3. Vorlesung. Die Existenz des Pentagons. (*) In dieser Vorlesung werden wir sehen wie die Griechen bewiesen haben, dass es das Pentagon wirklich gibt. Dieser Beweis ist schon recht anspruchsvoll. So anspruchsvoll, dass den Griechen hier Zweifel an den geometrischen Tricks gekommen sein mögen, die man hier angewendet hat. Es kann eigentlich nicht darum gehen - so werden sie bald gedacht haben - nach immer cleveren geometrischen Tricks zu suchen, wenn die geometrischen Grundlagen auf denen diese Tricks beruhen nicht geklärt sind. Was also an dieser Stelle gebraucht wird ist nicht, wie bisher, eine Anwedung von solchen mehr oder weniger schwierigen geometrischen Tricks, sondern vielmehr eine systematische, theoretisch einwandfreie Grundlegung der Geometrie, die von einigen, wenigen geometrischen Sätzen ausgeht, die so selbstevident sein sollten, dass man für sie keinen Beweis braucht und daraus alle geometrischen Grundsätze logisch einwandfrei entwickelt. Dies ist die Forderung nach einer axiomatischen Grundlegung der Geometrie, die hier erstmals in der Geschichte der Mathematik aufkommt. Mit dieser Forderung beschäftigen wir uns in der nächsten Vorlesung. Ihr Resultat ist die historisch erste axiomatische Theorie: die Euklidische Geometrie. Hier also die Konstruktion des Pentagons. (*) Diese Vorlesung kann beim ersten Lesen übersprungen werden Klaus Johannson, Geometrie (L2) §3 Pythagoräische Geometrie 21 Einige Winkel-Sätze im Kreis. Neben den eigentlichen Konstruktionsaufgaben wie oben wurden auch Eigenschaften von geometrischen Objekten studiert. Besonders beliebt waren dabei Eigenschaften des Kreises. Um anzudeuten woran die Griechen interessiert waren, beweisen wir drei Hilfssätze über Winkel im Kreis, die wir später brauchen werden: Behauptung. [Euklid, III §20] In der folgenden Figur ist 6 BEC = 26 BAC. A E B C F Der Mittelpunktswinkel ist das Doppelte aller Umfangswinkel Wir haben AEB + 6 BEF = 2R 26 BAE + 6 AEB = 6 BAE + 6 ABE + 6 BEA = 2R 6 Also 26 BAE = 6 BEF und ebenso 26 EAC = 6 F EC. und so 26 BAC = 6 BEC. Dies beweist die Behauptung. ♦ Behauptung. [Euklid, III, §21] Umfangswinkel über derselben Sehne sind gleich. D C A B Alle Umfangswinkel sind gleich Klaus Johannson, Geometrie (L2) 22 . Geometrie (L2) Die Umfangswinkel 6 ADB und 6 ACB) sind beide halb so groß wie der Mittelpunktswinkel über derselben Sehne AB. Damit sind die Umfangswinkel gleich, d.h. ADB = 6 ACB. 6 Damit ist die Beh. bewiesen. ♦ Behauptung. [Euklid, III §22] Für jedes Viereck im Kreis ist die Summe von gegenüberliegenden Winkel = 2R = 2 Rechte. B C A D Winkelsummen gegenüberliegender Winlel sind gleich zwei Rechte Wir haben 6 CAB + 6 ABC + 6 BCA = 2R Weiter gilt (nach obiger Beh.) 6 6 CAB = 6 BDC BCA = 6 ADB weil dies jeweils zwei Winkel über derselben Sehne sind, und somit 6 6 ADC = 6 ADB + 6 BDC = 6 BCA + 6 CAB ADC + 6 ABC = 6 BCA + 6 CAB + 6 ABC = 2R Dies war zu zeigen. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §3 Pythagoräische Geometrie 23 Konstruktion des Pentagons. Es stellt sich heraus, dass die gefragte Konstruktion des Fünfecks äquivalent ist zur Konstruktion eines gewissen ”Basisdreicks”, d.h. zur Konstruktion eines gleichschenkligen Dreiecks ∆(A, B, C) dessen Basiswinkel an den Ecken A, B beide doppelt so groß sind wie der Winkel an der Spitze C: Das Basisdreieck für das Fünfeck Aus dem Basisdreieck lässt sich aber nun sofort das Fünfeck mit Zirkel und Lineal konstruieren [Euklid, IV §11]: A B E C D Konstruktion des Fünfecks Die Strecken BD und CE seien Winkelhalbierende. Dann sind die Winkel 6 CAD, 6 ACE, 6 ECD, 6 CDB, 6 BDA alle gleich und somit auch alle Seiten des Fünfecks (denn im Kreis sind die Sehnen gegenüber gleichen Winkeln gleich [Euklid, III, §29]. Damit ist das Pentagon aus dem Basisdreieck konstruiert. ♦ Konstruktion des Basisdreiecks. Man ziehe zunächst den Kreis mit Radius AB. Sei C der Punkt auf AB AB · BC = AC 2 (siehe oben) und sei BD die Sehne mit BD = AC. mit Klaus Johannson, Geometrie (L2) 24 . Geometrie (L2) B C A D Konstruktion des Basisdreiecks Behauptung. Das Dreieck ABD ist ein Basisdreieck. Beweis. [Euklid, IV §10] Wir müssen zeigen, dass 6 ABD = 6 ADB = 26 BAD. Wir beweisen diese Behauptung unter der folgenden Winkel-Annahme BDC = 6 DAC. 6 Der Beweis dieser Winkel-Annahme ist ziemlich technisch und wird gleich nachgeholt (er benutzt die Bedingung AB · BC = AC 2 ). Aus der Winkel-Annahme folgt: BDC + 6 CDA = 6 DAC + 6 CDA 6 BDA = 6 CDA + 6 DAC 6 6 6 6 6 BDA = 2R − 6 ACD BDA = 6 BCD CBD = 6 BCD DBA = 6 BCD Also CD = BD = AC und so 6 6 CDA = 6 DAC CDA + 6 DAC = 26 DAC 6 BCD = 26 DAC 6 BDA = 26 DAC und 6 DBA = 26 DAC. Damit ist mit △ABD das gesuchte Basisdreieck konstruiert. ♦ Bemerkung. Bis hierher scheint die Existenz von nicht rationalen Verhältnissen unwiderlegbar zu sein. Aber vielleicht - so könnten die Pythagoräer jetzt noch gefragt haben - muß Klaus Johannson, Geometrie (L2) §3 Pythagoräische Geometrie 25 man doch noch tiefer gehen und auch noch alle verwendeten geometrischen Grundsätze prüfen, wie etwa die Kongruenzsätze und andere, die vielleicht unbewußt benutzt wurden. Was also an dieser Stelle gebraucht wird ist nicht, wie bisher, eine Anwedung von mehr oder weniger schwierigen geometrischen Tricks, sondern vielmehr eine systematische, theoretisch einwandfreie Grundlegung der Geometrie, die von einigen, wenigen geometrischen Sätzen ausgeht, die so selbstevident sein sollten, dass man für sie keinen Beweis braucht und daraus alle geometrischen Grundsätze logisch einwandfrei entwickelt. Dies ist die Forderung nach einer axiomatischen Grundlegung der Geometrie, die hier erstmals in der Geschichte der Mathematik aufkommt. Mit dieser Forderung beschäftigen wir uns in der nächsten Vorlesung. Ihr Resultat ist die historisch erste axiomatische Theorie: die Euklidische Geometrie. Klaus Johannson, Geometrie (L2) 26 . Geometrie (L2) Nachtrag. Beweis der Winkel-Annahme. Wir müssen jetzt noch den Beweis der Winkel-Annahme 6 BDC = 6 DAC nachtragen, von der wir im obigen Beweis ausgegangen sind. Der Beweis der Winkel-Annahme benutzt einen Trick. Der Trick besteht darin, die WinkelAnnahme als einen Satz über Winkel im Kreis zu formulieren, aber in einem Kreis der verschieden ist von dem bisher benutzten. Zum Beweis konstruieren wir also einen neuen Kreis und zwar den Kreis durch die drei Punkte A, C, D (wie konstruiert man dies mit Zirkel und Lineal? Übung) B C A D Zum Beweis der Winkel-Annahme Die entscheidende Eigenschaft, die uns