Er nähr ung im Alter Vitamine im Alter Ausgewählte Aspekte für die tägliche Praxis Vitamine sind essenzielle Nährstoffe, die mit der Nahrung mehr oder weniger regelmässig zugeführt werden müssen (1). Im vorliegenden Text werden einige relevante physiologische Veränderungen im Vitaminstoffwechsel des älteren Menschen zusammengefasst und für den Praxisalltag kritisch diskutiert. Dabei beschränken sich die Aussagen lediglich auf den normalen Alterungsprozess. Paolo M. Suter, Sandra Brunner Vitamine im Wandel der Zeit Die Geschichte der therapeutischen Verwendung der Vitamine lässt sich in fünf (3) respektive sechs Phasen unterteilen: Die erste Phase begann in der Zeit um 1500 v. Chr. und dauerte bis etwa 1900; empirische Erfahrungen zeigten, dass der Konsum bestimmter Nahrungsmittel bestimmte Krankheitsbilder und Symptome verhüten kann (z.B. wurde im alten Ägypten Leber zur Behandlung der Nachtblindheit verwendet). In der deutlich kürzeren zweiten Phase (ca. 1880–1910) wurde der Zusammenhang zwischen dem Nichtkonsum bestimmter Nahrungsmittel und (Mangel-)Erkrankungen evidenzbasiert untermauert. Während der dritten Phase von etwa 1900 bis 1950 wurden die einzelnen Vitamine entdeckt, isoliert und synthetisiert. Die vierte Phase begann 1933 und brachte die Kommerzialisierung synthetisierter Vitamine für die Prävention und Therapie von Vitaminmangel-Erkrankungen. Die fünfte Phase wird durch einen Paradigmawechsel gekennzeichnet: Die Vitamine werden jetzt nicht mehr für die Behandlung von Vitaminmangel-Situationen eingesetzt, son- 28 dern werden in meist pharmakologischer Dosierung zur Prävention verschiedenster Erkrankungen (u.a. auch der chronischen Erkrankungen des Alters) erforscht und propagiert. So werden heute – oft allerdings ohne gute Evidenz – verschiedenste Vitamine und andere Nährstoffe zur Kontrolle chronischer Erkrankungen oder sogar zur Rejuvenation empfohlen (4), wobei zur Einnahme pharmakologischer Vitamindosen geraten wird. Hierbei kann allerdings nicht mehr von Ernährung im engeren Sinne gesprochen werden, sondern vielmehr von einer Pharmakotherapie. Es ist daher naheliegend, dass der Geschichte der Vitamine schon in Kürze eine sechste Phase hinzugefügt werden muss: die Phase der Vitamintoxizität und -interaktionen. Neuere Studien zeigen, dass verschiedene Nährstoffe, die in Supplementen oder in fortifizierten Nahrungsmitteln in höheren Mengen eingenommen werden, ungünstige Effekte haben können. Obwohl nahezu 50 Prozent der Bevölkerung sporadisch bis regelmässig Vitaminsupplemente und andere Nährstoffsupplemente konsumiert, ist es auch heute immer noch möglich, einen adäquaten Ernährungsstatus allein durch die Zufuhr natürlicher Nahrungsmittel aufrechtzuerhalten. Letzteres ist selbstverständlich aufwändiger, was Einkauf, Vorbereitung und Kochen der Mahlzeiten, aber auch das Essen betrifft. Es ist viel einfacher, eine Vitamintablette oder allenfalls auch «funktionelle Nahrungsmittel» zu konsumieren. Entsprechend zahlreich sind die Fehlinformationen hinsichtlich des Nährstoffbedarfs für den Alterungsprozess respektive im Alter. In der Medizin wird immer wieder die Bedeutung der evidenzbasierten Therapie unterstrichen. Die gleichen Kriterien sollten selbstverständlich auch für die Ernährungsmedizin gelten. Für die meisten Vitamine zeigt sich eine direkte Beziehung zwischen Zufuhr und Versorgungslage (1). Bei den Vitaminen A, D sowie Vitamin B12 können jedoch altersspezifische Veränderungen eine wichtige Rolle spielen. Im Folgenden sollen die physiologischen respektive pathophysiologischen Veränderungen während des Alterungs- Nr. 5 • 2006 Er nähr ung im Alter prozesses im (Vitamin-)Stoffwechsel dieser drei Vitamine kurz diskutiert werden. Vitamin A Die aktuellen Zufuhrempfehlungen für Vitamin A betragen für Erwachsene (unabhängig vom Alter) 1000 µg Retinoläquivalente