen Umstände mit diesem Fall zu verknüpfen wären, und welcher Teil der "gefallene" ist, bleibt in typischer orakelhafter Redeweise im Dunkel. Man weiß nicht, soll man dieses auf die 81 Die Prophezeiungen, 1568, Satz 18. 93 Zeitumstände des 16. Jahrhunderts beziehen, oder auf die Vorgänge innerhalb der Kirche im Mittelalter: eventuell sollte man die Aussage nicht allzu wörtlich deuten, sie kann auch meinen, es wäre eine „universelle Christenheit“ zu oft auf ihrem Weg in ein Defizit geraten, gerade so, wie jeder Mensch „zur Hälfte“ dem Irdischen unterlegen ist und immer nur hoffen kann, einmal für kurze Zeit den Schritt in eine zu wünschende Vollständigkeit zu finden: eventuell geht es hier um eine ähnliche Unterscheidung und Polarität, die C. G. Jung in seinen Begriffen von seelischer „Vollkommenheit“ und individuierter „Vollständigkeit“ trifft. Obwohl noch niemand "außer Ascletation" sich an der Vorhersage des Todes eines römischen Kaisers versucht habe, beschäftigt sich Michel Nostradamus in der Folge des Kapitels mit der Frage, wann das Reich vom Vater Maximilian an den Sohn Rudolf übergehen könne. Er schreibt von einer großen Todesgefahr für den Vater: "1589 im letzten Monat des Mondes abnehmend sein Licht". Im Kapitel V geht die Erörterung der Signifikatoren Jupiter und Mars weiter, erst gegen Ende des Kapitels wird über den "dritten Herren" des Horoskops, Venus (Thema "Heirat") gesprochen. Dabei geht es in Saturn, Mars und Venus um die durch Steinbock mitgeteilten potenziellen Herren; Jupiter/Sonne tritt hinzu als positioniert in kollektiv 10.. Die dortige Vorhersage über die Eheschließung ist im Allgemeinen und in den Details - die im Laufe der Darstellung des Geburtsbildes weiter ausgebaut werden - nicht eingetreten. Es gab mehrere Pläne zur Eheschließung Rudolf II.; sie wurden nicht verwirklicht. (Zu erwägen ist dazu, dass der Kaiser in einem eheähnlichen Verhältnis mit der Tochter seines Antiquars Jacopo della Strada, Katharina, lebte. Aus der Verbindung gingen sechs 94 Kinder hervor; der älteste Sohn war, wie es auch das Horoskop erwähnt, Zeit seines Lebens krank82. - Man erwäge dazu auch die Hintergründe von Saturn in 5, in beiden Dimensionen des komposites Bildes des Horoskops. -) Vom Standpunkt prophetischer Geschichtsbetrachtung beachtenswert ist die Aussage, dass die "Vorfahren" des Kaisers von "Philipp, König von Mazedonien, Vater Alexanders des Großen abstammen" sollen. Dazu kann die Astrogeographie Hintergründe liefern: Mazedonien gehört zu den Patronaten des Steinbockes. Steinbock aber ist im individuellen und aktuellen Bild als Hintergrund der physischen und psychischen Konstitution, repräsentiert in Haus 1., gewählt. Erwähnt wurden bereits mehrfach die inhaltlich saturnine, die martialisch gesteigerte und der venerische Hintergrund – bei Tag – dieses Zeichens. Welchen dieser Signa nun geht Michael Nostradamus nach? Eventuell hilft hier die spezifische astrologische Zyklenlehre des Michael Nostradamus und die in ihr enthaltene und kommunizierbare Beurteilung von Zeiten und Personen weiter. Wir müssen damit nach den zyklischen Hintergründen des Wirkens des Philipp, König von Mazedonien, suchen: Rudolf ist wie Alexander ein Nachkomme dieser Deszendenzlinie, die im vierten Weltalter der Geschichtskonstruktion des Nostradamus ihren Anfang nimmt. Zu berücksichtigen sind die zyklischen Koinzidenzen der Ära 350 bis 3335 vor Christus. Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus 651: Schütze -824: Zwillinge -358: Schütze -354: Stier -350: Wassermann/ 82 -356/-355: Löwe/ Skorpion Merkur v. Schwarzenfeld, a. a. O., S. 60. 95 -350: Stier -349: /Krebs -346: Widder -344: Löwe/ -343: Wassermann/ -343: /Zwillinge -342: /Skorpion Schütze Zwillinge Schütze Löwe/ Zwillinge Stier Widder Wassermann/ Skorpion -338: Wassermann -337/-336: Wassermann/ Zwillinge -335: Wassermann Grau markiert ist die Zeitspanne der Exaltation, hier des Widder: dieses ist auch eine martialische Entsprechung. Das ungestörte Zeichen Aries auf erster Ebene ist in dieser Epoche die stärkste 96 Erhöhung: die astrologische „Führung“, d. i. das 1. Haus des zeitlichen Themas ist zwischen 346 und 338 vor Christus bei Widder. Widder hier steht im Venuszyklus; Mazedonien liegt im Klimat der Venus, zwischen 39° N und 43°30´ N. - Man findet hier eine Modifikation der traditionellen Astrogeographie: Mazedonien wird von Nostradamus zu Widder gerechnet, damit zu inhaltlich Mars. Mars aber ist in Steinbock erhöht. Der topographische Hinweis mit Widder in formal Venus ist das entscheidende Kriterium für die Begründung einer neuen Dynastie in den Breiten dieser Sphäre. Zugleich ist zu bedenken, dass im individuellen Geburtsbild von Rudolf das vierte Haus, der „Väter und Vorväter“, im Zeichen Widder steht. So erklärt sich diese Aussage im Text des Horoskops: seine Vorfahren stehen im Zeichen des Widder, sie entsprechen feuerigen und martialischen Qualitäten, sind verbunden der Erhöhung des Sonne, und der Herrschaft der Sonne über die Feuerzeichen bei Tag, des Jupiter bei Nacht. Philipps Sohn Alexander regiert unter Zeichen des inhaltlichen Saturn, diese sind aber verbunden mit martialischen Anzeigen in Kodomination, dabei auch Widder. - Erneut ist an dieser Stelle ein weiterführender Schluss über gewisse geschichtsastrologischen Auffassungen in den Urteilen des Nostradamus möglich; sie werden in ihren Anwendungen auf das individuelle Horoskop sogar recht deutlich. Exaltationen oder Kulminationen, Apsiden, die führenden Zeichen eines Marszyklus sprechen für wesentliche historische Neuerungen; sie beziehen sich auch den Signaturen entsprechende Regionen, abgebildet in den Sphären; „Verwandtschaften“ - innerlicher wie äußerlicher Art – zeigen sich in gleichen oder ähnlichen Signa, selbst wenn sie über weite 97 Zeiträume voneinander distant sind. Neue topographische Vorstellungen können mit Hilfe der Geschichtskonstruktion entwickelt werden: sie verlassen selten die grundsätzlichen Urteile, die bereits die antiken astrologischen Schriften nahe legen, sie gehen aber doch neue Wege, wenn die „himmlischen Symbole“ solches „mitteilen“. Doch in allen diesen Bestimmungsstücken handelt Michael Nostradamus nicht „gebunden“ und eineindeutig immer wieder gleich: seine „judizielle Astrologie“ behält sich vor, „frei und intuitiv“ über ihre Urteile zu befinden. Mit dem Kapitel V endet die Besprechung der "Herren" des Horoskops, damit der erste Teil des Geburtsbildes. Er wurde hier ausführlicher behandelt, da gerade die Handhabung der allgemeineren und übergeordneten Signaturen ein in der modernen Astrologie kaum noch übliches Vorgehen darstellt. Vielleicht sollte man aber wieder überlegen, ob die Ermittlung „führender Zeichen“ in ihrem Bezug zu örtlichen Qualitäten des Tierkreises nicht doch wesentliche Hinweise geben kann, zumindest zusätzlich zu dem gängigen Schema der Deutung der Aspekte und Häuser. Vermutlich benötigt die astrologische Methode mittlerweile eine größere methodische Vielseitigkeit, um allzu eingefahrenen Schemata und positivistisch besetzten „Vorurteilen“ vorzubeugen: solche müssen zwangsläufig auch zu relativ eindimensionalen Aussagen führen. So geht es z. B. in dem vorgeschlagenen kompositen Geburtsbild wohl nicht um eine mehrfältigere und komplexere Grundlage der Deutung eines Geburtsbildes, sondern auch und primär um die Herstellung einer nicht „eingefahrenen“ Perzeption der vorhandenen Daten, damit um die Möglichkeit der Apperzeption intuitiverer und inspirierter Momente, im Durchschreiten polyvalenter Andeutungen, Metaphoriken, Sätzen. 98 9. Ein bedeutender Unterschied in langen historischen Perspektiven zwischen Michael Nostradamus und zeitgenössischer astrologischer Darstellung Der im letzten Kapitel vorgestellte Konnex der Bedeutungen Saturns könnten eine Quelle sein, Rudolf bis in die Neuzeit herauf als "saturninen Kaiser"83 zu charakterisieren. Saturn gilt der Geschichtsastrologie als Herrscher des "goldenen Zeitalters"84. Octavian und Karl der Große wurden ebenfalls für „saturnine Kaiser“ gehalten; dass Octavianus Augustus für sich selbst einen besonderen Bezug zu Steinbock - dem zodiakalen Aspekt Saturns - in Anspruch nahm, ist bekannt85. Während aber nun Michael Nostradamus auch andere Zusammenhänge betont – wie eben erwähnt in einer metaphorischen oder wörtlich aufzufassenden Deszendenz von Philipp von Makedonien, wie vorgestellt in Koinzidenzen des martialischen Widder – bleiben anscheinend zeitgenössische Astrologen deutlicher und einseitiger bei inhaltlich saturninen Zusammenhängen. Die inhaltlich martialischen Begleitungen werden in der Öffentlichkeit nicht aufgegriffen, man übergeht diese doch erhebliche Aussage des Nostradamus; statt dem unterstreicht man die inhaltlich saturnine Zeichenhaftigkeit: und v. Schwarzenfeld, S. 9; s. v. a. S. 60. Peuckert, W.E., Astrologie, Stuttgart, 1960, S. 74. 85 Chadraba, R., Gemma Augustea und rudolfinische Allegorie, in: Umeni 3, 1970, 289 ff.; vgl. Knappich, W., Geschichte der Astrologie, 82 f.. 83 84 99 dieses Letztere kann geradezu als ein Belastung erscheinen, „überlädt“ sie doch den Nativen und seine Aufgaben mit geradezu millenialen Bedeutungen und Anforderungen. Aus einer psychologischen Sicht können solche Überforderungen und unangebrachten Überhöhungen eines Individuums geradezu lähmend wirken, sie erzeugen „Spontanparadoxien“ und „Hyperreflexionen“, die an den persönlichen Stärken und Vorlieben des Nativen vorbei gehen müssen. Damit hat man zwar einerseits dem Adressaten geschmeichelt, ihm aber auch – wenn er sublimerer Natur wäre – eine Last aufgebürdet, die er kaum tragen kann. In solchen Sinne wirkt Michael Nostradamus Horoskop, auch wenn es ambivalenter darstellt, doch „heilsamer“ und „ärztlicher“, als solche allzu vertraulichen Plumpheiten: das Geburtsbild des Franzosen bleibt so weitaus einfühlsamer. Es ist aber zu fürchten, dass die Rezeptionen (und Übersetzungen) in andere Sprache solche Differenziertheiten kaum noch transportieren und die Aussagen vergröbern. Die überzogenen Attribuierungen an Rudolf kommen sehr deutlich in einem Kupferstich von Matheus Greuter zum Ausdruck. Die Graphik stellt Rudolf neben die beiden genannten Kaiser Oktavian und Karl. Die drei Kaiser regieren in etwa achthundertjährigem Abstand: ihr Geburtsbild soll bei allen "denselben Aszendenten", "horoscopus idem", getragen haben. Dabei erscheint die Zuschreiben des Steinbocks als Aszendent an Karl den großen aus unbekannter Quelle zu stammen. Auf verwandte Aufgaben auf Grund der gleichen inhaltlich saturninen Konstitution bezieht sich die Umschrift auf dem äußeren Ring des Stiches: das Reich, das Augustus begründete, 100 und Karl fortführte, werde Rudolf II. neuerlich "aufrichten", im Jahr "1600". In einem mittleren Kreis stellt Greuter das Horoskop Rudolf II. bildhaft vor: am "Aszendenten", links, steigt der Steinbock mit seinem Fischschwanz auf, über ihm schwingt sich ein Adler auf, mit gestirnter Brust, ein Sternbild, das bereits im Text des Nostradamus als "vultur volans" genannt wurde. Gegenüber, am "Deszendenten", im Zeichen des Löwen, steht das andere bedeutsame Zeichen, im achten Haus ("vom Aszendenten aus"), zugleich im Sextil zum 10.; ihm verknüpft sich zugleich ein doppeltes Sextil zu Mars und Mond in den Zwillingen. Es bedeutet das Erbe eines riesigen Reiches, in der Ballung der konjugierenden Zeichen Sonne, Jupiter und Drachenkopf und ihrer Aspekte. Dieses folgt ganz der gängigen Astrologie. Die kreisrunden Embleme links und rechts unten zeigen das "Schicksal" - einen Greis mit den sieben Sternen: mit der Umschrift: "Fata regunt orbem: fieri iubet omnia FATUM". Auf der anderen Seite steht die "Zeit" – man sieht Saturn mit Sichel und Sanduhr, und der Umschrift "Et qua fata iubent, ea perficit omnia TEMPUS". („Schicksale bestimmen auf der Erde: alles, was sich ereignet, geschieht im Auftrag des FATUM.