weiterbringt, ist die folgende Beh. BD ist Tangente zum Kreis ACD. Beweis der Beh. Wir haben AB · BC = AC 2 = BD2 Damit ist die Behauptung auf den Beweis des folgenden allgemeinen Tangenten Kriteriums reduziert. Klaus Johannson, Geometrie (L2) §3 Pythagoräische Geometrie 27 D A C F B E Das Tangenten Kriterium Beh. BA · BC = BD2 ⇒ BD ist tangential zum Kreis. Beweis. [Euklid III, §37] Wir ziehen, als Hilfslinien, die Tangente von B nach E. Dann ist 6 BEF = 90o Wir haben weiter BA · BC = BE 2 Also ist BE 2 = BD2 und so BE = BD Aber es ist auch F E = F D. Somit sind die Seiten der Dreiecke BF E und BF D und so auch die Dreiecke selbst △BF E = △BF D Also sind auch die Winkel gleich. Insbesondere die Winkel 6 Aber 6 BDF = 90o . Somit auch 6 BEF = 6 BDF BEF = 90o und BD muss tangential sein. ♦ Nach dem oben Bewiesenen, stellt sich die Winkel-Annahme nun als eine Aussage über Tangentenwinkel im Kreis dar: A D C E F B Tangentenwinkel Klaus Johannson, Geometrie (L2) 28 Beh. . Geometrie (L2) 6 CBF = 6 BDC. Beweis. [Euklid II §32] Es genügt zu zeigen 6 DBE = 6 DCB. Wir haben 6 ADB = 90o , da es Winkel über Durchmesser als Sehne. Also 6 Aber auch BAD + 6 ABD = 90o ABF = 90o . Somit 6 6 ABF = 6 BAD + 6 ABD Also DBF = 6 ABF − 6 ABD = 6 BAD + 6 ABD − 6 ABD = 6 BAD 6 Wir haben 6 DBF + 6 DBE = 2R und 6 6 BAD + 6 BCD = 2R. Demnach DBF + 6 DBE = 6 BAD + 6 BCD = 6 DBF + 6 BCD und so 6 DBE = 6 BCD und dies war zu zeigen. Damit ist alles bewiesen. Das Basisdreieck ist mit Zirkel und Lineal konstruierbar und somit auch das Pentagon. ♦ Klaus Johannson, Geometrie (L2) §3 Pythagoräische Geometrie 29 Das Dodekaeder. Das Dodekaeder ist ein reguläres Polyeder, das aus 12 Pentagonen wie folgt gebildet ist. Ist erst einmal das Pentagon konstruiert, so kann man fragen, ob nicht vielleicht auch ein Dodekaeder konstruiert werden kann. Damit haben sich die Griechen auch beschäftigt und die Antwort ist: Ja. Eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal kann man in [Euklid, XIII] finden. Tatsächlich gibt es noch 4 weitere reguläre Polyeder; insgesamt die folgenden: das Tetraeder, die Doppelpyramide, der Würfel, das Dodekaeder, das Ikosaeder. Diese Polyeder heißen heute platonische Körper. In [Euklid, XIII] ist gezeigt, dass alle platonischen Körper (mit Zirkel und Lineal) konstruiert werden können. Diese Konstruktionen sind aber z.T sehr aufwendig. Weiter wird gezeigt, dass die Liste von 5 platonischen Körpern vollständig ist - es gibt keine weiteren regulären Polyeder mehr! Dies ist, geschichtlich, die erste vollständige Klassifikation einer mathematischen Theorie (der Theorie der regulären Polyeder) überhaupt. Die griechische Klassifikation der platonischen Körper ist heute ein Standardmodell für eine vollständigen Klassifikation einer mathematischen Theorie. Man sagt dabei: Definition. Eine mathematische Theorie ist gewöhnlich eine Theorie von Äquivalenzklassen von Objekten. Eine mathematische Theorie ist klassifiziert, wenn man (1) Modelle für alle Äquivalenzklassen hat und wenn man (2) die Modelle ohne Wiederholung aufzählen kann. Literatur. Euklid, Die Elemente O. Becker, Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Darstellung Sir T. Heath, A history of greek mathematics Klaus Johannson, Geometrie (L2)