Moderner Geozentrismus - Dr. phil. Paul Natterer

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Moderner Geozentrismus
Paul Natterer
2009
Das geozentrische oder Ptolemäische Modell des Sonnensystems war in Europa,
im islamischen Kulturkreis und in der chinesischen Astronomie das herrschende
astronomische Paradigma bis in die Neuzeit. Seine wissenschaftliche Darstellung
geht auf Platon/Aristoteles und v. a. auf Claudius Ptolemaios (100178 n. Chr)
zurück, der das geozentrische Weltbild in mathematisch ausgearbeiteter Form in
dem Monumentalwerk Mathematike Syntaxis (Mathematische Zusammenstellung, auch bekannt unter dem arabischen Namen Almagest) zusammenfasste.
Heute weiß man, dass der eigentliche Vater der antiken Astronomie, von dem
Ptolemaios abhängt, Hipparchos von Nikäa (180125 v. Chr.) ist, der Begründer
der Trigonometrie und Autor des umfangreichsten Sternenkatalogs der Antike.
Hauptargumente für die Entscheidung zugunsten des geozentrischen Modells
waren für Ptolemaios etc.:
(a) Die Tatsache, dass der Fixsternhimmel einer täglichen Umlaufbahn um den Pol
der Erde folgt, wobei die Sterne näher zum Äquator hin jeden Tag aufgehen und
untergehen.
(b) Die Beobachtung, dass stets die Hälfte der Sterne über dem Horizont liegt und die
andere Hälfte unter dem Horizont. Diese Gleichverteilung wäre bei der gleichzeitig
angenommenen relativ nahen Entfernung der Sterne nicht erklärbar, wenn die Erde
wesentlich aus dem Zentrum gerückt gedacht wird.
(c) Kein Auftreten von Sternenparallaxe = scheinbare Änderung der Position eines
Objektes, wenn der Beobachter seine eigene Position verschiebt. Letzteres bedeutet:
Wenn die Erde in jährlicher Kreisbewegung um die Sonne angenommen wird, dann
müsste sich aufgrund der dann jeweils unterschiedlichen Perspektive von der Erde
aus die Anordnung der Sterne und Sternbilder im Laufe eines Jahres stark ändern.
Dies ist aber nicht der Fall. Im Vergleich: Von einem eine Flotte von Schiffen
umkreisenden Boot aus verschiebt sich die relative Anordnung der einzelnen Schiffe
zueinander ständig, insofern z.B. Schiff A zunächst im Vordergrund liegt und dann nach
links wandert und den Blick auf Schiff B freigibt usw. Zur Annahme des Heliozentrismus
hätten die antiken Astronomen daher voraussetzen müssen, dass sich die Fixsterne in
unvorstellbar großen Entfernungen befinden, weil dann ebenfalls keine Parallaxe
beobachtbar ist. Diese Voraussetzung betrachtete man aber als eine unbegründete
Spekulation und willkürliche ad-hoc-Hypothese, zumal eine viel plausiblere und
widerspruchfreiere Theorie zur Verfügung stand: der Geozentrismus. Erst Anfang des 19.
Jh. konnte man schließlich minimale Parallaxenverschiebungen der Position der Fixsterne
feststellen, welche als Schlüsselbeweis des Heliozentrismus gedeutet wurden.
(d) Physikalische Unmöglichkeit der Erdrotation und Erdbewegung um die Sonne
vor der Entdeckung der Schwere der Luft und der Schwerkraft (Zentripetalkraft) im
17. Jh. durch Torricelli bzw. Newton. Vor diesen Entdeckungen standen alle Denker vor
2
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
dem Problem, dass nicht nur ein ohrenbetäubendes schrilles Pfeifen vorhanden sein
müsste, sondern auch Menschen und Gegenstände schräg fallen und sich vor allem nicht
am Boden halten können, sondern von der Oberfläche der Erde weggerissen und in den
Weltraum hinausfliegen müssten, wenn die Erde sich bewegen und um die Sonne laufen
würde. Denn nach dem heliozentrischen Modell fliegt die Erde mit einer Geschwindigkeit
von 109.000 Stundenkilometern um die Sonne (30 km/sec) und rotiert mit 1100 Stundenkilometern um sich selbst (auf dem Breitengrad von München).
Das heliozentrische Weltbild war zwar auch schon im dritten vorchristlichen
Jahrhundert von Aristarchos von Samos vertreten und begründet worden, konnte
sich aber nicht gegen das geozentrische oder Ptolemäische System durchsetzen.
Weniger bekannt ist, dass auch die Schule der Pythagoräer eine Umlaufbahn der
Erde um ein (nicht mit der Sonne identisch gedachtes) Zentralfeuer annahmen
und der spätrömische Theoretiker Martianus Capella (5. Jh.) in Teilen das
Tychonische Sytem (s. u.) vorwegnahm. Auch in einigen vedischen Texten des
alten Indien wird das heliozentrische Weltbild vertreten. So heißt es in dem
vedischen Text Aitareya Brahmana (ca. 900 v. Chr.): „Die Sonne geht weder
unter, noch geht sie auf. Wenn Leute denken, die Sonne geht auf, ist es nicht so;
sie irren sich.“ Der Philosoph Yajnavalkya (um 600 v. Chr.) war später ebenfalls
der Überzeugung, dass die Sonne sei „die Mitte der Sphären“ ist und schrieb
dazu die astronomische Abhandlung Shatapatha Brahmana mit der Aussage:
„Die Sonne reiht diese Welten – die Erde, die Planeten, die Atmosphäre – auf
einem Gewinde.“ [8.7.3.10] und gab sehr genaue Messungen der Abstände der
Sonne und des Mondes von der Erde. Das heliozentrisches Modell wurde nach
der Zeitenwende noch einmal von dem indischen Astronom und Mathematiker
Aryabhata (476–550) aufgegriffen, der die Erde sich zugleich um die eigene
Achse drehen ließ.
Dennoch wurde erst vom Ende des 16. Jh. an das geozentrische oder Ptolemäische Modell allmählich vom heliozentrischen oder Kopernikanischen Modell
verdrängt. Geozentrismus blieb jedoch eine  meist religiös motivierte 
Minderheitenmeinung.
Die hier zu verhandelnde Frage sollte im Übrigen nicht mit der geschichtlich und
sachlich damit in keinem Zusammenhang stehenden Flache-Erde-Theorie (flatearth-theory) verwechselt werden: Ab dem 4. Jh. v. Chr. vertraten die gebildeten
Schichten des hellenistischen und römischen Kulturraums die Kugelgestalt der
Erde. Dies blieb seitdem im gesamten Altertum und europäischen Mittelalter die
selbstverständliche Standardauffassung.
(1) Geschichte und Vertreter des modernen Geozentrismus
Weniger bekannt ist, dass von 1870 bis 1920 eine große Gruppe der Lutheraner
des amerikanischen Mittelwestens das Kopernikanische Modell einer Kritik
unterzogen und eine geozentrische Überzeugung vertraten. Die gegenwärtige
Wiederbelebung des Geozentrismus ging ebenfalls von Nordamerika aus. Den
Anstoß gab 1967 der holländischstämmige Kanadier Walter van der Kamp
(1913–1998) mit dem Thesenpapier The Heart of the Matter und der Ausarbeitung in Buchform De Labore Solis von 1989. Hieraus entstand die sog. Tycho-
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
nian Society und deren Zeitschrift Bulletin of the Tychonian Society. Seit 1984
steht der ebenfalls aus den Niederlanden stammende Professor Gerardus Bouw,
Astronom und Astrophysiker, an der Spitze der Vereinigung, welche sich heute
Association for Biblical Astronomy [http://www.geocentricity.com/] nennt,
während die Zeitschrift inzwischen den Namen The Biblical Astronomer angenommen hat. Dies zeigt, dass das Wiederaufgreifen des Geozentrismus hier auf
dem Hintergrund des protestantischen (evangelikalen) Kreationismus erfolgt.
Bouw selbst war ursprünglich Anhänger des etablierten Heliozentrismus und
eines physikalistischen (materialistischen) Weltbildes. Auch Bouw und andere
Gleichgesinnte haben inzwischen Buchveröffentlichungen zum Geozentrismus
vorgelegt und es findet eine rege Diskussion statt, wobei man darauf achtet, dass
die astronomische Sachargumentation selbst philosophisch und naturwissenschaftlich ist. – Allerdings ist der Geozentrismus keine Mehrheitsmeinung im
evolutionskritischen, kreationistischen Ansatz. Er wird selbst von dieser Seite
deswegen bekämpft, weil Kreationisten in aller Regel nicht der Auffassung sind,
dass der biblische Textbefund den Geozentrismus fordert, wie dessen Anhänger
meist behaupten. Vgl. z.B. die Kritik des Kreationisten D. R. Faulkner, Professor
der Astronomie an der University of South Carolina „Geocentrism and Creation“
Dazu in Folge mehr.
Auch traditionsorientierte Vertreter der Römischen Kirche haben das Thema
aufgegriffen und 2007 die bis dato umfangreichste (1050 S.)
naturwissenschaftliche, theologische und geschichtliche Darstellung des
Geozentrismus vorgelegt, die inzwischen mindestens teilweise Leitfunktion
erlangt hat: R. A. Sungenis / R. J. Bennett: Galileo Was Wrong: The Church Was
Right. Volume I : The Scientific Case for Geocentrism + Volume II : The
Historical Case for Geocentrism, Port Orange, Florida. Teil II diskutiert, wie der
Titel sagt, die berühmte Stellungnahme der Indexkongregation der Römischen
Kirche vom 22.06.1633 im Zusammenhang des Galileo-Verfahrens (aufgegriffen
durch die Päpste Paul V, Urban VIII, und Alexander VII): „The proposition that
the Earth is not the centre of the world and immovable but that it moves, and also
with a diurnal motion, is equally absurd and false philosophically and
theologically considered at least erroneous in faith“. Hierzu mehr unter Abschnitt
(5) bis (7).
Ähnliches gilt vom orthodoxen Judentum, wo eine wachsende Minderheit v.a.
der international weitverbreiteten chassidischen Bewegung des Lubbavitcher
Rebbe (Chabad.org) das geozentrische Weltbild vertreten – aufgrund ihrer
Interpretation verschiedener biblischer Stellen und aufgrund der Autorität des
Fürsten der jüdischen Scholastik, Maimonides. 2007 befürworteten 1215% der
jüdisch-orthodoxen Studenten der Naturwissenschaften den Geozentrismus:
„Geocentrism is fast returning as a centrist Orthodox belief ... If this survey is
repeated in a few years ... the percentage of geocentrists will be much higher.“
(A. Nussbaum: Orthodox Jews & Science. An Empirical Study of their Attitudes
Toward Evolution, the Fossil Record, and Modern Geology. Auf:
http://www.skeptic.com/the_magazine/featured_articles/v12n03_orthodox_
judaism_and_evolution.html. Vgl. A. Nussbaum: Creationism and Geocentrism
Among Orthodox Jewish Scientists. Reports of the National Center for Science
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Education, JanApr 2002, 3843. Jüdisch-orthodoxer Vordenker des
Geozentrismus ist Herman (Yirmiyahu) Branover, Direktor des Center for
Magneto-hydrodynamic Studies der Ben-Gurion University und Herausgeber der
geozentrisch orientierten Zeitschrift B’Or HaTorah. Sein Motto ist: „We can be
modern and adhere to modern physics and Einstein’s theory and accept that the
Earth is standing still in the center of the Universe.“ Vgl. das Interview mit
Branover über ‘Science and the Era of the Moshiach’, auf der 4. Konferenz zu
‘Mosiach and Science’: www.ryal.org, last accessed Feb. 27, 2004. Informativ
und aufschlussreich ist auch der Aufsatz von Avi Rabinowitz: EgoCentrism and
GeoCentrism; Human Significance and Existential Despair; Bible and Science;
Fundamentalism and Skepticalism.
Der moderne Geozentrismus hat sich inzwischen zu einer beachtlichen Minderheitenmeinung entwickelt: Nach Umfrageergebnissen halten 20% der USAmerikaner dieses Modell für richtig.
(2) Annahmen, Argumente und Richtungen des modernen Geozentrismus
Der verbreitetste moderne geozentrische Ansatz ist jener des Tychonischen
Systems (von Tycho von Brahe, 15461601), das ptolemäisch-geozentrische und
kopernikanisch-heliozentrische Gesichtspunkte vereint: Im Zentrum ruht, wie im
ptolemäischen Weltbild auch, die Erde. Um sie kreisen Mond und Sonne, aber
alle anderen Himmelskörper bewegen sich wie bei Kopernikus um die Sonne.