“ „Und was das Schicksal befiehlt, das vollbringt schließlich die ZEIT.“) Das Bild wurde von "Raym. Urso, seiner Kaiserlichen Majestät Mathematiker" erfunden86, und von "Matheus Greuter 1594" gestochen. Wie gesagt: es sind in diesem Bild nur schwache Einflüsse des Michael Nostradamus deutlich, eigentlich nur in der Betonung des 86 Mathematiker bedeutet aber zu dieser Zeit auch „Astrologe und Astronom“. 101 Saturn als Herrn des Aszendenten. Die Parallelisierung der drei historischen Personen kommt bei ihm gar nicht vor: wie gesagt, spricht er eher für einen allgemeinen martialischen Hintergrund, im Zusammenhang der beiden bedeutenden Makedonier. Und es hat die einschlägige Ära der Geburt des Rudolf zwei lange martialische Zeichen, Skorpion in formal Sonne, Widder in formal Mars: dabei hat Widder ab 1550 (formal Venus) Vernichtung durch Waage – so sind astrosemiotische Parallelitäten auf allgemeinster Ebene mit solchen Zeichen übergeordnet, und das saturnine Moment des individuellen Horoskop ist weniger generell und „verborgener“. Hinzu kommt wohl als wesentliches Argument gegen diese historische Parallelisierung der drei Personen: der schematische achthundertjährige Abstand widerspricht Michael Nostradamus durchgehend an den beobachtbaren Gestirnständen orientierten Aussagen. Seine spezifische Neuerung in der Geschichtsastrologie verlässt alle Schematismen, z. B. Die im Mittelalter noch lange übliche Gliederung der Zeitalter nach der Zählung in Jahrtausenden: statt dem entwickelt er eine kreative Methode, die Zeitalter, die nur noch metaphorisch aufzufassende Millenien sind, nach konkreten Vorgängen am Sternenhimmel einzuleiten, in langen Bezügen zu den längsten Zyklen, dem der Sonne und dem des Mondes, mit Eröffnungen der Weltzeiten: in diesem Sinne würde er nie eine astrologische Aussage treffen, die alleine auf einem gleichen Abstand von Jahren beruhte – vielmehr würde er nach gleichsinnigen Zeichen Ausschau halten, und Personen parallelisieren, die von gleichen Koinzidenzen begleitet sind. 102 So spricht er in der zweiten Vorrede der Prophezeiungen z. B. von einem „zweiten Thrasybul“87: das bedeutet, es gibt zu der mit dieser Person ausgestatteten Zeit historische und enographische Äquivalente zu dem attischen Staatsmann Thrasybul. Eine verwandte Äquivalenz gibt es zwischen Philipp und Rudolf. Für die weitere kritische Betrachtung ist anzufügen, dass die Nachrichten über das Geburtsbild des Karl unsicher sind: wenn, dann würde Nostradamus sicherlich die Enographie zu Karl den Großen heranziehen: dort sieht man Steigerungen von formal Saturn mit Waage, mit Kodominationen der inhaltlichen Lichter – dieses sind aber erhebliche Differenzen zu den Koinzidenzen bei Philipp wie bei Rudolf: nach der Zyklenlehre des provenzalischen Arztes und Visionärs kann Karl der Große zwar mit Rudolf II. Verglichen werden, dabei würde sich aber zeigen, dass sie nahezu diametral entgegengesetzten Symboliken entsprechen. Und Ähnliches gilt für Oktavianus, begleitet von hoch exaltierten Zeichen des Krebs. Hier zuerst näher nun zu Karl dem Großen: Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur 760: Löwe 690: Schütze 760/761: Waage/ Zwillinge 698: Stier 769: Jungfrau/ 759: Steinbock 769: Krebs 770: /Stier 87 „Les Propheties“, Vorrede B, 1568, Satz 29. 103 771: Schütze 775/776/ 777: Löwe/ Schütze/ Jungfrau 782/783: Krebs/ Widder 783: Waage 788/789: Jungfrau/ Skorpion/ 789: Jungfrau 790: /Löwe 790: Waage 795: Löwe/ 795: Löwe 796: /Fische 797: Stier Löwe Schütze Waage Löwe Krebs Stier Löwe/ 104 Fische 801: Jungfrau Die Kulmination zeigt ein unermüdliches Zeichen, in dem universalen Zusammenwirken aller Sphären, die alle hoch gesteigert sind. In dem Sinne der „astronomischen und zyklischen Übereinstimmungen“ gibt es eher Verwandtschaften zwischen karl dem Großen und Oktavianus als beider mit Rudolf.) Saturn: Waage Venus: Stier Mond: Schütze Merkur: Löwe/Fische Sonne: Löwe Jupiter: Löwe Mars: Krebs - Oktavianus Augustus hat folgende Astrosemiotik: Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur -34: Fische -824: Zwillinge -34: Krebs -55: Steinbock -21/-20: Widder/ Jungfrau -24/-23: Widder/ Schütze -19: Löwe 105 -14/-13: Widder/ Steinbock -12/-11: Jungfrau/ Krebs -8/-9: Widder/ Löwe -5/-4: Löwe/ Steinbock Fische Zwillinge Löwe/ Jungfrau/ Löwe Steinbock Krebs Steinbock Widder/ Löwe -4: Jungfrau Zurück zu dem Geburtsbild des Michael Nostradamus für den späteren Kaiser Rudolf II.. Nun folgt der zweite Teil des Horoskops: die Darstellung der klassischen Elemente der Astrologie. In Kapitel VI werden die wesentlichen Anzeigen der "kardinalen" Punkte der Nativität - die Signifikationen des Aszendenten (griech. „horoskopos“), und die anderen wesentlichen Punkte im Zenith, am Deszendenten und in "imo coeli" - angesprochen. Die genannten Punkte berühren die Komplexion des Nativen, seine Partnerin, seine Mutter, seinen Vater. Bezüglich des Vaters ist die 106 Aussage der hohen Zuneigung von Vater und Sohn bedeutsam; zeichenhafte Gründe dafür sind bereits angeführt worden. Im Text findet sich manches sehr bildhafte Wort – beispielsweise: "Eure Majestät wird sich finden auf einem hohen Thron hinter einem großen hohen Berg, es wird ein Sturm entstehen, der mit aller Macht versucht, Euch schwerwiegend zu belästigen und zu schädigen und Euch von Eurem so sehr hohen Thron herabstolpern zu lassen aber wird vergeblich sein...". Solche Darstellungen gemahnen an einen seherischen Ursprung. Es können auch Symboliken der zyklischen Astrologie angesprochen sein, „hoher Thron“ entspräche einem 10. Haus, „großer hoher Berg“ starken Präsenzen der Erdzeichen, „Sturm“ stünde für Signa der luftigen Triplizität. Nachdem das Thema "Saturn als Herr des Aszendenten" bereits mehrmals aufgegriffen wurde, kommt dieser Punkt nach den allgemeinen Erörterungen der vier kardinalen Orte in Kapitel VII noch einmal zum Tragen. Die Betrachtung der Genitur scheint von den allgemeineren Beständen zu den spezielleren zu schreiten; zuerst erschien Saturn als Bestandteil zyklischer Inhalte, dann als wesentliches Zeichen des kardinalen Kreuzes; jetzt geht es um den Planeten Saturn, individuell platziert noch im 1. Haus, an der Häuserspitze des zweiten, aus kollektiver Sicht aber in 5.. Im Blick auf diesen Planeten wird auch der Fortgang dieses kurzen Kapitels verständlich: es werden sozusagen alle Verknüpfungen, die dieses Zeichen besitzt, der Reihe nach durchgesprochen. Der auffallendste Akzent dabei ist die Anzeige des Geschwisterkonfliktes: Quadrat Saturn auf Zwillinge - Gemini ist mundan drittes Zeichen des Tierkreises - diese Bedeutung wird erweitert durch die aktuellen und zyklischen Hintergründe. In 107 Zwillinge findet sich der aktuelle Mars: innerhalb firmamentischer Entsprechungen der Geschwisterreihe ist damit ein älterer Bruder nahe der Mitte der der Geschwisterreihe angesprochen – Saturn, im Quadrat dazu, kann für den ältesten Sohn sprechen. Matthias, der Anführer der Opposition gegen Rudolf, war der dritte Sohn, und dieser könnte an dieser Position ein Analogon des Mars darstellen (*1557); Rudolf war der erste Sohn, Ernst (*1553) der zweite. Dann wird erneut die "vollkommene Übereinstimmung mit dem Vater" (Trigon Saturn und Venus, aus 1. auf IV.) erwähnt; in diesem Zusammenhang wird auch die Opposition mit Sonne (in 7.) erwähnt, daraus werden Auseinandersetzungen über die Eheschließung gefolgert. Die Technik der astrologischen Deutung folgt hier den üblichen Methoden. Es folgt das längste Kapitel der gesamten Prognostik, das Kapitel VIII. In ihm werden die Herren der zwölf Häuser des Horoskops besprochen. Dieses ist die hohe Schule der alten Astrologie. Es zeigt sich jedoch ein bedeutsamer Unterschied in der Ermittlung der leitenden Planeten: die Entscheidung, welches Gestirn die Aussage trägt, wird mit überindividuellen und enographischen Hintergründen verwoben. Diesen Umständen ist es zuzurechnen, dass die Ermittlung der jeweiligen "Herren" der Anzeige etwas anders ausfällt als erwartet. Diese Vorgehensweise soll nun beispielhaft dargestellt werden, stellvertretend für die Gewinnung der Aussagen zu den anderen Häusern. Aufgegriffen werden soll die bedeutsamste Signifikation des Horoskops, die Anzeige des Königtums. Michael Nostradamus schreibt zu Beginn des achten Kapitels: "le seigneur de la 108 premiere maison, dans la premiere maison, dans la dixiesme...". Diese Anwesenheit des Herren des zehnten Hauses im ersten und umgekehrt ist das überlieferte Zeichen des Königtums. Dieses trifft nicht ohne Weiteres für das Horoskop Rudolfs zu: Saturn steht von Nostradamus selbst in das zweite Haus platziert, in Fische; doch eigentlich ist Saturn rechnerisch noch im ersten, 4° vor der Häusergrenze. Der Planet ist aber durch Erhöhung und Zusammenstirnung88 Herr der Himmelsmitte, individuell des Zeichens Skorpion. Aber Saturn steht keineswegs, wie Nostradamus formuliert „im zehnten“, wenn auch doch „im ersten“. Im zehnten Haus befinden sich in Rudolfs Geburtsbild keine Planeten; das erweiterte Wort des provenzalischen Arztes muss andere Gründe haben, vor allem bezüglich eines Gestirns im 10. Haus. Zieht man nun Zyklisches bei, sieht man Skorpion individuell bei 10. und Skorpion kollektiv bei 1.. Geht man enographisch weiter, erkennt man das kulminierende Gestirn der Zeit zwischen 1542 und 1557, Sonne in Skorpion, im 10. Haus des individuellen Bildes. Skorpion ist nun auch der Ort des kollektiven 1. Hauses: und nimmt man die Reihe der Tierkreiszeichen so vor, dann rückt Löwe in 10.: in Löwe aber steht wiederum die individuelle Sonne, zugleich in Konjunktion mit Jupiter. Diese Konjunktion hat einen größeren Abstand als 5°, „orbis“: aber in der astrophilen Gestirnkunde ist dieses vernachlässigbar, wesentlicher ist der Ort des Tierkreises, der beide Signa zusammen fasst. Nostradamus wird nicht müde, im Verlauf des Horoskops immer wieder diese verdichtete und in sich gesteigerte Ptolemy, Tetrabiblos, Cambridge/London, 1971, 5. Aufl., S. 237, genauer 233; oder: Tetrabiblos, übers. v. Pfaff, J. W., Astrologisches Jahrbuch, Erlangen, 1822/1823, Nachdruck Hannover, o.J., S. 19 - 22, S. 38 – 39. 