für Männer respektive 800 µg Retinoläquivalente für Frauen (5). Aufgrund der verschiedenen Nahrungsquellen von Vitamin A, also vorgebildetes Vitamin A aus tierischen Nahrungsmitteln, wie Leber, oder Vitamin A in Form von Provitamin A (Karotinoiden), besteht im Vergleich zu den meisten anderen Vitaminen ein Risiko, eher zu viel (präformiertes) Vitamin A einzunehmen. Aufgrund des letztgenannten Sachverhaltes sowie den unten erörterten Aspekten erscheinen die Vitamin-AZufuhrempfehlungen für ältere Menschen wahrscheinlich eher zu hoch. In verschiedenen Studien zeigte sich, dass auch bei einer unter dem Bedarf liegenden Vitamin-A-Zufuhr (präformiert und/oder als Provitamin A) praktisch alle älteren Menschen normale Plasma-Vitamin-A-Spiegel aufrechterhalten können (6). Im Einklang mit diesen Beobachtungen zeigte sich auch in den NHANES-Studien eine Tendenz zu höheren Vitamin-A-Spiegeln im Alter. Vitamin A scheint mit zunehmendem Alter besser resorbiert zu werden (7), auch die Vitamin-A-Speicher in der Leber bleiben im höheren Alter erhalten. Eine erhöhte Konzentration an Retinylestern im Plasma ist ein biochemischer Hinweis auf das Vorliegen einer Vitamin-AHypervitaminose (8). In verschiedenen Arbeiten zeigten ältere Menschen eine höhere Plasmakonzentration von Retinylestern als möglichen Hinweis auf subklinische Vitamin-A-Toxizität, was auf die oben erwähnten altersspezifischen Veränderungen zurückzuführen ist. Als Faustregel gilt eine längerfristige Vitamin-A-Zufuhr, die mehr als dem Dreifachen der empfohlenen Dosis entspricht, als wichtige Ursache für eine Vitamin-A-Hypervitaminose im Alter. Verschiedene Supplemente enthalten nach wie vor hohe Dosen an Retinol, sodass das Risiko einer subklinischen Toxizität durch Einnahme eines Vitamin-A-haltigen Supplements deutlich erhöht ist. Dieses Risiko ist bei alten Menschen, insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen einer Leberoder Niereninsuffizienz, aber auch bei Nr. 5 • 2006 erhöhtem Alkoholkonsum zusätzlich erhöht. Die Erfassung der Vitamin-A-Versorgungslage ist kein leichtes Unterfangen, obwohl wir die Vitamin-A-Plasmaspiegel problemlos messen können und viele Labors dies auch routinemässig offerieren. Der Grund hierfür liegt darin, dass etwa 90 Prozent der Vitamin-A-Reserven in der Leber gespeichert sind und diese Vitamin A auch bei fehlender oder ungenügender Zufuhr freisetzt; entsprechend können die Plasmaspiegel aufrechterhalten werden, solange die Leberreserven erhalten sind (9). In den letzten Jahren zeigte sich, dass eine (subklinische) Vitamin-A-Toxizität aufgrund der weiten Verbreitung von Vitamin-A-Supplementen und fortifizierten Nahrungsmitteln bei Erwachsenen häufiger anzutreffen ist, als eigentlich zu erwarten wäre. So konnte in einigen Studien (10–12) (allerdings nicht in allen [13]) nachgewiesen werden, dass zwischen dem Ausmass der Osteoporose respektive dem Risiko einer osteoporotischen Fraktur und der Zufuhr von präformiertem Vitamin A eine signifikante Beziehung besteht (10). Dieser Sachverhalt gilt nicht für Provitamin A. Effekte von hohen Vitamin-A-Dosen auf den Kalziumund Knochenstoffwechsel sind uns bestens bekannt; es wird jedoch vergessen, dass diese subklinische Toxizität bereits bei einer chronischen Zufuhr des Zwei- bis Dreifachen der aktuellen Empfehlung auftreten und sich wahrscheinlich individuell sehr unterschiedlich äussern kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Vitamin-A-Mangel bei gesunden älteren Menschen in der Regel eine Seltenheit darstellt; vielmehr wird die Vitamin-A-Toxizität zum Problem (14). Entsprechend sollte die Zufuhr an Karotinoiden durch vermehrten Konsum von Früchten und Gemüsen auch beim alten Menschen gefördert werden. Vitamin-A-haltige Supplemente sollten dagegen nicht täglich eingenommen oder überhaupt gemieden werden. Der regelmässige Konsum an