Nur die äußerste Sphäre mit den Fixsternen bewegt sich in 24 Stunden einmal um
die Erde.
Harte Geozentriker gehen (a) meist davon aus, dass die geozentrische Weltbeschreibung physikalische Wirklichkeit ist und nicht nur (b) eine  nach der
modernen Physik stets mögliche  freie Wahl eines Bezugssystems. Dennoch
gibt es beide Standpunkte. Der letztere gemäßigte Standpunkt (b) akzeptiert alle
Beobachtungsdaten und Theorien der physikalischen Standardtheorie. Er
versucht die geozentrische Annahme auf die Allgemeine Relativitätstheorie zu
stützen, die u.a. besagt, dass alle physikalischen Erscheinungen widerspruchsfrei
in jedem beliebigen Bezugssystem beschrieben und erklärt werden können und
dass es physikalisch kein bevorzugtes Bezugssystem gibt. Gemäßigte Geozentristen argumentieren also dafür: Wenn die Allgemeine Relativitätstheorie
wahr ist, dann gibt es ein Bezugssystem, in dem die Erde der unbewegte
Mittelpunkt eines Universums ist, das nicht ein Inertialsystem (oder in der
Allgemeinen Relativität: frei fallendes Bezugssystem = System ohne Rotationsund Beschleunigungsbewegung, d.h. ohne Corioliskraft und Fliehkraft) ist.
Überhaupt existiert für jedes frei gewählte Koordinatensystem und Zentrum ein
physikalischer Bezugsrahmen (ob Inertialsystem oder beschleunigtes Bezugssystem). Man verweist auch auf die Wissenschaftstheorie Karl Poppers, die
solche naturwissenschaftlich unentscheidbaren und damit auch grundsätzlich
nicht falsifizierbaren Behauptungen wie Geozentrismus oder Heliozentrismus
als metaphysische Hintergrundannahmen qualifiziert und nicht als eigentliche
wissenschaftliche Hypothesen. Die Wahl und Bevorzugung des geozentrischen
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Bezugssystems erfolgt bei dieser Gruppe (b) aus anderen, religiösen Gründen.
Die Gruppe (b) vertritt physikalisch nichts anderes als die Standardauffassung
der heutigen Physikergemeinschaft, welche sowohl das geozentrische wie auch
das heliozentrische Weltbild als veraltet ansieht und als durch das Relativitätsprinzip abgelöst.
Der erstere Standpunkt (a) geht weiter und bestreitet auch die Interpretation der
Phänomene durch die heutige Astronomie und Kosmologie. So nimmt man oft
an, dass die Sterne viel näher sind als die gängigen Messverfahren nahelegen und
auch die Äthertheorie wird in veränderter Form aufgegriffen. Gerardus Bouw
gehört zu dieser Gruppe und lehnt u.a.  anders als Vertreter der Gruppe (b) 
auch die Relativitätstheorie ab, was bei anderen Geozentristen und Kreationisten
auf entschiedene Ablehnung stößt (siehe in Folge Abschnitt (4)).
(3) Die Standardphysik zur wissenschaftstheoretischen und physikalischen
Möglichkeit des Geozentrismus
Die grundsätzliche physikalische Möglichkeit und Begründungsfähigkeit des
geozentrischen Weltbildes wurde und wird von maßgeblichen Autoritäten der
modernen Physik ohne weiteres zugegeben. Der Geozentrist und Astrophysiker
Mark Wyatt hat die wichtigsten einschlägigen Stellungnahmen auf seiner Seite
aufgelistet (http://www.geocentrism.com/possible.htm).
(a) Max Born (18821970, einer der Väter der modernen Physik in Zusammenarbeit mit Planck, Einstein, Heisenberg und Pauli in Berlin, Frankfurt, Edinburgh
und Göttingen, Nobelpreis Physik 1954) sagt dazu wie schon erwähnt in der vielleicht klassischsten Dastellung der Relativitätstheorie Die Relativitätstheorie
Einsteins (Berlin/Heidelberg/Oxford 72003, 296 [11920]):
„Damit ist die Rückkehr zu PTOLEMÄUS Standpunkt der ‚ruhenden Erde’ ins Belieben
gestellt. Es würde das die Benutzung eines mit der Erde fest verbundenen Bezugssystems
bedeuten, in dem alle Fixsterne ine Rotation mit gleicher Winkelgeschwindigkeit um die
Erde ausführen […] Man muß zeigen, daß die transformierte Metrik im Einklang mit
EINSTEINs Feldgleichungen erzeugt wird, durch die rotierenden fernen Massen. Das ist
von THIRRING [Hans Thirring, 18881976, österreichischer Physiker] durchgeführt worden. Er hat das Feld berechnet, das eine hohle, dickwandige Kugel in ihrem Innern erzeugt, wenn sie rotiert und konnte beweisen, daß im Kugelinnern tatsächlich Kräfte von
der Art der Zentrifugalkraft und anderer Trägheitskräfte auftreten, die man für gewöhnlich dem absoluten Raum zuschreibt. Daher haben von EINSTEINs Standpunkt gesehen
PTOLEMÄUS und KOPERNIKUS gleiches Recht. Welchen Ausgangspunkt man wählt, ist
Sache der Bequemlichkeit.“ 1
(b) Albert Einstein zu demselben Thema in dem Buch (zus. mit Leopold Infeld):
The Evolution of Physics, Cambridge 1938, 248 (dt.: Die Evolution der Physik,
Reinbek bei Hamburg 1995), dass „der in den frühen Tagen der Naturwissen1
Englisch: „Thus we may return to Ptolemy‘s point of view of a ‚motionless earth‘ [...] One has to show that the transformed
metric can be regarded as produced according to Einstein‘s field equations, by distant rotating masses. This has been done by
Thirring. He calculated a field due to a rotating, hollow, thick-walled sphere and proved that inside the cavity it behaved as
though there were centrifugal and other inertial forces usually attributed to absolute space. Thus from Einstein‘s point of view,
Ptolemy and Corpenicus are equally right.“ (Born, Max: Einstein‘s Theory of Relativity, Dover Publications 51962, 344345)
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
schaft so heftige Kampf zwischen den Sichtweisen des Ptolemaios und Kopernikus praktisch bedeutungslos“ wurde: „Beide Kordinatensysteme können mit
gleicher Berechtigung verwendet werden“. Hier das Zitat in Englisch:
„The struggle, so violent in the early days of science, between the views of Ptolemy and
Copernicus would then be quite meaningless. Either CS [= coordinate system] could be
used with equal justification. The two sentences, ‘the sun is at rest and the earth moves,’
or ‘the sun moves and the earth is at rest,’ would simply mean two different conventions
concerning two different CS.“
(c ) Fred Hoyle (19152001), Urheber der kosmologischen Steady-State-Theorie,
in Astronomy and Cosmology  A Modern Course, San Francisco 1975, 416:
„We know that the difference between a heliocentric theory and a geocentric theory is
one of relative motion only, and that such a difference has no physical significance.“
In Fred Hoyles Buch: Nicolaus Copernicus, London 1973, 78, heißt es:
„Die Beziehung der zwei Systeme (Geozentrismus und Heliozentrismus) ist reduziert
auf die bloße Umwandlung der Koordinaten, und es ist die Hauptlehre von Einsteins
Theorie, dass alle Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, vom physikalischen
Gesichtspunkt aus völlig äquivalent sind, sofern sie miteinander über eine Koordinatenumwandlung verbunden sind.“
(d) Stephen Hawking schließlich macht in A Brief History of Time [dt.: Eine
kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Weltformel, Reinbek bei Hamburg
1997, 6162] deutlich, dass die Beobachtungsdaten die Deutung nahelegen,
„dass wir im Zentrum des Universums sein müssen“ und dass wir „keinen
wissenschaftlichen Beweis für oder gegen eine andere Deutung“ der Daten
haben. Wenn wir annehmen, dass das Universum sich von anderen Galaxien aus
gesehen überall genauso wie von unserem Standort aus darstellt (nämlich in jeder
Richtung gleich), dann „glauben wir das nur aus Gründen der Bescheidenheit“.
Hier der volle Wortlaut:
„ All this evidence that the universe looks the same whichever direction we look in might
seem to suggest there is something special about our place in the universe. In particular, it
might seem that if we observe all other galaxies to be moving away from us, then we
must be at the center of the universe. There is, however, an alternate explanation: the
universe might look the same in every direction as seen from any other galaxy, too. This,
as we have seen, was Friedmann’s second assumption.2 We have no scientific evidence
for, or against, this assumption. We believe it only on grounds of modesty: it would be
most remarkable if the universe looked the same in every direction around us, but not
around other points in the universe.“
(e) Edwin Hubble (18891953, dem der Nachweis der Existenz weiterer
Galaxien als unserer Milchstraße gelang, entdeckte auch die praktisch allgemeine
Rotverschiebung der Sterne und Galaxien in einer Bewegung von der Erde weg.
Das Licht der meisten Galaxien ist rotverschoben (schon bei den uns nächsten
1000 sind es etwa ¾). Je weiter Galaxien entfernt sind, desto stärker ist normalerweise die Rotverschiebung. Nur wenige nahe Galaxien zeigen wegen zusätz2
Alexander Alexandrowitsch Friedmann, 1888–1925, russischer Physiker. Er war der Vordenker der Möglichkeit eines dynamischen, nicht stationären Universums und entwarf drei bis heute grundlegende mathematische Modelle dynamischer Kosmologien (Friedmann-Modelle), d.h. expandierender und/oder kontrahiererender Universen. Er veröffentlichte die drei Modelle in
den Aufsätzen: ‚Über die Krümmung des Raumes‘. In: Zeitschrift für Physik (10), 1922, 377–386; und: ‚Über die Möglichkeit
einer Welt mit konstanter negativer Krümmung des Raumes‘. In: Zeitschrift für Physik (21) 1924, 326–332. Auch Hawkins legt
die Friedman-Modelle der Diskussion in seinem Kapitel ‚Das expandierende Universum‘ (a.a.O. 1997, 53–73) zu Grunde.
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
licher Eigenbewegung auf uns zu eine Blauverschiebung. Diese Beobachtung
bedeutete für Hubble eine existentielle Erschütterung, da er die nächstliegende
Erklärung in einer geozentrischen Theorie sah (The Observational Approach to
Cosmology, Oxford 1937). Hubbles Aussagen zeigen auch die geradezu brachiale
Gewalt, mit der er seine philosophische Weltanschauung und Vorurteilsstruktur
den physikalischen Beobachtungsdaten aufzwingt, die zu „implizieren scheinen,
dass wir eine einzigartige Position im Universum einnehmen, in gewissem
Sinn analog der früheren Vorstellung einer zentralen Erde“. Hubble räumt zwar
ein, dass „diese Hypothese nicht widerlegt werden kann“, aber sie ist, so Hubble,
„unerwünscht“, „unerträglich“ und ein „Horror“. Deshalb muss sie „um jeden
Preis vermieden werden“:
„Such a condition would imply that we occupy a unique position in the universe,
analogous, in a sense, to the ancient conception of a central Earth [...] This hypothesis
cannot be disproved, but it is unwelcome and would only be accepted as a last resort in
order to save the phenomena. Therefore we disregard this possibility ... the unwelcome
position of a favored location must be avoided at all costs [...] Such a favored position is
intolerable [...] Therefore, in order to [...] escape the horror of a unique position [… the
dates] must be compensated by spatial curvature. There seems to be no other escape.“
Zum Hintergrund: Rotverschiebung elektromagnetischer Wellen ist eine Verlängerung der
gemessenen Wellenlänge im Vergleich zur ursprünglich ausgesandten Strahlung. Sie ist
besonders aus der Astronomie bekannt, weil Licht sehr entfernter Galaxien wie auch der sog.
kosmischen Hintergrund- oder Mikrowellenstrahlung zum Roten hin verschoben ist, was sich
durch Analyse der Spektrallinien messen lässt. Die Erscheinung kann drei verschiedene
Ursachen haben: (a) eine Relativbewegung von Quelle und Beobachter (der sog. Dopplereffekt
der Astrophysik), (b) ein unterschiedliches Gravitationspotenzial von Quelle und Beobachter
(aufgrund der Relativitätstheorie), (c ) Expansion des Universums zwischen Quelle und
Beobachter (in der Kosmologie).