88 109 Signatur anzusprechen: sie wurde bereits mehrfach vorgestellt und sie ist sicherlich das beeindruckendste Zeichen innerhalb dieses Horoskops. 110 10. „Die Übertragung der universellen Monarchie der christlichen Welt“ Zuerst zusammengefasst die wesentlichen anderen Aussagen des Kapitels VIII: Gesundheit und langes Leben (1. Haus), riesiger Besitz, große Schätze und Reiche (2.), große Rivalitäten und Auseinandersetzungen mit den Brüdern (3.); Rudolf wird große Besitztümer erwerben, zugleich ist er der "Beste seines Stammes" (4.); er wird viele Freuden erleben, reiche Kinder haben (5.); er wird über eine überaus gute Dienerschaft verfügen, jedoch an Melancholie leiden (6.); er wird mehrere kriegerische Auseinandersetzungen bestehen und eine königliche Gattin heimführen (7.); ihm droht der Tod von mehreren Kindern, und er wird an Krankheit sterben (8.); er wird zuerst "unterrichtet sein in guter Lehre", dann aber von dieser abfallen: "achten Sie, Sire, daß Gott sie nicht verlässt" (9.); die königlichen Ziele sind bedroht durch die Brüder, das Kaisertum Rudolfs ist gekennzeichnet durch die persönliche Schwäche, Zorn und Wildheit (10.); er wird viele Freunde besitzen, die ihm nicht ebenbürtig sind; zwischen 45 und 52 Jahren wird ihm auf Grund seiner religiösen Haltung "die universelle Monarchie der christlichen Welt übertragen"89. Die letzte Aussage - „pource quil demonstre que p/ar/ Religion & Jusques a le age v/ot/re De 45. ans a 52. tiendres fort vo/tr/e opinion Des Dieux qui sera cause pricipalle que la universelle Dieses steht bei der sehr umfangreichen Besprechung der Signifikationen des 11. Hauses, auf Seite 50 der Handschrift. 89 111 monarchie du monde Des chrestiens vous seront conferez“ verlässt das Schema der 12 Häuser des Geburtsbildes: sie kann zwar in gewisser Weise auf Aspekte des 12. Hauses bezogen sein, in der Umkreisung von dessen Bedeutung „guter Geist“, denn dieses wird umfangreich darin angesprochen. Vermutlich aber ist dieses wiederum eine bedeutsame geschichtsastrologische Einfügung, an passendem Ort, das „Oberhaupt der christlichen Welt“ sollte schon in „gutem Geist“ regieren – und Grund der „Übertragung“ ist auch die „starke Haltung zu der Religion“. Vermutlich ist diese Aussage ohne enographischen Hintergrund gar nicht denkbar. Hervorzuheben sind dabei zwei Begriffe: die „universelle Monarchie“ und die „Welt der Christen“. „Universell“ steht sicherlich in einem firmamentischen Zusammenhang: die Gestirnkonstellationen bilden ein Zeichen, aus dem ablesbar wird, welche Person ein „Oberhaupt“ der so begleiteten Zeiten und Zonen wird. „Universell“ bedeutet hier am ehesten „allumfassend“ oder „von oben, von den Sphären und ihrer prästabilisierten Harmonie“ angekündigt: dieses muss eine bedeutende Würde darstellen, man scheut sich aber, diesen astrologisch grundgelegten begriff in den Zusammenhang eines „Gottesgnadentums“ zu stellen: diese nicht nur leicht „abgegriffene“ Vorstellung hat nicht jene symbolische Qualität, die das signum im Munde des provenzalischen Propheten gewinnt: ihm fehlt auch die geistliche und spirituelle Dimension völlig, die Michael Nostradamus als wesentliche Voraussetzung solcher „Übertragung“ heraus stellt. Hinzu tritt der Zusammenhang des 11. Hauses, der „Freunde, der guten Beziehungen“, die dieses augurium von allem Machtpolitischen scheidet: 10. und 11. Haus sind im Horoskop nicht miteinander verbunden, geistliche und spirituelle Leitung geschieht in einem „freundschaftlichen guten 112 Geist“. Dem Urteil entsprechend, es fänden sich „die Herren von 11. in 8. und 9.“ sind hier die die Präsenzen in Zwillinge und Krebs in dem kollektiven Bild der Enographie zu berücksichtigen, dieses sind Mars und Mond und Venus und Merkur. Nach Claudios Ptolemaios gehört zu Mars das „42ste bis 57ste Jahr“: Mars ist in den genannten Präsenzen die hervorragende Anzeige, sie bestimmt den allgemeinen Zeitraum der Aussage. Zugleich zeigen sich Sextile von Jupiter/Sonne auf Mars, und Trigone von Merkur/Venus auf Saturn: eigentlich positive Zeichen. Nur mengt sich dann auch noch ein Quadrat des Saturn auf Mars hinein, das bekannte Zeichen der Konflikte mit den Geschwistern, zugleich ein Erschwernis der Religion in den Jahres des Mars90: aus letzterem Quadrat wird die Warnung, die „Religion zu verlieren“, deutlich. Der zweite zu erörternde Begriff ist „die Welt der Christen“: auch hierin zeigt sich ein umfassender Anspruch, der weit über die Spaltung in Konfessionen, Gemeinden und „Sekten“ hinaus geht. Wieder befinden wir uns in jener Sichtweise, die Lehrweisen im Detail zu Gunsten einer allgemeineren Einheit zurück stellt. Zugleich hat der Begriff „Welt“ eine säkulare Komponente, äußert eine bestimmte leitende Funktion innerhalb der Immanenz. Man könnte meinen, hier die frühmittelalterlichen Vorstellungen eines Einhard für Karl den Großen zu erkennen, einen Sinn der Monarchie, der gerade in der fränkischen und später in der französischen Geschichte immer wieder betont wird. Zugleich fehlt hier der Begriff „Kirche“: die Vorstellung ist allgemeiner und säkularer gefasst. In diesem Sinne muss man davon ausgehen, es wäre im Zusammenhang der Geschichtskonstruktion des Michael Jedes Mal, wenn man in eine nähere Analyse der zeichenhaften Struktur und mehr noch des Geburtsbildes eintritt, merkt man, welche ausgeklügelte Fülle in jedem einzelnen Detail der textlichen Mitteilung eintritt. Alle diese Signaturen im Ansatz zu besprechen, erforderte einen immensen, jahrzehntelangen Aufwand. 90 113 Nostradamus eine Entscheidung über mögliche Führungsrollen innerhalb der „christlichen Welt“ - nicht „Christenheit“ - ermöglicht: dieses kann mit den Exaltation bestimmter Symbole zusammen hängen, und mit aus solchen „Apsiden“ ableitbaren topographischen und „sympathischen“ Vorstellungen. Rudolfs „45. bis 52. Jahr“ ereignet sich 1597/1598 und 1604/1605. Man kann dieses überprüfen mit den Koinzidenzen der Enographie: was ereignet sich in den genannten Jahren in den Zyklen? Zu berücksichtigen ist der Marszyklus von 1589 bis 1606. Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur 1582: Jungfrau 1584/1585/ 1586: Fische/ Wassermann/ Schütze ^ 1555: Stier 1574: 1584/1584: 1577: Zwillinge Jungfrau/ Löwe Wassermann 1589: Stier 1589: Krebs 1590: Stier 1591/1592 /1593: Steinbock/ Zwillinge/ Fische 1598: Skorpion 1598: Steinbock/ 114 1599: /Waage 1601: Stier Stier Zwillinge Jungfrau/ Wassermann Stier Stier Skorpion Steinbock/ Waage 1604/1605/ 1606: Wassermann/ Stier/ Wassermann 1606: Jungfrau 1606: Zwillinge Die Hervorhebung durch grauen Hintergrund zeigt: es ist hier die Kulmination des Stier, mit mehreren Kodominationen. Sonne: Stier Jupiter: Stier Mars: Stier Merkur: Steinbock/Waage Saturn: Jungfrau/Wassermann Mond: Zwillinge Venus: Skorpion 115 Dieses Zeichen ist widrig: d. h. Signa, die „vorne“ stehen, bei doppelter Eröffnung von Zyklen, sind in Fall oder Vernichtung, hier Stier in Fall und Vernichtung durch Jungfrau und Skorpion, und Wage in Fall durch Jungfrau. Diese Widrigkeit ist hier gemildert durch die vierfache Präsenz von inhaltlich Venus, Stier hat „gesättigte“ dreifache Anwesenheit. Diese Adversität lässt nun die saturninen „Hintergründe“ der inhaltlich venerischen Zeichen „sichtbar“ werden, Waage hebt Steinbock und Wassermann, Saturn ist in Waage in Erhöhung. Dieser „höchste Hügel“ der genannten Epoche oder Ära am deutlichsten sichtbar im Merkurzyklus, und zwar von 1598 bis 1604: und dieses deckt sich wiederum genau mit der zeitlichen Angabe im Horoskop. In dem Merkurzyklus hat inhaltlich Saturn die Erhöhung bei sich, in der Anzeige Steinbock/Waage: dort wird Capricornus hervor gehoben. Und zugleich ist der erhöhte Steinbock das 1. Haus der individuellen Genitur Rudolfs, und Wassermann, die andere Präsenz des inhaltlichen Saturn, ist völlig in dem ersten Haus nach dem System des Regiomontanus enthalten. Man sieht hier also starke Präsenzen der Zeichen des Winters verbunden mit den venerischen Signa Österreichs und der Schweiz, die wiederum dem Haus Habsburg entsprechen können. Zugleich gehört Wien zu Waage, „Pannonien“ zu Stier. Dieses dürfte die „stärkste“ Zeit des Kaiser Rudolf II. bedeuten; zugleich ist visionär angesagt, es werde zu dieser Zeit eine wesentliche (saturnine) Macht in topographische Zusammenhänge der inhaltlichen Venus übertragen, „die weit reichend ist, bis über das All hinaus, zugleich eine Herrschaft der harmonischen geistigen Komplexion in der Immanenz darstellt“. Zugleich ist das enthaltene 116 Zeichen Jungfrau verbunden mit dem 11. Haus der kompositen Darstellung: hier zeigt sich also auch der zyklische Saturn in dem 11. Abschnitt des kompositen Bildes, gleichzeitig wiederum verbunden mit dem mundanen elften Haus, Wassermann. So zeigt sich hier plötzlich wieder die sehr intensiv miteinander verwobene Bedeutungsstruktur, die anscheinend Michael Nostradamus zu seinen akzentuierten Vorhersagen verhilft: „hier kann man in seine Werkstatt blicken“, hier werden Signa und Symbole visionär anordenbar und auswertbar. Zu den allgemeinen astrophilen Parallelitäten tritt hier das Wort über die Bedeutung zyklischer „Spitzen, Hügel, Kulminationen oder Exaltationen“ für eine „christliche Welt“. Vermutlich hängt dieses Adjektiv mit dem harmonischen Charakter des zeitlichen Themas zusammen. 11. Schütze 10. Skorpion 9. Waage 8. Jungfrau Venus Saturn/2 Merkur/1 12. Steinbock 7. Löwe Merkur/2 1. Wassermann Apside des Wassermann Saturn/1 2. Fische 6. Krebs (Jupiter) 3. Widder 4. Stier 5. Zwillinge Sonne, Jupiter, Mond Mars Man beachte hier die Stellung der Venus in 10.. Sie hat zu beiden Aspekten des Saturn Sextil. - Jedoch ist Venus in 10. auch ein kritisch zu bedenkendes Zeichen. - Es sind zwei gefüllte 117 Triplizitäten vorhanden, der Luft und der Erde: bereits dieses bietet eine Vielzahl an Trigonen. 11. Skorpion 10. Waage 9. Jungfrau Venus Merkur/1 Saturn/2 12. Schütze 8. Löwe 7. Krebs (Jupiter) 1. Steinbock Andere Möglichkeit der Führung durch inhaltlich Saturn Merkur/2 2. Wassermann 3. Fische Saturn/1 6. Zwillinge Mond 4. Widder 5. Stier Sonne, Jupiter, Mars Es zeigt sich wieder eine mehrfache konzentrierte symbolische Mitteilung. Man kann auch Stier oder Waage oder Jungfrau oder Zwillinge zum Aszendenten machen: in dieser Zeit sind die topographischen Entsprechungen dieser Signa begünstigt, darunter auch England („London“, zu Gemini). Der Vorrang der „Leitung“ aller Entsprechungen gebührt aber nach dem seherischen Wort Rudolf und seinen Ländern: für ihn spricht anscheinend die Mehrzahl der „himmlischen Mitteilungen“. Danach geht der Arzt und Astrologe noch auf das 12. Haus ein: Rudolfs Feinde werden schwach sein (12.). Schließlich folgt der zusammenfassende Satz: "dieses alles sind sehr sichere Zeichen". Man kann sich fragen, wie eine Vorhersage wie „die Übertragung der universellen Monarchie der christlichen Welt“ dazu gehören kann: und dieses ist nur eine Aussage unter sehr vielen. 