Nahrungsmitteln mit hohem Vitamin-A-Gehalt (z.B. in Form von Leber) sollte minimiert oder im Alter besser ganz unterlassen werden. Vitamin D Von den 13 Vitaminen wurde bis vor kurzem das Vitamin D als «bedingt essenziell» beurteilt (1, 2), zumal dieses Vitamin nach Sonnenexposition in der Haut synthetisiert werden kann und somit die exogene Zufuhr für die Beibehaltung einer normalen Versorgungslage nicht notwendig ist. In den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass die Kapazität zur Vitamin-D-Produktion durch verschiedene endogene und exogene Faktoren moduliert wird und dass dieses Vitamin (zumindest in unserer geografischen Lage) keineswegs «bedingt essenziell» ist. Vitamin D ist fettlöslich und müsste aufgrund seiner Wirkmechanismen eigentlich als «Hormon» klassifiziert werden. Wir unterscheiden zwei Vitamin-DFormen mit mehrheitlich identischer Vitaminaktivität (Vitamin D2, das durch pflanzliche Nahrung aufgenommen wird, sowie Vitamin D3, das durch endogene Synthese in der Haut gebildet wird beziehungsweise durch den Konsum tierischer Nahrungsmittel in den Organismus gelangt). Klassischerweise wird Vitamin D mit der Aufrechterhaltung des Kalziumstoffwechsels und der Osteoporose assoziiert. In den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass dieses Vitamin nicht nur für den Kalzium- und Knochenstoffwechsel von grösster Bedeutung ist, sondern auch für die Aufrechterhaltung einer normalen Immunfunktion, für die Insulinsekretion sowie die Sekretion des Schilddrüsenhormons (15). Ferner spielt dieses Vitamin eine zentrale Rolle in der Zelldifferenzierung und dementsprechend in der Karzinogenese (16, 17). Die aktuellen Zufuhrempfehlungen für ältere Menschen (über 65 Jahre) liegen bei 10 µg/Tag (400 IE). In der Annahme, dass die Synthese dieses Vitamins in der Haut gewährleistet ist und keinen Altersveränderungen unterliegt, wären diese Empfehlungen sicherlich adäquat. Allerdings muss man sich dabei immer bewusst sein, dass die übliche Ernährung eine sehr schlechte Vitamin-D-Quelle darstellt. Seit langem ist bekannt, dass die Kapazität der Vitamin-D-Synthese in der Haut mit dem Alter nachlässt, da die Konzentration des Vorläufermoleküls 7-Dehydrocholesterol abnimmt (18). Darüber hinaus kommt es durch unseren Lebensstil zu einer Abnahme der Vitamin-D-Synthesekapazität, da wir den grössten Teil unserer Zeit im Innern des Hauses verbringen. Aufgrund thermoregulatorischer Probleme vermeiden die alten Menschen zudem eine zu lange Sonnenexposition. So zeigte auch die Euronut Seneca Population in Bellinzona wider Erwarten tiefere Vitamin-D-Spie- 29 Er nähr ung im Alter gel als zum Beispiel die Populationen in Yverdon oder Burgdorf. Aufgrund der ungenügenden Synthese liegt es nahe, die Zufuhr dieses Vitamins mit der Ernährung zu fördern. Leider ist der Vitamin-D-Gehalt von natürlichen (d.h. nicht fortifizierten) Lebensmitteln relativ gering, ausser in Tiefseefischen oder in Lebertran und Krabben oder Makrelen. Diese Nahrungsmittel werden jedoch in unseren Breitengraden nicht täglich konsumiert; dementsprechend drängt sich die Frage auf, ob ältere Menschen generell oder zumindest während der Wintermonate Vitamin-D-Supplemente einnehmen sollten. Diese Fragestellung wird zurzeit noch kontrovers diskutiert. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, liegt heute eine vielseitige und gute Evidenz vor, die darauf hindeutet, dass eine Vitamin-DSupplementation im Alter (in Kombination mit Kalzium) während der Wintermonate oder bei einem Teil der Population sogar ganzjährig unumgänglich ist. Als Risikopopulation für einen Vitamin-D-Mangel gelten alte Menschen, Menschen mit ungenügender UV-Exposition (auch ein Grossteil der jüngeren Menschen mit einem «Indoor-Lifestyle» oder während der Wintermonate) sowie dunkelhäutige Personen (dunkelhäutige Zuwanderer aus Afrika/Asien), die in unseren Breitengraden wohnen, um nur einige Risikogruppen zu erwähnen. Aufgrund der weiten Verbreitung dieser Mangelsituation sollte während der Sommermonate eine entsprechend grossflächige suberythemale Sonnenexpositon – wenn immer möglich – gefördert werden. Letzteres gilt auch für ältere Menschen, die aus verschiedenen Gründen weniger oft an die Sonne gehen. Auch in der Schweiz ist die Möglichkeit, Vitamin D nach UV-Exposition zu synthetisieren, während mehrerer Wintermonate stark eingeschränkt. Zwischen November und Februar reicht die UV-Strahlung in unseren Breitengraden – auch bei Sonnenexposition – nicht, um eine relevante Synthese des Vitamins zu bewerkstelligen. Dementsprechend sollten ältere Menschen (und wahrscheinlich auch ein Teil der jüngeren Menschen) im Winter Vitamin-D-Supplemente erhalten. Die diesbezüglich «ideale» Dosierung wird noch kontrovers diskutiert, sollte aber wahrscheinlich deutlich höher sein als die aktuellen Zufuhrempfehlungen, die bei > 400 IE/Tag Nr. 5 • 2006 liegen. Verschiedene Studien zeigen, dass bei einer Supplementierung von < 2000 IE (oder sogar höher) bei gesunden Individuen keine Vitamin-DToxizität zu erwarten ist. (19). Bei älteren Menschen kann auch die hoch dosierte orale Vitamin-D-Therapie durchgeführt werden (20). In einer neueren australischen Studie wurde alle drei Monate 100 000 IE Vitamin D3 oral verabreicht, was bei den meisten älteren Patienten zu einer Normalisierung der biochemischen Vitamin-DVersorgungslage führte. Auch wenn noch kein Konsens über die ideale Dosis zur Supplementierung von Vitamin D besteht, erscheint eine tägliche Einnahme von mindestens 400 IE/Tag als sinnvoll und sicher, auch wenn diese Dosis wahrscheinlich zu niedrig ist. Es muss an dieser Stelle nicht erwähnt werden, dass eine Supplementierung mit Vitamin D – je nach Gesamtkonstellation – ärztlich kontrolliert und überwacht werden sollte. Vitamin B 12 Vitamin B12 ist der Sammelbegriff für verschiedene sogenannte Corrinoide mit Vitaminfunktion (1). Dieses Vitamin gehört zum B-Komplex und spielt eine zentrale Rolle beim Zellwachstum, bei der Zellreplikation und dementsprechend auch bei der Hämatopoese. Die aktuellen Zufuhrempfehlungen für Erwachsene, unabhängig vom Alter, betragen 3 µg/Tag. Nahrungsmittel tierischen Ursprungs sind die wichtigsten Quellen dieses Vitamins. Oftmals werden vergorene Lebensmittel mit «traditioneller Produktionsart» (z.B. Sauerkraut, Miso, Tempeh und andere) als gute Vitamin-B12-Quellen aufgeführt. Dies trifft leider nur bedingt zu, denn zum einen ist der Gehalt an bioverfügbarem Vitamin B12 in diesen Produkten sehr variabel, und zum anderen ist der hohe Gehalt oft durch Vitamin-B12-Analoga bedingt, die für den Menschen ohne Bedeutung sind. Vitamin B12 gilt sowohl hinsichtlich seiner chemischen Struktur als auch des Stoffwechsels als eines der komplexesten Vitamine. In der Nahrung sind praktisch alle Vitamine proteingebunden; entsprechend muss vor Aufnahme des Vitamins die Proteinbindung im Darmlumen aufgespalten werden. Hierfür sind verschiedene Faktoren von Bedeutung, unter anderem auch die Magensäure. Mit zunehmendem Alter nimmt jedoch die Magensäureproduktion ab; weit über 50 Prozent der älteren Menschen weisen eine sogenannte atrophische Gastritis mit Hypoazidität auf (21). Die ungenügende Menge an Magensäure hat diverse Effekte. Unter anderem führt sie auch zu einer Zunahme des bakteriellen Überwuchses im oberen Magen-Darm-Trakt. Diese Bakterien binden Vitamin B12 und reduzieren dadurch seine Bioverfügbarkeit (22). Diese Mechanismen sind mitunter eine wichtige Ursache für die Abnahme der Plasmakonzentration beziehungsweise der Zunahme eines Vitamin-B12-Mangels im Alter (22). Die oben kurz skizzierten pathophysiologischen Veränderungen im Magenlumen und die daraus resultierende Malabsorption von Vitamin B12 kann auch durch eine vermehrte Zufuhr tierischer Nahrungsmittel kaum überwunden werden. Dagegen kann die Zufuhr von kristallinem Vitamin B12, so wie es in fortifizierten Nahrungsmitteln und Supplementen vorliegt, den erwähnten Veränderungen entgegenwirken. Entsprechend sind orale Vitamin-B12Supplemente im Alter wahrscheinlich unabdingbar. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass das Vitamin nicht nur parenteral, sondern auch oral verabreicht werden kann. Der ideale Gehalt eines oralen Supplements ist höher als die aktuelle Einnahmeempfehlung und liegt um 500 µg/Tag (23). Eine orale Therapie sollte aber nur vorgenommen werden, wenn die Einnahmedisziplin gewährleistet ist, was bei älteren Menschen nicht immer der Fall ist. Aufgrund der grossen Bedeutung von Vitamin B12 im Methylgruppentransfer ist die Indikationsstellung für eine Supplementierung bei Risikokonstellation (Alter, tiefe respektive tiefnormale Vitamin-B12-Spiegel) grosszügig zu stellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine lebenslange Therapie notwendig ist. Ein weiterer wichtiger Grund für die grosszügige Verabreichung von Vitamin-B12-Supplementen ist die Schwierigkeit der korrekten Erfassung der Versorgungslage (24). Eine Kontrolle der Vitamin-B12Spiegel ist sinnvoll, obwohl wir auch hier zu bedenken haben, dass die Leberspeicher relativ lange aufrechterhalten werden können und normale Resultate mit entsprechender Vorsicht interpretiert werden müssen. Normale Vitamin-B12-Spiegel bei einem älteren Menschen müssen nach einem bis spätestens zwei Jahren nachkontrolliert werden, zumal die oben beschrie- 31 Er nähr ung im Alter benen Phänomene der Malabsorption dieses Vitamins mit zunehmendem Alter häufiger auftreten respektive ausgeprägter werden. Andere Vitamine Ein Grossteil (je nach Altersgruppe bis zu 50%) der Population konsumiert regelmässig oder intermittierend irgendwelche Vitaminsupplemente. Entsprechend schwierig ist es, Aussagen über die Bedeutung der Ernährung respektive bestimmter Nahrungsmittel zur Sicherstellung einer normalen Vitaminversorgung zu machen. Auch im Alter sollte die Vitaminversorgung durch Zufuhr normaler Nahrungsmittel sichergestellt werden, was in der Regel – abgesehen von den drei oben diskutierten Vitaminen – durchaus möglich ist. Im Rahmen dieser Arbeit soll darauf hingewiesen werden, dass zum Beispiel das in den letzten Jahren viel diskutierte Homozystein durch viele verschiedene nicht ernährungsbedingte Faktoren determiniert wird. Hierzu gehören beispielsweise Geschlecht, Alter, Rasse beziehungsweise Ethnizität, die Nierenfunktion (Serumkreatinin), der Körpermassindex, der Alkoholkonsum (im Besonderen hochprozentige Alkoholika) sowie Rauchen oder auch die körperliche Aktivität – um nur einige zu nennen (25). Auch wenn die Folsäure und andere Vitamine wichtige Determinanten der Plasma-Homozystein-Konzentration darstellen, muss der Stellenwert der Ernährung in Anbetracht der vielen Einflussgrössen relativiert und nicht allzu einseitig angegangen werden. Bei unabhängig lebenden älteren Menschen, insbesondere den sehr alten Personen (very old), kann sogar eine adäquate Zufuhr für die meisten Nährstoffe lediglich durch normale Nahrungsmittel sichergestellt werden (26). Letzteres wird leider zunehmend vergessen! Gerade im Alter werden nicht nur Mikronährstoffe gebraucht, sondern auch Proteine und Energie. Eine adäquate Energie- und Proteinzufuhr ist in der Regel auch mit einer genügenden Zufuhr von Mikronährstoffen verbunden. Diese können auch erst in Kombination mit anderen Nahrungskomponenten ihre optimale Wirkung entfalten. Vitamine und Krankheitsrisiko Im aktuellen Zusammenhang drängt sich die Frage auf, ob Supplemente ein- 32 zelner Vitamine oder Kombinationen von Vitaminen allein oder mit Spurenelementen für die Prävention der chronischen Erkrankungen