Zu (a): Rotverschiebung wegen Bewegung einer Lichtquelle relativ zum Beobachter (=
Dopplereffekt). Wer eine sich entfernende Lichtquelle beobachtet, sieht die Lichtwellen mit
geringerer Frequenz, also zum roten Ende des Spektrums verschoben. Die Frequenzänderung
entspricht dabei jeweils der Geschwindigkeit.
Zu (b): Gravitativ verursachte Rotverschiebung ist gravitative Zeitdehnung (Zeitdilatation).
Licht einer gegebenen Frequenz, das vom Gravitationszentrum weg ausgestrahlt wird, hat am
Zielpunkt eine niedrigere Frequenz als an der Stahlungsquelle. Das schließt mit ein, dass bei
einem Lichtsignal der Abstand zwischen Beginn und Ende des Signals beim Empfänger größer
ist als an der Quelle. Die gravitative Zeitdehnung verlängert Zeitintervalle umso mehr, je weiter
weg man sich vom Gravitationszentrum befindet: Die Zeit vergeht immer schneller, da die
Zeitintervalle mehr „Zeitinhalt“ umfassen. Physikalisch: Die Lichtwelle wird immer länger
gemessen, der Abstand zwischen den einzelnen Wellenbergen wird immer größer, das Licht
erscheint immer langwelliger und energieärmer.
Zu (c ): Rotverschiebung durch Expansion des Universums. Es geht hier nicht um
Relativbewegung von Galaxien, die sich in der Raumzeit voneinander entfernen (siehe (a)).
Sondern die Raumzeit selbst wird als sich ausdehnende gedacht, wobei die Galaxien
mitbewegt werden, aber nicht selbst in sich expandieren. Sie sind durch die von ihnen
ausgehende Schwerkraft von der allgemeinen Expansionsbewegung, wie man sagt, entkoppelt.
Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für Sterne, Planeten, Atome und Moleküle innerhalb
gravitativ gebundener Systeme. Sich frei durch eine sich ausdehnende Raumzeit bewegende
elektromagnetische Wellen machen hingegen die Expansionsbewegung mit. Wird die Raumzeit
während der Laufzeit der Welle größer, dann auch die Wellenlänge des Lichts. Diese
kosmologische Rotverschiebung bei den Fluchtgeschwindigkeiten ferner Galaxien hängt
nicht von der relativen Geschwindigkeit der Galaxien ab und ist von der Rotverschiebung durch
den Dopplereffekt, genau zu unterscheiden, zumal schon ab verhältnismäßig mäßigen
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Entfernungen von wenigen 100 Megaparsec der Dopplereffekt keine Rolle mehr spielt. Nach
der allgemeinen Relativitätstheorie können die beobachteten Fluchtgeschwindigkeiten auch
nicht durch gravitativ verursachte Rotverschiebung (Zeitdilatation) erzeugt werden (vgl. (b)).
Allerdings gibt es auch eine Art kosmologische Zeitdehnung, insofern später ausgesandte
Photonen eines kosmischen Objektes wegen der Expansion eine größere Strecke bis zu uns
durchlaufen.
(f) Ein weiterer Kronzeuge aus der Physikergemeinschaft ist der mit Stephen
Hawking zusammenarbeitende südafrikanische Astronom und Kosmologe
George Ellis (*1939). Über seine Arbeit erschien in der Oktoberausgabe 1995
von Scientific American (Bd. 273) ein Beitrag mit dem Titel ‘Thinking Globally,
Acting Universally’. Ellis hebt ins Relief, was wir oben bei Hubble festgestellt
haben, dass die Entscheidung für oder gegen das geozentrische Modell nur
auf „philosophischer Basis“ und „unter Anwendung philosophischer Kriterien“
getroffen und begründet werden kann. W. Wayt Gibbs zitiert Ellis Hauptthese in
dem einführenden ‘Profile: George F. R. Ellis’ der o.g. Ausgabe von Scientific
American wie folgt (S. 55):
„‘People need to be aware that there is a range of models that could explain the
observations’, Ellis argues. ‘For instance, I can construct you a spherically
symmetrical universe with Earth at its center, and you cannot disprove it based on
observations.’ Ellis has published a paper on this. ‘You can only exclude it on
philosophical grounds. In my view there is absolutely nothing wrong in that. What I want
to bring into the open is the fact that we are using philosophical criteria in choosing our
models. A lot of cosmology tries to hide that.’”
(g) Diese philosophischen Gründe für die Wahl des physikalischen kosmologischen Modells thematisiert auch der durch zahlreiche Veröffentlichungen
bekannte Physiker und Astronom Paul Davies, Herausgeber des Wissenschaftsjournals Nature. Auch seine Stellungnahme erfolgt in Auseinandersetzung mit
George Ellis‘ beobachtungsmäßig einwandfreiem Modell mit der Erde in der
Mittelpunktposition: Cosmic Heresy? In: Nature 273 (1978), 336:
„Often the simplest of observations will have the most profound consequences. It has
long been a cornerstone of modern science [...] that the Earth attends a modest star that
shines in an undistinguished part of a run-of-the-mill galaxy. Life arose spontaneously
and man evolved on this miscellaneous clump of matter and now directs his own destiny
without outside help. This cosmic model is supported by the Big-Bang and Expanding
Universe concepts [...] George Ellis in this article is more complex than this, but his basic
thrust is to put man back into a favored position in the cosmos. His new theory seems
quite consistent with our astronomical observations, even though it clashes with the
thought that we are godless and making it on our own.“
Moderne Geozentriker stützen sich nicht zuletzt auf das von Ellis entwickelte
Alternativmodell mit der Erde im Zentrum des Kosmos. Sie weisen wie Ellis
darauf hin, dass die für das Standardmodell der Kosmologie (Urknall mit
expandierendem Universum) zentrale Rotverschiebung der Galaxien auch anders
erklärt werden kann, nämlich als gravitativ verursachte Rotverschiebung (s.o.
Rotverschiebung (b): Licht einer gegebenen Frequenz, das vom Gravitationszentrum weg ausgestrahlt wird, hat am Zielpunkt eine niedrigere Frequenz als an
der Stahlungsquelle). Die nach geozentrischen Modellen die Erde umgebende
Masse von Sternen würde ebenfalls Rotverschiebungen produzieren, wohin man
blickt. Diese Rotverschiebungen entstünden also nicht durch Materie, die von
uns unter dem Druck und Antrieb des Urknalls wegfliegt, sondern durch
9
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Massenanziehung aufgrund der Schwerkraft.
(h) Ein Zeugnis vom kritischen Rand der Physikergemeinschaft ist Andre K.T.
Assis: Relational Mechanics, APEIRON studies in infinite nature 1999. Assis
zeigt auf der Basis der klassischen Mechanik in einem Mach‘schen Theorierahmen die Äquivalenz zwischen einer rotierenden Erde in einem stationären
Universum und einer ruhenden Erde in einem rotierenden Universum.
(i) Dieses Bild wird abgerundet durch Halton Arp: Quasars, Redshifts and
Controversies, Cambridge 1987 und ders.: Seeing Red: Redshifts, Cosmology and
Academic Science, Montreal 1999. Der US-amerikanische Astronom Halton Arp,
der seit 1983 am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München
arbeitet, vertritt eine Minderheitenmeinung, die sich u.a. auf das (umstrittene,
s.u.) Phänomen der periodischen, diskreten gequantelten Rotverschiebung
(redshift quantization / periodicity / discretization) stützt.
Darunter versteht man die Hypothese, dass die Rotverschiebungen entfernter kosmischer
Objekte, namentlich von Galaxien, sich im Bereich der Vielfachen eines bestimmten Wertes
bewegen. Da es einen Zusammenhang zwischen Entfernung und Rotverschiebung gibt
(Hubblesches Gesetz, Hubble‘s Law) bedeutet das entweder eine Verteilung der Galaxien in
Sphären bestimmter Entfernung oder aber eine Infragestellung des Hubbleschen Gesetzes.
Daher haben Gegner des Modells des expandierenden Weltalls (ausgehend von einem Urknall)
sich auch auf die als Rotverschiebungs-Quantelung gedeuteten Beobachtungen gestützt. Die
Deutung der Daten ist unter Astronomen umstritten und es wird normalerweise, gestützt auf
Daten neuer Weltraumteleskope, in Abrede gestellt, dass sie eine diskrete gequantelte
Rotverschiebung untermauern. Es ist aber festzuhalten, dass das Datenmaterial die hypothetische Deutung im Sinne einer periodischen Rotverschiebung erlaubt.
Arp konzentriert sich selbst dabei mehr auf ein anderes verwandtes Paradox oder Problem:
„Arp discovered, from photographs and spectra with the big telescopes, that many pairs
of quasars (quasi-stellar objects) which have extremely high redshift z values (and are
therefore thought to be receding from us very rapidly – and thus must be located at a great
distance from us) are physically connected to galaxies that have low redshift and are
known to be relatively close by. Because of Arp‘s observations, the assumption that high
red shift objects have to be very far away – on which the Big Bang theory and all of
‘accepted cosmology’ is based – has to be fundamentally reexamined!“
(http://www.haltonarp.com/bio).
Interessant ist hierzu auch diese Rezension Arps seitens evangelikal eingestellter Astronomen.
Siehe auch die Aufsätze von Bill Warraker / Andrew C. McIntosh: A different view of the
universe. In: Technical Journal 14 (2000), Nr. 3, 46–50, und Barry Setterfield: The Redshift and
the Zero Point Energy. In: eJournal of Theoretics / 29 December 2003.
(k) Neueste Daten und Ergebnisse bringt Jonathan I. Katz, Professor der Physik
an der Washington University, ins Spiel, wenn er die sog. Gammablitze oder
Gammaexplosionen (siehe hierzu in Folge) als ein Kopernikanisches Dilemma
darstellt. Vgl. Katz: The Biggest Bangs: The Mystery of Gamma-Ray Bursts, the
Most Violent Explosions in the Universe, Oxford / New York 2002.
Gammablitze oder Gammastrahlenexplosionen (engl. Gamma Ray Bursts, oft abgekürzt GRB)
sind unvorstellbar große Energieausbrüche im Kosmos, verbunden mit enormen Mengen an
Gammastrahlen. Sie werden etwa einmal pro Tag (in der Regel von Satelliten) beobachtet,
dauern Sekunden bis maximal Minuten und setzen in wenigen Sekunden mehr Energie frei
als unsere Sonne in Jahrmilliarden. Für die Dauer seines Leuchtens ist ein Gammablitz heller
als alle übrigen Gammastrahlenquellen am Himmel. Als Ursache vermutet man spezielle
Supernovaexplosionen extrem massereicher Sterne mit Schwarzem Loch (Hypernovae) sowie
10
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
verschmelzende Neutronensterne. Ein Gammablitz in der Nähe unseres Sonnensystems (bis
zu 3000 Lichtjahre) könnte ein Massensterben auf der Erde auslösen. Das in unserem Zusammenhang besonders Interessierende ist, dass diese Gammaexplosionen nahezu gleichmäßig,
isotrop über den Gesichts- oder Beobachtungsraum verteilt sind. Nach Katz ein Kopernikanisches Dilemma. Denn, so die Zusammenfassung von M. Wyatt:
„The uniform distribution of burst arrival directions tells us that the distribution of
gamma-ray-burst sources in space is a sphere or spherical shell, with us at the center
(some other extremely contrived and implausible distributions are also possible). But
Copernicus taught us that we are not in a special preferred position in the universe; Earth
is not at the center of the solar system, the Sun is not at the center of the galaxy, and so
forth. There is no reason to believe we are at the center of the distribution of gamma-ray
bursts. If our instruments are sensitive enough to detect bursts at the edge of the spatial
distribution, then they should not be isotropic on the sky, contrary to observation; if our
instruments are less sensitive, then the N ∝ S-3/2 law should hold, also contrary to
observation. That is the Copernican dilemma.