118 11. Kapitel: Der Glückspunkt und neue andere Zeichen Es beginnt nun der dritte Teil des Horoskops. Die Kapitel IX bis XXVI besprechen die entwickelten Aussagen in allen Details. Das Vorgehen wandelt sich: ausgehend von den Planeten und Punkten in der Reihe ihrer Würde folgt eine Durchnahme des gesamten Geburtsbildes: dabei ergeben sich Modifikationen bereits gefallener Aussagen. Dazu Beispiele: durch Saturn im zweiten Haus sei eine Mäßigung des materiellen Erfolges zu erwarten (Kap. IX); durch "Mars in 6" würden viele Krankheiten angezeigt (Kap. XIII) - in dieser Signifikation befänden sich viele Anzeigen, "die nicht königlich wären". Bereits diese zwei Deutungen zeigen eine Nähe zu der gängigen Astrologie: es ist zu fragen, warum Solches erst ab dem IX. Kapitel erfolgt – daraus ist ablesbar, wie weitgehend anders aufgefasst die Gestirnkunde in den ersten acht Einheiten ist. Der Tod des Nativen werde unter großen Ehrungen geschehen (Kap. XV); es werde ein Verlangen nach der Magie angezeigt (Kap. XVI); der Native werde viel Freude mit Frauen haben (Kap. XVII); er verfüge über eine große Sprachbegabung, die sich erst langsam entwickele (Kap. XIX); sein Geist sei beweglich, und er besitze viele Freunde (Kap. XX); der Native verfüge über ein großes Können in der Zähmung von Tieren (Kap. XXI); er habe eine Vorliebe für "kleine Mädchen" (Kap. XXII). Diese Mitteilungen 119 folgen nicht der gängigen Ordnung der Häuser: sie hängen wohl mit den jeweiligen Signifikatoren und deren Durchsprechen zusammen. Diese Passage abschließend geht Michel Nostradamus noch einmal auf das wesentliche Zeichen "Saturn als Herr des Aszendenten" ein. Er rahmt die detaillierenden Aussagen noch einmal durch das Aufgreifen der bereits besprochenen allgemeineren und guten Anzeigen dieses Planeten. Den Schlusspunkt dieses Teiles setzt die Besprechung der Lage des Glückspunktes. Michael Nostradamus führt aus, er habe ihn nach den "ältesten Methoden der Chaldäer, Babylonier und Ägypter" berechnet, und nicht, wie es Claudios Ptolemaios vorschlägt. Er kommt noch einmal zu einer entschiedenen Vorhersage des Königtums für "diesen Knaben" - "das ist ein zukünftiger König" - "er wird nichts ohne großen Belang tun". Und da der Native so sehr von Glück begleitet sei, werde sich "sein Reich von Tag zu Tag mehren" und er werde in den "Chroniken einen großen Namen besitzen". Das Zitieren der antiken Schulen der Gestirnkunde erinnert an das Zitieren des „Hermes“, einige Kapitel vorher. Es ist nicht zu eruieren, welche speziellen antiken Bücher oder Autoren damit angesprochen sind. A. Bouche-Leclerq91 erwähnt solche Quellen nicht, er zeigt ausgeführt die Methode des Manilius und des Ptolemaios zur Bestimmung dieses Punktes: dabei werden der Abstand der Sonne und des Mondes je nach Tages- oder Nachtzeit von Aszendenten her angetragen. Wendet man nun diese Methode auf die Zyklen des Michael Nostradamus an, dann erreicht man mit „Sonne in Skorpion“ und „Mond in Schütze“ für eine Taggeburt 91 a. a. O., S. 288 -294. 120 einen Abstand von 30°. Vom kollektiven Aszendenten Scorpio angetragen erreicht man damit auch wieder das Zeichen Skorpion, d. h. eben den Ort, den Nostradamus auch für das Horoskop des Rudolf wählt. Ist es damit nötig, so ausführlich auf alte Autoritäten, die kaum zugänglich sind, zu verweisen? Zu fragen ist weiterhin, wie Michael Nostradamus auf die von ihm angegeben „17° Skorpion“ des Glückspunktes kommt. Am ehesten hängt dieses vielleicht auch mit der Dauer der Schwangerschaft zusammen. Man kann dabei vom Zeitpunkt des Zyklusbeginns aus rechnen, dann hat man 280 bis 282 Tage, oder man rechnet vom Zeitpunkt der Empfängnis aus, dann hat man 266 oder 267 Tage. Die Sonne steht am 31. Oktober 1551 bei 17° Skorpion: man kommt bis zum Tag der Geburt des Rudolf, dem 18. Juli 1552, auf 261 Tage. Ganz befriedigen kann diese Annäherung nicht: gibt es nicht doch noch ältere und relativ sichere Annäherungen an diesen Punkt? Untersuchen wir zuerst den Ort des Glückspunktes nach der gängigen Methode, z. B. nach Manilius. Zur Zeit der Geburt des Rudolf steht die Sonne bei 4°53´ im Löwen, der Mond bei 20°7´ in den Zwillingen. Von der Sonne bis zum Mond sind 315°14´: vom Aszendenten an gerechnet erreicht man 4°23´ Schütze. Damit läge der Glückspunkt an einem eigentlich otimalen Platz, in 11. „in gutem Geist“, bei „Freunden“, im recht genauen Trigon zu Jupiter/Sonne: doch die weiteren Aspektierungen sind nicht gut, es gibt ein nahezu exaktes Quadrat zu Saturn und eine doch deutliche Opposition zu Mars/Mond. Hat Michael Nostradamus hier die Aussage „geschönt“, in dem er einen begünstigteren Punkt in der aquatischen Triplizität wählte? Suchte er die Bedeutung des enographischen Mondes in Schütze zu meiden – vielleicht weil ab 121 1574 der Mondzyklus die Koinzidenz Zwillinge gewinnt, damit eine „Opposition des Volkes“ anzeigt? Und ab 1584 träte der zyklische Saturn in seiner „verborgenen Präsenz“, mit Jungfrau, in eine Quadratur zum Glückspunkt, aus dem 8. Haus, aus dem Haus der „Furchtanwandlungen“? Und ab 1606 tritt der zyklische Mars in eine Qualität der Zwillinge, mit weiterer Opposition durch Mars? Suchte Nostradamus sich vor den Konsequenzen dieser Zeichen zu schütze, indem er diesen Punkt um ein halbes Zeichen „verlegte“? Berücksichtigt man dieses, wird umso erstaunlicher, wieso er gerade mit seiner alternativen Methode der Bestimmung des „Sort de la Fortune“ zu so entschiedenen Aussagen kommt wie: "das ist ein zukünftiger König" - "er wird nichts ohne großen Belang tun" und da der Native so sehr von Glück begleitet sei, werde sich "sein Reich von Tag zu Tag mehren" und er werde in den "Chroniken einen großen Namen besitzen". Wird hier eine positive Zukunft geradezu heraufbeschworen, in der Installierung einer „selbsterfüllenden Prophezeiung“ im Glauben des Nativen an sich selbst? Und nun eine zweite Überlegung zum Ort des Glückspunktes bei Rudolf, im Bezug zu zu dem bereits ermittelten Zeitpunkt einer vermuteten Empfängnis des Nativen. Dabei sieht man, wie Michael Nostradamus bei unsicheren individuellen Bedingungen zu sicheren allgemeinen Umständen „greift“. Es gibt eine seit alters bedeutende astronomische Methode92, um auf 17° Skorpion zu kommen: am 31. Oktober erreicht die Sonne 17° Skorpion. Die vorausgehende Syzygie, ein Neumond, findet in einer Begegnung von Sonne und Mond am 29. Oktober statt. Der Neumond ereignet Dargestellt in einem Artikel von O. Schrader: Die Sichtbarkeit der schmalen Mondsichel bald nach Neumond; http://adsabs.harvard.edu/full/1905AN....168..319S 92 122 sich nach moderner Berechnung an dem genannten Tag um 7 Uhr 30 morgens, der Ort des Tierkreises ist 225°5´ - dieses ist der 16. Grad des Skorpion. Für die Alten war aber die rechnerisch ermittelte Zeit der Begegnung von Sonne und Mond nicht so bedeutsam wie die erste Sichtbarkeit der Mondsichel nach dieser Begegnung: denn mit dieser ersten Sichtbarkeit des Erdtrabanten begann der Monat. Es begann also dieser Monat nach alter Vorstellung nicht am 29. Oktober, sondern am 30.: denn es besagt eine Faustregel, dass der Mond einen Tag nach dem Neumondereignis wieder sichtbar wird. (Allerdings schwankt der Zeitraum der Sichtbarkeit, je nach Bedingungen im Jahreslauf, von knapp unter einem Tag bis etwa eineinhalb Tage.) Es beginnt also das wesentliche allgemeine Zeichen „bei der Empfängnis“ am 30. Oktober 1551, der Monatsbeginn, gleichzeitig der „Beginn eines individuellen Lebens“ – und an diesem Tag steht die Sonne bei 17° Skorpion93. Michael Nostradamus scheint hier neuzeitliches medizinisches Wissen mit der alten Methode der Eröffnung des Monats zu verbinden. Allgemein ist zu diesem dritten Teil des Horoskops für Rudolf zu bemerken: gerade in der Wiederholung des Durchganges durch das Geburtsbild erstaunt das „iterative“ Verfahren: denn wieder werden die Signifikationen durchgesprochen, dieses Mal aber in konventionelleren Deutungen der Astrologie. Dabei geht es weniger um eine Wiederholung von Inhalten: die Methode wirkt eher wie ein erneutes und sich „zuspitzendes“ Tasten, auch wie ein unermüdliches und hartnäckiges Insistieren, trotz immer wieder unterbrochener Intentionalität. Dieses ist geradezu eine Metapher In diesem Sinn kann man der Empfängnis und damit dem Glückspunkt jeweils die nächstgelegene Mondphase zuordnen – Neumond, zunehmender Halbmond, Vollmond, abnehmender Halbmond; für den Ort ist auch der Abstand von 266/267 Tagen zur Geburt einzubeziehen. 93 123 für alles menschliche Bemühen: es scheint diese oft und oft scheiternde Bemühen parallel zu stehen Beschränkungen der Körperlichkeit, gehemmten Verfassungen des Verstandes, Unvollkommenheiten des Ethischen und Unvollständigkeiten des Handelns, und dieses lebenslang. Es gibt eine Ähnlichkeit der Ansätze des Verstehens und des Worte suchenden Ausdrucks in dem „Hinter-die-Oberfläche-der- firmamentischen-Figuren-Dringen“ mit den Defiziten menschlichen Schicksals, mit persönlicher hinfälliger Verfassung und deren emotionaler und affektiver Entsprechung, in Ermüdung, Verzweiflung, im Aufgeben und Abfallen. In solchen Anmutungen „bewegt“ sich der Text zuweilen: und als Leser fragt man sich ebenfalls immer wieder, warum noch einmal angesetzt wird, und wieder, und erneut, und oft und oft, und schließlich noch einmal, gerade so, als wäre keine hindernde Erfahrung vorhanden, als bliebe der sanguinische Impuls trotz alles gegenteilig Eingetretenen ungebrochen. Und letztlich entsteht dann doch wieder jener Moment, den anscheinend diese astrologische Methodik sucht: ihr Ziel und ihr anfänglich kaum nachvollziehbarer Zweck scheint der „Gestaltschluss“, d. i. das plötzliche Moment des Aufleuchtens einer umfassenden und auf mehreren Reflexionsebenen sich zusammen findenden sinnhaften Einheit, mit blitzartiger Einsicht in einem „Zusammen-Fall des Ganzen“, im Formieren der zuvor unvollendeten und fragmentierten symbolischen „Stücke“ im Sinne des „AhaErlebnisses“: „so muss es sein und nicht anders kann es sein – das ist es“. Unvermutet springt einen dann das Zusammenkommen der Elemente in einem beglückenden „Erlebnistotal“ an, es kommt eine hohe Evidenz, sie ist „kristallklar“, „die Schuppen fallen einem von den Augen“, man „schaut“, und wie von selbst entsteht die dazu 124 notwendige Kommunikation der „gesehenen Idee“, es „murmeln die Intuitionen“. Solche Momente kommen im Verlauf des Textes des Horoskopes immer wieder vor: dann verändert sich plötzlich auch der Ton, gerade so, als sähe man eine Person