EDITORIAL z Götz Hoeppe Redakteur dieser Ausgabe Vom bloßen Auge zur Theorie des Himmels N achdem Galileo Galilei im Herbst 1609 sein kleines Teleskop auf den Himmel gerichtet hatte, war für die Astronomen nichts mehr so wie zuvor. Über Nacht verwandelte sich die glatte Oberfläche des Mondes in eine zerklüftete Kraterlandschaft, der Lichtsaum der Milchstraße in ein Meer von Sternen und Planet Jupiter in das Zentrum eines Mondsystems. Galileos sensationelle Beobachtungen standen im Widerspruch zum damals dominierenden Weltmodell des griechischen Philosophen Aristoteles. Mit der Theorie, die Nikolaus Kopernikus im Jahr 1543 aufgestellt hatte, waren sie besser vereinbar, und so war der Siegeszug des neuen Weltbilds, das die Erde im Zentrum des Kosmos durch die Sonne ersetzte, nicht mehr aufzuhalten (S. 70). Seit Galilei ist die Benutzung des Teleskops zum Inbegriff für die Erforschung des Weltalls geworden. Doch ohne Konzepte und Messungen, die über mehr als zwei Jahrtausende überliefert und verbessert wurden, war das, was man durch das Fernrohr sah, nicht zu deuten. In diesem langen Zeitraum stagnierte die Wissenschaft keineswegs, wie manche gern behaupteten. Vielmehr gelang es Gelehrten der Antike und des Mittelalters, allein mit Hilfe des bloßen Auges, mit simplen Messgeräten sowie Schreibmaterial bewaffnet, Methoden und Material anzuhäufen, welche die Revolution des Weltbilds erst ermöglichten (S. 16, S. 38 und S. 54). D ie Geschichte der arabisch-europäischen Astronomie vor Galilei zeigt, dass der Erfindung des Teleskops eine andere Revolution vorausgegangen war: die Verbreitung der Schrift als Mittel, um Informationen zu speichern. Bereits auf der Himmelsscheibe von Nebra und dem Grundriss des Sonnenobservatoriums von Goseck ist astronomisches Wissen kodiert (S. 6 und S. 14), doch erst die Schriftkultur ermöglichte eine wissenschaftliche Tradition. In deren Verlauf bewahrten arabische und jüdische Forscher nicht nur das Erbe der Antike, sondern machten auch zahlreiche Entdeckungen, die nicht zuletzt den Herrschern der Zeit zugute kamen (S. 22, S. 30 und S. 62). Mit dem Teleskop sieht man zwar mehr, aber damit ist ein Instrument zwischen die Welt und das Auge getreten, welches das All vom Alltag der Menschen trennt. Bis heute nutzen Mitglieder schrift- und teleskoploser Kulturen im täglichen Leben eindrucksvolle astronomische Kenntnisse (S. 77). Sie kennen sich am Himmel meist besser aus als die Bewohner europäischer Städte – und finden im Kosmos einen Sinn, dessen Verlust ein Preis der Aufklärung ist. SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT Q DOSSIER 4/06: ASTRONOMIE VOR GALILEI 3