This dilemna has led science to propose that the GRBs occur billions of light years away,
and are caused by stars collapsing into black holes producing astronomical amounts of
energy. All because they cannot tolerate the alternative (we are in a central position).“
Das Phänomen der regelmäßigen Verteilung der Gammablitzursprünge auf einer
kugelförmigen Schale um unsere Erde als Zentrum hat eine Parallele in der
Verteilung der wie erwähnt ebenfalls rotverschobenen kosmologischen Hintergrundstrahlung. Die Hintergrundstrahlung ist bekanntlich elektromagnetische
Strahlung meistens im Mikrowellenbereich (aber auch im Röntgen- und
Infrarotspektrum), die aus jedem Bereich des Himmels nachgewiesen werden
kann und nicht konkreten einzelnen Quellen zuzuordnen ist. Nach der Standardvorstellung gilt sie als Beleg für die Urknalltheorie und stammt aus der Zeit etwa
380.000 Jahre nach dem Urknall. Die gemessenen Extremwerte der Hintergrundstrahlung verlaufen nun fast senkrecht zur Ekliptik (Bahnebene) des
Sonnensystems. Dazu liegt eine ausgeprägte Nord-Süd-Asymmetrie vor mit
einem Maximalwert im Norden. Dies ist für die Astronomie überraschend, da
die kosmische Hintergrundstrahlung unabhängig von unserem Sonnensystem
bzw. unserer Galaxie sein sollte, welche nach der Standardtheorie keine
bevorzugte Mittelpunktstellung im Kosmos haben.
Man versucht daher, diese Verteilung auf spekulative, bisher unbekannte Kräfte
oder Einflüsse zurückzuführen oder darauf, dass die Verteilung zufällig in
unserem Universum stark vom statistischen Mittel abweicht, was man
kosmische Varianz nennt.
(4) Erkärungspflichten geozentrischer Hypothesen
Abschnitt (3) zeigt die grundsätzliche Verträglichkeit der geozentrischen Hypothese mit den physikalischen Beobachtungsdaten und Theorien. Im Einzelnen zu
erklärende Problem-Daten für Geozentriker wären dann diese:
Änderungen der Tageslänge wie (a) allgemeines minimales Kürzerwerden
(nach dem kopernikanischen Modell den Gezeitenreibungen zugeordnet), (b)
Jahresschwankungen (nach dem kopernikanischen Modell Änderungen des
Erdkerns zugeordnet), (c ) Jahreszeitenschwankungen (nach dem koperni-
11
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
kanischen Modell dem Jetstrom und der Eis-Wasser-Verteilung zugeordnet), (d)
fallweise plötzliche Änderungen (Erdbeben oder Wetterformationen
zugeordnet).
Bewegungen der Sterne und der Sonne: tägliche Rotationsbewegung um die
Erde – monatliche Änderungen der Kreisbewegungen (nach dem kopernikanischen Modell der Erdumlaufbahn um das Massezentrum des Erd-MondSystems zugesprochen) – jährliche Variationen – Eigenbewegungen der
Sterne gegeneinander nach Newtons Bewegungs- und Gravitationsgesetzen.
Bewegungen der Planeten, Satelliten und Raumsonden: tägliche, monatliche,
jährliche Rotationsbewegungen um die Erde – Zusätzliche Keplersche
Umlaufbahnen um die Sonne.
Terrestrische Physik unseres Heimatplaneten: Zentrifugalkraft – Corioliskraft.
Zum Hintergrund: Auf einer sich drehenden Scheibe oder Kugeloberfläche (z. B. einem
Karussell oder einer Zentrifuge) spürt man eine nach außen gerichtete Zentrifugalkraft.
Bewegt man sich außerdem auf der Scheibe, so bemerkt man dazu noch eine zur Seite
gerichtete Kraft oder Corioliskraft. In der Meteorologie und Ozeanographie spielt die
Corioliskraft eine besonders große Rolle. Aufgrund der Erdrotation (nach dem kopernikanischen
Standardmodell) bewegen sich die Luftschichten und Wassermassen in einem rotierenden
Bezugssystem. Auf der Nordhalbkugel entsteht so eine Ablenkung nach rechts, die für die
Drehrichtung von Hoch- und Tiefdruckgebieten verantwortlich ist.
Auf welche Weisen Geozentriker diesen Erklärungspflichten nachzukommen
suchen, kann in diesem Rahmen nicht weiter erörtert werden. Eine erste
Orientierung vermittelt der Wikipedia-Artikel (English) Modern geocentrism
(Stand 02.08.2009), der drei Ansätze unterscheidet:
Geocentrism based on classical gravitation. Some geocentrists believe that at least part of these
observations can be explained as a result of classical gravitation with a particular mass
distribution. Indeed, a uniform distribution of dark (and otherwise unobtrusive) matter, coupled
with a quadrupole gravitational field imposed from the “outside”, could provide the centripetal
force associated with the daily rotation. Gravitational fields uniform throughout the universe
and rotating monthly and yearly would result in those components of the motion. On the other
hand, classical gravitational fields cannot provide the torque needed to account for the variations
in the length of the day, nor can they provide the Coriolis forces observed in planetary motion
and in physics experiments on Earth.
Geocentrism based on a rigid aether. A different approach to accounting for the forces required
to explain the observations is kinematic constraints. If all heavenly bodies (sun, planets, comets,
stars) are rotating daily around the Earth, it is natural to suppose that they are embedded in a
transparent but rigid material. Geocentrists generally believe in such a substance and refer to it
as aether. This aether is not the same as the late 19th century concept of luminiferous aether,
which was supposed to be the material through which light propagates. If a luminiferous
medium does exist, then the null result from the Michelson-Morley experiment would imply a
stationary Earth with respect to such an aether [...] The aether hypothesis coupled with a huge
rotating shell of matter at the outer position of the universe (similar to the "crystal spheres" of
Ptolemy) provides for forces needed to explain the daily orbits of the stars and Sun as well as a
way to synchronize the monthly and yearly motions. These periodic variations are claimed to
result from gyroscopic precession, although the details of the model are not specified. When the
finite speed of light is taken into consideration, the picture is more complex (at least assuming
the enormous estimate of the size of the universe believed today  a point with which many
geocentrists disagree). If we see all the stars moving at the same time, then the stars farther
away must have moved earlier in order to allow their light time to reach Earth. This implies not
a rigid aether but an aether supporting torsional waves that propagate with the speed of light and
12
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
converge on the Earth. To explain the irregular or sudden changes in the length of the day in this
way requires a reversal of the presumptive cause and effect, that is, the aether waves must cause
the earthquake or weather pattern that is associated with that change in the length of the day. It
is also difficult to reconcile the rigidity of the aether required to contain and synchronize the
motions of the stars with the tenuousness implied by the fact that the proper motions appear to
be uninhibited. If simple aether theories might be able to explain some of the properties of the
motions of the stars and Sun, more complex theories are necessary to explain orbits in the Solar
System and experiments on the Earth. This is partly because the rigidity/tenuousness dilemma
brought up for stellar motion is even more visible there, but primarily because a single
centripetal force is no longer adequate. The observations can only be explained by separate
centrifugal and Coriolis forces.
Geocentrism based on a radically different cosmology. Some geocentrists believe that the
difficulties in the types of theories discussed above can be overcome by rejecting some of the
assumptions that were implicitly made in that discussion. In particular, some geocentrists
believe that the universe is very much smaller than the billions of light years calculated by
modern scientists. A detailed theory of this sort is not available, so its plausibility and freedom
from internal contradictions cannot be evaluated here.
(5) Geozentrismus und die kanonischen Schriften des alt- und
neutestamentlichen Israel
In Vergangenheit und Gegenwart hat man bei der Erörterung von Geozentrismus
oder Heliozentrismus oft religiös motivierte Argumente ins Spiel gebracht bzw.
bringt sie ins Spiel. Es handelt sich meist um bestimmte Stellen der Tora, Propheten und Schriften, bei welchen der sprachliche Ausdruck sich einer geozentrischen Darstellungsweise bedient. Beispiele sind Kohelet 1, 5: „Die Sonne, die
aufging und wieder unterging, atemlos jagt sie zurück an den Ort, wo sie wieder
aufgeht.“ Oder Psalm 104, 5: „Du hast die Erde auf Pfeiler gegründet; in alle
Ewigkeit wird sie nicht wanken.“ Viel herangezogen wird auch ein Zitat im Buch
Josue (10, 12–14) aus einer nicht erhaltenen Dichtung Buch des Gerechten,
welches lautet: „Die Sonne blieb stehen [auf ein Gebet Josues hin], und der
Mond stand still, bis das Volk an seinen Feinden [= Amoriter] Rache genommen
hatte“. Diese – erstens – poetische Schilderung kann aber – so eine verbreitete
Auslegung – auch übersetzt werden: Die Sonne schwieg etc., d.h. hörte auf zu
scheinen. Dies würde dann die plötzliche Verdunkelung der Sonne und des
Firmamentes durch schwarze Gewitterwolken bezeichnen, verbunden mit
extremem und vernichtendem Hagelschlag, welcher nach Jos 10, 11 an diesem
Tag den Sieg über die Amoriter ermöglichte und bewirkte.
Eine andere Erklärung arbeitet mit astrophysikalischen Randbedingungen der Geologie,
Biologie und Geschichte und ist u.a. verknüpft mit Albert Einstein und Immanuel Velikovsky
(1895-1979). Letzterer fachübergreifende und sehr kontroverse Querdenker hat seiner
Generation viele kreative und im Nachhinein mehrheitlich als richtig bestätigte Anregungen
gegeben, allerdings auch vieles Problematische und methodisch Unhaltbares. Ein auch heute
noch gültiger Rat für angehende Wissenschaftler wäre, genau zu überlegen, ob eine Erwähnung
Velikovskys nicht schädlich für die Reputation ist. Seine Buchveröffentlichung Welten im
Zusammenstoß, Frankfurt 1978 [Neuaufl. 2005, orig. Worlds in Collision, New York 1950]
bietet Forschungen und kulturgeschichtliches Belegmaterial für das heute wieder salonfähige
katastrophistische Paradigma in Geologie, Biologie und Geschichte. Der ergänzende Band Erde
im Aufruhr, Frankfurt 1980 [Neuaufl. 2005, orig. Earth in Upheaval, New York 1956] bietet
realwissenschaftliches Belegmaterial für das katastrophistische Paradigma. Velikovsky
13
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
korrespondierte u.a. auch mit Einstein, den er von der Richtigkeit des katastrophistischen
Paradigmas überzeugen konnte. Keine Kleinigkeit angesichts des damals allmächtigen
gegenteiligen, aktualistischen Paradigmas. Nicht überzeugen konnte er Einstein von seiner
Theorie der Planetenkollisionen.3 Velikovskys Eingangsargument ist, dass es keine apriorischen
Gesetzmäßigkeiten in der Himmelsmechanik gibt. Belege sind die unterschiedliche Anzahl,
Größen, Formen und stofflichen Zusammensetzungen von Sonnen, Planeten und Monden, die
unterschiedlichen Atmosphären, Bahnneigungen, Bahnebenen, Eigendrehungen und
Umlaufrichtungen, -bahnen und -zeiten der Planeten und Monde. Es gibt ferner 60 Kometen im
Sonnensystem mit weniger als 80 Jahren Umlaufzeit. Und hunderttausende unregelmäßige
Kometen. Dazu stetig wachsende Hinweise für die Varianz von Umlaufrichtungen und
Magnetpolen, für verschobene Himmelsrichtungen, Veränderungen von Tageslauf und
Jahreszeiten, jahre- bis jahrzehntelange Finsternis bei Kometenannäherungen (so 44 v. C. eine
ein Jahr währende Dunkelheit) und Vulkanen (so beim Ausbruch des Skaptar-Jökull in Island
1783 eine monatelange Verdunkelung der Erde). Eine seit 1983 von Geophysikern und
Archäologen intensiv erforschte schwere Naturkatastrophe im Jahr 535 n. Chr. durch Explosion
/ Einschlag eines ca. 500 Meter großen Meteoriten und/oder einem bzw. mehreren
Vulkanausbrüche hatte u.a. die Verfinsterung der Sonne für 18 Monate, vulkanischen Winter
und roten Blutregen zur Folge. 4 Darüber hinaus glaubt auch die etablierte Geologenkommunität
inzwischen, dass die Plattentektonik nicht genügt, um seit Kurzem belegte dramatisch schnelle
Kontinentverlagerungen zu erklären. 5 Man sieht die Lösung auch hier in einer
"Polverschiebung, ein plötzlicher Prozess, bei dem die gesamte feste Schicht der Erde bis
hinunter an die Kern-Mantelgrenze sich gegenüber dem flüssigen Inneren und damit auch
gegenüber der Rotationsachse der Erde verschiebt".