in ihrem selbstbewussterem Gestus sprechen - es treten Anmutungen von „Durchlichtung“ und „Transparenz“ ein. Fühlt man, sieht man, begreift man dieses, rücken die zuvor angerissenen und ansatzweise mitgeteilten üblichen astrologischen Bedeutungen einige Ränge tiefer: dieses „Wort“ relativiert sich, und es wird zu einer „Stufe“, einem „Versuch“, wesentlich zwar im Verlauf des Ganzen, darum nicht vernachlässigbar, aber doch nur „vorläufiges Puzzleteil“, das in dem Moment der „großen Einsicht“ zurücktritt, zu „Grund“ wird, und Hintergrund ergibt für das Hervortreten „luzider Einsicht“ in den größeren Zusammenhang. Wir werden in den nächsten Kapiteln noch weitere Beispiele für diese Art und Weise „Astrologie“ zu betreiben geben: dabei immer wieder die einzelnen Elemente der Deutung benennen, aber schließlich dann doch auch jenen anderen Sinn finden und entdecken, der alle die vorherigen Elemente evident zusammen bringt und „erleuchtet“. Und wie anders soll man es sich erklären, dass bestimmte historische Faktizitäten, die mit den Gestirnen übereinstimmen, hier zurückgestellt und zu Gunsten einer „andragogischen Beratung und Begleitung“ des Rudolf umgedeutet werden? Warum spricht Michael Nostradamus nicht über die so deutlichen „Bedrphungen“ des Glückspunktes, wieso macht er sich die Mühe, zu einem anderen Ort seiner Wahl zu kommen, und diesen auch noch astronomisch tiefgründig zu sicher? Geschieht dieses vielleicht doch aus jener höheren seherischen Kenntnis? Die bei 125 dem Provenzalen nicht, wie bei uns, mühsam in Iterationen erworben werden muss, sondern „gleichzeitig“ mit „ersten Eindrücken“ schon zu allgemein Gültigem vordringt? Im Sinne einer großen Erfahrenheit in der Astrologie, der Astronomie, der Medizin und der Lehre von Sympathie und Antipathie des All? Oder genügen Nostradamus, wie uns, dafür auch allgemeine ethische Erwägungen, die schließlich nur noch „hilfreiche“ Attributionen und Kommunikationen erlauben wollen? 126 12. Der Regierungsantritt und andere solarische und jovialistische Bedeutungen Ich bin mir nicht sicher, selbst wenn jemand die 1000 Seiten Kommentar, die am Anfang dieser Einführung als nötig erachtet wurden, geschrieben hätte, ob dann in ihm das Gefühl und die Genugtuung entstehen könnte, er habe damit alle möglichen Bedeutungen ausgeschöpft. Man kann dafür wieder jene Formel anwenden, die wir für das Verständnis des Manierismus und der „maniera moderna“ vorgeschlagen haben: es geht hier um künstlerische und wissenschaftliche Produkte, die die komplexe Vielfalt im schöpferischen Akt präsentieren wollen, zugleich ein „Undurchschaubares“, ein „unendlich Reiches“, eine perplex machende Fülle in „Identität der Polaritäten“ vor Augen führen wollen, eine Art Abbild des polyvalenten Kosmos, der zur Suche provoziert, der Antworten fordert, aber nicht gibt, der persönliche Stellungsnahme und Steigerung des Bewusstseins erreichen will. Alles dieses erkennen wir auch in der sogenannten „modernen Kunst“. Man kann in der Moderne, unserer siebten Weltzeit, seit der Reformation und seit der Renaissance zwei Arten und Weisen der „Information, Bildung, Sozialisation“ erkennen: auf der einen Seite eine „technische“, wissenschaftlich eineindeutige, „utilitaristische“, mit hoher Orientierung an dem „Machbaren“ in der materiellen Welt: in diese Richtung entwickelt sich die akademische Forschung Lehre immer weiter, und diese Haltung bestimmt Vieles in der Welt 127 in zunehmendem Maße – ja man könnte meinen, mit diesen Attitüden versicherten sich Wissenschaftler, Politiker, ganze Staaten und Staatsformen ihrer „Weltmächtigkeit“. Sie benehmen sich dabei so, als wäre die andere Richtung „an die Wand zu drücken“, „hinaus zu ellenbögeln“. Diese Richtung hat sich die Bestimmung über die materiellen Ressourcen gesichert: sie bestimmt die Wirtschaft, damit die Steuerung der Vermögen, sie dirigiert die Finanzen, sie verfügt über die Etats. Ihr fürchterlicher Satz ist: „wer zahlt schafft an“. In der anderen Richtung ist wenig Geld vorhanden. Der Großteil der Künstler und der Produzierenden bleibt „arm“: nur wenige gewinnen Anteil an den Strömen, die den zuvor beschriebenen Komplex „befeuchten und fruchtbar machen“. Die Verunsicherung, die von Joseph Beuys oder von Dali oder von Nostradamus oder von Dickens oder von Tolstoi ausgehen kann, d. h. in jenen Momente, in denen das Individuum „befragt“ wird und „herausgefordert wird“, im Fühlen der hohen Ambivalenz des Seins oder in der Konfrontation mit der undurchschaubaren Fülle und Rätselhaftigkeit des Erlebten oder in den gerne verschwiegenen Momenten des Scheiterns, lässt man lieber „ungeschehen“ stehen, man entzieht sich. Und die höchsten Möglichkeiten verwirklichte jener, der beiden Aspekte leben könnte: das sind aber die sogenannten „Genies“: und doch ist es unserer Zeit sehr notwendig, gerade diese beiden Möglichkeiten im Auge zu behalten, einerseits die rationale Suche, andererseits das metaphysische Interesse, einerseits das technokratisch formulierbare Axiom, andererseits die spiritualistische Indifferenz. Es folgt in dem vierten thematischen Komplex des Geburtsbildes nun ein weiterer Durchgang durch das gesamte Horoskop. Der 128 erste und zweite Teil, in dem die Bestimmung der "Herren" im Mittelpunkt stand, entwarf ein allgemeines positives Bild; dabei richtete sich der zweite Teil völlig nach dem bekannten astrologischen Deutungssystem. Der dritte, eben behandelte Teil, vertiefte diese Aussagen, ging jedoch – mehr im Detail - von einzelnen Planeten und Orten aus; er fügte manches Bedenkenswerte und auch Bedenkliches den Vorhersagen hinzu – zugleich eröffnete er dem Kundigen einen kritischen und reflektierten Umgang mit dem weissagenden Wort: denn es wird sich doch niemand nehmen lassen, hinter die Fassade der rätselhaften Aussagen zu dringen und nach eigenständigen Lösungen zu fahnden. Der vierte Teil nun versucht die Zeichen noch tiefer zu deuten: er wird dabei enigmatischer und dunkler. Die Sprache wird assoziativer, streckenweise inhaltlich sprunghaft: jedoch scheint (?) dieses alles geleitet von den Symbolen der Gestirne. Wie soll man Solches verstehen? Warum kam man zuvor ins Gängige, nun wieder ins Enigmatische? Und wieder davor, in einem Allgemeinen, konnte man kaum Hintergründe der Gestirnkunde wahrnehmen? Wird allgemein, in diesen „Lokomotionen“ des reflektierenden Verstandes, „Indifferenz“ gesucht, ein Auswiegen der Bedeutungspole, eine Verstärkung des Mysteriösen, des Rätselhaften? So berührt die Signifikation "Saturn im 2. Haus" (Kap. XXVII) solche disparaten Themen wie: „riesiges Reich, schwierige Eroberungen, Aufstände, Hindernisse bei der Eheschließung, große Krankheiten, ein Schaden im Aussehen der Gattin, Verschwörungen, Veränderung der Regierung in einem Teil des Reiches“. Dazwischen wird geradezu ermutigend eingeschoben, 129 auch graphisch hervorgehoben: "Du wirst das römische Volk regieren!" Folgend unternimmt Michel Nostradamus erneut eine Vorhersage des Regierungsantrittes Rudolfs. Er werde regieren, und zwar "mit 26 und 27 Jahren" ab "1577 oder 1578". Dazu sind folgende historische Daten relevant: 1572 erhält Rudolf die Krone von Ungarn, 1575, als übliche Voraussetzung der Kaiserkrone, das Königtum über Böhmen; 1576 stirbt der Vater Maximilian – im gleichen Jahr wird Rudolf zum Kaiser gewählt und gekrönt. - So muss man sagen: es ist die Vorhersage des Michael Nostradamus hier geradezu „brillant“, jeder Mathematiker und Astronom, der dieses leistete, hätte damit allein schon riesige Repuation gewonnen. Und im Zusammenhang der anderen eingetretenen Vorhersagen ist damit schon eine recht überzeugende Fülle von „Richtigkeiten“ erreicht: warum aber behandelt man dieses Horoskop aber gerade so, als steckte es voller Irrtümer? Das Gegenteil ist der Fall. (Wir vermuten aber, dahinter stecke die zu starke Identifikation mit jener zuvor genannten „positivistischen und utilitaristischen“ Weltsicht. Im Versuch der Gewinnung von Teilhabe an immanenter Macht.) Nun zu der Analyse wie Michael Nostradamus zu seiner stimmigen Vorhersage gekommen ist. Es folgen nun jene Möglichkeiten, die die Vorhersage „Regierungsantritt 1577 oder 1578“ möglich machen können. 1. Es ist zu untersuchen, welche Gestirne in einem Abstand von „26 oder 27 Grad“ voneinander stehen. Dieses wäre eine Methode der einfachen Direktion. Dabei ist der Abstand des Mondes zu Venus ähnlich, an die 25°, und der Abstand des Jupiter zu Venus, 26° oder fast 27°. 130 2. Besieht man dieses, fällt auf, es befindet sich die Konjunktion von Merkur und Venus exakt am Deszendenten: beide Planeten umfassen diesen kardinalen Ort, die venerische Bedeutung ist durch den neutralen Merkur gemehrt, vielleicht mehr als „verdoppelt“. Venus ist zudem Koherrin über Krebs bei Tag. 3. Löwe ist das kollektive 10. Haus: nach den Zyklen der Gestirne steht Skorpion am Aszendenten, Löwe damit in der Himmelsmitte, damit bei den Mitteilungen über „Königtum, hohes Amt, Erfolg“. Löwe ist auch das Zeichen Roms, im Klimat der Venus. Über Löwe herrscht bei Tag die Sonne, bei Nacht der Jupiter. 4. Beide Herren der feuerigen Triplizität stehen in Löwe: Jupiter und Sonne stehen in Konjunktion. Man muss so unbedingt beide Planeten als Einheit nehmen, man muss sie „zusammen verstehen“. So erkennt man erneut eine Art „Verdoppelung“, wie zuvor bei der Konjunktion Venus/Merkur. 5. Man kann nun auch die Sonne zu Venus dirigieren: sie steht im Abstand von 20°: das bedeutet „hohe Würden“ bereits ab dem 20. Lebensjahr, d. i. konkret ab dem Jahr 1572. (In diesem Jahr erhält Rudolf die Krone von Ungarn: damit beginnt der Einstieg in die höchsten Ämter.) 6. Zu der Konjunktion des Jupiter und der Sonne fügt sich der Drachenkopf: das bedeutet „beste Beziehungen, höchste soziale Anerkennung“ als weitere Aussage der gesamten Konstellation in Krebs. Dieses sagt gleichzeitig weitere große Erfolge für das 33./34. Jahr vorher, wenn man 131 wieder die einfache Direktion verwendet. (Man kommt damit auf 1576/1577). 7. Löwe ist zugleich das 8. Haus vom Aszendenten aus: man kann daraus ermitteln, als wären die eben genannten Erfolge mit „gewaltiger Erbschaft“ verbunden, zugleich natürlich mit einem Todesfall. 7. Man kann nun die Enographie für den Zeitraum des Marszyklus 1574 bis 1589 heranziehen. Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur 690: Schütze 1555: Krebs 1565/1566: Skorpion/ Widder 1566: Fische 1571/1572/ 1573: Steinbock/ Widder/ Steinbock ^ 1555: Stier 1574: Krebs 1574: Schütze 1574: Zwillinge 1577: Löwe 1578/1579: Steinbock/ Krebs 1582: Jungfrau 132 1584: Fische/ 1584/1584: Jungfrau/ Wassermann 1585/1586: /Wassermann /Schütze 1589: Stier Man sieht nun, dass der zyklische Jupiter - „das große Glück“ - ab 1577 für zwölf Jahre in Löwe „Platz nimmt“. Löwe und Krebs, Krebs zugleich als Zielort der Direktion, bei Venus, sind wiederum die führenden Zeichen dieser Epoche. (Dieses bedeutet eine große Prosperität des Römischen.) Zugleich findet die Steigerung des Löwen genau ab 1577 statt: dort liegt die Exaltation der gesamten Ära. - Für saturnine Entsprechungen bedeuten aber Dominationen der inhaltlichen Lichter, Löwe und Krebs, abträgliche Entwicklungen, in beiden Zeichen ist Saturn in Vernichtung. - Man kann also für jovialistische Hintergründe im Jahr 1577 einen Gipfelpunkt an „Vermehrung“ erkennen: dieses dürfte Erhebliches zum Urteil des Sehers beitragen. 