des Alters eingesetzt werden sollten. Diese Fragestellung ist extrem wichtig, da ein Grossteil der Population derartige Supplemente konsumiert, eine Überalterung stattfindet und somit die Prävalenz der chronischen Erkrankungen ansteigen wird. Zudem ist diese Frage von grosser Bedeutung, da sich viele Supplementkonsumenten in einer falschen Sicherheit wiegen und entsprechend etablierte Risikofaktoren (wie z.B. Rauchen, körperliche Inaktivität, Übergewicht, Alkohol) ausser Acht lassen, auch weil deren Implementierung schwieriger und aufwändiger ist als das Schlucken einiger Tabletten. Dass die Zufuhr bestimmter Nahrungsmittel, wie Früchte und Gemüse beispielsweise, das Risiko verschiedener chronischer Erkrankungen modulieren kann, ist bestens bekannt (27–29). Diese Evidenz fehlt jedoch mehrheitlich für Supplemente. In den letzten Jahren wurden viele Interventionsstudien mit Nährstoffen (meist in pharmakologischer Dosierung) zur Kontrolle verschiedener chronischer Erkrankungen durchgeführt. Die Resultate sind jedoch durchweg nicht überzeugend, und allfällig positive Effekte können und dürfen nicht auf andere Populationen übertragen und angewendet werden. Die meisten Studien konnten keinen Benefit im Sinne einer Risikomodulation von Koronarerkrankungen, Atherosklerose oder Krebserkrankungen durch die Einnahme von Vitaminen oder Antioxidanzien zeigen. So wurde in mehreren methodologisch einwandfreien Studien gezeigt, dass eine Modulation der Plasma-Homozystein-Spiegel durch verschiedene Vitamine keinen Effekt auf kardiovaskuläre Endpunkte hatte, obwohl die Homozysteinkonzentration beeinflusst wurde (30, 31). Trotz fehlender Evidenz konsumiert ein grosser Teil der Population diverse Supplemente. Dieses Verhalten illustriert den Wunsch des Menschen nach Gesundheit und Langlebigkeit mit dem minimalsten Aufwand und möglichst ohne (unangenehme) Eigenverantwortung. Was wir von diesen Studien lernen können, ist, dass wir uns auf die altbekannten Risikofaktoren, die mehrheitlich Lebensstilfaktoren sind (Rauchen, Körpergewicht und körperliche Aktivität), konzentrieren müssen. Allerdings ist der Aufwand an Zeit und Nr. 5 • 2006 Er nähr ung im Alter Disziplin deutlich grösser als beim Schlucken einer Tablette. Schlussfolger ung Aufgrund altersspezifischer Veränderungen im Stoffwechsel ist die adäquate Zufuhr von Vitamin D und Vitamin B12 im Alter nur schwierig möglich, sodass eine Supplementation für diese beiden Nährstoffe wahrscheinlich (zumindest phasenweise) unumgänglich erscheint. Grössere Mengen Vitamin A aus Nahrung oder Supplementen sollte im Alter aufgrund eines möglichen erhöhten Toxizitätspotenzials vermieden werden. Für alle anderen Vitamine kann durch die Zufuhr von normalen Nahrungsmitteln die Versorgungslage sichergestellt werden. Die Ernährung für das Alter beginnt jedoch nicht erst ihm hohen Alter, sondern spätestens im frühen Erwachsenenalter oder besser bereits in der Kindheit, und sie beinhaltet eine frühzeitige und konsequente Kontrolle der verschiedenen klassischen Risikofaktoren in Kombination mit einer bedarfsgerechten Energiezufuhr aus einer abwechslungsreichen Ernährung. ■ Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Paolo Suter Universitätsspital Zürich Medizinische Poliklinik 8091 Zürich Literatur 1. Suter PM: Checkliste Ernährung. Stuttgart & New York: Georg Thieme Verlag, 2005. 2. Collins ED, Norman AW: Vitamin D. In: Rucker RB, Suttie JW, McCormick DB, Machlin LJ, eds. Handbook of Vitamins (Third Edition). New York (NYC): Marcel Dekker Inc., 2001: 51–113. 3. Machlin LJ: Beyond Deficiency: New Views on the Function and Health Effects of Vitamins. Ann New York Acad Sci 1992; 669: 1–592. 4. Howes RM: The Free Radical Fantasy: A Panoply of Paradoxes 10.1196/annals.1354.004. Ann NY Acad Sci 2006;1067:22-6. 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