Dieser offene und z.T. chaotische astrophysikalische Hintergrund bietet Freiheitsräume für nicht
gleichmäßig mechanisch-deterministische, sondern katastrophische kosmische Ereignisse mit
markanten erdgeschichtlichen Auswirkungen. Belege hierfür findet er bei Hesiod, Anaximenes,
Anaximander, Heraklit, Aristarch von Samos, den Etruskern, bei Varro, den Stoikern, den
Sibyllinischen Büchern, im Judentum und bei Philo von Alexandrien, in Indien (Veden), im
Buddhismus, in Tibet, Persien (Avesta), China, bei den Inkas, Azteken, Mayas und in
Polynesien (Velikovsky 1978, 41–46). Die letzten großen kosmischen Katastrophen verortet
Velikovsky im 15. Jh. v. C. (um 1500 v. C.) aufgrund einer Annäherung von Erde und Venus und
im 8. Jh. v. C. (um 750 v. C.) aufgrund einer Konjunktion von Mars und Venus. Bei Auslenkung
der Erdachse durch kosmische Katastrophen machen Sonne und Sterne ruckartige Bewegungen,
ein Verschwinden und Wiederauftauchen in falscher Richtung ist beobachtbar. Auch hier
existieren wohl weltweit Mythen über einen anderen Sonnenlauf in Nubien, China,
Griechenland, Mittelamerika, Ägypten und Indianer. Last but not least präsentiert Velikovsky
Parallelen in anderen frühgeschichtlichen Kulturen für den Stillstand der Sonne während eines
Tages in Josue 10, 12-14. Dieses Phänomen, dass die Sonne stillstand, müsste weltweit als
ultralanger Tag oder ultralange Nacht erfahren worden sein, wofür es z.B. im präkolumbischen
Mittelamerika starke Hinweise gibt (Velikovsky 1978, 49-55).
3
4
5
Einsteins Brief an Velikovsky vom 22.05.1954: “The proof of ‘sudden’ changes (p. 223 to the end) is quite convincing and
meritorious. If you had done nothing else but to gather and present in a clear way this mass of evidence, you would have
already a considerable merit. Unfortunately, this valuable accomplishment is impaired by the addition of a physicalastronomical theory to which every expert will react with a smile or with anger—according to his temperament; he notices that
you know these things only from hearsay—and do not understand them in the real sense, also things that are elementary to him.
[…] To the point, I can say in short: catastrophes yes, Venus no.” [Original Deutsch] Theisten werden allerdings zu Recht die
naturalistische Vorurteilsstruktur des ansonsten sehr an Religion und an der biblischen Geschichte interessierten Juden
Velikovsky bemängeln. Mit auch methodologisch gezwungenen naturalistischen Erklärungen wendet er sich gegen „die
subjektive und magische Darstellung der Ereignisse“ (Velikovsky 1978, 273), wie er es nennt, also gegen transzendentes
prophetisches Wissen und Handeln, etwa bei Moses, Josue, Jesaja.
Vgl. die monographische Darstellung von David Keys: Als die Sonne erlosch. 535 n. Chr.: Eine Naturkatastrophe verändert die
Welt, München 1999; sowie Spiegel online, 21.12.2010: ‘Klimaforschung: Geologen erklären größte Katastrophe des
Mittelalters’ [http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimaforschung-geologen-erklaeren-groesste-katastrophe-desmittelalters-a-735253.html]: " Würde sich nur eine dieser Katastrophen in der modernen Welt wiederholen, kämen die Folgen
einem weltweiten Atomkrieg gleich."
Kippte eine Polverschiebung Gondwana? Gesteinsmagnetisierung enthüllt ungewöhnlich schnelle Verschiebung der Landmasse
im frühen Kambrium. [http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-12095-2010-08-12.html].
14
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Die Kontoverse zwischen Einstein und Velikovsky über Planetenkollisionen stellt sich heute
übrigens so dar, dass wahrscheinlich beide Recht hatten. Vgl. Emilio Spedicato: Apollo Objects,
Atlantis and the Deluge: A Catastrophical Scenario for the End of the Last Glaciation. In:
Quaderni del Dipartimento di Matematica e Informaticia, Instituto Universitario di Bergamo,
Nr. 22, 1990, der Planetoiden der Apollo-Gruppe als Verursacher anzunehmender prä- und protohistorischer Kataklysmen plausibel macht. Ähnlich der Nobelpreisträger Fred Hoyle (1915–
2001) und die beiden britischen Astronomen Victor Clube und Bill Napier mit The Cosmic Serpent (1982) mit der These, „dass Jupiter und Saturn bisweilen gigantische Kometen (mit mehr
als 50 km Durchmesser – Chiron ist ein Beispiel) ins innere Sonnensystem auf kurzperiodische Orbits ablenken [...] Die Effekte der Desintegration dieses Objekts in einem die
Erdbahn kreuzenden Orbit sollten geologisch und klimatologisch, aber auch anhand protohistorischer und historischer Hinterlassenschaften nachweisbar sein [...] Clube und Napier heben
hervor, dass viele der Themen, die Velikovsky dem >Kometen Venus< zuschrieb, tatsächlich
auf den Tauriden-Vorläufer zurückzuführen seien, und zumindest einige derjenigen, die von
Velikovsky mit dem Mars in Verbindung gebracht wurden, in Wirklichkeit mit dem Halley‘schen Kometen zu tun haben.“ (Philip R. Burns, Nortwestern University
[http://www.pibburns.com/catastro/clubenap.htm])
Die meisten Bibelexegeten, auch solche, die ansonsten einem wörtlichen Textverständnis verpflichtet sind, glauben dennoch nicht, dass die von Geozentristen
angeführten Schriftstellen ein Universum fordern, das auf eine unbewegliche
Erde im Mittelpunkt ausgerichtet ist. Diese Stellen werden im Gegenteil als (a)
zwanglose Beschreibungen vom phänomenologischen Standpunkt angesehen, die
die natürliche Perspektive der menschlichen Wahrnehmung auf der Erde einnehmen = phänomenologische Beschreibung und Hermeneutik. Dies scheint
der normale Standpunkt und die normale Beschreibung von Himmelskörpern und
-vorgängen in den Schriften. Wer eine fachtheologische Ausbildung erfahren hat,
wird dem unabhängig von orthodox-traditioneller oder progressiver Grundeinstellung zustimmen müssen. Dass diese Sicht dennoch  aufgrund des quasi
einhelligen geozentrischen Zeugnisses der Kirchenväter und der lehramtlichen
Stellungnahmen des 17. Jh.  kein theologischer matter of fact ist, sondern
begründungspflichtig bleibt, betonen o.e. Sungenis / Bennett: Galileo Was
Wrong: The Church Was Right, Port Orange 2007.
Dazu kommen (b) metaphorische Ausdrucksweisen wie jene von der Erde als
Schemel Gottes bei Jesaja 66, 1. Dies stellt offensichtlich eine bildhafte
Beschreibung der Macht Gottes dar und will nicht anzeigen, dass Gott wörtlich
seine Füße auf der Erde ruhen lässt.
Hierzu in Folge Belege aus der Tradition und Theologie des christlichen Israel,
wie auch von evangelikaler, kreationistischer Seite. Ein erstrangig maßgeblicher
Theologe und Kronzeuge ist zunächst Augustinus von Hippo (354430). Er sagt
zum Thema:
„Der Geist [Gottes], welcher durch die sie [= Verfasser der hl. Schriften] redete, hat nicht
beabsichtigt, den Menschen darüber [= das naturwissenschaftliche Wesen der sichtbaren
Dinge] Belehrungen zu geben, da sie niemand zum Heile nützen sollten“, sondern die
Schrift „berichtet“ betreffs der Natur und des Kosmos ‘nach der sinnlichen Erscheinungsform’, also nach der lebensweltlichen Erfahrung und dem menschlichen Sprachgebrauch“ (De Genesi ad litteram Lib. 2, 9, 20).
Ebenso Thomas Aquinas (12241275) in der Summa theologica I, qu. 70, art. 1
ad 3. Hier noch ein Beleg aus der Theologie des 20. Jh., der dieselben exegeti-
15
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
schen Grundsätze wie in der Antike (Augustinus) und im Mittelalter (Aquinas)
formuliert:
„Dem religiösen Zweck gemäß spricht die Heilige Schrift nicht die Sprache der
gelehrten Forschung, sondern die pädagogisch allein gerechtfertigte Sprache des
Volkes und der Anschauung, die allen Lesern leicht verständlich ist und sich im
Wechsel der Zeit nicht wesentlich ändert [...] Deshalb reden wir ebenso wie die
biblischen Verfasser vom Aufgang und Untergang der Sonne [...] Solche Ausdrücke sind
vom Standpunkt der Anschauung durchaus richtig und finden sich selbst in Werken
moderner Astronomen. Sie besitzen eine bleibende, von allem Wechsel wissenschaftlicher Meinungen unberührte Wahrheit, denn wahr bleibt z.B. die durch Sinneswahrnehmung festgestellte Erscheinung, daß die Sonne im Osten am Firmament aufsteigt und
im Westen wieder verschwindet, ob man diese Erscheinung vom geozentrischen oder
heliozentrischen Standpunkt aus erklärt.“ (Schuster / Holzammer: Handbuch zur
Biblischen Geschichte, Bd. I, Freiburg 81925, 20, Hervorhebungen im Original)
Die Theologie der Tradition hat in der Regel damit keine Wissenschaftsfeindlichkeit gemeint und verbunden. Nach Thomas Aquinas ist es beispielsweise um
seiner selbst willen lobenswert, sich mit dem Studium der weltlichen Wissenschaften zu befassen (Contra impugnantes 3, 4; Nr. 400).
Ergänzend von evangelikaler, kreationistischer Seite hier noch eine kritische
Untersuchung und Stellungnahme zum modernen Geozentrismus unter dem Titel
Geocentrism and Creation (2001). Sie stammt von Danny R. Faulkner, Professor
der Physik und Astronomie an der University of South Carolina  Lancaster. Er
ist Mitarbeiter von Answers in Genesis.org, einer evangelikalen apologetischen
Organisation, die die wörtliche Auslegung der ersten Kapitel der Genesis im Sinn
des Junge-Erde-Kreationismus verteidigt. Die Seite von Answers in Genesis ist
der weltweit meistbesuchte Kreationismus-Netzauftritt mit zahlreichen Artikeln,
Videos und einem täglichen 90-Minuten Radioprogramm, das über 1000 Stationen ausstrahlen, und ist insofern repräsentativ für den Kreationismus. Hier das
zentrale Argument Faulkners (Hervorhebungen von mir, PN; der vollständige
Text auf: http://www.answersingenesis.org/tj/v15/i2/geocentrism.asp)
„Some creationists believe that the scientific assault on the Bible did not begin with
biological evolution, but with the acceptance of the heliocentric (or more properly,
geokinetic) theory centuries ago. These people believe that the Bible clearly states that
the Earth does not move, and hence the only acceptable Biblical cosmology is a
geocentric one. Modern geocentrists use both Biblical and scientific arguments for their
case. We examine these arguments, and find them poorly founded. The Scriptural
passages quoted do not address cosmology. Some geocentrists draw distinctions that
do not exist in the original autographs or even in translations. In short, the Bible is
neither geocentric nor heliocentric. While geocentrists present some interesting
scientific results, their scientific arguments are often based upon improper understanding
of theories and data. Much of their case is based upon a misunderstanding of general
relativity and the rejection of that theory. While geocentrists are well intended, their
presence among recent creationists produces an easy object of ridicule by our critics.
Perhaps the best-known geocentrist in the world today is Gerardus Bouw, who has been a
professor at Baldwin-Wallace College in Berea, Ohio for many years. He is founder and
director of the Association for Biblical Astronomy, as well as editor of Biblical
Astronomer. Both are organs for geocentrism. To distinguish modern geocentrism from
ancient geocentrism, Bouw has coined the term ‘geocentricity’ for the former. Bouw has a
Ph.D. in astronomy from Case Western Reserve University, so he certainly is in a position
to know and understand the issues and literature involved. Given Bouw’s stature as the
16
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
chief champion of geocentricity, we will use his book by the same name as the primary
source on the topic.
In the middle ages and well into the Renaissance, the Roman Catholic Church did teach
geocentrism, but was that based upon the Bible? The Church’s response to Galileo (1564–
1642) was primarily from the works of Aristotle (384–322 BC) and other ancient Greek
philosophers. It was Augustine (AD 354–430), Thomas Aquinas (1224–1274) and others
who ‘baptized’ the work of these pagans and termed them ‘pre-Christian Christians’. This
mingling of pagan science and the Bible was a fundamental error for which the Church
eventually paid a tremendous price.