8. Man kann nun auch Saturn dirigieren, als den oftmals genannten „Hauptsignifikator“ der Genitur: einerseits zu der Opposition zu Sonne, Jupiter, Knoten, in der ersten Hälfte des Zeichens Wassermann, andererseits aber aus seiner 133 Unverbundenheit mit diesem genannten Zeichen in eine Verbundenheit, also aus Fische heraus in das anschließende Zeichen Widder: Saturn „betritt“ diesen Abschnitt des Tierkreises im „26. oder 27 Jahr“ des Nativen, der Abstand zu Widder beträgt 26°50´. Dort gerät Saturn „in Fall“, gewinnt aber im Trigon zu Löwe die maximale Begünstigung für die eben entwickelten jovialistischen Gipfelpunkte. Und dieses gilt individuell wie kollektiv, auf genethlialogischer wie enographischer Ebene. Aus allem diesen kann evident werden, wieso die Aussagen durch Michael Nostradamus so entschieden vorgebracht werden. Es folgen weitere Bedeutungen immer noch dieses Zeichens: um 1590 "große Bedrängnis durch die Barbaren, größer als je zuvor", Tod der Gattin, Verluste durch "Mittelmaß". Auch dieses müsste man nun wieder unter vielfältiger Perspektive untersuchen. Wir bleiben dabei, die Enographie des folgenden Marszyklus heranzuziehen: es steht z. B. die Gattin im Horoskop des Rudolf im Zusammenhang des Zeichens Krebs. Rudolf hat 1590 das 38. Jahr erreicht, der dirigierte Saturn gewinnt in Widder das Quadrat zu Venus im Krebs. - Wir gehen der Signifikation nicht näher nach, da sie faktisch nicht eingetreten ist. Es genügt ein Ansatz des Verstehens. - Wesentlicher erscheint aber der Hinweis auf „Mittelmaß“: es gehen die überragenden Anzeigen in dieser Zeit nicht weiter, firmamentisch zeigen sich „Hemmungen“, einerseits durch Direktionen des Saturn, andererseits durch neue kollektive Bedeutungen, die die jovialistischen und solarischen Präferenzen einengen, auch in „Bedrängnissen durch Barbaren“: dieses können „Ungebildete“ der Umgebung sein, oder auch feindliche Völker, die „barbarisch“ sich gebärden. 134 Dazu noch einmal und als einfache Lösung die Zyklen der Ära 1589 bis 1606. Sonne Mond Saturn Jupiter Mars Venus Merkur 1582: Jungfrau 1584/1585/ 1586: Fische/ Wassermann/ Schütze ^ 1555: Stier 1574: 1584/1584: 1577: Zwillinge Jungfrau/ Löwe Wassermann 1589: Stier 1589: Krebs 1590: Stier 1591/1592 /1593: Steinbock/ Zwillinge/ Fische 1598: Skorpion 1598: Steinbock/ 1599: /Waage 1601: Stier 1604/1605/ 135 1606: Wassermann/ Stier/ Wassermann 1606: Jungfrau 1606: Zwillinge Das Profil für 1590 sieht so aus: Stier Zwillinge Jungfrau/ Wassermann Krebs Stier Stier Fische/ Wassermann/ Schütze das ergibt für dieses Jahr folgende astrologische Architektur. Merkur: Fische/Wassermann/Schütze Saturn: Jungfrau/Wassermann Mond: Zwillinge Jupiter: Krebs Sonne: Stier Mars: Stier Venus: Stier - Man sieht eine Steigerung von inhaltlich Jupiter: Schütze und Fische sind aber widrig durch Jungfrau und Zwillinge. Virgo mindert auch Stier, „unten“. Wassermann bleibt verdeckt durch Schütze; „darunter steckt“ auch noch Fische, und erhöht Stier nur noch bedingt. Damit geht die Führung zu Krebs. 136 Krebs ist im individuellen Horoskop Rudolfs das 7. Haus, das Haus der „offenen Feinde“. Diese gewinnen hier Aspiration. Zugleich ist Schütze im Horoskop das 12. Haus, der „verborgenen Feinde“. Es sind damit in der Figur des astrologischen Aufbaus bede Präsenzen der „Feinde“ im Horoskop akzentuiert. Zu der gleichen Bedeutung von 5. gehört auch die Anzeige „Ehe“. Jupiter in Krebs, ab 1589, gehört dazu. Dieses ergibt folgendes Thema für 1590: 11. Stier 10. Widder Sonne, Mars, Venus 9. Fische 8. Wassermann Merkur/3 Saturn/1, Merkur/2 12. Zwillinge 7. Steinbock Mond 1. Krebs Thema für das Jahr 1590 Jupiter 2. Löwe 6. Schütze Merkur/1 3. Jungfrau 4. Waage 5. Skorpion Saturn/2 Vermutlich muss man nun die Signifikationen des individuellen Horoskops in Beziehung zu der kollektiven Genitur der Zeit stellen. Damit käme der Aszendent in 7., die bedeutende Konstellation in 7., mit Jupiter/Sonne, käme in 2. - und dort in Opposition zu gemehrtem Saturn in 8., ein Aspekt von „Lähmung“; die Anzeige für die Geschwister, mit Zwillinge, Mars/Mond, käme in 12., mit „verborgenem“ Quadrat zu Saturn. „Mittelmaß“ kann nun auch eine Hemmung in der Erreichung von „Zielen und Anerkennung“ (10.) bedeuten, mehr aber noch ein „konstitutionelles abbaissement“: es 137 liegen die Aspekte von Rudolf 1. Haus, mit Steinbock, Wassermann und Fische, gruppiert um kollektiv 8.. Über das allgemeine 1. Haus regiert zwar weiter Jupiter, aber bald folgen Anzeigen des Falles von Jupiter, mit Steinbock und weiteren hemmenden Andeutungen (formal Merkur, in umfassenden inhaltlich jovialistischen und merkurialischen Zusammenspannungen). Dazu gezogen werden müssen eine Menge zeitlicher Angaben, gestützt auf den Lauf Saturns durch den Tierkreis: es geht um Transite dieses Planeten über individuelle und allgemeine astrosemiotische Punkte. Sie bedeuten eine genaue Kenntnis der Gestirnstände mindestens bis zum Jahr "1593". Einen bemerkenswerten Einblick in die medizinischen Auffassungen des Nostradamus liefert die Opposition Saturns mit der Sonne beginnend am "29. März 1584": sie "droht bis in den September". Um sich vor ihrer Kraft zu schützen, rät der französische Arzt dem Kaiser zu "einem Bett aus Lorbeer". 1. Ein Merkurzyklus beginnt am 28. 3. 1584 (Fische): Nostradamus bringt für dieses Jahr also einen enographischen Hinweis, nahezu identisch mit dem von ihm genannten Datum, „29. März 1584“. Die Abweichung ist charakteristisch: sie kommt auch bei anderen zyklischen Hinweisen vor. (Begründet kann diese Abweichung werden durch den Lauf des Mondes, dem die Anzeige entnommen wird: am 28. 3. läuft Luna noch in den letzten Graden des Wassermann, und der Trabant tritt erst im Laufe des Tages in das Zeichen Fische. Damit gibt das Datum „29. 3. 1584“ die Anzeige Pisces unzweideutig wieder: den ganzen Tag bewegt sich der Anzeiger der kosmischen Symbolik, der 138 Mond, durch Fische94.) Fische ist aber der Ort des Saturn im individuellen Geburtsbild. 2. Im Jahr 1584 eröffnet auch eine neue Saturnrevolution, am 18. 4. und am 31. 12.: die Koinzidenzen sind Jungfrau/ Wassermann. Saturn in Jungfrau, ab dem Frühjahr, zeigt nun eine Opposition zu dem Saturn in den Fischen. Erst im Dezember wird dieses Zeichen Jungfrau „verdeckt“ durch die zweite Anzeige, die den 29,5-jährigen Umlauf des Saturn begleitet: Saturn überschreitet ja in diesem Jahr zwei Mal 0° Widder, er „eröffnet seine Periode“ zwei Mal. Das Zusammenwirken von Positionen des Saturn im Geburtsbild, mit Hinzutritt des zyklischen Merkur (Fische), und mit dem zyklischen Saturn, der für ein Dreivierteljahr dazu eine „Opposition bildet“, kann ein Hinweis auf eine Krisenzeit sein. 3. Betroffen sind dabei deutlich die Analogien des Merkur: weiteres Quadrat und Opposition zeigen sich zyklisch in formal Mond und formal Venus. 4. Fische wiederum steht im individuellen Horoskop zu kleinem Teil „eingeschlossen“ in 1.. Es wird eine Nachricht über einen „verborgenen“ Makel der Konstitution und der Gesundheit gegeben. 5. Das Jahr 1584 ist das 32. Jahr des Rudolf. Man kann nun nach der Methode der Direktionen nach einem Abstand von 32° schauen. Diesen sieht man am deutlichsten, wenn man die Sonne 32° Grad von ihrem Ort bei 4°53´ Löwe „bewegt“ zu 7°10´ in Jungfrau: auf diesem Weg passiert die dirigierte Dieses ist eine der Bestätigungen der ermittelten Zyklenlehre: es dürfte das genannte Datum kaum anders zu erklären sein. 94 139 Sol bei 3°10´ Jungfrau die Opposition zu Saturn; sie erreicht bei 7°10´ die Häuserspitze des 8. Hauses: dieses kann ein Zeichen von „Furchtanwandlungen“, vielleicht vor „Vergiftung“, sein. 6. „Ausgelöst“ wird die so entstandene virtuelle Konstellation durch den Eintritt des zyklischen Saturn in Jungfrau: und vorher und eben hier werden dem Nativen die Begleitungen der „Opposition von Sonne und Saturn“ merklich. 7. Diese Opposition erscheint auch in der anderen zyklischen Präsenz des Saturn, Wassermann. Ab 1584 hat so die Sonne im Geburtsbild in Löwe eine lange „Kontradiktion“ aus dem Aquarius, der völlig im ersten Haus „eingeschlossen“ ist. Löwe und Wassermann stehen sich im Tierkreis gegenüber: die grundsätzliche Antipathie zwischen Saturn, mit Steinbock und Wassermann, und den Lichtern, mit Löwe und Krebs, ist angesprochen. 8. Dort zeigen sich auch in der Konjunktion mit dem Drachenkopf misslungene soziale Aktivitäten. Hilfreich in der entstandenen Situation erscheint nun - aus der medizinischen Sicht des 16. Jahrhunderts - ein "Bett" von solarischer Qualität: "Lorbeer" gehört nach Agrippa zu den Entsprechungen der Sonne95. Zu Sonne gehört alles, „was Gifte und Blitze vertreibt und in dauerndem Grün nicht die Strenge des Winters fürchtet“. Zur Sonne gehört auch das Metall Gold, „mit herzstärkenden Wirkungen“, und unter den „humores das reine Blut und der Lebensgeist“. Agrippa erwähnt auch Mittel, die „Engbrüstigkeit beheben, die melancholischen Schrecken und die 95 I, 23. 140 Narrheit vertreiben“: man sieht hier deutlich, in welche Richtung diese solarisch orientierte Therapie geht: dabei ist sicherlich das Wort „Bett aus Lorbeer“ auch metaphorisch aufzufassen, im Hinweis auf Stätten der Erholung in solarischen Analoga: eventuell hat ein kundiger Arzt Rudolf auch zum Aufenthalt im Böhmen, Entsprechung des Löwen und der Sonne, geraten, um das melancholisch-saturnine Naturell aufzuhellen.- Dieser Abschnitt vermag mit seinen Grundgedanken einen Zugang zu den an den Sympathien orientierten Heilweisen der alten Humoralpathologie zu eröffnen: man verwendete analoge Mittel, die Gefahr des Ungleichgewichtes und der Dyskrasie aufzuheben. Erneut kann man hier erkennen, welcher hohe Aufwand betrieben werden muss, um nur kurze Mitteilungen zu verstehen. Zugleich erläutert sich noch einmal die Praxis der Vorhersage: diese wird entschieden und greift zum Urteil, wenn auf mehreren Ebene der Gestirnkunde Hinweise zusammen fallen, die gleichsinnig und relevant zu den jeweiligen Orten und „Sternen“ befunden werden können. So ergänzen sich die beiden Techniken, der Genethlialogie, der Enographie, sie korrigieren sich, sie bereichern sich, und es kann in ihrem „Zwiespalt“ ein Moment der Inspiration gefordert werden und aufscheinen. - Daraus kann man nicht unerhebliche Maßgaben für deine Theorie der Prädiktion ableiten: ihre Grundverfassung ist keine positivistisch gerichtete sondern eine mehrseitig offene. Ein Training des Intellektes im Sinne einer „einzigen materiell fassbaren Wahrheit“ verunmöglicht die Intuition: wir erblicken die Wirkungen nunmehr auf allen Ebenen der Person, ihrer Beziehungen, der Gesellschaft und der Staaten untereinander. Und wo bleibt der Ruf nach zumindest versuchter „Universalität“, oder einem „Dialog der Wissenschaften“? - 141 Ein weiteres langes Kapitel berührt die "Signifikation Jupiter im Löwen" (Kap. XXIX). Beispielhaft seien noch einmal die berührten Themen aufgezählt: viele Arbeit und Bedrängnisse "von allen Seiten", Triumphe in den achtziger Jahren, Sexualität; dann folgen Deutungen von Direktionen über Auseinandersetzungen innerhalb des Reiches. - Es wird bereits an diesen beispielhaften Ausschnitten deutlich, welche Fülle an Information in diesem vierten Teil des Horoskops verborgen ist. In den folgenden Kapiteln werden teils bekannte Zusammenhänge, z.B. die königliche Konstitution durch die Sonne im Löwen (Kap. XXXI), das Erbe des großen Reiches im Zusammenhang der Signifikation der Sonne (Kap. XXXIV), die Vorliebe für Kunst und Luxus (Kap. XXXV) angesprochen. Hinzu kommen aber auch neue, z.B. ungehemmte Libido und Wankelmut (Kap. XXXVI), vermutlich eine Hypothese der zeitgenössischen Psychologie, weiter Strenge und Vorliebe für das Militär (Kap. XXXVII), schließlich auch noch die "Begleitung durch viele Kurtisanen" (XXXVII). Doch ist hier die Aussage zuweilen so allgemein, dass man sich fragen muss, ob hier noch über die Person des Nativen gesprochen wird: diese Praxis des Verlassens des Individuellen und des Einstiegs in Allgemeine und übergeordnete Aussagen kehrt auch in anderen Prognostiken des provenzalischen Visionärs wieder: es ist ein Verhüllungspraxis, die hohe Anforderungen an eine scheidende Vernunft stellt, um die verschiedenen Ebenen voneinander zu trennen. 142 13. Einige Hinweise auf die zukünftige Geschichte Deutschlands? Verfasst man solche „Einführungen“ in die Werke des Michael Nostradamus – und dieses geschieht dem Autor nunmehr seit über 30 Jahren – hat man nach einiger Zeit immer wieder den Eindruck, als habe man sich von den Texten der Quelle entfernt, als sei man in eine im Lauf der Arbeit in immer größere Distanz zu ihren Inhalten geraten, und dieses oft noch mehr, je intensiver man sich auf scheinbar nahe liegende parallele philologische oder historische Erklärungen eingelassen hat. Es erscheint der eigentliche Inhalt der Dokumente immer wieder wie „entglitten“, und selbst wenn man sich vergewissert, es gehöre dieses zu derem eigentlichen geistigen Wesen „unfassbar, ungreifbar, unergründlich“ zu bleiben, bleibt doch ein uneinfühlbares Mysterium zurück, eine Rätselhaftigkeit, vor der man resignieren könnte. Geht man aber nach einiger Zeit solcher „entfremdeter“ Arbeit zurück zu den Quellen, dann erscheinen sie plötzlich „vertrauter, stimmiger, selbstverständlicher“. Man kann daraus folgenden Schluss ziehen: es gibt kein Weiterkommen im Verständnis der Texte in den abgeleiteten Darstellungen, in einer Art „Sekundärliteratur“, es gibt aber ein eindeutiges Fortschreiten im Verständnis der Urtexte selbst, auch wenn dieses nicht unbedingt – über die genannte „zweite Schiene“, also schriftliche Niederlegungen eines nachfolgenden Autors – authentisch dokumentierbar ist. Man muss sich dabei nun 143 fragen: ist das vielleicht so gewünscht? Gibt es nicht doch auch andere Literaturen, die sich einem abgeleiteten Verständnis entziehen, letztlich aber doch zur Person des Lesers und seinem Wesen sprechen? Und ist dies nicht bei der meisten künstlerischen Produktion so? Und gerade in der modernen Kunst? Wobei man sich bei dieser eher damit bescheiden kann, die Intentionen des Produzenten gar nicht ausschöpfen zu können. Und würde einem der Künstler selbst sein Werk erklären, wendete man sich nicht unwillig ab, gerade wie in einem Wissen, er könne ja selbst gar nicht wissen, aus welchen Motiven, inneren Strukturen und unbewussten Intuitionen und Inspirationen sein „Gebilde“ entstanden ist... . Wenn nun dieses bei einem Michael Nostradamus Absicht ist? Jeden Ansatz einer Interpretation, jeden „Haken“, den ihm die Intelligenz zuwirft, aus dem weg zu gehen? Und so einem Gesetz des Geistes zu folgen, das jenseits allen Positivismus und aller aufklärerischer Reflexivität stehen kann, und einem quellenden Kosmos universellen Wissens entspringt? Anscheinend begegnen so erneut die beiden Pole, die unser gegenwärtiges Welt- und Wissenschaftsverständnis begleiten: einerseits jener Haltung, die alles erklären kann, alles technisch bewerkstelligen kann, wenn man nur alle Elemente richtig zusammen setzt – und andererseits jenem Anspruch, der Mensch stehe in einer unendlichen und unerschöpflichen Fülle, in abertausenden ungelöster Fragen, vor einem mit seinen „kleinen“ Mitteln kaum begreifbaren Kosmos. In der Wissenschaftstheorie begegnen sich so Popper und Feyerabend, einerseits die rationalistischen Logiker, andererseits die chaotisch arbeitenden Kreativen: nun muss man weiter überlegen, wo die Wurzeln dieser Haltungen stehen, was sie bedeuten, und wie diese in die Zukunft zu extrapolieren sind. Ringt 144 unsere Zeit tatsächlich so um die mystische und metaphysische Dimension und andererseits um die technische und materielle? Und was hat sich nun im Verlauf der letzten 500 Jahre in diesen Belangen geändert, haben sich die Gewichte verschoben? Zurückgekehrt zu Michael Nostradamus kann man folgende Phänomenologie beschreiben: 1. Er schöpft aus einem geistigen Bestand, der nicht unbedingt erschließbar ist. 2. Er trägt selbst dazu bei, seine Kenntnis zu „verhüllen“, weniger aus Angst (vor der Inquisition u. a.), sondern in der Abbildung einer wesenhaften Struktur des Seins. 3. Die Texte sind so gestaltet - „indifferent“ - dass sie positives Wissen verhindern: und doch haben sie einen eindeutigen „andragogischen“ Sinn, nämlich das Individuum, das sich mit ihnen beschäftigt, von Frage zu Frage weiter zu führen. 4. Die Antwort auf die Fragen liegt nicht in irgendeiner Erkenntnis, sondern in dem eingeschlagenen Weg des Selbsts – also völlig individuell, ohne allgemeine Verbindlichkeit, aber in hoher Verantwortung für das Entstehende. 5. Ist dieses ein anderer Weltentwurf? Sehr individualistisch? Geradezu gegensätzlich zu jenen pädagogischen Impulsen, die unsere Zeit leiten, alle bestimmen wollen, Macht gewinnen, Reichtümer, und Völker unterjochen? Ist es tatsächlich so, dass hier „Freiheit“ entsteht, abseits von aller Institutionalisierung, von 145 allem Gruppendruck, von vielen verbindlichen Normen der Gesellschaft, aber doch hoher Ethik verpflichtet? 6. Wie anders sol sich ein „Reich des Geistes“ voraus bilden? Es darf doch nirgendwo für Macht plädieren, für geistiges und emotionales bestimmen, für sogenannte Führung und Sozialisation? 7. Müssen wir hier ganz anders denken und deuten lernen? Es folgt der letzte Teil des Horoskopes, beginnend im Kapitel XLV. Erneut wird das gesamte Geburtsbild durchgenommen: und hier wird nun erstmals von den Aspekten der Planeten untereinander ausgegangen. Dazu Beispiele: das Sextil Mars/Merkur bedeute "Klugheit, Schläue, überlegene Feinheit des Geistes, Interesse an den Wissenschaften, an der Kunst der Strategie, an der Reitkunst, an den verborgenen Wissenschaften, Beredsamkeit, vor allem in der aufmunternden Rede an die Soldaten". Oder das Quadrat Saturn/Mars bedeute "alles vorher Gesagte werde gemindert, es drohen große Verluste, es gibt Widrigkeiten, Hinderungen, Krankheiten" usw.. Solche Mitteilungen stehen ganz in gängigen Kontexten der Astrologie. Und noch einmal kommt die ganze Fülle des Horoskops und aller seiner Signaturen in geradezu erschöpfender Ausführlichkeit zum Tragen. Stellenweise scheinen Sätze eingestreut, die den Rahmen des individuellen Horoskops verlassen: und vollends erreicht wird vielleicht in Teilen „prophetische“ und allgemeingeschichtliche Ebene im letzten Kapitel, Nummer XLVI. Michael Nostradamus nutzt die Beziehung der Planeten und einiger Punkte zu gewissen 146 Fixsternen zwar noch für individualastrologische Aussagen, doch er behandelt eventuell auch die zukünftige deutsche (und damit auch europäische) Geschichte. Vermutlich bedacht ausgewählte Sterne und Konstellationen des Horoskops werden nun zur Folie für weit führende Vorhersagen. Dieses Vorgehen ist dem bekannt, der mit seinen Texten vertraut ist: er verwendet solche Textgestaltungen in ähnlicher Weise an anderen Orten seines Werkes, z. B. in Relationen von vorhersagenden Texten zu astronomischen Vorgängen in den Horoskopen für Vierteljahre, oder in „Einschreibungen“ von stenographischen Notizen aus seinen längeren Vorhersagen in die Monatstage seiner Kalender. Oder auch Gedicht, die über bestimmte Monaten seiner Lebenszeit zu stehen kommen, gehören wohl eher zukünftigen Ereignissen, die mit verwandten astronomischen Daten zusammen gehören. Man muss davon ausgehen, dass alle solche „Adaptationen“ - also „Anpassungen“ von Texten an Vorgänge am Himmel96 - nicht zufällig geschehen, sondern dass sie astronomischen Ereignissen korrelieren, und diese astronomischen Vorgänge auf aktueller Ebene wiederum den zyklisch ermittelten Daten der Geschichtskonstruktion der Zukunft entsprechen. Am Beginn des 45. Kapitels erwähnt Nostradamus einen "Stern vierter Größe von der Natur Saturns und Merkurs". Dieser treffe sich unter bestimmten Bedingungen mit einem "Stand der Sonne Auch in den „Die Prophezeiungen“, 1568, Vorrede B: dort sind lange Reihen von Vorhersagen in Prosa möglicherweise an die Schritte der Saturn- und der Jupiterrevolution angepasst. Die weissagenden Gedichte der „Prophezeiungen“ können dazu im Zusammenhang der Marszyklen gegliedert sein. Alles dieses kann der Satz 64 der besagten Vorrede B meinen: „Wie alle diese Figuren durch göttliche Wissenschaft genau angepasst sind an die himmlischen Vorgänge, wird deutlich sichtbar durch Saturn, Jupiter und Mars, verbunden mit den anderen: und dieses kann man in einigen Vierzeilern mehr als offenkundig erkennen.