Confusion persists to today in that nearly every textbook that discusses the Galileo affair
claims that it was a matter of religion vs science, when it actually was a matter of
science vs science. Unfortunately, Church leaders interpreted certain Biblical passages as
geocentric to bolster the argument for what science of the day was claiming. This mistake
is identical to those today who interpret the Bible to support things such as the big bang,
billions of years, or biological evolution. Therefore, any evangelical Christian misinformed of this history who opines that the Bible is geocentric is hardly any more credible a
source on this topic than an atheist or agnostic.
In his second chapter Bouw discusses the allegation that the Bible teaches that the Earth
is flat. His refutation is good, except that he apparently accepts the notion that through the
Middle Ages belief in a flat Earth was common, which is simply not true. The historian
Russell demolished this idea, and I have written on this as well. This includes the urban
myth that Columbus was a lonely voice for a round Earth, invented by Washington Irving
in his 1828 book The Life and Voyages of Christopher Columbus, a self-confessed
mixture of fact and fiction.
Another example of Bouw’s poor logic is the observation that ‘… the first heliocentrists
were pagans who did not hold the Bible in high esteem’. While this statement is technically true, it plants a very false and misleading impression. Such a statement plants in the
minds of many people that the near converse is true, that is, that the first geocentrists
were not pagans and held the Bible in high esteem. Of course this is nonsense. Virtually
all that we know of ancient science and cosmology comes from the Greeks. Most of them
were geocentrists. All of them were pagans. Claudius Ptolemy (fl. AD 127–145), who is
credited with the longest-lived geocentric model of all time, was a pagan. By Bouw’s own
‘reasoning’ (leaving aside the blatant genetic fallacy), geocentrism should be rejected,
because it has a long pagan history.
Of course, Bouw would respond that the Bible is explicitly geocentric. Since much of the
Old Testament predates many of the secular sources, Bouw would claim that the earliest
geocentrists were not pagan. But this begs the question—most of the quotes used to
support the geocentricity of the Bible are from fellow geocentrists or from bibliosceptics.
Nearly all Bible-believing heliocentrists think that the Bible is neither geocentric nor
heliocentric, but Bouw holds their opinions on the matter in low regard.“
(6) Zur causa Galilei
In der gegenwärtigen geozentrischen Diskussion wird selbstverständlich die
Auseinandersetzung des 17. Jh. um Galileo Galilei immer wieder erinnert,
welche im kulturellen Gedächtnis unserer Zivilisation zum Symbol des Kampfes
zwischen Geozentrismus und Heliozentrismus geworden ist. Der Überblick in
Abschnitt (2) zeigt, dass dabei teilweise auch eine Neubewertung der damaligen
Debatten versucht wird. Deswegen abschließend dazu ein kurzes Fazit.
17
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Vorab sollte man nicht übersehen, dass die Infragestellung des geozentrischen
Weltbildes ab dem späten Mittelalter und die Diskussion zwischen Anhängern
und Gegnern des heliozentrischen Weltbildes fast auschließlich in der
Theologenkommunität und den Hochschulen der Römischen Kirche statt fand.
Der als Logiker und Physiker enorm einflussreiche französische Kleriker und
Professor der Pariser Universität, Johannes Buridanus (12951358) begründete
nicht nur die neuzeitliche physikalische Mechanik, also die theoretischen Grundlagen von Galileis und Newtons Physik, sondern lehrte auch die Rotationsbewegung der Erde. Ähnlich einflussreich als Physiker war der französische
Naturwissenschaftler, Philosoph und Bischof Nikolaus von Oresme
(13131382), der die geozentrische und die heliozentrische Hypothese als
naturwissenschaftlich gleich plausibel erklärte. Im nächsten Jahrhundert erörterte
Kardinal Nikolaus von Kues (14011464) die Möglichkeit einer
heliozentrischen Astronomie.
Der neuzeitliche Wiederbegründer des Heliozentrismus, Nikolaus Kopernikus
(14731543), war als Jurist und Arzt zugleich Geistlicher und Kanzler des
Domkapitels des Bistums Ermland. Freunde und Kollegen, welche seine
Forschungen zum heliozentrischen Modell besonders engagiert unterstützten,
waren Bischof Tiedemann Giese und Nikolaus Kardinal von Schönberg, wie
bekanntlich auch Kopernikus‘ Hauptwerk von 1543 De Revolutionibus Orbium
Coelestium („Von den Umdrehungen der Himmelskörper“) Papst Paul III.
gewidmet ist. Die folgenden Päpste Clemens VII. (15231534), Paul III.
(15341549) und Gregor XIV. (15901591) äußerten sich ebenfalls positiv zu
Kopernikus und man war sich in Rom stets der großen wissenschaftlichen
Leistung und Vorarbeit des Kopernikus für die Kalenderreform bewusst, welche
1582 zur Einführung unseres heutigen Gregorianischen Kalenders durch Papst
Gregor XIII. führte. Die Astronomie an der spanischen Eliteuniversität und
Hochburg katholischer Rechtgläubigkeit Salamanca lehrte seit 1561
gleichberechtigt das Kopernikanische System, was dort seit 1594 sogar
ausschließliche Geltung erhielt. Und auch an der Universität Bologna war seit
1629 der Astronom und Theologe Bonaventura Cacalieri Professor, der die
Astronomie nach Kopernikus und Galilei lehrte: Bologna galt nicht nur als älteste
und mit renommierteste Universität der Welt, sondern gehörte zum Kirchenstaat.
Auch in der Auseinandersetzung um Galileo Galilei sind die Vordenker und
Sprecher sowohl des heliozentrischen wie des geozentrischen Weltbildes
Theologen und Persönlichkeiten der Römischen Kirche. Die Befürworter des
heliozentrischen Ansatzes waren Kardinal Maffeo Barberini, seit 1623 Papst
Urban VIII., bis zur persönlichen Entfremdung 1632 der größte Bewunderer und
Förderer von Galileos physikalischen und astronomischen Studien; der Karmeliterprovinzial Paolo Antonio Foscarini; der Erzbischof von Siena, Ascanio
Piccolomini; der Erzherzog Leopold von Österreich; der Präfekt der vatikanischen Bibliothek, Lukas Holstenius; die Kardinäle Caponi und Scaglia.
Vertreter des geozentrischen Modells waren der führende Mathematiker P. Christophorus Clavius S.J., der Astronom und Mathematiker P. Orazio Grassi S.J.
und andere Jesuiten und Dominikaner sowie mit Einschränkungen Kardinal
Robert Bellarmin. Und nicht zu vergessen: Galilei selbst lehrte als Professor in
18
Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Pisa und Padua bis kurz vor seiner Kehrtwendung 1610 entschieden und
leidenschaftlich das geozentrische, ptolemäische System: Es gab „jahrzehntelang
in ganz Italien keinen ..., der so stur und starr gegen Kopernikus gewesen war
wie er“ (H. C. Zander: Kurzgefasste Verteidigung der Heiligen Inquisition,
Gütersloh 2007, 126).
Die Frage wurde primär als eine astronomische, naturwissenschaftliche
betrachtet, auch wenn später persönliche Empfindlichkeiten und konfessionspolitische Rücksichten hinzutraten. Johannes Kepler (15711630) beispielsweise, neben Galilei der zweite große Vorreiter des heliozentrischen Systems in
der Epoche, hatte wegen seiner kopernikanischen Überzeugung trotz mehrfacher
Anläufe keine Möglichkeit, in seiner lutherischen Heimat Württemberg eine
Professur an der Universität Tübingen zu erhalten: Das copernicanum dogma galt
im 17. Jh. immer noch den meisten als völlig abwegig, als absurdissimum. Eine
wissenschaftliche Karriere war ihm nur in Österreich und als Hofmathematiker
des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches (in der Nachfolge Tycho Brahes)
möglich. Auch der führende Wissenschaftstheoretiker der entstehenden experimentellen Naturwissenschaften, Francis Bacon (15611626), lehnte jede Erdbewegung ab (Novum organum, Lib II, Aph. 46). Die bahnbrechenden
französischen Mathematiker, Astronomen und Physiker Blaise Pascal
(16231662) und Abbé Pierre Gassendi (15921655) betrachteten die Systeme
des Ptolemaios, Kopernikus und Tycho Brahes als drei alternative Denkmodelle, deren Richtigkeit empirisch und experimentell nicht entscheidbar
sei und die eventuell alle zusammen falsch sein könnten (vgl. Brandmüller:
Galilei und die Kirche, Aachen 1994, 154155). Noch im 18. Jh. ist das Dictum
des preußischen Königs Friedrichs II. gegenüber D‘Alembert überliefert, mit
welchem er die Bemühungen Voltaires kommentierte, ihm die Richtigkeit des
Kopernikanischen Systems zu beweisen: „Die Eingeborenen von Madagaskar
haben auch Beweise für die Bewegung der Sonne um die Erde: ihre Erfahrung“.
Für Galilei selbst war ebenfalls offensichtlich, dass seine Beobachtungen das
heliozentrische Weltbild des Kopernikus zwar stützten, aber keinen zwingenden
Beweis lieferten. Galilei war bekanntlich der Begründer der TeleskopAstronomie, womit er das Relief und die Geographie des Mondes, die Ausdehnung der Planeten im Gegensatz zu den punktförmigen Fixsternen, vier
Monde des Jupiter, die Sonnenflecken und die Zusammensetzung der Milchstraße aus ungezählten Sternen entdeckte. Er veröffentlichte die Beobachtungen 1610 in dem Werk Sidereus Nuncius (Sternenbote). Dazu kam die weitere
Entdeckung, welche er gleichzeitig mit seinem späteren Gegner Christophorus
Clavius S.J. machte, dass der Planet Venus wie der Mond Phasen aufweist.
Galileis Deutung war, dass die Venus sich zum Teil jenseits der Sonne, zu
anderen Zeiten aber zwischen Sonne und Erde befindet. Galilei wie auch seine
Gegner waren der Überzeugung, dass das Ptolemäische Modell damit in seiner
ursprünglichen Fassung kaum haltbar war. In Rom, bei Papst Paul V. und
Kardinal Maffeo Barberini (der künftige Papst Urban VIII.) war die Bewunderung und Anerkennung für Galileis Leistungen so groß, dass er 1611 in die
elitäre, zur Pflege der Naturwissenschaften gegründete Accademia dei Lincei
aufgenommen wurde.
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Aber alle Beobachtungen waren auch mit dem Modell des Tycho Brahe
vereinbar, in dem sich Sonne und Mond um die Erde, die übrigen Planeten aber
um die Sonne drehen (s.o.). Angesichts der Sachlage wurde Galilei 1624 von
Papst Urban VIII. ermutigt, über das kopernikanische System zu veröffentlichen,
solange er dieses als Hypothese behandle. Dies obwohl die Indexkongregation
bereits 1616 kopernikanische Schriften Paolo Antonio Foscarinis, Johannes Keplers u.a. zensiert hatte, was Urban VIII. entschieden bedauerte. Letzteren Schritt
von 1616 kommentierte Kepler selbst so, dass es zwar schade sei, dass die Italiener nach 70 Jahren freier Diskussion des Kopernikanischen Systems nun solche
Bedenken entwickelten, dass man aber durch zu leidenschaftliche Verteidigung
der kopernikanischen Hypothese das Urteil auch herausgefordert habe.
Selbst wohlwollende Autoren sind sich einig, dass die oft sehr anmaßende und
cholerische Art Galileis ein Hauptgrund für den angesichts der Lage der Dinge
überraschenden Konflikt um seine Person und Weltanschauung war. Selbst die
führenden Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler waren von Galileis
beißender Kritik nicht ausgenommen. Er unterstellte ihnen Geschwätzigkeit und
Kindereien. Zanders oft saloppe und manchmal effekthascherische, aber nicht
falsche Darstellung der Ereignisse hat diese sarkastische Charakterschilderung:
„‘Ignorant’, ‘böswilliger Tor’, ‘Pedant’, ‘Ochs’, ‘Esel’, ‘Lügner’, ‘Betrüger’, ‘vernagelter
Schädel’: Das sind einige der toleranten Ausdrücke, mit denen dieser Apostel des freien
Denkens und Forschens jedem italienischen Astronomen an die Gurgel fuhr, der sich
herausnahm, noch immer das für wahr zu halten, was er selber ein halbes Leben lang stur
und starr seinen Studenten eingeschärft hatte.“ (Kurzgefasste Verteidigung der Heiligen
Inquisition, Gütersloh 2007, 127-128)
Arthur Koestlers einflussreiche Geschichte der Astronomie bringt das Problem so
auf den Punkt: „Galilei ... besaß ein seltenes Talent, Feindschaften zu erregen ...
kalte erbarmungslose Feindseligkeit, die das Genie plus Überheblichkeit minus
Bescheidenheit im Kreis der Mittelmäßigen schafft“ (Die Nachtwandler, Bern /
Stuttgart / Wien 1959, 374).
Immerhin hatte gerade sein Freund Papst Urban VIII. den Druck des später zum
Streitpunkt werdenden Dialogo über die beiden großen Systeme des Ptolemäus
und des Kopernikus (1631) persönlich gewünscht und die kirchliche Druckerlaubnis praktisch schon erteilt. Zum Konflikt kam es daher primär, weil der Papst
bei der Erteilung der Druckerlaubnis auf Seiten Galileis Unterschleif am Werke
sah: wegen der verworrenen bis ungeordneten Vorgehensweise bei der Drucklegung und wegen der Tendenz, das Kopernikanische System als Faktum statt
Hypothese darzustellen. Der Papst fühlte sich offensichtlich darüber hinaus auch
persönlich in unerträglicher Weise herausgefordert, weil Galilei im Dialogo ein
Argument Thomas von Aquins lächerlich machte, für das er sich selbst stark
gemacht hatte6:
6
Ergänzend wird folgende, zweite Provokation genannt: „Gegen Galilei argumentiert ... in seinem Dialogo nur ein
Gesprächsteilnehmer. Der heisst »Simplicio«, auf Deutsch »Einfaltspinsel«. Dieser
Einfaltspinsel aber trägt, für das spottlustige
italienische Publikum jener Zeit sofort erkennbar, die persönlichen Züge Papst Urbans VIII. War Galilei übergeschnappt? Nein.
Das unfehlbare Genie war nur wieder einmal tödlich beleidigt. Beleidigt, weil sein neuer sein neuer Freund und Beschützer,
Papst Urban VIII, es gewagt hatte, ihm ins Gesicht zu sagen, er sei im Irrtum mit seiner These, dass die Gezeiten der
Meere das kopernikanische System bewiesen.“ (Zander a.a.O. 2007, 141)
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
„Die Erklärungen der Astronomen für die Bewegungen der Himmelskörper müssen nicht
notwendigerweise auch wahr sein, denn es wäre durchaus möglich, dass diese auf eine
ganz andere Weise, die den Menschen bisher unbekannt geblieben ist, erklärt werden
müssen.“ (Commentaria in libros Aristotelis de caelo et mundo Lib. II, Lect. XVII
[Opera omnia III, 186187]; vgl. Brandmüller: Galilei und die Kirche, Aachen 1994,
112113, 147148)
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dieses Argument erstens nicht nur
wissenschaftstheoretisch korrekter nicht sein könnte, zweitens den Standpunkt
fortschrittlichster und reflektiertester Naturwissenschaftler wie Gassendi und
Pascal wiedergibt, und drittens voll und ganz die Position der Physik und
Astronomie der Gegenwart ist, für welche das Ptolemäische wie das Kopernikanische System nur noch wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung haben. Der
Physiker und bis heute maßgebliche Wissenschaftstheoretiker der Naturwissenschaften Pierre Duhem stellte sich 1908 ebenfalls hinter dieses Argument:
„Die Logik [war] auf der Seite Osianders [selbstständiger lutherischer Theologe, der
gegen den heftigen Widerstand Luthers und Melanchthons 1543 die Drucklegung von
Kopernikus Werk De revolutionibus coelestium in Nürnberg ermöglichte, allerdings von
ihm durch Kürzungen und kritische Kommentare zensiert], Bellarmins und Urbans VIII.
... und nicht auf der Keplers und Galileis; die ersteren haben die eigentliche Bedeutung
der experimentellen Methode erkannt, die letzteren haben sie mißverstanden [...]
Angenommen, die Hypothesen des Kopernikus könnten alle bekannten Erscheinungsformen erklären; daraus könnte man schließen, daß sie möglichwerweise wahr sind, nicht
aber, daß sie mit Notwendigkeit stimmen. Denn um diesen letzteren Schluß zu
legitimieren, müßte man beweisen, daß kein anderes System erdenkbar ist, das die
Erscheinungsformen genau so gut erklärt. Dieser letzte Beweis ist aber nie geführt
worden“ (zit. nach Crombie, A. C.: Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der
Naturwissenschaft, Köln / Berlin 2. Aufl. 1965, 451)
Ein weiterer und vielleicht entscheidender Grund für die plötzlichen Bedenken
war konfessioneller Art. Während Galilei seine Hypothese entwickelte und die
Drucklegung des Dialogo vorbereitete, war der Dreißigjährige Krieg durch den
kurzzeitigen Siegeszug (16301632) des protestantischen schwedischen Königs
Gustav Adolf in Deutschland in eine für die kaiserliche und katholische Sache
dramatische Phase getreten. Denn nun trat zu der protestantischen theologischen
Frontstellung durch die Absolutsetzung der wortgetreu zu verstehenden Bibel
(Sola-Scriptura-Prinzip) die religionspolitische Bedrohung durch die Armeen
Gustav Adolfs. In ersterer Rücksicht warfen Lutheraner der Römischen Kirche
vor, durch den liberalen Umgang mit dem Kopernikanischen System den
Wortlaut der Bibel zu verraten und so den Beweis für den Vorwurf der Untreue
gegen Gottes Wort zu liefern. In letzterer Hinsicht hatte die protestantische
Armee durch die jüngste Eroberung des katholischen Aktionszentrums München
den theologischen Druck und die Abwehrhaltung noch verstärkt, so dass die
Freiheit der Forschung seelsorgerlichen und religionspolitischen
Rücksichten wich. Es galt, den Glauben und das Glaubensleben vor der
Verunsicherung durch unausgereifte wissenschaftliche Spekulationen zu
schützen, die von gegnerischer Seite rücksichtslos polemisch instrumentalisiert
wurden: „So stand Papst Urban jetzt da, so wurde er von den Galileo Galilei den
Protestanten vorgeführt: als Förderer und Beschützer eines größenwahnsinnnigen
Narren, der alles auf den Kopf stellen wollte, was Luther und Calvin in der Bibel
unumstösslich lasen [...] Nicht Galileis Argumente waren ketzerisch.
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Versammenswert war die blinde, rücksichtslose Überheblichkeit, mit der er sie
ins Universum hinausposaunte. Ohne zu überlegen, was er damit, außerhalb
seines akademischen Fachbereichs, anrichtete.“ (Zander a.a.O. 2007, 145, 148)
Und das ähnliche Urteil Brandmüllers (a.a.O. 161), des von Römischer Seite
führenden Historikers und Kenners des Galilei-Prozesses mit jedenfalls
priviligiertem Zugang zu den Quellen (1998–2009 Präsident der Vatikanischen
Kommission für Geschichtswissenschaften): „Damit haben wir wohl die
eigentliche Ursache dafür ermittelt, daß eine kirchliche Instanz auf einmal dazu
kam, sich zu einer [...] rein naturwissenschaftlichen Frage zu äußern, nachdem
man siebzig Jahre lang dazu geschwiegen hatte.“
Dazu kam der Druck von der kirchlichen Basis in der Römischen Kirche selbst,
wo – so namentlich in Florenz – bei nicht naturwissenschaftlich vorgebildeten
Gläubigen und Geistlichen ähnliche Abwehrreaktionen wie von Seiten der
protestantischen Milieus auftraten. Dies v.a. weil sich Galilei gegen den
dringenden Rat des Hl. Offiziums mit einer fragwürdigen bis manipulativen
Bibelexegese zugunsten seiner Hypothese (insbesondere von Psalm 19) in die
Theologie begeben hatte. Die Galilei schließlich von der Inquisition bzw. dem
Hl. Offizium zur Unterzeichnung vorgelegte Erklärung (die übrigens keine
theologische Unfehlbarkeit beanspruchte) bezeichnete denn auch das
kopernikanische Modell als schriftwidrig, aber nicht häretisch und forderte –
wissenschaftstheoretisch korrekt – die Unterlassung eines absoluten
Wahrheitsanspruches desselben. Bei der endgültigen Erledigung der causa
Galilei 1820 vertrat das Hl. Offizium offensichtlich die Auffassung, die Dekrete
von 1616 und 1633 seien nach wie vor in Geltung, doch stehe die moderne
Astronomie zu ihren Kernsätzen nicht im Widerspruch und Galilei habe insofern
auch 1633 nicht seine Überzeugungen verraten müssen. Diese Kernsätze sind
positiv formuliert (1) Die Sonne befindet sich nicht im Zentrum des Weltalls und
ist beweglich, und (2) Die Erde ist Zentrum und bewegt sich nicht. Welche
hermeneutischen Argumente für diese ungewöhnliche Sicht vorgebracht wurden,
kann hier nicht weiter verfolgt werden; eine Zusammenfassung bietet
Brandmüller a.a.O. 268286, eine ausführliche Dokumentation bieten
Brandmüller / Greipl: Copernico, Galilei e la Chiesa. Fine della controversia
(1820), Firenze 1992.
Dass man nach dem Urteil zu Galilei die Sache selbst weiterhin gelassen sah, ist
daran ersichtlich, dass Galilei nicht daran gehindert wurde, eine Drucklegung
seiner beanstandeten Werke in den Niederlanden zu veranstalten und überall,
auch in Rom, ungehindert zu verkaufen. Bereits 1656 wurden auch in Rom und
Bologna Ausgaben der Werke Galileis neu aufgelegt.
(7) Die causa Galilei in wissenschaftstheoretischer Hinsicht
Galilei war v.a. experimenteller, empirischer Wissenschaftler und Mathematiker
mit starker Intuition für interessante und wahrscheinliche Hypothesen und hoher
didaktischer wie literarischer Begabung, aber weniger ein Mann der wissenschaftstheoretischen und systematischen Umsicht und Gründlichkeit. Nach
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
letzterer Seite hin stützte er sich weithin auf Kepler, wie er anscheinend auch
keine Diskussion des alternativen Ansatzes Tycho Brahes unternahm.
Galilei pflegte nun nicht nur seine empiristische naturwissenschaftliche
Begabung und Stärke, sondern neigte dazu diese absolut zu setzen und die
ebenso notwendige philosophische und metaphysische Reflexion wegzuschieben
und abzutun, welche die Stärke der aristotelisch-scholastischen Physik war.
Insbesondere Leibniz hat später die Problematiken und Schwächen dieses
empiristischen und mechanistischen Ansatzes (Galilei und in anderer Form
Descartes) aufgezeigt, was – auch dies eine Forderung Leibnizens – zur neuen
Thematisierung und Aktualisierung der scholastischen Prinzipientheorie
oder Ersten Philosophie (Ontologie) als Grundwisssenschaft der Philosophie
und der Einzelwissenschaften führte. Vgl. dazu Honnefelder: Scientia
transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der
Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus –Suárez – Wolff – Kant
– Peirce), Hamburg 1990, 297, 300.
Letztere scholastische Prinzipientheorie oder Erste Philosophie erfuhr in der
Neuzeit einerseits durch Leibniz‘ Philosophie (Monadologie) im 17. Jh., aber
auch schon vorher im späten 16. Jh. durch die kaum zu überschätzenden
Disquisitiones metaphysicae (1597) von Francisco Suarez konfessionsübergreifend explosionsartiges neues Interesse und wurde die Grundlage der
universitären Philosophie auf dem Kontinent. In Deutschland wurden beide
Einflüsse durch Chr. Wolff (16791754) und seine Schule vermittelt und
verschmolzen.
Falkenburg (Kants Kosmologie: die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000, 49) zeigt, dass nicht zuletzt
auch Immanuel Kants immer gleichbleibendes und zentrales theoretisches
Anliegen von 1746 bis zum Opus postumum die Verbindung von allgemeiner
Metaphysik (Ontologie, Transzendentalphilosophie) der Leibniz-Wolff-Tradition
und mathematischer Naturwissenschaft, Physik der Galilei-Newton-Tradition
war. Diese u.E. berechtigte Einschätzung kann durch folgende Stichprobe schnell
überprüft werden: Man vergleiche die erste Veröffentlichung Kants Gedanken
von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) mit dem Zweiten Teil
der KU, Kritik der teleologischen Urteilskraft (1790), der letzten Veröffentlichung zur theoretischen Philosophie. Man wird verblüfft sein über das identische
Anliegen der Synthese von mechanischem (Descartes u. z.T. Newton) und
teleologischem (Leibniz) Erklärungsansatz. Diese eher kosmologische
Motivation Kants stand ihrerseits im Horizont eines größeren Anliegens, nämlich
des „systematischen Projekts einer Metaphysik, die rationale Theologie,
Kosmologie und Psychologie umfaßt“ (Falkenburg a.a.O. 2000, 14).