“ 96 147 im Zenith". Er zeige "Nachdenklichkeit, Melancholie, und zugleich wunderbaren Fleiß, Einfallsreichtum, Gelehrsamkeit, Weisheit, Wahrheitsliebe" an. - Dieses kann sich noch auf die Person des Rudolf beziehen, es ist aber auch möglich, dass andere und zukünftige Ereignisse gemeint sind: es sind die Bedingungen dieser Mitteilung im Unklaren gelassen. - Der gesuchte Stern ist am ehesten Delta Cancri, ein Stern vierter Größe, im Sternbild Krebs. Dieser Stern befindet sich exakt auf der Ekliptik, damit mit besonderem Bezug zum Lauf der Sonne im Jahr. Die Sonne berührt diesen Stern am 7. August des Jahres; er steht heute bei ca. 10° im Tierkreiszeichen Löwe. - Die Weissagung kann sich auf eine Person beziehen, in derem Geburtsbild individuell oder kollektiv die Sonne im Löwen findet; in dem überindividuellen Bild befindet sich dann der Aszendent in Skorpion. Dann geht das Wort über in einen allgemeineren und eher entfernteren zukünftigen Zusammenhang: es werde im "Königreich Böhmen einen religiösen Streit geben", begleitet von "großer Dürre und extremer Hitze". Es ist sogar ein Jahr angegeben, aber es ist offen, wie dieses zu deuten ist, denn dieses ganze Kapitel ist hochgradig rätselhaft: vermutlich folgt der Visionär unbekannten Strukturen einer „Adaptation“. - Anscheinend liegt die Region Böhmen „zwischen“ topographischen Konzentrationen künftiger religiöser Entwicklung, vielleicht einerseits „konservativer und alter“ andererseits „fortschrittlicher und neuer“ Auffassungen. Dieses kann mit den geschichtlichen Synchronizitäten der langen „achten Sphäre“, in der der zyklische Mond im Zeichen Widder steht, einer Entsprechung des östlichen Europa, zusammen kommen: dort sind in der so sehr langen lunatischen Weltzeit immense Begünstigungen vorhanden. Es kann jedoch sein, dass diese 148 Auseinandersetzung noch vor dem im nächsten Absatz erwähnten Zeitpunkt geschieht. In solcher rätselhaftes Weise geht es nun über viele Seiten weiter. Einige Abschnitte weiter heisst es für eine Zeit, in der "Mond im Aufgang stehe" – das bedeutet nach der Geschichtskonstruktion ab dem 23. Jahrhundert nach Christus -: es gebe viele "Wanderungen... der Feind ist noch nicht gekommen, hat aber eine riesige Zahl von Menschen geschickt. Es kommt der völlige Ruin, die Zerstörung der Edelsten, der Vornehmsten und Herausragendsten... es entsteht großer Verrat und Hinterlist... man macht eine endlose Chose von Neuheiten, Gesetzen, neuen Proklamationen, neuen Edikten und dann überhaupt nichts mehr, die Zeit ist sehr schlecht, trügerisch und wirr". – Das bezieht sich mit Sicherheit nicht mehr auf die Zeit Rudolfs: das Wort führt recht weit in die Zukunft der geschichtlichen Vorstellungen des Visionärs, an die achthundert Jahre nach seiner Lebenszeit, in jene beginnende Endzeit „des achten Zeitalters“, die nach Michael Nostradamus durchgehend eine Zeit der Instabilität und des Verlustes der Orientierung und der militärischen Auseinandersetzung ist, die zugleich aber an ihrem Ende eine Reinstallation bewährter Institutionen bringt, für die nächste, die 9. Weltzeit, ein „Zeitalter des Saturn“, die „Tausendjährige Friedenszeit“ der Geheimen Offenbarung: dieses sind von Michael Nostradamus in seine astrologisch bestimmte Geschichtsschau hinein gearbeitete Vorstellungen des Joachim von Fiore („Reich des Geistes“) und der Franziskaner-Spiritualen. Vor allem die Herausgabe von „Edikten“ ist charakteristisch für die eingetretene Endzeit, Ähnliches bringen auch andere weissagende Gedichte: wollte man von heutigen Erfahrungen ausgehen, müsste man zugespitzt sagen, es entstünde ein Verlust des Rechtsempfindens 149 mit der Auflösung der von einem Grundgesetz formulierter Normen, wenn man zu einem Rechtssystem von „juridischen Fällen“ übergehe, die letztlich dazu führen müssen, für jeden neuen Straftatbestand ein „neues Gesetz“ herausgeben zu müssen. Gerade im Bereich der Religion hat man mit Gesetzhaftigkeiten, die christlichem Geist überhaupt abträglich sein können, keine guten Erfahrungen gemacht. - Alles diese kann dann Symptom einer Zeit sein, die zuerst „alles regeln“ will, dieses aber nicht schafft und durchhält, weil zu viel im Argen liegt und das allgemeine ideelle Fundament abgeschmolzen ist, alles dieses kann Vorausverkündigung einer Zeit sein, die dann resigniert, „gar nichts mehr tut“. Der letzte der 13 Absätze dieses Kapitels bringt eine Vorausschau auf den "völligen Ruin und den Niedergang der römischen Religion, genannt papistisch oder evangelisch"; "niemand ergreife mehr einen religiösen Beruf"; "es sei eine sehr schlechte Zeit"; "der Stier stehe in sechs". Aber nach "Pest, Hunger und Täuschung werde der Teufel des Westens und Nordens ein wenig befriedet". - Dieses geht noch weiter in die Zukunft und in eine baschätzige Bewertung der danach folgenden Zeiten hinein. Die Auflösung der christlichen Grundlagen des Nordwestens der Welt thematisiert Michael Nostradamus auch an anderen Stellen: er spricht davon, in dem kommenden achten Zeitalter „würden sich die Feinde Jesu Christi stark vermehren“97. In dieser kommenden „Endzeit“ sieht er „Finsternis“ und „Abstieg“, nahezu als wäre die „Schwerkraft der Erde verloren gegangen“98. Das Wort von der „römischen Religion... genannt papistisch oder evangelisch“ eröffnet wieder auch einen geweiteten Horizont für 97 98 Die Prophezeiungen, 1568, Vorrede B, Satz 7. s. o., Satz 63. 150 eine Klärung der Einstellung des Michael Nostradamus zu den religiösen Fragen und Auseinandersetzungen seiner Zeit. Indem er weit in die Zukunft blickt, werden ihm die Auseinandersetzungen seiner Gegenwart vernachlässigbar, er vereint die „papistischen und evangelischen“ Kontrahenten in einer „römischen Religion“. Das sind wahrlich bedeutsame und ungewöhnliche Begriffsbildungen, die weit hinein leuchten in eine Zukunft, in der das „Religiöse“ unter einem Diktat des Mittelmaßes, „des Gemeinen“99, des Antipathischen, sich einen könnte und der Nordwesten der Welt seine vormaligen Antagonismen vielleicht in schwerer Prüfung überwinden kann. Es sei nun noch einmal und abschließend vorgestellt, wie ausführlich und vertieft die Vorstellung „Stier in sechs“ zu behandeln wäre, um zu einer gültigen Interpretation zu kommen. 1. Die Symbolzahl „sechs“100 wird von Michael Nostradamus an den bedeutendsten Stellen seiner Geschichtskonstruktion verwendet. So ist ihm gerade die Zeit nach Jesus Christus bis zu jenem erwähnten „Reich der dritten göttlichen Person“ von solchen Hintergründen gezeichnet, die Offb 13, 18 entwirft. 2. Im astrologischen Zusammenhang ist der sechste Tag der Schöpfung, an dem der Mensch erschaffen wird, Venus zugehörig101. Das sechste Zeichen des mundanen Tierkreises ist Jungfrau; Virgo wiederum ist topographische Entsprechung „Babylons“ (Offb 18). Über das erdige Signum Die Prophezeiungen, 1555, Vorrede A, Satz 7. Agrippa v. Nettesheim, a. a. O., II, 22. „666, Sorath, übler Geist der Sonne.“ - Es unterscheiden sich die beiden Geschichtskonstruktionen, die Michael Nostradamus in Vorrede B, erste Gesamtausgabe (?) von „Les Propheties“, 1568, vorstellt, in „666“ Jahren. 101 Agrippa II, 21. 99 100 151 Jungfrau herrscht bei Tag Venus, bei Nacht der Mond. Dieses sind niedrige Sphären. 3. Agrippa von Nettesheim bringt in II, 9 eine Zusammenstellung der Symboliken der „Zahl Sechs“. „Die Pythagoräer eigneten diese Zahl der Zeugung und dem Heiraten zu; auch nennt man sie Siegel der Welt... die Zahl Sechs heißt auch die Zahl des Menschen, denn am sechsten Tage wurde der Mensch erschaffen. Desgleichen ist sie auch Zahl der Erlösung, weil Christus am sechsten Wochentag zu unserer Erlösung gelitten hat – und daher kommt ihre nahe Verwandtschaft mit dem Kreuz.“ 4. Der letzte von Michael Nostradamus in seiner Geschichtskonstruktion berücksichtigte Sonnenzyklus steht ab 3380 (bis 3938) nach Christus im Zeichen des Stier. Zyklisch bedeutet das: es steht Sonne im Stier. Stier ist ein Zeichen des erdigen Quadranten, im Trigon zu Jungfrau, mit gleichen Herrschern. 5. Steht nun „Stier in 6.“, dann bedeutet das in der Zeit des eben genannten Sonnenzyklus einen Platz des höchsten und größten Lebensimpulses in einem „6. Haus“. Steht Stier in 6. ist nach dem Thema der betreffenden Zeit Schütze im Aszendenten, Steinbock in 2., usw., Stier in 6., Zwillinge in 7., Jungfrau in 10.. Mit Virgo im MC erblickt man die beherrschende Stellung eines „Babylon“, sei dieses astrogeographisch oder geistig zu verstehen. - Michael Nostradamus verweist hier verschlüsselt auf die „Endzeit“, das große Thema seiner Weissagung, und die dort statt findenden vergeblichen und niederrangigen Versuche, die Problematiken der Welt zu lösen. Die Initiation der neunten 152 Weltzeit aber findet einige Zeit vor dem Ende dieses Sonnenzyklus des Stier bis 3938 statt: sie steht wohl im Zusammenhang des Endpunktes der „Prophezeiungen“, den Michael Nostradamus mit dem Jahr „3797“102 benennt. 6. Die angesprochene Konstellation von Führungen des Schützen gibt es in der besagten Zeit tatsächlich nicht selten. Schütze bedeutet nun eine Führung des mundan neunten Hauses, damit der „Philosophie und Religion“. Nun steht aber zu solcher Zeit Sonne in 6., damit im Quadrat zu der „philosophischen Achse“, 3./9.: das Quadrat spricht aber hier von grundsätzlich „antipathischen Lebensimpulsen“. Die religiöse Dimension gewinnt hier „gewalttätige“ Züge, sie wird „militant“, sie scheut die Anwendung von Gewalt nicht, sondern empfiehlt sie gar: Nostradamus spricht für diese Zeit von einer „streitenden Kirche“, einem „neuen Babylon“, in dem der „Antichrist“ herrscht103. Gerade durch solche Weisen, ein Geburtsbild zu vervollständigen, kann noch einmal deutlich werden, wie es sich in der Astrologie des Michel Nostradamus um eine andere und gesteigerte Sternenkunde handelt: sie zielt primär nicht nur auf die korrekte Aussage für ein "Schicksal" des Einzelnen, sondern sie will das Individuum „ins Ganze“ einbetten, sie kann über die makrokosmischen Entsprechungen klarer und entschiedner zur Person zurückfinden, sie kann über das "Universelle" einen Weg zum Verstehen des Menschen finden, und in ihm jenes Bild erkennen, das seine höhere Abstammung in ihm angelegt hat. 102 103 Erste Vorrede der „Prophezeiungen“, 1555: Vorrede A. Vorrede B, „Les Propheties“, 1568, Satz 63. 153 Nun kann man wieder zu jener geistigen Freiheit zurückkehren, in der dieses gesamte Geburtsbild verfasst ist: und dann stellt man wieder fest, wie man das Eigentliche gar nicht erfasste, und wie sich jede Deutung weiter von jenem Wesen der riesigen Fülle und unermesslichen Komplexität entfernte: und dann will man es lassen, kann es aber nicht, und versucht es von Neuem. Doch unabweisbar ist der Eindruck: wieder einmal ist das Thema verfehlt. Nun denn: bis zum nächsten Mal... . 154 14. Abschließende Bemerkungen Die Darstellung endet mit einem kurzen Schreiben des Arztes und Astrologen an den Vater Rudolfs, Maximilian II.. Michael Nostradamus erwähnt, dass er vieles, was er jetzt nicht erkläre, im Horoskop für Rudolfs Bruder Ernst darlegen werde104. Er schließt das Horoskop, er habe "nicht 100 oder 200 Fußnoten einfügen wollen", in denen er seine Aussagen an Hand der astrologischen Autoritäten hätte erläutern können. Abschließend unterzeichnet er als "medizinischer und mathematischer Berater des französischen Königs, am 7. August 1565, Eurer Milde ergebenster Michael de Nostredam". ___ Dieses Horoskop für den Prinzen Ernst wird hier möglicherweise erst als künftige Arbeit erwähnt. Eventuell ist es in Anbetracht der gesundheitlichen Situation und des letzten Lebensjahres nur noch fragmentarisch (?) entstanden und gar nicht nach Deutschland geschickt worden. 104 155