Im 20. Jh. verkörperte der Logische Positivismus und die frühe Analytische
Philosophie noch einmal ganz grob gesprochen den Ansatz Galileis, indem man
durch unmittelbare Anwendung der als analytisch charakterisierten Mathematik
und Logik auf Sinnesdaten die Metaphysik der Tradition und auch den synthetischen Apriorismus der Kantischen Transzendentalphilosophie überwinden
wollte. Programmatischer Ausdruck hierfür war Rudolf Paul Carnaps Der
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
logische Aufbau der Welt. Scheinprobleme der Philosophie, 2. Aufl. Hamburg
1961 [11928].
Der spätere Denkweg Carnaps und der Analytischen Philosophie führte
wiederum zur Anerkennung der Notwendigkeit philosophischer Analyse und
logisch-ontologischer Allgemeinstrukturen (platonische Ideen, aristotelische
intelligible Formen und Entelechien) – wenigstens in konzeptualistischer
und/oder instrumentalistischer Deutung: Die „Behauptung der Übersetzbarkeit
von Aussagen über Dinge in Aussagen über Sinnesdaten“ (Carnap a.a.O. 1961,
XII) musste später wegen der Einsicht in die irreduzible Theoriehaltigkeit oder beladenheit der Wahrnehmung und Erfahrung „aufgegeben werden [...] Analoges gilt für die physikalische These der Zurückführbarkeit von Wissenschaftsbegriffen auf Dingbegriffe.“ (Carnap 1961, XII) Vgl. auch die Thematisierung
dieser Kurskorrektur in der Intellectual Autobiography II, 9, ‘Liberalisierung des
Empirismus’ (Carnap: Mein Weg in die Philosophie, Stuttgart 1993, 88–93).
Komplementär zu Carnaps intellektueller Entwicklung und Wandlung ist die
Argumentation Karl Raimund Poppers in Logik der Forschung (1989, 34–41 und
überhaupt Kap. 3 ‘Theorien’ (31–46) und der Anhang *X: ‘Universalien, Dispositionen und Naturnotwendigkeit’, 376–396) betreffs der methodischen Undurchführbarkeit,
„Universalien mit Hilfe von Individualien zu definieren. Man hat das oft übersehen,
meinte, es sei möglich, durch ‘Abstraktion’ von den Individualien zu Universalien
aufzusteigen. Diese Ansicht hat viel Verwandtes mit der Induktionslogik, mit dem
Aufsteigen von besonderen Sätzen zu allgemeinen Sätzen. Beide Verfahren sind logisch
undurchführbar.“ (Popper 1989, 37)
Und: „Alle ... Theorien beschreiben das, was wir als strukturelle Eigenschaften der
Welt bezeichnen können, und sie überschreiten stets den Bereich möglicher Erfahrung.“ –
Sie können nicht induktiv abgeleitet werden, „denn die Beschreibung und Überprüfung jedes einzelnen Falles setzt ihrerseits schon Strukturtheorien voraus.“ (Popper
1989, 376–377)
Die Wissenschaftstheorie war mithin ein weiterer, letzter Grund des Konfliktes:
„Was ihnen [= den Aristotelikern seiner Zeit] unannehmbar erschien, war eine
Philosophie, eine Metaphysik, die am Ergebnis naturwissenschaftlichexperimenteller Methoden gemessen werden sollte.“ (Brandmüller a.a.O.
156157) Selbstverständlich zog auch die andere Seite der Aristoteliker
berechtigte Kritik auf sich, wenn sie oft der Erfahrung und dem Experiment zu
wenig Rechnung trug. Es war unhaltbar und diametral dem Geist und der
Methode des Aristoteles entgegengesetzt, wenn Aristoteliker des 16./17. Jh.
empirische Fragen und Tatsachenwissen allein mit philosophischer Analyse
oder gar unter Dogmatisierung diesbezüglicher Aussagen des Aristoteles
klären wollten. Hier war Galilei vollkommen im Recht, Beobachtung und
systematische Untersuchung der Natur als methodologisch vorrangig
herauszustellen. So konnte  ein Beispiel  Galileo 1612 eine empirische
Hypothese und Theorie des Aristoteles mit einem einfachen, aber überzeugenden
Experiment falsifizieren: Eis schwimmt auf Wasser nicht deswegen, weil es zwar
schwerer, aber flach ist, sondern weil es leichter ist.
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Ebenso vertrat Galilei in der Sache eine auch in der Tradition vorfindliche
Sichtweise, wenn er darauf hinwies, dass sich die Heiligen Schriften an den
betreffenden Stellen (s.o. (5)) der Alltagssprache bedienen und keine
naturwissenschaftlichen Thesen aufstellen wollen. Brandmüller sieht hier „das
Paradox, daß Galilei in der Naturwissenschaft und die Kurie in der Theologie
irrte, während die Kurie in der Naturwissenschaft und Galilei in der
Bibelerklärung Recht behalten hat“ (a.a.O. 304). Dass dies nach der
theologischen Seite freilich zu einfach ist, zeigt Galileis o.e. (mindestens in
einem Fall willkürliche resp. manipulative) Bibelexegese ohne genügende
hermeneutische Auseinandersetzung mit dem Wortlaut und der traditionellen
Deutung der Hl. Schrift.
Es ist wohl nicht falsch zu sagen, dass Kardinal Robert Bellarmin (15421621),
der einflussreiche Theologe und die zentrale Persönlichkeit der Kurie in dem
Konflikt, eine Wissenschaftstheorie, Astronomie, Exegese, Seelsorge und Politik
gleichermaßen Rechnung tragende Lösung anstrebte, die bei Berücksichtigung
aller dieser hier herein spielenden Gesichtspunkte auch heute nachvollziehbar
erscheint. Sein langjähriges Bestreben war, Galilei zu bewegen, die nach
damaligem Wissensstand und auch prinzipiell schwer oder nicht entscheidbare
astronomische Diskussion wie bisher als eine fachwissenschaftliche zu führen.
Diese wissenschaftspolitische Agenda hielt 17 Jahre, von 1616 an  über den Tod
Bellarmins (1621) hinaus  bis 1633, als Galilei durch o.e. in Massenmedien
vorgetragenen astronomischen wie theologischen Absolutheitsanspruch diese
Linie verließ und torpedierte.7
Bellarmin wird allgemein nicht nur persönliche Rechtschaffenheit, Milde und
Wohlwollen, sondern auch unvoreingenommene Sachlichkeit bescheinigt. Dass
auch Bellarmins Buchveröffentlichungen 1588 durch die Indexkongregation
einige Jahre verboten wurden, u.a. weil er die Reichweite päpstlicher Vollmacht
in nichttheologischer Materie ungewohnt kritisch beurteilt hatte, und er noch
zweimal 1594 und 1602 wegen überzeugungstreuen Stellungnahmen resp.
ordenspolitischen Rücksichten Rom verlassen musste, zeigt, dass er kein
parteiischer Systemagent war: „Es gab ... in ganz Rom keinen Menschen mit
weiterem Horizont, mit größerer Vorsicht im Urteil [...] Papst Clemens VIII.
nannte ihn einen Menschen ‘von Bildung ohnegleichen’“ (Zander a.a.O. 2007,
121).8 Robert Bellarmins intellektuelle Überlegenheit machte ihn zur
wissenschaftlichen und theologischen Leitfigur der Epoche, so dass sich Gegner
nicht anders zu helfen wussten, als z.B. die Lektüre seiner Werke in
protestantischen Ländern zu verbieten und eigene Lehrstühle gegen ihn
einzurichten. In Thomas Hobbes‘ opus magnum Leviathan ist er der
7
8
In Zanders journalistischer Diktion: „Dringend, mündlich zuerst und zuletzt auch schriftlich, hatte Bellarmin Galilei ermahnt,
er möge gewiss seine Forschungen weiterführen und seinen kopernikanischen Standpunkt ruhig weitervertreten, jedoch im
Sinne einer noch beweisbedürftigen Hypothese. Galilei hat den Rat missachtet. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er noch einen
zweiten, viel wichtigeren Rat seines inquisitorischen Gönners missachtet hat. Er solle doch, bittebitte, in allen seinen
Äusserungen, bei der naturwissenschaftlichen Beobachtung bleiben, »senza entrare nelle Scritture«. Er solle »die Finger lassen
von der Heiligen Schrift«. Blind und stur tat Galileo Galilei das Gegenteil.“ (a.a.O. 2007, 134–135)
Der Jesuit Robert Bellarmin (1542–1621) aus der Toskana wählte für sein Postgraduiertenstudium und seine akademische
Karriere bis 1576 bewusst die nördlichste orthodox-katholische Universität des deutschen Königreiches und Europas überhaupt,
Löwen. Diese erstrangige Eliteuniversität der Epoche befand sich in dem – neben Norditalien – technologisch, kulturell, finanzwirtschaftlich und nach Wirtschaftskraft und Steueraufkommen mit weitem Abstand führenden städtischen Ballungsraum
Europas Flandern/Brabant. Sie war bekannt für ihre unmittelbare intellektuelle und politische Frontstellung zu den lutherischen, niederländisch-kalvinistischen und anglikanischen Nachbarregionen.
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Skizze des modernen Geozentrismus [Skript: Dr. P. Natterer]
Hauptgesprächspartner und -gegner. Bellarmin nun war äußerst interessiert an
den neuen Entwicklungen der astronomischen Forschung: Er hatte selbst
Astronomie studiert und blieb in fortlaufender enger Tuchfühlung mit der
einschlägigen Wissenschaftsgemeinschaft. Das Modell Galileis betrachtete er als
„ausgezeichnet sinnvoll“ wegen der mathematischen Einfachheit, forderte aber
für dessen Wahrheitsanspruch Beweise:
„Wenn es einen realen Beweis gäbe, dass die Sonne in der Mitte des Universums ist, dass
die Erde sich in der dritten Sphäre befindet und dass die Sonne feststeht, aber die Erde
ringsum die Sonne geht, dann sollten wir mit großer Umsicht fortfahren, wenn wir
Passagen von Büchern erklären, die das Gegenteil zu unterrichten scheinen, und wir
sollten eher sagen, dass wir es nicht verstanden, anstatt es als falsch zu deklarieren. Aber
ich denke nicht, dass es so einen Beweis gibt, da mir bisher keiner gezeigt wurde.“ (zit.
nach Arthur Koestler: The Sleepwalkers. A History of Man‘s Changing Vision of the
Universe 1959 [deutsch: Die Nachtwandler, Bern / Stuttgart / Wien 1959], 447–448)
Auch nach Auffassung der heutigen Physiker- und Astronomenkommunität
kommt erst Fr. W. Bessel das Verdienst zu, 1838 mit der stellaren Aberration die
Eigenbewegung der Erde gegenüber der Fixsternsphäre nachgewiesen zu haben.
Stellare Aberration bedeutet, dass das Licht von Sternen eine gewisse Zeit benötigt, um ein
Teleskop zu durchlaufen, währenddessen die Erde sich um sich selbst (= tägliche Aberration),
um die Sonne (= jährliche A.) und mit dem Sonnensystem (= säkulare A.) bewegt, so dass die
Sterne nicht in ihrer tatsächlichen Richtung, sondern um einen kleinen Betrag in Richtung der
Erdbewegung verschoben erscheinen: Bei einem 1m langen Teleskop macht die sog. jährliche
Aberration 0,1 mm aus und muss durch Anpassung des Kippwinkels des Teleskopes korrigiert
werden. Durch die globale jährliche Aberration beschreibt z.B. jeder Stern jährlich gegenüber
dem Himmels-Koordinatensystem eine kleine Ellipse mit 41″ Durchmesser.
Später hielt Galilei dann doch die Gezeiten irrtümlicherweise für einen Beweis
des kopernikanischen Weltbildes, insofern die Drehungen der Erde um ihre
Achse und um die Sonne deren Ursache sei. Erst Isaac Newton konnte beweisen,
dass neben der Zentrifugalkraft auch die Anziehungskräfte der Massen von Mond
und Sonne für Ebbe und Flut ursächlich sind.
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